Und da oben sind wir glücklich - Johanna Koers - E-Book

Und da oben sind wir glücklich E-Book

Johanna Koers

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Beschreibung

Sie saß neben ihm im Strandkorb auf der Dachterrasse seines Appartements und beobachtete wie die Sonne immer weiter am Horizont verschwand. Sie, Ellie, eine temperamentvolle Italienerin. Seit drei Jahren in einer glücklichen Beziehung mit ihm, Alex. Sie hatten so viele Pläne. Ihr Leben war perfekt. … doch nun drohte der Feind in ihrem Kopf alles zu zerstören: ihre Beziehung, ihr Glück, ihren Körper, sie. Er war groß, er war mächtig. Und er forderte sie auf zu einem unerbittlichen Kampf, in dem sie trotz der Unterstützung ihrer Schwester und ihres Freundes immer wieder den Mut und den Lebenswillen verliert. Zwischen Hoffnung und Resignation bewegen sich die Drei über ein Jahr in einer Berg- und Talfahrt, in der nicht nur das leben der jungen Frau immer wieder am seidenen Faden hängt.

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Und da oben sind wir glücklich

Und da oben sind wir glücklichImpressumEpilogDer Bruchteil einer SekundeEin Zettel zum AbschiedIch will dich nicht an meiner SeiteDein Optimismus gibt mir HoffnungWie hoch der Berg tatsächlich ist …Zwischen Leben und TodDer Gipfel verschwunden im tiefen NebelIch schaffe es nicht ohne dichDer Gipfel zum Greifen nahGipfeltreffTribus Buch & Kunstverlag empfiehlt

Und da oben sind wir glücklich

Johanna Koers

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Veröffentlicht im Tribus Buch & Kunstverlag GbR

September 2020

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2020 Tribus Buch & Kunstverlag GbR

Texte: © Copyright by Johanna Koers

Druck: epubli, ein Service der neopubli GmbH, Berlin

Umschlaggestaltung: Verena Ebner

Lektorat: Lisa Gausmann

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und wird strafrechtlich verfolgt.

Tribus Buch & Kunstverlag GbR

Obere Findelstätte 50a

49124 Georgsmarienhütte

Deutschland

www.tribusverlag.com

„Every mountain top

is within your reach

if you just keep climbing.“

-Barry Finlay-

Epilog

Er hatte seine Hand um ihre Schultern gelegt und ihr Kopf lehnte an seinem Oberarm. Gemeinsam beobachteten sie den Sonnenuntergang: Das Licht der sich sinkenden Sonne versetzte den ganzen Himmel in einen wunderschönen Orange-Gelbton. Manchmal zeigte sich der Himmel rot, manchmal rosa. Der Vorgang war immer derselbe und doch jedes Mal wieder einzigartig. Ellie liebte das tägliche Schauspiel dieses riesigen Feuerballs. Sekunde für Sekunde konnte man zusehen, wie die Erde die Sonne immer weiter in sich aufzusaugen versuchte, bis diese schlussendlich scheinbar verschwunden war. Nur, um auf der anderen Seite der Erde für Licht und Wärme zu sorgen. Ihr gefiel die Vorstellung: zu verschwinden und doch da zu sein. Nur auf einer anderen Seite. Nie ganz weg. 

Alex und sie hatten sich schon viele Sonnenuntergänge gemeinsam angesehen. Hier in seinem Strandkorb, aber vor allem in den Bergen. Die Berge waren ihre Passion. Klettern war die Leidenschaft, die sie beide nicht nur miteinander verband, sondern sie sogar einander bekannt gemacht hatte: Vor drei Jahren hatten sie sich im Kletterzentrum kennengelernt. Alex hatte die Bahn neben ihr und Ellie war mit einem Fuß abgerutscht. Sie wusste nicht, wie sie den nächsten Schritt machen sollte und war kurz davor aufzugeben, als er, Alex, sie ansprach: „Hey, nicht aufgeben. Rechts oben“ – tatsächlich war dort eine Möglichkeit, die Ellie nicht in Betracht gezogen hatte – „und dann kommen wir gemeinsam oben an.“ 

Ellie war glücklich. Ihr Leben war wundervoll. Ein toller Mann an ihrer Seite, den sie über alles liebte. Eine Familie, die immer hinter ihr stand. Ein Studium, in dem sie gut war. Neben dem Klettern und Alex war ihre Band ihr drittes elementares Lebensstandbein. Ellie konnte sich nicht daran erinnern, wann sie zu singen begonnen hatte. Sie wuchs in einer musikalisch geprägten Familie auf. Ihre Mutter erzählte immer, sie und ihre ein Jahr ältere Schwester Giulia hätten gesungen, bevor sie sprechen konnten. Heute sangen sie beide in ihrer Band. Sie waren zu fünft: Ellie, Juli, Maj, Nik und Pete – und sie waren gut. Hatten sie zunächst nur auf Schulveranstaltungen gespielt, wurden sie mittlerweile auch für größere Veranstaltungen und als Vorband gebucht.

