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Geliebte Adoptivtochter, vergötterte Ehefrau, geschätzte Freundin und erfolgreiche Innenarchitektin. Val führt ein glückliches und sorgenfreies Leben in der wunderschönen Karl-May-Stadt. Samuel kann sich nicht erklären, wieso all das ihr plötzlich nicht mehr wichtig zu sein scheint. Ihrer besten Freundin ist Val nur noch fremd und dieser andere Mann, der als Teil ihrer Vergangenheit plötzlich wieder auftaucht, stellt sie alle vor ein Rätsel. Einzig ihre Mutter hat eine dunkle Ahnung und setzt sich damit einer unvorhersehbaren Gefahr aus. Zunehmend misstrauisch begibt sich Samuel auf die Suche nach einer Erklärung – nicht ahnend, dass das, was er findet, alles in Frage stellt… „Denn nur, weil ich nicht schuldfähig war, war ich noch lange nicht unschuldig.“
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Veröffentlichungsjahr: 2024
Lebensraub
Johanna Koers
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek. Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Veröffentlicht bei Infinity Gaze Studios AB
1. Auflage
Oktober 2024
Alle Rechte vorbehalten
Copyright © 2024 Infinity Gaze Studios
Texte: © Copyright by Johanna Koers
Lektorat: Sandra Zenker
Korrektorat: Gisela Hackmann, Marie Jasmin Schneider
Cover & Buchsatz: V.Valmont @valmontbooks
Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung von Infinity Gaze Studios AB unzulässig und wird strafrechtlich verfolgt.
Infinity Gaze Studios AB
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829 60 Gnarp
Schweden
www.infinitygaze.com
„Selbst das eigene Leben ist
nur ein Schauspiel.
Jeder muss seine Rolle gut spielen,
gleichgültig, was für eine es ist.“
Francisco de Quevedo
Märchenstunde
Es war einmal ein kleines Mädchen. Geboren als Tochter einer armen Roma lebte sie am Rande von Rumänien im Slum von Baia Mare, in dem die Straßen genau dort enden, wo die ersten Roma leben. Es fehlte ihrer Mutter an allem, um ihrer Tochter und sich ein schönes Zuhause zu schenken, und so wuchs das Kind mit den pechschwarzen Haaren in bitterer Armut auf. Sie kannte kein fließendes Wasser und keinen Strom. Eine alte Holzhütte bot ihnen nicht mehr als ein brüchiges Dach über dem Kopf. Ein einziger, winziger Raum, der kleiner war als ein Badezimmer. Die kaputte Tür und die undichten Fenster ließen sich nicht mehr schließen. Um ihre Tochter vor dem eisigen Winterwind zu schützen, hatte ihre Mutter die Öffnungen notdürftig mit alten Laken abgedeckt. Ein Sofa, dessen Federn an jeder Stelle heraussprangen, ein kleiner Tisch und ein Bett - das nicht mehr war als eine abgewetzte, vermutlich von Motten zerfressene Matratze - waren alles, was sie in diesem Raum besaßen. Die alte Puppe, die nur noch ein Auge besaß und deren rechter Arm abzufallen drohte, war das Einzige, das das kleine Mädchen ihren Besitz nennen konnte.
Eines Tages, der Schnee hatte ganz Rumänien bedeckt, hatte ihre Mutter das kleine Mädchen allein in der Hütte zurückgelassen. Das Feuer, das ihnen als Licht- und Wärmequelle sowie zum Kochen diente, hatte der eisige Wind, der durch die Holzritzen zischte, ausgelöscht. Frierend und zitternd saß das Mädchen dort und wartete sehnsüchtig darauf, dass ihre Mutter zurückkommen würde. Doch sie blieb allein und die Sonne ging unter. Sie blieb allein und Finsternis legte sich über den Slum. Dunkelheit, die das kleine Mädchen so sehr fürchtete. Ihre Puppe eng an ihre Brust gedrückt, saß sie zitternd auf dem Sofa und traute sich nicht, ihre Augen zu schließen, bis die Sonnenstrahlen am Morgen den Horizont durchbrachen.
Nach der dritten dunklen Nacht beschloss das kleine Mädchen, sich in Richtung der aufgehenden Sonne an den alten stillgelegten Bahngleisen entlang auf den Weg zu machen, um ihre Mutter zu suchen. Nichts am Leib außer der zerrissenen Hose und dem viel zu großen Pullover, dessen Ärmel unter ihren Händen locker hinabfielen. Ihre Puppe hielt sie fest umschlungen.
Am Abend, als die Dunkelheit zurückkam, war sie erfolglos geblieben. Erschöpft, durstig und hungrig war dieser Obststand - vor dem kleinen heimischen Laden - so verlockend, dass die winzigen Hände gierig versuchten, einen Apfel zu ergattern.
»Diebin!« Erschrocken wich das kleine Mädchen zurück, trat mit dem nackten Fuß in einen spitzen Stein, doch für Tränen blieb ihr keine Zeit, als der vor Wut rasende Ladenbesitzer sie mit seinem Besen durch die Gasse jagte. »Elendes Zigeunerkind, scher dich fort«, hörte sie die böswilligen Rufe, bis der keuchende, dicke Mann hinter ihr langsamer wurde. Zitternd vor Angst hatte das kleine Roma-Mädchen hinter einem Mülleimer Schutz gefunden. Als die große Furcht sich fürs Erste gelegt hatte, war der Hunger so groß, dass sie aus dem Müll ein altes Brot herausfischte und es aß, bis sie vollkommen müde und erschöpft einschlief.
Einige Tage irrte das Mädchen durch die Stadt, als sie von der Polizei aufgegriffen und in ein großes Haus gebracht wurde: ein Auffanghaus, ein Waisenheim. Drei Jahre lebte das kleine Mädchen bei den Ordensschwestern, die sich – von ihren strengen Glaubenssätzen geleitet – auf ihre ganz eigenwillige Art um ihre Schützlinge kümmerten.
Als das Mädchen neun Jahre alt war, wurde sie eines Tages vom Spielplatz geholt. Man führte das Mädchen in das Büro der Schwestern, in dem eine nette Frau und deren Ehemann auf sie warteten, um sie mit auf eine lange Reise zu nehmen und sie in ihr neues Zuhause zu bringen.
Seitdem lebte das Mädchen glücklich und geliebt in einem großen Haus in einem wunderschönen Vorort, in dem es ihr an nichts fehlte und sie zu einer liebenswürdigen Frau heranwachsen konnte.
Und da sie nicht gestorben ist, lebt sie dort noch heute…
Das hätte die märchenhafte Version meiner Kindheit sein können. Meinem Happy End hätte nichts im Wege gestanden. Hätte ich nicht ein kleines, aber nicht unwesentliches Detail in meiner Erzählung so lange verschwiegen, bis ich es fast selbst geglaubt hätte...
»Val? Wie weit bist du? Wir können unmöglich zu spät zu unserer eigenen Firmenfeier kommen.« Samuel klang fast amüsiert, während er sich gekonnt lässig die Krawatte band und das Hemd unter seinem Sakko zurechtzupfte. Valeria erhaschte einen letzten Blick in den Spiegel: zartrote Lippen, ein olivgrüner Lidschatten, der im Licht glänzte und perfekt mit der Farbe ihres langen, eleganten Kleides harmonierte. Ihre Ohrringe mit den schwarzen Edelsteinen, die sie extra für diesen Abend angelegt hatte, schienen wie für sie gemacht. Wie immer trug sie ihre Haare offen. Lang fielen sie über ihre Schultern hinweg. Ihre von Natur aus dichten Augenbrauen hatte sie gerade wieder in Form gebracht. Ihr Make-up gab ihrer Haut einen dunklen Teint. Alles war perfekt aufeinander abgestimmt: Sie war hübsch, aber gleichzeitig nicht zu aufreizend gekleidet. Dezent geschminkt, kleine Highlights durch gekonnt gesetzte Akzente. `Nicht zu viel, weniger ist mehr´, so hatte sie es von ihrer Mutter gelernt. Als sie vom Badezimmer ins Schlafzimmer geschlichen und im angrenzenden Ankleidezimmer eine Schuhauswahl getroffen hatte, hörte Samuel das Klappern ihrer Absätze hinter sich.
