Lebensprobleme - Alfred Adler - E-Book

Lebensprobleme E-Book

Alfred Adler

0,0
8,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Diese bisher nicht in deutscher Sprache erschienene Sammlung von Vorträgen, Aufsätzen und Diskussionen des Begründers der Individualpsychologie behandelt viele der typischen Themen Alfred Adlers, angefangen von der Kindererziehung über die Schulbildung zum Gemeinschaftsgefühl und zum Sinn des Lebens. Adler hatte kurz vor seinem Tode einige Wochen in Holland zugebracht, um dort Vorträge zu halten, und war mit der gleichen Absicht nach England und Schottland gereist. In Aberdeen war er am 28. Mai 1937 plötzlich auf der Straße tot zusammengebrochen. Die holländische Ausgabe dieses Buches ist aus stenographischen Aufzeichnungen der Adlerschen Vorträge und der anschließenden Diskussionen hervorgegangen. Hinzu kam ein Kapitel über sexuelle Probleme, dessen englischen Text der Übersetzer einen Tag vor dem Tode Adlers erhalten hatte. Wenngleich die Adlersche Sprache sicherlich durch die doppelte Übersetzung, vom Englischen ins Niederländische und jetzt vom Niederländischen ins Deutsche, an stilistischer und begrifflicher Eigenart verloren hat, so dürften dem Adler-Kenner die Lebendigkeit und Anschaulichkeit der Darstellung vertraut vorkommen. Diese deutsche Erstausgabe stellt eine Bereicherung der Adler-Edition im Fischer Taschenbuch Verlag dar.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 326

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Alfred Adler

Lebensprobleme

Vorträge und Aufsätze

FISCHER E-Books

Inhalt

Vorbemerkung zur deutschen AusgabeVorwort zur niederländischen Ausgabe1. Einführung: Vorbereitung ist alles2. Leben ist das Meistern von Widerständen3. Das Kind sucht ein Erfolgserlebnis4. Das Kind muß sich im Leben freundlich eingeladen fühlen5. Gefährliche Stellen auf dem Weg der Entwicklung6. Schule7. Nochmals Schule8. Prophylaxe9. Über die Neurose10. Über Kriminalität11. Über Alkoholismus12. Über Perversionen13. Liebe und Ehe14. Massenpsychologie15. Der Sinn des Lebens16. Über Psychoanalyse und Individualpsychologie

Vorbemerkung zur deutschen Ausgabe

Bücher haben ihre Schicksale. Das gilt in besonderem Maße von diesem Buch. Ihm liegen Vorträge zugrunde, die Alfred Adler kurz vor seinem Tode gehalten hat. Von diesen offensichtlich in englischer Sprache gehaltenen Vorträgen wurden stenografische Aufzeichnungen angefertigt, die verlorengegangen sind. Die Aufzeichnungen wurden von einem Dr. P. H. Ronge, Arzt in Utrecht, ins Niederländische übersetzt und sind 1937, im Todesjahr Adlers, in einem Utrechter Verlag als Buch erschienen. Wo Adler die Vorträge gehalten hat, ob in den Niederlanden, in Schweden oder in Schottland, wo er starb, wird aus der Vorbemerkung zur niederländischen Ausgabe nicht klar ersichtlich.

Entdeckt wurde die niederländische Ausgabe von Heinz L. Ansbacher, einem in den Vereinigten Staaten lebenden Individualpsychologen, der zahlreiche Arbeiten zu Adlers Werk veröffentlicht hat.

Da die Texte, die der niederländischen Ausgabe zugrunde lagen, nicht aufzutreiben waren, mußte das Buch aus dem Niederländischen übersetzt werden. Diese Übersetzung aus einer Übersetzung kann natürlich dem englischen (oder deutschen?) Originaltext nur nahekommen. Adler war nicht nur ein begabter Autor, sondern auch, nach den Aussagen von Zeugen zu urteilen, ein begnadeter Vortragsredner. Die Lebendigkeit seines Vortrags wird noch in der vorliegenden Übersetzung deutlich, deren Verfasser sich nicht nur um die Stimmigkeit des Adlerschen Begriffsrepertoires, sondern auch um den Tonfall des Begründers der Individualpsychologie sehr bemüht hat. Mögliche Mängel erklären sich aus dem sprachlichen Schicksal des Buches.

Die Redaktion

Vorwort zur niederländischen Ausgabe

von Dr. P. H. Ronge

Während der Vorbereitung dieses Buches erreichte uns die Nachricht vom Tode Dr. Alfred Adlers (geb. 1870). Kurz zuvor hatte er einige Wochen in unserem Land verbracht, um eine Reihe von Vorträgen zu halten. Dabei zeigte sich deutlich, daß man ihn mit der Zeit immer besser zu verstehen und zu schätzen lernte. Während dieses Aufenthaltes war er genauso voll unermüdlichem Arbeitseifer und Begeisterung wie immer. Das plötzliche Ende hatte wohl keiner erwartet.

 

Von Holland kommend, war er nach England und Schottland gereist, um dort Vorlesungen abzuhalten. Noch am Anfang dieser Vorlesungsreihe ist er am 28. Mai 1937 zu Aberdeen in Schottland, wo er an der Universität einen Kursus leitete, plötzlich auf der Straße gestorben. Adler ist also während der Arbeit gestorben, herausgerissen aus einem Leben, das dem Wohl der menschlichen Gemeinschaft gewidmet war. Immer war es sein Anliegen, anderen zu helfen, Kranke zu heilen und Gesunde aufzuklären. Obwohl es ihm gelang, die von ihm entdeckten Tatsachen und Zusammenhänge überall bekanntzumachen, und seine Kenntnisse auch weithin akzeptiert wurden, hinterläßt Adler doch aufgrund seiner Einmaligkeit eine von keinem anderen auszufüllende Lücke. Als Verfechter seiner Theorien ist er nicht zu übertreffen, und diese Theorien, wie einfach sie auch scheinen mögen, sind in Wirklichkeit schwierig zu erfassen, und sie sind noch schwieriger anzuwenden.

Adler war, sowohl was die Theorien wie auch ihre Anwendung angeht, ein unübertroffener Meister, und diese Meisterschaft bewies sich in seinen Vorträgen immer wieder. Einer seiner Schüler, Ferdinand Birnbaum, hat dazu erklärt: »Wenn Adler vor uns auf dem Katheder spricht, so sagt er einige kluge Worte über allgemeine Dinge, und dann formt er das Schicksal eines Menschen so plastisch vor uns, daß wir verwundert um uns blicken, als hörten wir diesen Menschen hinter uns atmen. Ja, wir blicken verstohlen in uns selbst hinein und gestehen uns verschwiegen: Dies und jenes könnte sich auch in uns begeben haben.«

Bewundernswert auch, wie Adler die ihm während einer Diskussion gestellten Fragen beantwortete. Er wußte aus der Art und Weise, wie eine kurze Frage gestellt wurde, die Psyche des Fragenden zu durchschauen. Seine Antworten zeigten gewöhnlich ein großes Maß an Erfahrung und Menschenkenntnis, Weisheit und praktische Einsicht.