Kurzum: Ellie liebte ihr Leben. Sie war ein optimistischer Mensch. Immer motiviert. Immer in Action. Langeweile gehörte nicht in ihr Vokabular. Immer in Bewegung. Immer vorwärts, immer weiter nach oben. Stillstand war keine Option.

„Was würdest du dir wünschen, wenn jetzt eine Fee vorbeikommen würde, um dir einen einzigen Wunsch zu erfüllen?“ Alex hatte sich ihr leicht zugewandt.

„Eine Fee?“ Ellie lächelte schmunzelnd.

„Ja, eine Fee.“ 

„Hmm.“ Sie lächelte immer noch. Eine Fee?! - Wie war er darauf gekommen? Sie überlegte kurz, doch eigentlich fiel ihr das antworten nicht schwer: „Ich wünsche mir, dass wir auch mit achtzig Jahren noch Berge besteigen.“

„Du und ich?“ Auf seine Lippen hatte sich ein seliges Lächeln gelegt.

„Ja, du und ich. Das heißt, wenn du dir vorstellen kannst, noch so lange mit mir dein Leben zu teilen.“ Sie sah ihn an. Sie hatte keine Angst vor seiner Antwort. Alex drehte sich, sodass sie ihren Kopf heben musste.

„Ich kann mir nichts Schöneres vorstellen, du bist mein Leben.“ Er streichelte ihr durch ihr langes - für Italienerinnen untypisch - rotes, leicht gelocktes Haar.

„Ti amo, tesoro mio.“ Sie legte ihre Hand in seinen Nacken, zog ihn leicht zu sich heran und küsste ihn.

Der Bruchteil einer Sekunde

Ellie hatte den Refrain mit ihrer Schwester gesungen und die ersten zwei Zeilen ihrer Strophe, als sie plötzlich nur noch Leere in ihrem Kopf fühlte. Es war alles weg. Der Text, die Melodie, ihre Stimme. Sie verstummte. Einfach so. Und sie wusste selbst nicht warum. Sie nahm wahr, wie erst Maj aufhörte zu spielen und dann auch der Bass und das Schlagzeug schwiegen. Ellie vernahm die Stille und dann hörte sie die Stimme ihrer Schwester, die sie fragte, ob alles in Ordnung sei. Aber sie konnte nicht antworten. Ellie merkte, wie die Stimmen hinter ihr in ihren Ohren zu einem Rauschen wurden, wie ihre Beine sie kaum noch zu tragen vermochten, bevor ihr schwarz vor Augen wurde und sie erst wieder auf dem Sofa im Proberaum erwachte, drei Gesichter über ihr, die sie besorgt ansahen.

„Ellie? Hörst du mich?“ Ihre Schwester kniete vor dem Sofa und streichelte ihre Hand. „Geht es dir gut? Hast du dir wehgetan?“

„Ja. Nein. Es geht mir gut. Ich habe wahrscheinlich einfach zu wenig getrunken.“

„Da kann ich Abhilfe schaffen.“ Pete stand neben ihr und hielt ihr ein Glas Wasser hin. „Bitte!“ Er grinste sie an. Pete war eine Frohnatur, etwas verrückt, immer einen Spruch auf den Lippen, immer für einen Spaß zu haben, nie zu ernst.

„Danke.“ Ellie richtete sich auf und trank ihr Wasser. Das kalte Nass an ihren Lippen ließ sie erst merken, wie trocken sie tatsächlich gewesen waren. Irgendwie schmeckte das Wasser seltsam, oder? Ellie entschied sich, nichts dergleichen zu sagen. Stattdessen lächelte sie. „Proben wir weiter?“ Sie sah die anderen erwartungsvoll an.

„Ich denke, du solltest es für heute lassen“, schlug Maj vor. „Morgen ist auch noch ein Tag.“

„Blödsinn“, konterte Ellie. „Ich hatte nur zu wenig getrunken. Machen wir weiter.“ Sie wollte in einer schnellen Bewegung aufstehen, doch ihr wurde direkt wieder schwindelig: Das Schwarz vor ihren Augen kam rasanter zurück, als ihr lieb war. Pete konnte sie gerade noch halten.