»Wir können los. Ich wäre soweit.«
»Endlich…«, ein Grinsen huschte über seine schmalen Lippen, als er sie erblickte. Er machte keinen Hehl daraus, dass er sie von oben bis unten musterte. Das Kleid, das an der linken Beinseite einen Schlitz hatte, schmeichelte ihrer schlanken Figur. Unter dem Kronleuchter, der den Flur in ein gedämpftes Licht einhüllte, konnte er das zarte Glitzern des Chiffonstoffes besonders gut erkennen. Verführerisch neigte sie ihre Hüfte zur Seite, sodass die nackte Haut ihres langen Beines darunter sichtbar wurde. Ein keckes Grinsen umspielte ihre Lippen, nahm ihre Augen ein, die auf ihm ruhten und ihn verliebt ansahen. Samuel unterdrückte den Drang der lüsternen Begierde. Sie waren ohnehin schon spät dran. »Du siehst umwerfend aus.«
»Danke. Dein Anzug steht dir aber auch sehr gut.« Mit einer vertrauten Berührung richtete sie seinen Kragen, versteckte das Band der Krawatte darunter. Lächelnd legte sie ihre Hand auf seiner Brust ab: »Perfekt.« Sich auf das erotische Mienenspiel einlassend wandte er den Blick nicht ab, während seine Hand tastend hinter sich griff. Aus dem kleinen Weidekorb auf der Spiegelkommode, deren zwei glitzernden Schubläden ihn auch zwei Jahre nach deren Kauf noch jedes Mal zum Schmunzeln brachten, fischte er die Autoschlüssel heraus. »Gibst du mir noch meine Clutch?« Er folgte ihren Augen, an dem silberglamourösen Blickfang vorbei, an die nicht weniger imposante Garderobe: ein versilberter Aluminiumguss, handgefertigt. Den Spiegel in der Mitte, der sich mit leicht gesenkter Optik in das Design einfügte, hatte Valeria mit einem dezenten Licht hinterlegt.
»Bitte sehr, schöne Frau«, er hielt ihr die kleine rechteckige Handtasche entgegen, öffnete ihr die Haustür und bot ihr mit ausgestrecktem Arm und einer galanten Verbeugung ein `nach Ihnen´.
Als sie auf dem Beifahrersitz Platz genommen hatte, holte sie den Spendenscheck hervor. Es war eine Tradition, die ihr wichtig war. Selbst wenn sie nicht über das Leben vor der Adoption sprach, war das hier eine Herzensangelegenheit: Spenden für die Kinder in Rumänien. Kinder, wie sie einst eines gewesen war. Kinder, die nicht so viel Glück hatten wie sie. Mit fünfzehn Jahren hatte sie das erste Mal mit ihren Eltern eine Spendengala besucht. Heute – zum zehnjährigen Jubiläum von Samuels Firma – hatte sie selbst einige gut situierte Persönlichkeiten eingeladen, um die Feier mit einer Spendenaktion zu verbinden. Sie war dankbar für das Leben, das sie mit ihren Eltern und ihrem Ehemann führte. Ehrgeizig und zielstrebig hatte er – mit damals vierundzwanzig Jahren – sein ganzes Erspartes in die Gründung eines eigenen Unternehmens investiert. Ein Fleiß, der sich schnell bezahlt gemacht hatte. Sein guter Ruf verbreitete sich rasant, die Kundenanzahl verdoppelte sich fast täglich und bald wurde aus dem Ein-Mann-Betrieb eine Firma, die nicht nur ihre räumliche Größe expandiert hatte, sondern auch mehr und mehr Mitarbeiter forderte. Mittlerweile hatte Samuel an weit mehr als einem namhaften Kunden sein Traumhaus verkauft. Radebeul, die wunderschöne Karl-May-Stadt, in der sie lebten, war der perfekte Ort für ein Immobilienbüro. Architektonisch exzellente Villen. Vom restaurierten Altbau mit dem Charme des frühen 19ten Jahrhunderts über gut erhaltene Wohnungen der Nachkriegszeit bis hin zu modernsten Neubauten, die keinen Wunsch nach Luxuriösität ausließen.
Als der dunkelgraue, von Samuel heißgeliebte Lexus auf dem Chefparkplatz vor dem denkmalgeschützten Altbaugebäude vorfuhr, stieg er wie selbstverständlich als Erster aus. Valeria beobachtete ihn, wie er schnellen Schrittes um die Motorhaube herum zur Beifahrerseite lief und ihr die Tür öffnete. Es waren diese zuvorkommenden Gesten, in die sie sich verliebt hatte, als Samuel gerade sein letztes Examen geschrieben und sein immobilienwirtschaftliches Studium beendet hatte. Sie war drei Jahre jünger als er, an dieselbe Uni in Dresden immatrikuliert, als sie seinen beobachtenden Blick in der Bar nicht mehr ignorieren konnte. Ihr Lächeln hatte ihn animiert, sodass er sie kurzerhand auf ein Date einlud. Schon damals sprach er voller Begeisterung von seinen Plänen des eigenen Maklerbüros. Valeria war von seinem Ehrgeiz und seinem Selbstbewusstsein beeindruckt. Ein Mann, der wusste, was er wollte. Erfolgreich wie ihr Vater, der Chefarzt der Chirurgie im hiesigen Klinikum war. Sie hatte sich in Samuel verliebt. Nicht nur seine Firma feierte in diesem Jahr Jubiläum, auch sie als Paar vereinten nun zehn gemeinsame Jahre. Sechs davon waren sie bereits verheiratet – glücklich wie am ersten Tag.
Valeria nahm die Hand, die er ihr hinhielt, entgegen, stieg vorsichtig in ihrem langen Kleid aus dem Wagen und ließ sich von Samuel die wenigen Meter über den Bürgersteig und die Stufen hinauf durch die massive Eichenholztür in den hochgebauten Flur führen. Im Konferenzraum hatten sie schon heute Vormittag mit dem eingestellten Cateringservice die Location hergerichtet und alles Organisatorische besprochen.
»Darf ich dir deinen Mantel abnehmen?« Das Hauchen an ihrem Ohr durchzog Valeria mit einem Schauer. Sein Atem kitzelte die empfindliche Stelle an ihrem Nacken. Mehr als ein flüsterndes `Ja´ brachte sie nicht heraus. Samuel küsste ihren Nacken, während seine Hände den Mantel sanft von ihren Armen streiften, jeden Zentimeter ihrer freigelegten Haut berührend. Valeria biss sich auf die Unterlippe, unterdrückte das Keuchen, das die so sinnlich eingesetzte Berührung in ihr auslöste. »Ich liebe dich«, hörte sie ihn dicht neben sich flüstern, bevor sie seine Lippen hinter ihrem Ohr spürte –eine zarte Geste mit so viel Hingabe. Dann verschwand er für die letzten Vorbereitungen in sein Büro. Valeria nahm einen tiefen Atemzug, ersetzte das erregte Grinsen durch ein dezenteres Lächeln und wandte sich dann an den Caterer, um die letzten Details zu besprechen.
Der Nachmittag verlief locker und gesellig. Samuel und Valeria pflegten einen freundschaftlichen Umgang mit den Angestellten seiner Firma. Die eingeladenen Besucher und Freunde genossen die Gastfreundlichkeit. Nun hatte Samuel allerdings bemerkt, wie seine Frau sich immer weiter aus dem Gespräch mit seinen Mitarbeiterinnen zurückzog. Schlussendlich hatte sie sich kurz entschuldigt und war in sein Büro geflüchtet. Er hatte einen Moment gewartet, bis er sich entschieden hatte, ihr zu folgen. Als er die Tür öffnete, schaute sie aus dem Fenster auf die idyllische Altstadt. Ein älteres Ehepaar lief soeben über den kleinen – von einer Allee umgebenen - Kiesweg, der die eine Häuserreihe von der anderen trennte. Hand in Hand – vertraut. Eine junge Mutter schob einen Kinderwagen, während ein kleiner Junge auf seinem Laufrad neben ihr herfuhr. Die sonst oft überfüllt wirkende Straße war heute ruhig und friedlich.
»Val?« Samuel legte die Tür hinter sich ins Schloss. Sie bemühte sich nicht, die Tränen zu verbergen. Er hatte das Gespräch der Frauen mitbekommen. Er wusste genau, wie sehr sie dieses Thema belastete.