Deswegen erschien Adler im Grunde immer neu, gerade für die, die ihm oft zugehört hatten. Er ließ seine Zuhörer die Individualpsychologie immer wieder neu entdecken.

Seine Persönlichkeit übte eine starke Anziehungskraft aus, so daß er überall zahlreiche treue Freunde gewonnen hat. Diese Anziehungskraft verdankte er unter anderem seiner großen und aufrichtigen Einfachkeit, besonders aber seinem standhaften Idealismus. Mit diesen Eigenschaften wußte er andere zu begeistern und ihnen seine Aufgaben zu zeigen.

 

Dieses hier in einer Übersetzung vorgelegte Buch ist entstanden aus den stenografischen Aufzeichnungen einer Reihe von Vorlesungen mit anschließenden Diskussionen, die Adler während eines Ferienkursus in Schweden gehalten hatte. Außerdem hat das Buch ein Kapitel über sexuelle Probleme, dessen englisches Manuskript dem Übersetzer einen Tag vor dem Tod des Autors zugestellt wurde.

Sicher wird dieses Buch, das noch in keiner anderen Sprache erschienen ist, den Freunden Adlers sehr willkommen sein; auch wenn ohne Zweifel viel von dem Stil durch die Übersetzung verlorengegangen ist, sieht man hier doch den Lehrmeister sozusagen lebendig bei der Arbeit. Hier zeigen sich Geist und Technik, mit denen er die ihm gestellten Fragen angeht, in vieler Hinsicht deutlicher, in jedem Falle auch anders als in seinen Arbeiten, die unmittelbar zur Veröffentlichung bestimmt waren. Etwas vom persönlichen Kontakt ist in den Texten erhalten geblieben. Außerdem läßt er sich hier und dort über bestimmte Fragen, zum Beispiel die Frage der Psychosen, ausführlicher und klarer aus als in seinen anderen Werken. Aus diesen Gründen gehört dieses Buch wahrscheinlich zu seinen lesenwertesten Schriften.

Adler war ein Meister in der Kunst des »Erahnens«. Berichtete man ihm eine Krankengeschichte, dann zog er aus den augenscheinlich unbedeutendsten Mitteilungen die meist unerwartetsten und weitreichendsten Folgerungen. Diese auf den ersten Blick voreilig erscheinenden Schlüsse wurden dann im allgemeinen von dem, was in der Krankengeschichte folgte, in überraschender Weise bestätigt. All dies zeigte eine mehr als gewöhnliche Intuition und eine ganz eigene Kunstfertigkeit. Diese Kunst ist bis zu einem bestimmten Ausmaß erlernbar, vorausgesetzt, man schafft es, sich auf diese Intuition einzustellen, und man wagt es, sich auf sie zu verlassen. Sowohl in den technischen Hinweisen wie auch in den Beispielen, die man in diesem Buch hier und dort antrifft, findet man Spuren von Adlers intuitiver Menschenkenntnis und seiner Kunst, mit Menschen umzugehen.

All dies ist für die an der Individualpsychologie interessierten Leser von großer Wichtigkeit. Gerade auf dem Gebiet der Anwendungen liegen sowohl der Wert wie auch die größten Schwierigkeiten dieser Methode. Wenn überhaupt, dann sind hier Wissen und Fähigkeiten untrennbar miteinander verbunden und ist eins oder das andere nicht denkbar.

Die Psychologie Adlers setzte bei denen, die mit ihr arbeiten, ausgeprägtes Gespür für das voraus, was man »dynamisch« zu nennen pflegt. Sie erträgt fast keine erlernte Theorie oder Regel, weil sie sonst leicht zu einer toten Formel erstarrt.

Andererseits ist unsere traditionelle Welt- und Menschenbetrachtung aufgrund der hinter uns liegenden wissenschaftlichen Epoche hauptsächlich »statisch«. Wir alle sind noch mehr oder weniger mit dieser Betrachtungsweise aufgewachsen, die, wenn auch meistens unbewußt, in uns allen und eben auch in unserer Sprache weiterlebt. »Seele« und »Charakter« werden aus diesem Grunde meistens nicht als »Bewegung«, sondern als »Form« betrachtet. Das Auflösen dieser Form in Bewegung ist aber das Überraschende bei Adlers Betrachtungsweise. Statt Form sieht er Bildung, das heißt die Art, wie der Mensch damit beschäftigt ist und danach strebt, seiner Welt und sich Form zu geben.

Diese andere Sichtweise verlangt vom Betrachter eine enorme Umstellung, sowohl seiner Sicht- als auch seiner Denkweise. Nur wenige Menschen haben eine Ahnung davon, wie viele unbewußte Theorien, wie viele vorgefaßte Meinungen in ihren scheinbar unmittelbaren und vorurteilslosen Wahrnehmungen enthalten sind. Dies erschwert die notwendige Umstellung. Adler verfügte über die außerordentliche Gabe, auch anderen Menschen Bewegungen statt Formen zu zeigen. Auch die Eingeweihten konnte er so noch oft überraschen. Die Dynamik lebendigen Geschehens ist bei Adler nicht eine Funktion der Teile, sondern des Ganzen, getragen vom Ich, das das Zentrum und den die Einheit bewirkenden Faktor der Persönlichkeit darstellt.

Diese Dynamik ist in der Wissenschaft nichts Selbstverständliches. Die Geschichte der Biologie ist geprägt von dem Streit zwischen »Vitalismus« und »Mechanismus«, das heißt vom Problem, ob man zur Erklärung des Geschehens im lebendigen Organismus besondere Begriffe braucht oder ob die Begriffe für die Erklärungen des Geschehens in der unbelebten Natur reichen. Das ursprüngliche und primitive Weltbild des Menschen ist »animistisch«. Alles wird als »beseelt« angesehen. Bäume, Berge, Flüsse und Steine, sie alle werden von Geistern bewohnt und werden in einem bestimmten Sinne als Personen gedacht. Im Grunde werden von primitiven Menschen und primitiven Völkern alle Ursachen personifiziert, das heißt: Alles, was geschieht, wird der Wirkung persönlicher Mächte und Willenskräfte zugeschrieben. Auch heutige Kinder haben noch ein animistisches Weltbild. Das Kind projiziert sein eigenes Erleben ohne weiteres auf nichtlebende Dinge.