„Keine Bandprobe mehr heute!“ Majs Stimme war eindringlicher geworden. „Juli fährt dich nach Hause und du ruhst dich aus.“

„Sag Mama nichts, okay? Du weißt wie ängstlich sie seit Stella ist“, sagte Ellie, als sie im Auto neben ihrer Schwester saß. Sie schaute sie nicht an, sondern fixierte die Straße vor sich. Aus den Augenwinkeln konnte Juli sehen, dass das Gesicht ihrer Schwester wieder Farbe bekommen hatte. In den letzten zwei Wochen hatte ihre kleine Schwester ihr gegenüber häufiger über Kopfschmerzen geklagt. Trotz ihrer Vorgeschichte hatte sie sich nichts dabei gedacht. Auch gerade, als Ellie vor ihren Augen zusammengebrochen war, hatte sie keinen Gedanken daran verschwendet. Doch nun, wo Ellie Stella erwähnte, drang der Gedanke wie ein Parasit in Sekundenschnelle in ihr Gehirn ein.

„Okay“, sagte sie nur und sprach ihren Gedanken, ihre Angst, nicht aus. Den ganzen Weg schwiegen die Schwestern sich an. Zuhause verschwand Ellie in ihrem Zimmer. Sie hatte Kopfschmerzen und wollte einfach nur schlafen.

Es waren zwei Wochen vergangen.

Ellie saß mit ihrer Familie zum Prima Colazione zusammen, aber sie hatte keinen Appetit. Ihr Kopf dröhnte.

„Elena, cos´hai?“ Ihre Mutter sah sie besorgt an. Ihre Eltern waren die einzigen Menschen, die ihre Kinder konsequent Elena und Giulia nannten.

„Nichts Mama. Es ist alles gut.“ Ellie setzte ein Lächeln auf. Sie wollte ihre Mutter nicht beunruhigen.

„Stai mentendo!“ Margherita blieb hartnäckig.

„Ich bin nur müde.“

„Hai mal di testa?“ Es hatte keinen Zweck ihre

Mutter anzulügen.

„Ja Mama, ich habe Kopfschmerzen.“

„Seit wann?“

„Seit einigen Wochen“, mischte Juli sich ein. Ellies bösen Blick ignorierte sie.

„Perché non dici niente?“

„Ich habe nichts gesagt, weil ich dich nicht beunruhigen wollte, Mama. Es sind nur Kopfschmerzen!“

„Anche Stella aveva solo mal di testa!“

„Ich weiß, dass Stella auch nur Kopfschmerzen hatte, aber …“

„Devi vedere un dottore!“

„Ich brauche keinen Arzt.“

„Lass es doch abklären. Besser einmal zu viel als zu wenig.“ Juli sah ihre Schwester an. Ihr Blick wirkte fast flehend.

„Ascolta tua sorella.“

„Ihr nervt!“ Ellie war lauter geworden. Die Wut in ihr verstärkte ihre Kopfschmerzen, sodass sie ihr Gesicht unweigerlich schmerzverzerrt zusammenzog und mit ihrer Hand ihre Stirn berührte.

 „Domani!“

„Ja. Ja, ich geh morgen zum Arzt!“, gab Ellie nach, stand auf und verschwand in ihrem Zimmer.

„Was führt dich zu mir?“ Der Hausarzt sah sie mit einem Lächeln im Gesicht an. Er kannte Ellie seit ihrer Kindheit - kannte ihre Familie und deren Vergangenheit.

„Ich habe Kopfschmerzen und meine Mutter macht sich Sorgen.“ Ellie verdrehte theatralisch die Augen.

„Kannst du ihr das verübeln?“

„Nein. Deshalb bin ich hier.“

„Wie lange hast du die Kopfschmerzen schon?“ Er wandte sich seinem Bildschirm zu, um Ellies Antworten schriftlich festzuhalten.

„Seit vier, fünf Wochen circa.“

„Okay. Und kommen die Schmerzen schubweise oder sind sie immer da? Wie stark sind die Schmerzen?“

„Unterschiedlich. Am stärksten sind sie in den frühen Morgenstunden und dann verschwinden sie meist im Laufe des Tages. Ich denke, dass ich nachts falsch liege, verspannt bin und es Spannungskopfschmerzen sind, die im Laufe des Tages durch den geraden Gang wieder verschwinden.“

„Das könnte sein. Ich würde dich dennoch gerne zur Kontrolle an die Uniklinik überweisen. Und wenn es nur ist, um deine Mutter zu beruhigen. Einverstanden?“ Sein freundliches Lächeln überzeugte sie.

Als Ellie kurz darauf ins Haus ihrer Eltern kam, wurde sie bereits erwartet.