»Ich freue mich für sie, aber…«
»Ich weiß.« Mittlerweile war er am Fenster bei ihr angekommen. Als er sie an sich heranzog, um sie in die Arme zu schließen, lehnte sie ihren Kopf an seine Brust. Seine Hand streichelte tröstend ihren Rücken. Die nackte Haut, die das Kleid nicht bedeckte, war im kaum beheizten Büro schnell kalt geworden. Valeria spürte diese Kälte nicht. Gerade tat es ihr einfach gut, seinem Herzschlag zu lauschen. Als sie vor zwei Wochen endgültig erfahren hatte, dass sie keine Kinder kriegen konnte, hatte sie sich wie vom schweren Güterzug überrollt gefühlt. Es war nicht nur ein Traum, der vor ihren Augen wie eine große, wunderschöne Seifenblase zerplatzte. Es war ein Gefühl von Leere und Trauer, das ihren ganzen Körper einnahm. Sie weinte um das Kind, das sie niemals haben würde.
Das Strahlen im Gesicht ihrer Kollegin, die ihnen eröffnet hatte, dass sie schwanger war, die Glückwünsche der anderen Frauen… Es hatte sie nur unweigerlich schmerzlich an das erinnert, was ihr für immer verwehrt blieb.
»Du weißt, dass es andere Möglichkeiten gibt.« Samuel nahm die Hand von ihrem Rücken, als Valeria sich von seiner Brust gelöst und sich an die Fensterbank angelehnt hatte.
»Adoption?«
»Zum Beispiel.« Wie Samuel eben von Natur aus war, hatte er nur einen Tag nach der bitteren Nachricht Alternativen vorgeschlagen. Valeria wusste, dass Samuel ihr die Traurigkeit nehmen wollte, dass er Lösungen suchte, damit sich ihr gemeinsamer Kinderwunsch erfüllte. Es war nicht nur sein Bedürfnis nach Harmonie, es war sein Streben danach, dass die Frau, die er liebte, glücklich war. »Du liebst deine Eltern und deine Eltern lieben dich. Es wäre unser Kind.«
»Hmm.« Valeria atmete tief ein, seufzte, bevor sie ihm ein Lächeln schenkte. Es wirkte weder bejahend noch glücklich.
»Du kannst darüber nachdenken, solange du willst. Es eilt nicht und wenn du dich dagegen entscheidest, ist das auch vollkommen in Ordnung. Ich liebe dich. Ganz egal, ob wir ein Kind haben werden oder nicht. Das ändert gar nichts daran, okay?« Samuel war sich nicht sicher, ob er ihr Nicken überzeugend fand. Nach der Hochzeit hatten sie es jahrelang versucht, doch Valeria war nie schwanger geworden. Als sie sich auf Anraten ihrer Mutter hatte untersuchen lassen, war das Ergebnis niederschmetternd gewesen – vor allem für Valeria. Die Tatsache, dass sie keine Kinder bekommen konnte, zerstörte nicht nur ihren Traum einer eigenen kleinen Familie, es ließ sie auch an ihrem Selbstwert als Frau zweifeln. Sie sprach es nicht so deutlich aus, aber Samuel konnte spüren, dass sie mit sich selbst kämpfte. Gedanken, die er ihr so gerne nehmen würde. Eine Adoption war das Erste, was ihm in den Sinn gekommen war, nachdem er die Nachricht verdaut hatte. Valeria war – obwohl sie mit neun Jahren bei ihrer eigenen Adoption schon recht alt gewesen war – das Wichtigste für ihre Eltern. Die Bindung, die sie zu ihnen hatte, war stark und innig. Zugegeben war er fast ein wenig überrascht, dass es gerade Valeria war, die einer Adoption gegenüber Skepsis zeigte. Vielleicht brauchte sie einfach Zeit, sich mit dem Gedanken anzufreunden. Aber selbst wenn nicht - selbst wenn Valeria sich gegen diesen Weg entscheiden würde - wäre das in Ordnung für ihn. Er brauchte kein Kind, um glücklich zu sein. Er war glücklich – glücklich mit Valeria.
»Ich werde darüber nachdenken«, holte sie ihn aus seinen Gedanken. Die Tränen hatte sie getrocknet. »Ich liebe dich auch«, nickend beugte sie sich vor, gab ihm einen Kuss. Er konnte die salzigen Tränen noch auf ihren Lippen schmecken. Anschließend wartete er, bis Valeria ihr Make-up wieder nachgelegt hatte, bevor sich beide wieder unter ihre Gäste mischten. Immer wieder schaute er zu ihr rüber, vergewisserte sich, dass es ihr gut ging. Jedes Mal, wenn er sich nach ihr umsah, war sie in ein Gespräch vertieft, lächelte und war offensichtlich gut zufrieden. Dass sie über die Adoption nachdenken würde, freute ihn. Als die Uhrzeiger den Abend einläuteten, wandte er sich an die Anwesenden, sprach Dankbarkeit für ihr Erscheinen aus und übergab das Wort dann an seine Frau, die sich um die Spenden kümmerte.
»Ich danke euch - wie mein Mann - dafür, dass ihr unserer Einladung so zahlreich gefolgt seid. Ihr wisst, wieso ich hier stehe. Mein Spendenscheck ist der erste, der heute Abend in dieser Box landet…«, demonstrativ ließ Valeria das kleine Blatt Papier in den dafür vorgesehenen gesicherten Kasten verschwinden. Sie freute sich schon jetzt darauf, all die Geldspenden zu übergeben – nicht persönlich, dafür hatte sie jemanden engagiert. Valeria selbst war seit ihrer Adoption nie wieder in Rumänien gewesen. Sie wollte es nicht. Nicht, als ihre Eltern es ihr angeboten hatten. Nicht, als sie achtzehn war und selbst hätte fahren können. Auch nicht, als Samuel sie danach gefragt hatte. Sie sammelte die Spenden, sie nahm Hilfspakete entgegen, sie spendete selbst regelmäßig hohe Geldsummen, aber sie war nie nach Rumänien zurückgekehrt. »Ich bedanke mich schon jetzt für eure Unterstützung. Die Waisenkinder in Rumänien brauchen…«, sprach Valeria gerade weiter, als sie mitten im Satz abbrach. Für einen Moment stand sie irritiert und verloren dort. Als Samuel ihrem Blick folgte, sah er nichts Auffälliges.
»Alles okay?«, formten seine Lippen wortlos, als er ihren Blick eingefangen hatte. Eine Antwort bekam er nicht. Valeria wandte sich wieder ab, den Gästen zu, entschuldigte sich für die Unterbrechung und sprach dann weiter. Sie hatte ihre Ansprache deutlich abgekürzt, als sie das Rednerpult wieder ihrem Mann überließ und Richtung Büro verschwand. Als Samuel ihr endlich folgen konnte, hatte sie ihren Mantel bereits übergeworfen.
»Was ist los? Wo willst du hin?«
»Ich…«, stotterte Valeria, während sie schon die Autoschlüssel des Firmenwagens aus dem kleinen Tresor seines Schreibtisches holte. »Ich muss.« Ihr Blick ging zum Fenster, sie schaute raus, dann wandte sie sich Samuel wieder zu. »Ich brauche einfach ein paar Tage für mich.«
»Was? Wie? Valeria?« Samuel hatte keine Ahnung, was er sagen sollte. Was war passiert, dass sie nun so plötzlich von dieser Feier verschwinden wollte?
»Ich kann das hier gerade nicht.«
»Okay…«, lenkte er ein. Vielleicht war die Traurigkeit von vorhin doch noch nicht ganz verschwunden oder sie hatte sie gerade wieder eingeholt. »Fahr nach Hause. Ich komme später nach und dann reden wir ganz…«
»Ich will nicht reden, Samuel. Ich brauche ein paar Tage für mich. Allein.« Unverständlich, mit der plötzlichen Veränderung überfordert, schüttelte Samuel nur sprachlos den Kopf. »Ich werde mir ein Hotel buchen. Ein paar Tage Ruhe werden mir guttun. Bitte, lass mich einfach fahren, ja?«
»Und wo willst du hin?«
»Keine Ahnung. Ich werde schon was finden.«
»Val…«
»Gib mir einfach ein bisschen Zeit. Ich muss ein paar Dinge für mich klären und dann komme ich wieder nach Hause und alles wird gut, ja?« Einen Moment herrschte Stille zwischen ihnen. Samuels Blick ruhte auf ihr, er versuchte aus dem, was seine Frau da gerade sagte, schlau zu werden. Hinter der Tür über den Flur hinweg konnte er die Gäste reden hören. Ein Meer aus Stimmen. Gerade wollte er am liebsten alle wegschicken, Valeria ins Auto packen und mit ihr nach Hause fahren. »Ich muss jetzt los. Ich werde zuhause vorbeifahren, ein paar Sachen einpacken. Bitte… gib mir einfach ein bisschen Zeit.« Ohne auf seine Zustimmung oder Antwort zu warten, beugte sie sich vor, gab ihm einen Kuss auf die Wange und ließ ihn unverrichteter Dinge in seinem Büro zurück. Perplex blieb Samuel einfach stehen und ließ sie gehen.