 

Der Wissenschaft ist es erst nach langer Zeit gelungen, diese animistischen oder vitalistischen Vorstellungen und Begriffe auf unserer Anschauung der »toten« Natur zu verdrängen. Als Ergebnis entstand eine Naturwissenschaft, in der für persönliche Kategorien kein Platz mehr war. Man ging aber noch einen Schritt weiter und entfernte alle vitalen Begriffe, wenigstens im Prinzip, auch aus unserer belebten Welt. Führend war hier der Philosoph Descartes (geboren 1596), der die lebendigen Geschöpfe als Maschinen betrachtete. Roux (geboren 1855) versuchte, auch die Evolution auf mechanistische Art zu erklären.

Es ist nicht zu leugnen, daß die naturwissenschaftliche Biologie, die das Leben mit Hilfe unpersönlicher Begriffe aus Physik und Chemie zu erklären versuchte, zu außergewöhnlich wertvollen Erkenntnissen geführt hat. Es gelang ihr zu beweisen, daß diese Kategorien sehr wohl auch für den lebendigen Organismus gelten. Sie konnte aber die in sie gesetzten Erwartungen nicht voll befriedigen. Es zeigte sich immer deutlicher die Unhaltbarkeit der Vorstellung, daß das Lebendige auf ausschließlich chemische oder physikalische Weise aus toter Materie entstanden sein soll. Gewollt oder ungewollt kehrte man zurück zu der alten Überzeugung: »Omne vivum ex vivo« (»Alles Lebendige entsteht aus dem Lebendigen«).

Aufgrund dieser Aussage betonte der neubelebte Vitalismus, die Biologie sei nicht lebensfähig ohne eigene, vitale Kategorien, und führte den aristotelischen Begriff der »Entelechie« wieder ein. Man versteht darunter eine dem lebendigen Organismus eigene Fähigkeit, regelnd und steuernd einzugreifen in das natürliche Geschehen und das Zusammenwirken der Teile und damit die Einheit des Organismus herzustellen und aufrechtzuerhalten.

In der Psychologie, die natürlich mit eigenen Begriffen arbeitet, entstand auf analoge Weise neben der (quasi-)naturwissenschaftlichen Seelenkunde eine andere Disziplin, die man als »psycho-vitalistisch« bezeichnen könnte. Diese Psychologie verwendet außer anderen spezifisch psychologischen Begriffen wie zum Beispiel Erinnerung, Bewußtsein, Lust, Unlust – also Wertvorstellungen – schließlich die Kategorie der Zweckmäßigkeit oder Finalität.

Im allgemeinen kann man sagen, daß der Vitalismus dem Individuum eine eigene autonome Aktivität zuschreibt, und darum spricht er von einer schöpferischen Formgebung, wobei die Form als ein statisches Durchgangsstadium zu betrachten wäre. Hier sind wir also zu den bekannten persönlichen Kategorien des Animismus zurückgekehrt, aber mit dem Unterschied, daß man nicht mehr glaubt, damit alles erklären zu können. Im Gegenteil, man sollte nicht vergessen, daß die in der Natur herrschenden kausalen Gesetze auch für Lebensprozesse Gültigkeit besitzen. »Der Geist ist keine Kraft, sondern er ordnet Kräfte.« Daher der Name »Neo-Vitalismus«. Der Psychologie Adlers, deren Schöpfer selbst gern zugab, sie sei nicht »vom Himmel gefallen«, sondern in alten Denkweisen verwurzelt, kommen diese neovitalistischen Auffassungen entgegen. Adler setzt sich, wie er selber sagt, für das »vergessene« Kind ein, das in der ausschließlich naturwissenschaftlichen Psychologie nur allzuoft übersehen wird. Er plädiert also, mit anderen Worten, für die Autonomie des Ichs, der Persönlichkeit.

Mit diesem »Ich« schuf er einen Begriff, der sich dem Entelechie-Begriff seines Zeitgenossen Driesch (geboren 1867) anlehnt, dessen Betrachtungen den Namen Neo-Vitalismus am ehesten gebühren. Der Entelegie-Begriff aber bezieht sich mehr auf die Regelungen der Beziehungen zwischen den Teilen des Organismus, während dem Ich mehr die Regelung der Beziehungen zwischen Organismus und Milieu zugeschrieben wird. Psychologie kann man somit auch als Wissenschaft der menschlichen »Beziehungen« bezeichnen.

Heutzutage sind die neo-vitalistischen Auffassungen dabei, die materialistischen oder naturalistischen Theorien zu verdrängen. Sie werden also wahrscheinlich eines Tages auch in das alltägliche Denken und Handeln eindringen.

Dies ist sehr wichtig sowohl für künftige Therapien von Kriminellen und Geisteskranken wie für die Erziehung der Kinder und für die Verhaltensweisen von Erwachsenen. Freiheit und Autonomie erhalten wieder ihren Platz in der Wissenschaft. Keine vorbestimmte Form bildet mehr das Typische der Persönlichkeit, sondern seine selbständigen, schöpferischen und konstruktiven Kräfte. Die Rolle der Gesetze der Vererbung wird sich völlig ändern, weil dem schöpferischen Individuum weder von Erbmasse noch Milieu vorgeschrieben wird, wie es seine Beziehungen zur Außenwelt gestaltet. Adlers bekannter Spruch: »Alles kann auch anders sein« ist eine optimistische Aussage, wenn man ihn vergleicht mit dem Inhalt des bekannten Vortrags Professor Stomps, der deutlich und pointiert den Standpunkt derer formuliert, die ausschließlich auf die Wirkung der Erbgesetze setzen. Daß dieser Standpunkt von einer wissenschaftlichen Autorität so vehement vertreten werden konnte, läßt erkennen, daß das vitalistische Gedankengut noch heftig umstritten ist. Es ist auch nicht ungefährlich, einseitig und voreilig einen finalen, autonomen Faktor zur Erklärung von Lebensprozessen heranzuziehen. Die Gefahr liegt nahe, dadurch wieder zurückzukehren zu primitiven animistischen Denkweisen, die das Kind veranlassen, den Tisch »böse« zu nennen, wenn es sich an ihm den Kopf gestoßen hat. Neben den finalen sollten immer auch kausale Betrachtungsweisen stehen. Die möglichst weitgeführte Analyse sollte uns die Bedingungen der möglichen Synthese erschließen.

Eine einseitige Analyse ohne möglichst wirklichkeitsgetreue und dem Problem gerecht werdende umfassende Idee bringt aber ebenfalls Gefahren mit sich. Dazu zählt das sinnentleerte Sammeln von Fakten und Zahlen oder das Weiterarbeiten aufgrund von Folgerungen, die nur scheinbar von Fakten untermauert werden. In der Psychologie und in der Selbsterkenntnis sind solche vorgefaßten Meinungen besonders irreführend, weil der Mensch mehr, als man gemeinhin annimmt, die Neigung hat, »die Folgen folgen zu lassen«. »Ich bin ein Säufer, weil mein Vater und mein Großvater Säufer waren.« Johannes Pfeiffer betont in seiner Arbeit »Existenzphilosophie« die Beschränktheit sowohl von »Mechanismen« oder »Naturalismen« als von »Finalismen« oder »Idealismen«. Das von ihm mit dem Ausdruck »Realismus« bezeichnete philosophische Gebäude Heideggers (geboren 1889) wird beiden Prinzipien gerecht. Der »dunkle Grund« der menschlichen Existenz ist die »Geworfenheit«, aber: »Der Mensch ist nicht einfach da, sondern verhält sich zu seinem Dasein!« und »Sein Denken ist ihm nicht gegeben, sondern aufgegeben«. Das »Dasein« des Menschen ist keine einmalig gegebene »fertige Tatsache«, sie ist vielmehr ein Seins-Charakter, ein Ausgespannt-Sein zwischen »Faktizität« oder »Geworfenheit« und »Idealität« oder »Entwurf«. Ich meine, daß das der Individualpsychologie zugrundeliegende Menschenbild kaum besser und treffender wiedergegeben werden kann.

Adler ging beim Aufbau seines psychologischen Systems von der »Organminderwertigkeit« aus und stellte die Kompensation als eine »schöpferische Leistung«, also als »Entwurf« heraus. (Dieser Gedanke wies auch der Konstitutionslehre in der Psychologie ihren Platz zu und zeigte die Brücke auf, die das Körperliche und das Geistige verbindet.)

Eine andere Ausgangsposition war die Stellung des Kindes im Kosmos und in der Gesellschaft. »Konstitution« und »soziales Milieu« bilden zusammen die Faktizität, die dem Kind gegeben ist; sie bedeuten seine »Geworfenheit«. Entscheidend aber ist nicht allein die Geworfenheit, viel wichtiger ist, was das Kind mit dieser Situation macht, wie es sich ihr stellt, wie sein »Entwurf« beschaffen ist.

Es wird deutlich, daß wir hier ein Menschenbild vor uns haben, das gute Ansatzpunkte bietet für Therapie und Erziehung. Für den Arzt und für den Erzieher ist der »Entwurf«, von Adler »Lebensstil« genannt, das Dynamische, das also, was allein zählt. In der Individualpsychologie wird es denn auch als das eigentlich Psychische betrachtet, während das, was als Erbgut mitgebracht wird, neben dem, was bereits geformt ist, zur »Geworfenheit« gerechnet wird. Die Psyche ist also das bildende oder formgebende Prinzip, also dynamisch, das Organische ist das Geformte, also statisch. Der zuletzt benutzte Begriff kann mit Hilfe von Termini wie »Reflex« oder »Instinkt« umschrieben werden.

Adler ist mit Sicherheit der wichtigste Wegbereiter der dynamischen Psychologie gewesen, und er wird es auch nach seinem Tode bleiben. Dem widerspricht aber nicht, daß solche Auffassungen später auch bei anderen angesehenen Forschern wie zum Beispiel Piaget, das Ehepaar Bühler, Kretschmer und anderen einen immer wichtigeren Platz einnehmen. Adler begrüßte es immer, wenn sich herausstellte, daß andere seine Einsichten übernahmen, gleich, ob sein Name dabei erwähnt wurde: »Ein jeder soll sich der Individualpsychologie bedienen und mag nehmen, was er braucht!«

Wir haben versucht, die Hintergründe der Adlerschen Gedanken zu beleuchten. Man könnte seine »Individualpsychologie« als neo-vitalistische, als realistische Psychologie bezeichnen. Einerseits bezieht sie sich auf die »Geworfenheit« des Individuums, die begründet ist in der Faktizität seines Erbguts, seines zufälligen sozialen Milieus und der allgemeingültigen Naturgesetze. So ist seine Psychologie verwurzelt in der Naturwissenschaft. Andererseits befaßt sie sich mit den Geisteswissenschaften, insofern sie auch und hauptsächlich den finalen, formgebenden Faktor im Blick hat, die schöpferische Idee. Der »Entwurf« ist der »Lebensplan« oder besser der »Lebensstil« (dieser Begriff meint das Streben, die dynamische Spannung).

Selbstverständlich verlangt eine so realistische Psychologie eine andere Art der Analyse, eine andere Wahl, Rangordnung und Erklärung der Fakten als die naturalistische Psychologie. Für die Individualpsychologie gehören die psychischen Fakten nicht zur »Geworfenheit«, sondern zum »Entwurf«. Sie werden von den kausalen Faktoren nicht vollkommen determiniert. Was aber heute »Entwurf« ist, wird morgen zur »Geworfenheit«. Der Mensch wird also von seinem »Entwurf« bestimmt. Der Begriff »Entwicklung« wird nicht mechanisch, also passiv verstanden. Die Entwicklung ist nicht auf eine vom Erbgut bestimmte Form gerichtet, sondern ein aktives, intelligentes »Sich-Entwickeln« mit Hilfe der autonomen Selbstverwirklichung des Individuums, das nach einer subjektiv höher eingeschätzten Endform strebt. Hier wird also eine optimistische Antwort auf die Frage gegeben: »Faut il faire sa vie au lieu de la subir?«

1.Einführung: Vorbereitung ist alles

Das Streben soll sich auf Ewigkeitswerte richten · »Jeder Mensch kann alles«

Als Einführung zu unserer gemeinsamen Arbeit möchte ich Ihnen eine Geschichte von einem chinesischen Schriftsteller erzählen, der vor ungefähr 3000 Jahren gelebt hat. Nur wenige Leute scheinen die Lehre aus dieser Geschichte in die Praxis umzusetzen. Ich selbst bemühe mich, es zu tun, und auch für Sie kann es von Nutzen sein, wenn Sie sich mit dem Inhalt dieses Buches beschäftigen.