»Sollen wir das Buffet eröffnen?«, holte ihn Minuten später ein Caterer aus seinen Gedanken heraus. Nickend stimmte er dem zu. Den Rest des Abends kam Samuel seinen Pflichten als Veranstalter und Chef nach. Als er spät an diesem Abend in ihre gemeinsame Villa kam, war Valeria nicht zuhause. Den Firmenwagen hatte sie gegen ihr eigenes Auto getauscht. Ihr olivfarbenes Kleid hing sorgsam im Ankleidezimmer. Die eleganten Absatzschuhe hatte sie gegen ihre flachen schwarzen Freizeitschuhe getauscht. Bei der Vielzahl an Kleidung, die sich in diesem Raum befand, konnte Samuel nicht sehen, ob etwas fehlte. Aber ihr kleiner Reisekoffer, der ansonsten in der rechten Ecke unter dem weißen Regal stand, war verschwunden. Verschwunden: genau wie sie. Auf der Schmuckablage sah er die schwarzen Hängerchen, die sie vorhin noch getragen hatte. Genau wie das Kleid hatte sie diese abgelegt und gegen die roten Smaragde getauscht, die er ihr vor einigen Jahren zum Geburtstag geschenkt hatte. Instinktiv griff Samuel nach seinem Handy und wählte ihre Nummer. Das Freizeichen ertönte, bis es von der Mailbox abgelöst wurde. »Ich bin jetzt zuhause. Bitte melde dich«, tippte er und schickte die Nachricht ab. Als er sich geduscht und sich eine frische Boxershorts angezogen hatte, konnte er sehen, dass Valeria seine Nachricht gelesen, aber nicht beantwortet hatte.
Er setzte sich aufs Sofa, trank einen Ginger Ale, immer wieder schaute er auf sein Smartphone. Nichts. Irgendwann schlief er ein.
»Das hier«, Inge deutete mit der Hand in den Raum hinein. »… ist dein Zimmer.« Sie sprach langsam, betonte jedes einzelne Wort. Ein Versuch, ihre Worte für das kleine Mädchen verständlicher zu machen. Obwohl Valerija der deutschen Sprache nicht mächtig war, hatte sie den Sinn des Gesprochenen doch verstanden. Mimik und Gestik ihrer Adoptiveltern hatten ihr schon in der letzten Woche in Rumänien geholfen, die fremden Worte zu verstehen. Dennoch war es seltsam, sie miteinander reden zu hören, ohne zu wissen, worüber sie sprachen. Sie schaute sich im Raum um, der sich riesig vor ihr erstreckte. Valerija konnte ihr Staunen nicht verbergen. Als sie vor einer Woche mit Inge und Ulrich in das angemietete Haus in Rumänien gefahren war - eine Vorgabe des rumänischen Adoptionsverfahrens -, hatte sie das eigene Zimmer mit tiefer Ehrfurcht erfüllt. Doch das hier… das hier war kein Vergleich: Ein großes Fenster an der rechten Seite ließ das Sonnenlicht ins Zimmer fallen. Die hellgraue Gardine mit den kleinen grünen Sternen war zur Seite gezogen und harmonierte mit dem dezenten Grünton, in dem die hohe Wand bis ungefähr zu ihrer Brusthöhe gestrichen war. Darüber erstreckte sich die Wand in Weiß. Unterhalb des Fensters, das nach oben hin in einen Halbkreis überging, befand sich ein Heizkörper, der hinter einer hölzernen, mit blumigen Ornamenten versehenen Verkleidung versteckt war. Davor lag ein runder, grauer Teppich, auf dem ein kleines Puppenhaus seinen Platz gefunden hatte. Wie magisch davon angezogen trottete das kleine Mädchen darauf zu, ging auf die Knie und betrachtete das liebevoll und detailliert eingerichtete hölzerne Haus. Vier kleine Puppen saßen am Tisch, standen am Herd, lagen im kleinen, realitätsnahen Hochbett. »Es gehört dir.« Die Frau, die ihr als ihre neue Mutter vorgestellt worden war, war neben ihr in die Hocke gegangen. »Du darfst ruhig damit spielen.« Inge nickte ihr lächelnd zu. Obwohl Valerija verstand, schaute sie die Figuren und all die winzigen Gegenstände doch nur fasziniert an. Dann stand sie wieder auf. Durch das Fenster konnte sie in den Garten hinausschauen. Die hochgewachsene Schwarzerle ragte majestätisch in den Himmel. Dahinter konnte Valerija einen kleinen Gemüsegarten erahnen. Von der Terrasse direkt unter ihrem Fenster konnte sie lediglich das Ende der Überdachung erkennen. Der kleine Teich ganz links war übersät mit grünem Wasserstern und Nadelkraut. Einzelne Blüten in Rosa und Weiß verliehen dem Wasser eine besondere Schönheit. Die Steine, die als Dekoration um den kleinen Tümpel lagen, hatten alle eine ganz individuelle Form und Farbe. Mitten im Garten, ganz zentral, stand eine einzige Schaukel, dessen frisches Holz ein Beweis dafür war, dass man dieses Spielzeug extra für sie besorgt hatte. In der Schule in Rumänien, die sie die letzten Jahre besucht hatte, gab es nur zwei Schaukeln. Oft hatte sie die anderen Kinder beobachtet, wie sie darauf saßen, hoch und immer höher geschwungen waren, als würden sie fast den Himmel berühren. So gerne hätte sie es probiert, so gerne wäre auch sie geflogen, aber die anderen Kinder hatten sie nie gelassen.
Valerija schüttelte den Kopf, bevor sie ihren Blick von draußen wieder nach drinnen fokussierte. Der weiße Schreibtisch links neben ihr war gerade viel weniger interessant für sie als das große, gemütliche Bett. Dieses war nicht nur mit einem, sondern gleich mit zwei großen Kissen verziert. Die Decke war so warm und einladend, wie sie es noch nie gesehen hatte. Hier würde sie ganz bestimmt nicht frieren. Zwischen den beiden Kissen, fast versteckt, konnte sie etwas erahnen, das sich – als sie näher herantrat – als eine kleine Puppe herausstellte. Valerija streckte ihre Hand danach aus, hielt aber dann doch inne, schaute sich zu Inge um, die ihre stumme Frage sofort verstand. »Es ist deine Puppe«, hörte Valerija sie sagen. Obwohl sie die Worte nicht verstand, war das animierende Lächeln ihr als Zustimmung genug. So eine Puppe hatte Valerija noch nie gesehen. Sie war so anders als die, die sie im Kinderheim zurückgelassen hatte. Sie war nur zur Hälfte aus Stoff, während Arme, Beine und Kopf gar nicht so weich waren, wie sie es gewohnt war. Die blauen Augen ließen sich öffnen und schließen, je nachdem, wie sie das Spielzeug hielt. Sogar Wimpern waren daran befestigt worden. Der weiße Schlafanzug mit den pinken Druckknöpfen war kuschelig weich, genau wie die Mütze, die die Puppe auf ihrem kahlen Kopf trug. Valerija berührte die beiden Arme, die fest am Körper angebracht waren. Die winzigen Lippen waren wie die Wangen leicht rosa eingefärbt und sogar die Ohren konnte man erkennen. Diese Puppe sah fast aus wie das winzige Baby, das eines Tages bei ihnen im Heim vor der Tür gelegen hatte. Es war nur kurz bei ihnen gewesen, dann hatte eine der Schwestern es in ein Krankenhaus gebracht – es hatte Fieber. Sie war ohne das Baby zurückgekommen. Intuitiv presste Valerija die Puppe an ihre Brust.