Ein Holzschnitzer schuf einmal ein herrliches Bild, das zunächst von jedermann als echtes Kunstwerk bewundert wurde. Auch sein Fürst, Prinz Li, war voll des Lobes und fragte ihn nach dem Geheimnis seiner Kunst. Der Bildhauer antwortete: »Wie soll ich einfacher Mann und Euer Diener vor Euch ein Geheimnis haben können? Ich besitze kein Geheimnis, noch ist meine Kunst etwas Besonderes. Ich will Euch aber erzählen, wie mein Werk entstanden ist. Als ich mir vorgenommen hatte, ein Bild zu schnitzen, bemerkte ich, daß in mir zuviel Eitelkeit und Hochmut waren. Ich arbeitete also zwei Tage, um mich von diesen Sünden zu befreien, und glaubte dann, sie abgelegt zu haben. Aber dann entdeckte ich, daß ich von Eifersucht auf einen Berufsgenossen getrieben wurde. Ich arbeitete wieder zwei Tage und überwand meine Eifersucht. Danach bemerkte ich, daß ich zuviel nach Lob verlangte, und es kostete mich wieder zwei Tage, dieses Verlangen zu überwinden. Zum Schluß stellte ich fest, daß ich ständig daran dachte, wieviel Geld ich für dieses Bild wohl bekommen würde. Diesmal brauchte ich vier Tage, doch endlich fühlte ich mich frei und stark. Ich ging in den Wald, und als ich einen Tannenbaum erblickte, von dem ich spürte, daß er und ich zusammenpaßten, fällte ich ihn, schleppte ihn nach Haus und ging ans Werk.«

Fazit dieser Geschichte wäre also, wer eine wichtige Arbeit beginnt, sollte sich selbst dabei vergessen. Nun können wir uns natürlich nicht jeden Tag und jede Stunde unseres Lebens darauf besinnen, in welcher Geisteshaltung wir eine Arbeit oder eine Handlung verrichten sollen und welches der tiefere Sinn unserer Tätigkeit sei. Uns Pädagogen und Psychologen muß dieser Sinn aber wenigstens von Zeit zu Zeit bewußt sein. Schließlich ist unsere Arbeit eine Art »Ausbrüten«, wobei wir uns in den Lauf der Natur einmischen, also in das Werden, in das Entstehen von Zukunft. Die Menschheit würde nicht an Erziehung gedacht haben, bestünde nicht die unabweisbare Notwendigkeit, die folgende Generation auf das Leben vorzubereiten. Wir können uns nicht damit begnügen, das Kind für das Heute zu erziehen, sondern müssen uns als Richtschnur die Frage stellen: »Wie kann das Kind später in seinem Leben am besten bestehen?« Später will in diesem Fall sagen: in einer Zukunft, von der wir wenig wissen, aber von der wir uns doch wegen unserer Kinder eine Vorstellung machen und die wir selbst erschaffen müssen. Wir sollten uns ein Bild vom künftigen Menschen machen, wie wir ihn uns wünschen; natürlich nicht um unserem egoistischen Verlangen entgegenzukommen, sondern um unseren Nachkömmlingen so gut wie möglich die Anpassung an ihre Zeit zu ermöglichen.

Ich möchte Ihnen ein aufschlußreiches Beispiel von den Folgen einer unvollständigen Vorbereitung auf das Leben erzählen. In einer kleinen Stadt in Nordamerika, die sich schnell vergrößerte, lebte eine fromme Sekte, die sich nicht mit den anderen Einwohnern vermischen wollte. Wie auf einer Insel wohnend, wurden ihre Kinder ausschließlich nach den Regeln des eigenen Glaubens erzogen. In der ersten Generation dieser Sekte gab es keine Kriminellen, in der zweiten Generation jedoch auffallend viele junge Kriminelle, während es in der dritten Generation buchstäblich von Bösewichtern wimmelte. Juristen und Philanthropen zerbrachen sich den Kopf über dieses Phänomen. Die Erklärung dafür ist aber einfach, wenn man die Menschen nicht isoliert betrachtet. Schon in der zweiten Generation kamen die Kinder dieser Sekte in Berührung mit anderen Einwohnern der Stadt. Sie besuchten Schulen, mußten Handel treiben, einen Beruf ausüben usw. usw. Aufgrund ihrer klosterähnlichen Erziehung waren sie auf ihre Aufgaben nicht vorbereitet. Wann immer ein Mensch auf seine Aufgabe nicht vorbereitet ist, versagt er.

Vorbereitung ist alles! Sie ist der Kern jeder Erziehung und jeder Behandlung seelischer Erkrankungen. In den meisten Fällen kommt es zu Fehlentwicklungen, weil die Kinder für ein Leben gemeinsam mit uns nicht gerüstet sind. Sie spüren dann, daß sie versagen, werden unglücklich und enden in Trunksucht, Geistesstörung, Kriminalität oder Selbstmord. Aus den Kindern dagegen, die mit anderen zusammengehen, mit anderen gemeinsam arbeiten und die sich in einem Leben, das der Vorbereitung auf die Zukunft gewidmet ist, heimisch fühlen, werden glückliche Menschen. Der Erzieher muß nicht nur die Persönlichkeit der ihm anvertrauten Kinder, sondern auch die Probleme der Außenwelt begreifen. Er darf nicht nur individuelle Psychologie betreiben (die nicht verwechselt werden sollte mit Individualpsychologie!), sondern er muß einen klaren Blick haben für die Aufgaben des Kindes. Sowohl das Bewältigen der Schule als auch aller anderer Lebensfragen müssen dem Kind in einer Form nahegebracht werden, daß sie es als Etappen vor sich sieht, als Schritte auf dem Weg in die Zukunft mit Problemen, wie sie durch Erwachsene gelöst werden müssen. Der Lehrer kann das Interesse seiner Schüler nicht besser wecken, als wenn er ihnen zu verstehen gibt: »Was du jetzt lernst, ist eine Vorbereitung für später, wenn du erwachsen bist.« Im Anschluß an das oben Erörterte will ich Ihnen ein Beispiel erzählen. Es betrifft einen Jungen von 13 Jahren, der es noch nicht weiter als bis zur 5. Klasse gebracht hat. Die Individualpsychologie geht davon aus, daß wir von Anfang an unseren Verstand benützen, und so stellen wir sofort fest, daß dieser Junge in seiner Entwicklung verlangsamt ist. Wahrscheinlich ist er zweimal sitzengeblieben, denn seinem Alter nach gehörte er in die 7. Klasse. Er ist der schlechteste Schüler, nicht allein in seiner Klasse, sondern in der ganzen Schule. Man wußte sich in der Schule nicht mehr zu helfen. Er hatte zahlreiche Diebstähle begangen und ist wiederholt weggelaufen, so daß die Polizei ihn aufspüren und wieder nach Hause bringen mußte. Er ist auf vielerlei Weise bestraft worden, aber es hat nicht geholfen.

Strafen und Schläge sind in Schulen gebräuchlich, aber in diesem Fall haben sie genausowenig geholfen wie in den meisten anderen Fällen. Letztendlich wurde er in eine Erziehungsanstalt geschickt, als letzter Ausweg einer Familien- und Schulerziehung, die vor ihrer Aufgabe versagt hat. In seinem ganzen Leben ist der Junge nicht zur Zusammenarbeit erzogen worden, sondern um zu stehlen und zu vagabundieren.