»Mulțumiri.« Es war ihr erstes Wort, seit sie ihren neuen Eltern in Rumänien vorgestellt worden war. Das erste Mal, dass ihre Adoptiveltern ihre Stimme hörten. Mit einem glücklichen Lächeln nahm Inge auf dem Bett Platz, sodass sie das kleine Mädchen ansehen konnte.
»Wir sagen: `Danke´. Mulțumiri – danke.« Valerija verstand.
»Danke.« Immer noch hatte sie ihre neue Puppe an ihre Brust gedrückt, als sie schon das nächste ungewohnte Detail in ihrem Zimmer entdeckte, das ihre ganze Aufmerksamkeit forderte. Alles hier war so neu. Ein ganzer Raum nur für sie. Spielzeug, das ihr gehörte. Ein Bett mit einer warmen Decke und gleich zwei Kissen, ein großer Schrank. Ohne die Puppe loszulassen, öffnete Valerija eine der beiden Schranktüren. Ihre Augen weiteten sich, als sie mit ihrer Hand über die vielen Kleider strich, die sorgsam angeordnet an den Bügeln hingen.
»Gefallen sie dir?« Instinktiv nickte Valerija, deren leuchtende Augen Inges Herz schon längst erobert hatten.
Sie hatte sich immer eine Tochter gewünscht. Das Schicksal schien es nicht gut mit ihr zu meinen, als sie erfuhr, dass ihr Mann zeugungsunfähig war. Sie hatte versucht, den Gedanken an eigene Kinder zu verdrängen, sich ein Leben ohne Kinder aufzubauen, sich Hobbies zu suchen und sich in ihrer Arbeit zu verwirklichen. Dann – auf einem Golfwochenende mit Ulrichs Arztkollegen – hatte sie das erste Mal von der Möglichkeit einer Auslandsadoption in Rumänien gehört. Sinti- und Roma-Kinder, die dringend ein Zuhause und Eltern suchten, um der Armut ihrer Herkunft zu entkommen. Es hatte ihr nicht viel Überzeugungsarbeit gekostet und Ulrich war wie sie von der Idee begeistert gewesen. Eineinhalb Jahre hatten sie gewartet, jeden Tag diesen einen Anruf herbeigesehnt. Als es endlich so weit war, konnten sie es fast nicht glauben. Doch nun war sie da: das Mädchen von dem Foto, mit den pechschwarzen Haaren und den verträumten Augen, das so schüchtern in die Kamera gelächelt hatte. Das kleine Mädchen, das gerade voller Staunen die zweite Schranktür geöffnet und den Inhalt begutachtet hatte. Nun lief sie schon zur nächsten Zimmerecke, zu dem zweiten Fenster, das einen Blick auf die Straße erlaubte. Hier hatte Inge noch am Wochenende vor ihrer Abreise nach Rumänien eine kleine Kommode mit einem Spiegel aufgebaut. Sorgsam waren Haarbürste, Kamm, Zopfgummis und Haarspangen in die kleine Schublade eingeräumt worden, während Inge es kaum erwarten konnte, ihre Tochter Valerija endlich nach Hause zu holen.
Wusstest Du, dass die Erle – der Baum im Garten meiner Adoptiveltern - in vielen Sagen und Legenden das Sinnbild für das Böse ist? Nun… das kleine Mädchen, das ich damals war, wusste es nicht. Vielleicht wäre alles anders gelaufen, wenn ich die Symbolik hinter diesem hochgewachsenen, mächtigen, oft als nutzlos verruchten Baum, an diesem ersten Tag in meinem neuen Zuhause erkannt hätte.
Aber ich war jung.
Ich war unwissend, naiv und töricht.
»Guten Morgen«, noch etwas verschlafen trottete Valeria in die Küche, in der Samuel bereits am Esstisch saß und seinen morgendlichen Kaffee trank. Ihre Augen wirkten müde, während sie sich ihm näherte. Sie hatte eine Strickjacke übergeworfen, trug ansonsten immer noch dasselbe Top wie letzte Nacht. Darunter trug sie nichts. Ihre Nippel zeichneten sich unter dem dünnen Stoff ab: kleine Erhebungen auf ihren wohlgeformten, runden Brüsten. An ihren neuen Haarschnitt musste er sich definitiv noch gewöhnen. `Ich brauchte eine Veränderung´, hatte sie ihm erklärt, als er sie auf die neue Frisur angesprochen hatte. Sie waren kürzer als sonst. An den Spitzen schlugen sie leichte Wellen. Ein ungewohntes Bild. Die Stoffhose, die sie trug, fiel locker von ihrer Hüfte hinab. Sie war barfuß.
»Guten Morgen, hast du gut geschlafen?« Valeria hatte ihm gegenüber Platz genommen. Heißer Dampf stieg aus ihrer Tasse empor. Samuel hatte ihren Kaffee wie jeden Morgen frisch zubereitet. Er war immer derjenige von ihnen beiden, der eine halbe Stunde eher aufstand, sich in Ruhe duschte, anzog und dann in der Küche auf sie wartete.
»Ja.« Sie nickte, schenkte ihm ein Lächeln. Die Reise hatte ihr offensichtlich gutgetan. Eine neue Frisur, ein breites Lächeln, sie wirkte zufrieden, fast ein wenig aufgedreht. Mit einem leisen Seufzen wandte sich Samuel für einen Moment von ihr ab, seinem Kaffee zu. Natürlich freute er sich, dass sie wieder da war, hier bei ihm saß. Aber die letzte Woche war nicht spurlos an ihm vorbeigegangen. Keine Nachricht, kein Anruf – er hatte sich Sorgen gemacht, er war wütend gewesen und enttäuscht. Samuel nahm einen großen Schluck. Das Kaffeearoma stieg in seine Nase, durchflutete seinen Körper, half ihm, die Gedanken fürs Erste beiseitezuschieben. »Was machen wir heute?«
»Ich habe nichts geplant. Worauf hast du Lust?« Samuel hatte das iPad, auf dem er gerade noch die lokalen Nachrichten gelesen hatte, weggelegt und seine Aufmerksamkeit nun voll und ganz ihr gewidmet. »In den Landesbühnen spielen sie heute Don Giovanni? Lust aufs Theater?« Hinter verschlossenen Lippen gab sie ein kopfschüttelndes `Nein´. Sie wirkte über seinen Vorschlag amüsiert. »Ich dachte nur, das würde dir gefallen.«
»Ja! Ich mag Theater. Das ist richtig«, schenkte Valeria ihm ein breites Lächeln, während sie über den Tisch hinweg nach seiner Hand griff. »Aber heute dachte ich, dass wir irgendwas machen, was Spaß macht. Irgendwas mit Bewegung, Action.« Ihre Augen blitzten voller Tatendrang auf. »Gib mal her«, sie lockerte ihren Handgriff, zog das iPad zu sich rüber und starrte auf den Bildschirm. »Wie war nochmal gleich der Code? Er will mir gerade partout nicht einfallen«, ein unschuldiges Grinsen lag auf ihren Lippen, während sie auf seine Antwort wartete.
»Unser Hochzeitstag.« Er zog die Augenbrauen hoch, während er blind nach seiner Kaffeetasse griff und einen Schluck nahm.
»Ach ja, richtig. Ich bin wohl einfach noch nicht ganz wach... Weißt du was? Schau du doch mal, wohin wir fahren könnten, und ich hole mir kurz Milch aus dem Kühlschrank.« Der schwarze Kaffee in ihrer Tasse schmeckte viel zu bitter.
»Milch?«
»Ja… habe ich im Hotel ausprobiert. Ist wirklich gut, solltest du probieren.«
»Hmm. Ich bleibe Schwarztrinker«, entschied er, während er sich dem iPad widmete. Als sie sich Milch eingegossen hatte, legte Valeria ihre Hände um seine Schultern. Ohne darüber nachdenken zu müssen, tippte Samuel die Zahlen 4817 ein, entsperrte den Bildschirm und öffnete den Internetbrowser.
»Du bist so langsam, ich schau doch lieber selbst.« Valeria hatte schon nach dem iPad gegriffen, ehe der Satz zu Ende gesprochen war. Samuel ließ sie gewähren. Er beobachtete, wie ihre flinken Finger über den Bildschirm strichen. »Da!« Offensichtlich war sie fündig geworden.
»Paintball und Lasertag?« Als sie ihm das iPad hinschob, konnte er seine Überraschung nicht wirklich verbergen.