In einer Anstalt kann man ihn wohl daran hindern, wieder auszureißen, auch kann man ihm das Stehlen erschweren, aber man kann ihn unmöglich zu freiwilliger Mitarbeit zwingen. Jede Zusammenarbeit beruht auf einem schöpferischen Akt, auf der eigenen Initiative und kann nicht von außen erzwungen werden. Höchstens in sehr leichten Fällen besteht die Möglichkeit, daß ein strenger Eingriff zur Besserung führt, und zwar nur dann, wenn dieser strafende Eingriff das Kind auf eine gute Idee bringt und es eine Möglichkeit in einer erfolgreicheren Richtung entdecken läßt, die es dann trotz der Strafe einschlägt. Es ändert also seine Haltung und beginnt den selbstentdeckten neuen Weg zu gehen.

Meistens bleiben in solchen Fällen die Resultate mangelhaft, denn es fehlt den Kindern an ausreichendem Material für ihre Lebensauffassung. Die Strafe ersetzt diesen Mangel nicht. Oft brauchen die Kinder nach ihrem Fehlschlag einige Zeit, um zur Besinnung zu kommen, anders schaffen sie es mit dem besten Willen nicht. Es ist möglich, daß es zweckmäßige Erziehungsanstalten gibt. Im allgemeinen herrscht in diesen Einrichtungen jedoch zu wenig Verständnis für die Eigenarten der Kinder, die dort untergebracht sind. Manche Statistiken zeigen, daß 70 Prozent der jugendlichen Klienten schon mehrmals in einer Erziehungsanstalt gewesen sind. Es zeigt sich also deutlich, daß es an richtiger Behandlung schwieriger Kinder fehlt und daß die bisher verfolgte Richtung nicht zu dem gewünschten Ergebnis führt. Der genannte Junge kam in eine gute Einrichtung. Es gab dort einen Erzieher, der die Individualpsychologie studiert hatte und sie auch anwandte und so mehr tat, als nur Berichte zu lesen, in denen die Fehler des Kindes aufgezählt waren und in denen vielleicht von möglichem Schwachsinn die Rede war. Der Erzieher wußte, daß solche Phänomene stets das Endresultat des kindlichen Lebensstils sind. Dieses Kind mußte also eine Vorbereitung gehabt haben, die nicht für die Schule geeignet war. Der Lehrer schaute sich die Schulzeugnisse des Jungen an. In den ersten drei Jahren hat der Junge gute Noten gehabt. Erst im 4. Jahr begann das Elend. Der Lehrer zog daraus den Schluß, daß das Kind in den ersten drei Jahren einen anderen Lehrer gehabt haben muß als später. Der erste war vermutlich freundlich und gut gesonnen gewesen, und der Junge hatte mit ihm zusammengearbeitet. Er arbeitete also nur mit, wenn er genügend menschliche Wärme verspürte. Die späteren Lehrer werden weniger freundlich gewesen sein, und diesem Umstand war das Kind nicht gewachsen. Hier haben wir also, wie in so vielen Fällen, die Folge eines verwöhnenden Lebensstils.

Als nächstes erfragte der Erzieher von dem Jungen selbst, wie er zu seinen Fehltritten gekommen war. Seine Vermutungen wurden bestätigt. Der Junge erzählte: »Der Lehrer in der vierten Klasse konnte mich nicht leiden.« Es kommt wenig darauf an, ob dies stimmt. Der Junge hatte jedenfalls diese Meinung, und so ist es mit uns allen: Wir leben nicht nach objektiven Fakten, sondern nach unserer Auffassung über diese Fakten. Dann fragte der Erzieher weiter: »Warum hast du gestohlen?« Die Antwort war: »Wir sind arm. Ich hatte keine Freunde und wollte doch Freunde haben. Dann habe ich gestohlen und habe das, was ich gestohlen habe, meinen Schulkameraden geschenkt, um sie so zu meinen Freunden zu machen.« Hier sieht man wieder: Der Junge sehnte sich sehr nach Wärme und Zuneigung. Er handelte also in Übereinstimmung mit seinem Ziel und also von seinem Standpunkt aus gesehen vernünftig. Als schlechter Schüler in armseligen Verhältnissen kann man nur sehr schwer Freunde finden. Er mußte sich also Freundschaft erkaufen. Aus diesem logischen Gedankengang konnte der Erzieher, ohne von dem Jungen noch mehr zu wissen, mühelos schließen, daß er nicht schwachsinnig war. Das Kind handelte falsch, aber auf dem falschen Weg mit großer Intelligenz. Der Erzieher fragte weiter: »Warum bist du immer ausgerissen?« – »Immer wenn ich schlechte Noten bekam, schlug Vater mich und Mutter weinte. Darum lief ich lieber weg und versteckte mich. Aber nachts suchte ich Holz und legte es meiner Mutter vor die Tür, so daß sie morgens den Ofen anmachen konnte.« Dies beweist, daß seine Mutter die einzige Person war, die ihm Wärme vermittelte. Er versucht auch sie zu kaufen, genauso wie seine Kameraden. Der Junge ist nicht auf Zusammenarbeit vorbereitet, und er kann nicht mit gleichgültigen Menschen zusammenleben. Er will Wärme empfangen. Sein Lebensstil ist ein geschlossenes System und für uns gut zu durchschauen. Wir wissen, daß er jede Situation vermeiden wird, in der er nicht von Wärme umgeben ist, und schließen daraus, daß wir, wenn wir ihn für uns gewinnen wollen, vorläufig nichts anderes tun können, als ihm Wärme zu geben und freundlich zu ihm zu sein. Es gibt keine andere Möglichkeit, dieses Kind zu gewinnen.

Kinder, die Wärme suchen, bilden die Mehrheit aller schwierigen Kinder. Solange wir ihnen Wärme geben, werden sie sich tadellos benehmen. Ihr Lebensstil bleibt dadurch jedoch unverändert. Beinahe alle schwierigen Kinder haben sich ursprünglich eingestellt auf Wärme, Unterstützung und Freundlichkeit. Sie haben den verwöhnten Lebensstil.

Bei einer Untersuchung wie dieser sollte man skeptisch sein. Vielleicht ist alles doch nur eine Fata Morgana und Produkt unserer eigenen Phantasie. Wir forschen also weiter! Ein Kontrollmittel, das immer weiterhilft und oft zu neuen Einsichten führt, besteht darin, die früheste Erinnerung zu untersuchen. Diese Untersuchung verlangt aber Einfühlungs- und Kombinationsvermögen. Jeder Mensch verfügt über einen eigenen Lebensstil und spielt daher sein ganzes Leben lang dieselbe »Melodie«. Wer den Komponisten Bach gut kennt, wird bei jeder neuen, ihm gänzlich unbekannten Komposition dieses Tonkünstlers sagen können: »Dies ist ein Stück von Bach.« Der ganze Künstler ist in jedem Element seiner Musik präsent. Deswegen ist es möglich, jeden Menschen schon in seinen frühesten Jugenderinnerungen wiederzuerkennen.