»Ja. Das klingt nach Spaß!« Ihre Augen weiteten sich, während sie ihn ansah.
»Das hast du noch nie gemacht.«
»Genau. Man muss doch immer mal was Neues ausprobieren, oder? Komm schon. Ich bin mir sicher, dass es total viel Spaß macht. Sei kein Spielverderber.« Mit einem kurzen Lachen und einem immer noch überraschten Kopfschütteln senkte Samuel noch einmal den Blick Richtung Display. Adventureland Dresden, Paintball und Lasertag. Das war also die Planung für diesen so friedlich und ruhig gestarteten Sonntag.
»Gut. Dann gehen wir also auf ein Abenteuer!«
»Das wird toll!« Aufgeregt stand sie auf, beugte sich vor, gab Samuel einen Kuss. Er schaute ihr nach, bis er sie nicht mehr sehen konnte. Ihre nackten Fußsohlen tippelten über die Fliesen, der Saum ihrer Stoffhose berührte durchgehend den Boden. Ihre Strickjacke bedeckte ihren Po, während die Seiten wie kleine Flügel bei jedem Schritt hin- und herschwangen. Ihre Haare trug sie wie immer offen. Sie fielen locker an ihrem Nacken hinab. Mindestens zehn Zentimeter kürzer als noch vor einer Woche, als sie in ihrem wunderschönen olivgrünen Kleid vor ihm gestanden hatte. Lasertag und Paintball also… Samuel musste schmunzeln, während er sich mit seinem Kaffee im Stuhl zurücklehnte. Mit einem hatte Valeria in jedem Fall recht: Es klang nach einem Abenteuer. Es war vermutlich genau das, was sie beide gerade brauchten. Samuel freute sich auf die ausgelassenen Stunden. Je mehr er darüber nachdachte, desto sicherer war er sich, dass sie heute ganz bestimmt eine Menge Spaß haben würden.
»Guten Morgen.« Noch etwas verschlafen trottete Valerija in die Küche. Die Ärmel des Schlafanzugs, den Inge wie vieles andere bereits vor deren Ankunft für ihre Adoptivtochter gekauft hatte, fielen wie ein Schlauch über ihre Hände hinweg. Die Hosenbeine hatte sie an den Knöcheln umgeschlagen. `Neun Jahre? Ca. Größe 134/140´, hatte man ihr im Geschäft gesagt – doch so gut wie alles war zu groß und zu weit. Das kleine Mädchen, das sie aus Rumänien abgeholt hatten, war klein, zierlich und zerbrechlich und passte nicht in die Norm der deutschen Kleidergrößen. »Hast du gut geschlafen?« Inge hatte auf einen der Stühle gedeutet, auf dem Valerija in der Hocke Platz nahm.
Ihr langes schwarzes Haar hing zerzaust über ihrem Kopf. Ihre dunklen Augen betteten sich in ihrem hageren Gesicht, zu dem die dichten Augenbrauen nicht so recht zu passen schienen. Ihre Lider waren nur halb geöffnet, als müsse sie sich noch immer an das helle Licht der Küchenlampe gewöhnen. Müde schaute sie sie an. Gestern Abend, an ihrem zweiten Tag in ihrem neuen Zuhause, hatte sie kurz nach dem Abendessen ins Bett gewollt, wo sie in Windeseile eingeschlafen war. Inge hatte schon in Rumänien das Gefühl, dass das ihr anvertraute Mädchen eine Menge Schlaf nachzuholen hatte. »Hast du Hunger? Frühstück?« Die erste Frage nach der guten Nacht war unbeantwortet geblieben. Dieses Mal bekam sie zumindest ein Nicken. »Brot oder Cornflakes?« Gestern hatte Inge ihr beides hingehalten. Neugierig hatte Valerija die bunte Packung in den Händen hin- und herbewegt und begutachtet. Es war das erste Mal in ihrem Leben, dass sie Cornflakes aß. Gespannt hatte sie Inge zugesehen, wie diese eine Schüssel, einen Löffel und Milch aus dem Kühlschrank nahm und ihr Frühstück zubereitete – eine Mahlzeit, die Valerija sichtlich schmeckte. Der ersten vollen Schale war eine zweite gefolgt.
»Cornflakes« Sie stand auf, holte sich die Packung von der Arbeitsplatte, nahm sich eine Schüssel aus dem Schrank und öffnete zielstrebig die Schublade mit dem Besteck. Inge war schon gestern aufgefallen, dass ihre neue Tochter sie bei jedem Schritt ganz genau beobachtete. Sie saugte alles wie ein Schwamm auf: ihr neues Zuhause, die neue Umgebung, den Supermarkt, in dem sie gestern gemeinsam für das Abendessen eingekauft hatten. Bei der Essenszubereitung hatte sie geholfen und jeden Schritt genau verfolgt. Dasselbe galt für die Sprache.
»Gut gemacht.« Stolz stand Valerija vor ihr und präsentierte alles, was sie zusammengesucht hatte. Dann setzte sie sich wieder an den Tisch, füllte erst die Cornflakes, dann die Milch in die Schüssel und begann zu frühstücken. Erst eine, dann eine zweite Schüssel. `Es ist nicht nur der Schlaf, den sie nachholen muss´, ging es Inge durch den Kopf, während sie die kleinen Finger beobachtete, die den Löffel im festen Griff hielten, als müsse sie ihn besonders doll festhalten, um ihn ja zu sichern. Dünne Arme und so zerbrechliche Handgelenke.
»Spielen?«, fragte Valerija und schob die leere Schale weiter auf den Tisch – ein klares Zeichen dafür, dass sie satt war. Mit der Hand deutete sie hinter sich auf das Puppenhaus, das sie gestern eigenhändig nach unten getragen hatte.
»Ich muss erst die Küche sauber machen, dann spielen wir.« Inge war aufgestanden, hatte die Schüssel genommen und war zur Spüle gegangen.
»Spielen!«, wiederholte Valerija und griff nach ihrer Hand.
»Erst die Küche«, Inge zeigte auf das Geschirr, das sich noch auf der Ablage befand. »Dann spielen wir.« Sie schenkte ihr ein Lächeln.
»Spielen!« Valerija zog an ihrer Hand. Ihre Stimme wurde eindringlicher. Vielleicht verstand sie sie nicht?
»Valerija, ich muss eben diese Sachen…« Zur Verdeutlichung nahm sie einen Teller, öffnete die Spülmaschine und stellte ihn hinein. »… hier einräumen. Dann spielen wir.«
»Spielen!« Das Ziehen an ihrer Hand wurde stärker.
»Valerija.«
»Spielen!«
»Ich muss erst…«, versuchte sie erneut eine Erklärung, doch das Mädchen schien sich dafür nicht zu interessieren.
»Spielen!«, ihre kleinen schwarzen Augen funkelten.
»Erst die Küche, dann spielen wir!«, Inge blieb dabei. Eine Tatsache, die Valerija offensichtlich wütend stimmte. Sie wollte mit ihr zusammen mit dem Puppenhaus spielen. So wie gestern, als sie direkt nach dem Frühstück Zeit für sie gehabt hatte.
»Gâscă proastă. Ești urât.« Inge verstand kein Wort, aber das wütende Funkeln, die bebende Stimme und die zu Fäusten geballten Hände waren Warnzeichen genug. Für den Moment stand sie sprachlos da, wusste nicht, wie sie korrekt auf diesen Wutausbruch und die vermutliche Beschimpfung reagieren sollte. Doch noch ehe sie sich etwas überlegen konnte, kippte Valerijas Verhalten abrupt. Schneller als sie realisieren konnte, verschwanden die Fäuste, der Zorn in den Augen wich Tränen und schluchzend schlang das kleine Mädchen die Arme um ihre Taille. »Îmi pare rău. Îmi pare rău. Nu fi supărat. Vă rog. Nu pedepsi. Vă rog«, hörte sie sie an ihrer Brust immer wieder sagen und obwohl sie bis auf `Bitte´ kein einziges dieser Worte verstand, war die Verzweiflung und Angst dieses Kindes doch in jeder Faser ihres Körpers zu spüren.
»Ist schon gut. Alles gut.« Behutsam streichelte sie ihr den Rücken, schloss sie ebenfalls in ihre Arme.
Offensichtlich war es nicht nur Schlaf, nicht nur Essen, von dem Valerija zu wenig bekommen hatte. Es hatte nicht nur an den Grundbedürfnissen Schlaf und Nahrung gefehlt, sondern auch an Liebe, Beständigkeit und Sicherheit.
»Pass auf. Wie wäre es, wenn du mir hilfst?«, langsam löste sie Valerijas Umarmung, hielt ihr einen Teller entgegen. »Dann sind wir schneller und können dann spielen.« Sie schien zu verstehen, als sie den Teller in die Spülmaschine einräumte und den nächsten nahm.
Die Wut, die sie gerade noch gespürt hatte, war vergessen. Das liebenswürdige Mädchen mit den leuchtenden Augen wirkte wieder vollkommen glücklich und zufrieden.
Ich wollte an diesem Vormittag nicht wütend werden. Ich wollte meine neue Mutter nicht als `dumme Gans´ bezeichnen.
Aber ihre Reaktion auf meine Wut an diesem Tag hat nachhaltig etwas in mir verändert.
Damals – als neunjähriges Mädchen – hatte ich keine Ahnung, wie viel Bedeutung die Art der Erziehung wirklich für die Charakterbildung eines Menschen hat.
Hätte ich es geahnt, hätte ich vielleicht all das, was später geschah, verhindern können.
»So. Ich höre.« Valeria warf der blonden Frau neben sich einen irritierten Blick zu. »Du kannst mir jetzt sagen, was los ist. Wo warst du letzte Woche?« Eva lehnte sich vor, stützte die Ellenbogen auf dem Tisch ab und legte ihr Kinn auf ihre ineinander gefalteten Hände. Erwartungsvoll sah sie sie an. Anders als Samuel war sie mit dem Solotrip ihrer Freundin im Nachgang nicht einfach einverstanden.
»Habe ich doch gesagt. Ich war in einem Hotel. Ich brauchte einfach ein bisschen Zeit für mich.« Valeria streckte ihre Hand, nahm die Kaffeekanne vom Tisch und goss sich den letzten Schluck in ihre Tasse.
»Komm schon, Val. Ich bin deine beste Freundin. Ich kenne dich seit zweiundzwanzig Jahren. Warum bist du überhaupt in dieses Hotel? Und warum musste ich das von Samuel erfahren? Konntest du mich nicht anrufen?«
»Ich habe dir alles gesagt, was ich dazu zu sagen habe. Ich brauchte ein paar Tage für mich«, ihre Antwort kam patziger rüber, als sie beabsichtigt hatte.
»Hast du einen Anderen?« Eva hatte sich wieder an den Stuhl angelehnt, ihre Arme vor der Brust verschränkt. »Komm schon. Mir kannst du es sagen!« Argwöhnisch musterte sie Valeria.
»Nein.« Ein energisches Kopfschütteln folgte der Verneinung. »Natürlich nicht.«
»Dann sag mir, wo du warst.«
»Das habe ich bereits.«
»Valeria.«
»Eva«, sie hielt dem Blick ihrer Freundin eisern stand.
»Du bist komisch.«
»Wieso? Weil ich nicht fremdgehe?« Eva verdrehte die Augen.
»Nee, weil du solche Antworten gibst.«
»Was willst du von mir?« Die Schärfe in ihrer Stimme war nicht zu überhören.
»Ich kenne dich. Du erzählst mir doch sonst auch alles.« Seufzend löste Eva die Arme. Eine simple Bewegung, die sie doch gleich wieder um ein Vielfaches sympathischer wirken ließ. »Du warst eine Woche weg. Eine Woche für dich allein? Keine Nachricht? Warum? Es muss doch einen Grund geben.« Eva wartete einen Augenblick, doch Valeria schien immer noch nicht bereit zu reden. »Val?«
»Es tut mir leid, okay?« Schuldbewusst sah sie ihre Freundin an.
»Ich will es doch nur verstehen. Was ist passiert? Es muss doch einen Grund geben. Eine Erklärung, die besser ist als die, die du abgibst. Hast du dich mit Samuel gestritten?«
»Nein«, kam es schnell über ihre Lippen, bevor sie sie zusammenpresste und tief einatmete. »Vielleicht.«
»Vielleicht?«, Eva wurde hellhörig.
»Es ist…«, sie suchte nach den richtigen Worten. »… im Moment etwas kompliziert zwischen mir und Samuel.«
»Warum ist es kompliziert? Komm schon, rede mit deiner besten Freundin.« Das Schulterzucken, das Valeria ihr als Antwort auf ihr `Warum´ gegeben hatte, genügte ihr nicht.
»Ich weiß es nicht. Er hat wenig Zeit und… ich, wir…«, betrübt schüttelte sie den Kopf. Eva saß da, wusste nicht recht, wie sie auf die – für sie absolut neue – Information reagieren sollte. Zehn Jahre waren Valeria und Samuel nun ein Paar. Ein Jahrzehnt, indem sich Eva nicht daran erinnerte, dass es jemals schwierig oder kompliziert zwischen den beiden Liebenden gewesen war. Mit Samuel hatte Valeria einen absoluten Glücksgriff gemacht – und umgekehrt natürlich ebenso. Sie waren perfekt zusammen. Harmonierten miteinander. Er machte sie glücklich und so sehr, wie er sie liebte, so tief war ihre Zuneigung zu ihm. In all den Jahren hatte sie sich nicht ein einziges Mal bei ihr über ihn beschwert oder auch nur etwas an ihm auszusetzen gehabt.
Er trug sie auf Händen. Angestrengt versuchte sie darüber nachzudenken, ob sie in den letzten Wochen Veränderungen zwischen den beiden bemerkt hatte. Aber so sehr sie ihr Hirn bemühte, nichts Auffallendes kam ihr in den Sinn. »Naja.« Als sich ihre Blicke trafen, umspielte ein zaghaftes Lächeln Valerias Lippen. »Das wird schon wieder.«
»Warum hast du mir davon denn nichts erzählt? Ich dachte, bei euch ist alles gut? Du kannst mir sowas doch anvertrauen. Dafür sind Freundinnen da. Ich hätte dich begleitet. Eine Woche Urlaub zu zweit klingt doch ganz gut. So wie früher, bevor die Männer unser Leben einnahmen.«
Eva lachte auf, stoppte aber, als Valerias Augen sich mit Tränen füllten. »Hey. Schon gut«, behutsam tätschelte sie die Hand ihrer Freundin, spürte den goldenen Ehering mit den drei edlen Diamanten als kleine Erhebung. Der Streit oder zumindest die angespannte Situation mit Samuel schien ihr sichtlich zuzusetzen. Wahrscheinlich, weil es ansonsten immer so perfekt und harmonisch gewesen war. Vielleicht hatte sie deshalb nichts gesagt: weil es so ungewohnt war, weil es sie selbst überforderte. »Wie du schon sagst: Das wird schon wieder. Ihr habt euch noch nie zuvor gestritten. Es ist doch ganz normal, dass man nach zehn Jahren mal aneinandergerät und es nicht immer nur Friede, Freude, Eierkuchen ist. Ihr müsst ja nicht immer eine Bilderbuchbeziehung führen.« Eva kicherte leicht, schenkte ihrer Freundin ein Lächeln, um sie aufzuheitern. Dieses Mal erwiderte Valeria es. Sie war froh, dass Eva nicht weiter nachhakte und es fürs Erste einfach dabei beließ.
Die blonde Frau, deren Hand immer noch die meine hielt, während sie das Thema wechselte, hatte recht: Mein Leben war ein Bilderbuch gewesen. Alles war schön, harmonisch und in vielen bunten Farben. Voller Liebe, ohne Sorgen.
Ein beneidenswert, märchenhaft perfektes Leben!
Doch jede Geschichte hat auch ihre dunkle Seite und in jedem Märchen gibt es neben Gut auch Böse.
»Was ist los bei euch?«, Eva nutzte die Gunst des Augenblicks, um das Gespräch mit dem Ehemann ihrer besten Freundin zu suchen, als Valeria den Raum Richtung Toilette verließ. Sie hatte sich zu ihm vorgebeugt. Sie flüsterte - Valeria sollte sie nicht hören.
»Wieso? Was soll sein?« Hellhörig geworden legte er das Smartphone, auf das er gerade einen Blick werfen wollte, wieder auf dem Tisch ab.