Fast alle Autoren, die über die Individualpsychologie schreiben, begehen den Fehler, den verwöhnenden Lebensstil aus der Haltung der Mutter oder anderen Familienmitgliedern abzuleiten. Ich entdecke den verwöhnenden Lebensstil aber auch häufig da, wo die Mutter alles vermieden hat, was nach Verwöhnung aussah, und man sogar eher von Verwahrlosung hätte sprechen können. Der verwöhnende Lebensstil ist vorhanden, sobald das Kind nach Verwöhnung, das heißt nach unmittelbarer Erfüllung seiner Wünsche durch andere, strebt und meist Erfolg damit hat. Die früheste Erinnerung unseres Jungen war: »Als ich vier Jahre alt war, hat mein Vater mich losgeschickt, um eine Zeitung für ihn zu holen. Aber – dieses Aber ist bezeichnend für die Beziehung des Kindes zu seinem Vater – statt dessen ging ich zu meinem Onkel. Der gab mir Süßigkeiten, und die brachte ich meiner Mutter.« Der Weg des Knaben entfernt sich von seinem Vater und führt über seinen Onkel zu seiner Mutter. Wir sehen hier das gleiche Muster wie beim Weglaufen und seiner Mutter heimlich Holz bringen.

Nach Ablauf eines Jahres gehörte der Junge zu den besten Schülern seiner Gruppe. Auch sonst hatte er sich gut entwickelt. Der Erzieher hat ihn durch Freundlichkeit gewonnen und so dafür gesorgt, daß zwischen ihm und seinem Zögling eine gute Beziehung entstand. Dies führte auch zu mehr sozialen Bezügen des Kindes. Und nun holte der Erzieher nach, was die Mutter versäumt hatte: Er zeigte dem Jungen, warum er Schiffbruch erlitten hatte, und er erklärte ihm seinen falschen Lebensstil.

Nun fragen uns die Menschen, auch viele Ärzte, oft: »Wie kann man durch Sprechen einen Menschen verändern?« Es geht in solchen Fällen um falsche Meinungen, und die kann man allein durch erklärte Regeln verändern, weil ein falsches Urteil auf Verstandesebene korrigiert werden muß. Dann kommt aber der Einwurf: »Aber das ist purer Intellektualismus! Wo bleibt der Einfluß des Gefühls und des Willens?« Solche Einwände stammen von psychologischen Stümpern, die meinen, daß das Seelenleben sich in Schubladen einordnen läßt, in denen, sauber voneinander getrennt, Denken, Fühlen und Wollen untergebracht sind. Solche Trennungen gibt es nicht. Es gibt nur ein ganzes, ungeteiltes Seelenleben. Von ihm erkennen wir einmal deutlicher das Denken, dann wieder das Fühlen, Wollen und Handeln. Diese Funktionen sind immer alle gleichzeitig wirksam, und bei jeder psychischen Bewegung ist die gesamte Seele aktiv.

Auch dieser 13jährige Junge hatte einen sehr bestimmten, einheitlichen Lebensstil, der sich nur verändern ließ, nachdem der Junge ihn kennengelernt hatte und er die Fehler erkennen konnte. Vielleicht wäre es gelungen, das Entstehen dieses Lebensstils zu verhindern, wenn seine Mutter rechtzeitig aufgeklärt worden wäre und sich dann anders verhalten hätte. Man kann aber einen falschen Lebensstil auch später noch ändern. Dazu sind Eltern, die beim Entstehen von Fehlern immer beteiligt sind, selten in der Lage. Dies kann allein durch die Schule und die Lehrer geschehen. Diese Aufgabe der Schule ist so wichtig und umfassend, daß ich nicht davor zurückschrecken würde, ein Gesetz zu erlassen, nach dem kein Kind die Schule verlassen darf, bevor man mit einiger Sicherheit erwarten kann, daß es sich als Mitmensch und Mitarbeiter am allgemeinen Wohl beteiligen wird.

Man darf sich dabei nicht auf das Wohl der Familie, der Schule, der Stadt oder des Landes beschränken. In diesen Fällen kann man noch von Gruppenegoismus sprechen. Das einzige richtige Maß ist das Wohl der gesamten Menschheit und die dafür notwendige Arbeit und Sorge um die Zukunft. Von der Natur dieser Arbeit wissen wir nur wenig, aber wir wissen, daß die Zukunft einen Menschentyp braucht, der ein stärkeres Gemeinschaftsgefühl und eine bessere Fähigkeit zur Kooperation besitzt, als wir sie gegenwärtig antreffen. Die Aufgabe der Individualpsychologie können wir wie folgt zusammenfassen: Aus den Besonderheiten der Beziehung eines einzelnen Individuums zu seiner Umwelt ist das gesamte Individuum zu rekonstruieren, seine Meinung über sich selbst und seine Lebensaufgaben zu erschließen und die ihm als Ideal vorschwebenden Erfolgsmöglichkeiten herauszufinden. Dazu gehört eine sorgfältig entwickelte, scharfe Beobachtungsgabe hinsichtlich der Eigenarten der Situation, der Handlungen und der gesamten Dynamik des Individuums. Die Individualpsychologie ist von allen Theorien des Seelenlebens die dynamischste. Sie erkundet die Haltung des Individuums gegenüber den Problemen, welche die Außenwelt ihm bereitet. Man kann diese Probleme in drei Gruppen einteilen. Die erste Art von Problemen bezieht sich auf das Verhalten des Menschen zum Kosmos. Der Mensch muß sich den kosmischen Umständen und Gesetzen anpassen. Man kann dies als Überlebenswillen bezeichnen, doch muß hier die ferne Zukunft mit berücksichtigt werden, denn es geht um den Fortbestand der gesamten Menschheit bis in alle Ewigkeit. Ernährungswissenschaft, Körperhygiene und medizinische Wissenschaft sind keine zufälligen Entdeckungen des menschlichen Geistes, sondern Ergebnisse der notwendigen Auseinandersetzung des Menschen mit seinen kosmischen Problemen.