»Val hat mir erzählt, dass es im Moment schwierig zwischen euch ist.« Eva hatte darüber nachgedacht, ob es in Ordnung war, Samuel darauf anzusprechen. Valeria hatte ihr etwas anvertraut - unter Freundinnen. Vielleicht war es nicht richtig, ihren Ehemann damit zu konfrontieren. Aber die Tatsache, dass Valeria sich seit ihrer Selbstfindungsreise ihr gegenüber so distanziert verhielt und nicht so recht mit der Sprache rausrückte, hatte Eva zu dem Entschluss kommen lassen, dass es nicht nur richtig, sondern auch wichtig war. Wenn es Valeria – warum auch immer – nicht gut ging, dann wollte sie ihr helfen. Sie hoffte, dass Samuel der Schlüssel dazu war.
»Das hat sie gesagt?« Es wunderte Eva, dass Samuel dieses Detail irritierte.
»Ich habe sie gefragt, warum sie allein sein wollte. Ob es einen Streit gab…«
»Es gab keinen Streit. Hat sie das behauptet?« Samuel war unabsichtlich lauter geworden. Instinktiv wandten sich ihre beiden Köpfe dem Flur zu, doch Valeria schien noch immer im Bad zu sein.
»Nicht direkt. Sie hat nur gesagt, dass es seit einiger Zeit kompliziert zwischen euch ist.« Eva biss sich auf die Unterlippe. Ihre Stirn legte sich in Falten. Sie kannte nicht nur Valeria seit ihrer Kindheit, sondern auch Samuel schon seit vielen Jahren. Die widersprüchlichen Aussagen des Ehepaares waren mehr als konfus.
»Okay«, sie konnte ein ungläubiges Lachen hinter seinen verschlossenen Lippen hören. Seine Hand wanderte an seinen Mund, strich von da nach unten. Er wirkte immer noch verwirrt. »Ich wusste bis jetzt nicht, dass es gerade kompliziert zwischen uns ist«, stellte er fest, während sein Blick beinahe betroffen wirkte. Hatte er in den letzten Wochen vielleicht nicht richtig hingesehen? Die Unterhaltung in seinem Büro? Ihr Bedürfnis, allein zu sein? Sie hatte gesagt, dass sie Zeit für sich brauchte. Er hatte nicht weiter nach ihren Gründen gefragt… Hatte er es sich damit zu einfach gemacht? Die Tatsache, dass Valeria Eva etwas von Schwierigkeiten innerhalb ihrer Beziehung erzählte, warf Fragen auf. Fragen, denen er sich nun unausweichlich stellen musste, nachdem er von dieser neuerlichen Wendung und Valerias Sicht erfahren hatte. »Es hat keinen Streit gegeben.« Egal wie sehr er darüber nachdachte: Er fand keine Situation, kein Gespräch, das Valeria wirklich als einen Streit hätte auffassen können.
»Von einem Streit direkt hat sie ja auch nicht geredet«, ruderte Eva zurück. Vielleicht war es doch ein Fehler gewesen, den Mann ihrer besten Freundin auf etwas anzusprechen, das Valeria ihr im Vertrauen gesagt hatte. Wie würde es wohl auf ihre Freundin wirken, wenn Samuel sie nun womöglich damit konfrontierte? Das würde sie als Freundin nicht gerade vertrauenswürdig machen, oder? Sie hatte auf Antworten gehofft. Stattdessen hatte sie nun komplette Verwirrung und möglicherweise tatsächlich ein Streitthema hervorgerufen. »Sie hat nur gesagt, dass es schwierig ist. Vielleicht irgendwas, dem sie mehr Bedeutung geschenkt hat als du? Wir Frauen sind da manchmal nachdenklicher, interpretieren mehr in etwas hinein.« Eva startete einen Erklärungsversuch. Samuels Nicken ließ sie annehmen, dass er ihre Aussage zumindest nicht ganz abwegig fand.
»Hat sie dir erzählt, dass wir in einer Kinderwunschklinik waren?«
»Ja.«
»Hat sie dir auch erzählt, dass wir bereits die Untersuchungsergebnisse haben?« Eva schüttelte den Kopf. Seitdem Valeria ihr mitgeteilt hatte, dass sie einige Tests machen würde, hatte sie nicht wieder darüber gesprochen. Eva vermutete, dass die Ergebnisse auf sich warten ließen – sie hatte nicht wieder nachgefragt. »Wir haben erfahren, dass Valeria keine Kinder bekommen kann.« Noch ehe er zu Ende sprach, hörte er Eva tief einatmen, die sich in ihrem Stuhl zurücklehnte.
»Scheiße«, war tatsächlich das Einzige, was ihr dazu einfiel. Sie wusste seit vielen Jahren, dass sich ihre beste Freundin – anders als sie selbst – so sehr ein Kind wünschte. Das Ergebnis musste ihr den Boden unter den Füßen weggerissen haben.
»Sie hätte es dir bestimmt noch gesagt, ich denke, sie wollte die Information nur erst für sich verarbeiten. Ich dachte, dass sie deshalb diese Woche für sich brauchte.«
»Ja. Das scheint eine Erklärung.« Eva schüttelte seufzend den Kopf. Diese Information fühlte sich gerade wie ein fehlendes Puzzleteil an. Sicher hatte ihre Freundin das gemeint: `Es ist gerade kompliziert.´ Es war gar nicht die Beziehung an sich – sondern dieser Umstand, der für sie eine Welt zusammenbrechen ließ. »Sie hat es sich so sehr gewünscht. Das muss unglaublich schwer für sie sein. Ich meine, für euch beide.«
»Ja.« Nickend stimmte Samuel ihr zu. Auch für ihn war das Ergebnis der Untersuchung ein Schock gewesen. Doch anders als seine Frau war er schnell bereit gewesen, sich für andere Alternativen zu öffnen. Valeria setzte das Ganze deutlich mehr zu als ihm. »Sie hat damit sehr zu kämpfen. Ich hatte ihr vorgeschlagen, dass wir ein Kind adoptieren könnten. Ich weiß nicht, ob ich sie damit vielleicht bedrängt habe. Oder ob sie das Gefühl hatte, unter Druck zu sein. Das war nie meine Absicht. Vielleicht ist sie deshalb gegangen.“
»Hmm.«
»Sprich sie nicht darauf an. Sie wird es dir selbst sagen, wenn sie so weit ist.«
»Natürlich«, konnte Eva ihm gerade noch zusichern, als sie Valerias Schritte über den Flur näherkommen hörten und diese wieder zu ihnen stieß. Sie wechselten das Thema. Samuel fühlte einen Hauch Erleichterung, seine Gedanken dazu jemandem anvertraut zu haben. Eva machte fürs Erste einen Haken hinter den Rückzug ihrer Freundin. Wenn sie so weit wäre, würde sie sicher mit ihr reden. Für den Moment verstand sie nun etwas besser, wieso Valeria einige Tage ganz für sich allein gebraucht hatte.
Fasziniert beobachtete Valerija die große Schulhofschaukel, die sich einige Meter von ihr entfernt auf- und abbewegte. Das Lachen der anderen Kinder schallte laut in ihren Ohren. Eine Schaukel wie diese hatte sie noch nie gesehen: rund, so groß, dass man sich hineinlegen konnte, wie ein Spinnennetz, das einen hielt. Das Gefühl, darin zu liegen, während man hin– und herflog, musste unglaublich sein. In ihrer Vorstellung legte sie sich hinein, schloss ihre Augen und fühlte sich wie ein Vogel im Wind. Sachte glitt sie auf einer weichen Wolke durch den Himmel. Jedes Mal, wenn die Schaukel von oben wieder nach unten schwang, kribbelte es in ihrem Bauch, als würden kleine Ameisen darin emsig arbeiten.
»Du magst diese Schaukel, was?« Valerija zuckte zusammen. Die Stimme ihrer Lehrerin klang für sie jedes Mal wie eine liebliche Melodie auf dem Klavier. Sanfte Töne, sachte gespielt. Wie die der alten Dame, die sie ab und zu in der Kirche in Rumänien beim Spielen der Orgel beobachtet hatte. Sie hatte sich heimlich hineingeschlichen, wenn der Schnee ihr ganzes Dorf eingebettet hatte, um der eisigen Kälte zu entfliehen. Damals, als die Kirche für sie noch eine Zuflucht und kein Ort des Grauens war. Ein vertrauenswürdiger Klang.