Nehmen wir zum Beispiel die wichtige Frage unserer Ernährung. Weil wir auf einer kargen Erdoberfläche leben, müssen wir viel Fleiß und Mühe aufwenden, um uns zu ernähren. Arbeit ist also keine unnötige Quälerei, sondern unmittelbare Folge unserer Beziehung zum Kosmos. Nur wenn Sie die Dinge so betrachten, wird deutlich, warum Fleiß, Sauberkeit, gute Ernährung und körperliche Ertüchtigung Tugenden sind. Sie ermöglichen es uns nicht nur, am Leben zu bleiben, sondern sichern auch den Fortbestand des Menschengeschlechts im allgemeinen. Diese Tugenden bilden darum für uns Erdbewohner die normale und einzig wahre Lebensweise. Jede Abweichung, die nicht das gleiche günstige Resultat verspricht, muß darum als Gegensatz zum Wahren und Guten betrachtet werden. Faulheit, Unsauberkeit, alle ungesunden Lebensgewohnheiten stehen im Widerspruch zum Verstand, dem »comon sense«. Ein großer Teil der Erziehung ist der Vorbereitung zur Lösung kosmischer Probleme gewidmet. Auch das Kinderspiel gehört dazu, weil es ein Training ist für das spätere Leben. Das Spiel schärft die Sinne, stärkt die Körperkraft und erzeugt Geschicklichkeit. All diese Dinge sind lange bekannt, aber es ist von großer Wichtigkeit, sie sich immer wieder zu vergegenwärtigen, weil es notwendig ist, daß wir einen Maßstab zur Verfügung haben. Um Art und Ausmaß eines Fehlers richtig einschätzen zu können, muß man bestimmen, inwieweit dieser Fehler von der richtigen Einstellung zu den Ewigkeitswerten abweicht.

Natürlich gibt es Meinungsverschiedenheiten über diese Werte. Ist es zum Beispiel für die Entwicklung der Menschheit vorteilhaft, wenn Kinder sich anstrengen, einander zu übertreffen? Sind Spiele nützlich, die Eifersucht aufeinander wecken? Sollte man zu Kriegsspielen ermutigen? Darf man Kindern Feuerwaffen in die Hand geben? Von unserem Standpunkt aus werden wir all dies verurteilen, denn hier werden Eigenschaften herangezüchtet, die der Allgemeinheit nicht zugute kommen und keine Ewigkeitswerte besitzen. Auch Spiele, die allein gespielt werden, reichen nicht aus. Im späteren Leben müssen die meisten Arbeiten mittels der Zusammenarbeit vieler bewältigt werden. Je besser das Kind auf diese Zusammenarbeit vorbereitet wird, desto leichter werden ihm später diese Aufgaben fallen. Natürlich erkennen wir sehr deutlich die Unmöglichkeit, ein Kind so zu trainieren, daß es auf alle künftigen Aufgaben vorbereitet ist. Man kann nun mal keine Erziehung auf die Erwartung gründen, daß das Kind während seines gesamten weiteren Lebens nur mit den in der Jugend trainierten oder mittels Dressur erworbenen Reflexen auskommt, auch wenn zum Beispiel Bechterew, Pawlow und die Behavioristen dies behauptet haben. Denn der Mensch kommt immer wieder in ganz neue, früher nicht vorausgesehene Situationen. Wir können das Kind aber darauf vorbereiten, auch in neuen Situationen seinen Weg zu finden und das Wesen einer neuen Aufgabe zu entdecken.

Um eine Aufgabe lösen zu können, muß man verschiedene Bedingungen erfüllen. Erstens: Man muß sich entscheiden, sie zu Ende zu bringen. Bei vielen Kindern und Erwachsenen fehlt die Einsicht dieser Notwendigkeit. Zweitens: Man muß optimistisch sein. Man muß überzeugt sein, daß man bis zum Ende gehen kann. Drittens: Man sollte sich selbst nicht im voraus Grenzen setzen. Wenn man sich selbst im voraus Grenzen setzt, kommt man bis an diese Grenze und nicht weiter. Auf diese Weise kommt es zu den meisten Mißerfolgen, bei Kindern wie auch bei Erwachsenen. Welche Folgen diese Selbstbegrenzung nach sich ziehen kann, lehrt uns ein schönes Beispiel aus der Tierpsychologie.

Zwei Forscher, Katz aus Rostock und Schelderrob aus Kopenhagen, haben das Verhalten von Hühnern studiert. Sie bemerken bei einer Gelegenheit, daß Huhn A hinter Huhn B herläuft, während Huhn B ängstlich wegrennt. Am nächsten Tag verfolgt Huhn B das Huhn C und jagt und pickt es den ganzen Tag. Am dritten Tag aber verfolgt Huhn C das Huhn A, und jetzt flüchtet Huhn A, ohne sich zu wehren.

Die einzig mögliche Erklärung ist, daß Huhn B meint, Huhn A sei das stärkste, während Huhn C glaubt, Huhn A sei das schwächste, und so weiter. Das Verhalten, und damit der Erfolg, hängt also selbst bei Hühnern von der »Meinung« ab. Diese Meinung bildet sich aber häufig schon viel zu frühzeitig, nach einem anfänglichen oder auch nach einem Scheinerfolg. Ein erster Erfolg kann daher über das ganze Leben eines Huhns entscheiden.

Bei uns Menschen verhält sich das nicht anders. A meint, daß er der beste in Mathematik sei, B weiß, daß er der zweite, C, daß er der dritte ist, und Z ist fest davon überzeugt, daß er der letzte sei. Aber keiner kommt auf den Gedanken oder vermutet, daß diese Kinder sich selbst Grenzen gesetzt haben oder daß andere ihnen diese Grenzen aufgezeigt haben. Die Kinder akzeptieren die Grenzen und überschreiten sie nicht. Sie staunen, wenn sich zufällig herausstellt, daß diese Grenzen tatsächlich nur gedanklich und willkürlich waren. Mir ist als Kind widerfahren, daß ich vor der Austeilung der Schulzeugnisse schon ausgerechnet hatte, daß ich von 46 Schülern der 10. sein werde. Als ich dies den anderen erzählte, glaubte mir niemand. Bei der Bestimmung der Rangordnung stellte sich tatsächlich heraus, daß ich der 10. war! Durch Überlegung kann jeder Schüler den Rang errechnen, den er innehat. Er sieht aber nicht ein, daß er dort nicht stehen muß.

Als ich aufs Gymnasium kam, war ich dort der Schlechteste in Mathematik. Der Lehrer beklagte sich einmal bei meinem Vater darüber, er habe noch nie so einen unbegabten Schüler gehabt. Ich konnte unmöglich versetzt werden, blieb folglich sitzen und wiederholte die erste Klasse. Dann bekam ich einen anderen Lehrer, der, obwohl er mich nicht kannte, dennoch bald behauptete, er habe noch nie solche Dummheit erlebt. Mit Hilfe von Nachhilfestunden bemühte ich mich weiter und kam in die 2