„Cosa ha detto?“

„Er hat gesagt, dass die Kopfschmerzen wahrscheinlich von einer Verspannung im Nacken kommen. Aber, um dich zu beruhigen, habe ich morgen einen Termin in der Uni- Klinik bei Dr. Meier.“

„Verrò con te!“ Margherita sah sie bestimmt an.

„Nein.“

„Non ti lascerò andare da sola.“ Ellie sah hilfesuchend zu ihrer Schwester. Auf keinen Fall wollte sie, dass ihre Mutter sie in die Klinik begleitete. In die Klinik, in der ihre Schwester gestorben war. Zu dem Arzt, der ihrer Mutter mitgeteilt hatte, dass ihre jüngste Tochter nicht überleben würde. Ihre Mutter hatte den Tod ihrer Schwester nie verarbeitet. Konnte man so etwas überhaupt verkraften: Sein eigenes Kind sterben zu sehen? Nichts tun zu können? Sie wollte ihrer Mutter diesen Gang ersparen.

„Ich begleite sie.“

„Sei sicura?“ Margherita sah ihre Tochter eindringlich an.

„Ja! Ich werde mit ihr gehen.“ Ellie nickte ihrer Schwester dankend zu.

„Danke, dass du mich DAVOR bewahrt hast.“ Ellie und Juli standen im Flur, ihre Eltern waren außer Hörweite. Sie lachte. Doch Juli sah sie mit ernstem Blick an:

„Verstehst du sie nicht? Sie hat Angst um dich.“ Ging Ellie wirklich so cool mit der Sache um, wie sie es vorgab? Genau wie ihre Mutter, machte auch Juli sich viele Gedanken. Auch sie hatte Angst vor dem Ergebnis der Untersuchung. Die Zeit vor sechs Jahren, als ihre kleine Schwester Stella von Arzt zu Arzt geschickt wurde, um schlussendlich im Krankenhaus diese niederschmetternde Diagnose zu erhalten, hatte sie alle für ihr Leben geprägt.

„Ich weiß.“ Ellie setzte sich auf die Treppenstufe, Juli tat es ihr gleich. „Aber ich brauche morgen niemanden, der vor Angst durchdreht ... Ich brauche jemanden, der mir Mut macht. Verstehst du?“ Ihr Blick hatte sich verändert. Das Lachen war verschwunden. Sie zeigte es nicht: Aber sie hatte Angst. Juli nahm die Hand ihrer Schwester und drückte sie.

„Ich bin da.“ Wie um ihren Worten Nachdruck zu verleihen, nickte sie. Ein leichtes, dankendes Lächeln legte sich auf Ellies Lippen, bevor sie aufstand.

„Ich werde in mein Zimmer gehen. Alex wollte gleich anrufen.“

„Wann kommt er eigentlich wieder?“

„Morgen.“

„Wenn du willst, dass er morgen dabei ist, dann frage ihn. Er kann das Seminar bestimmt einen Tag eher verlassen.“

„Nein.“ Ellie schüttelte energisch den Kopf und berührte instinktiv ihre Stirn, als ein stechender Schmerz ihren Kopf durchfuhr. „Ich möchte ihn nicht beunruhigen. Wahrscheinlich ist es wirklich ganz harmlos.“

 „Bestimmt“, pflichtete Juli ihr bei. „Hoffentlich“, dachte sie und versuchte die negativen Gedanken und die Angst zu verdrängen.

„Elena Pucini, bitte.“ Sie saßen im Wartezimmer der Klinik. Bereich „Onkologie“. Ellie kannte diesen Ort. Der sterile Geruch nach Desinfektionsmittel und Krankheit war ihr bekannt. All die Menschen mit und ohne Kopftuch. Mit und ohne Haar. Einige Gesichter von Ärzten und Schwestern kamen ihr noch vertraut vor, vielleicht saß sie sogar auf demselben Stuhl wie damals. Sie hatte viele Stunden, viele Tage, auf dieser Station verbracht. Zu viele. Ellie stand auf und ihre Schwester folgte ihr in das Untersuchungszimmer. Sie redeten beide kaum. Juli wusste, dass sie für ihre Schwester da sein musste, aber sie hatte selbst mit all den hochkommenden Gefühlen zu kämpfen. Es war richtig gewesen, ihre Mutter zu Hause zu lassen. Dr. Meier betrat den Raum und setzte sich an den Schreibtisch ihnen gegenüber.

„Elena und Giulia. Ich muss sagen, dass ich mich nicht wirklich freue, Sie beide hier wiederzusehen.“ Dr. Meier, Chefarzt und Neuroonkologe, hatte den gestrigen Anruf von Ellies Hausarzt selbst entgegengenommen. Die Krankengeschichte von Ellies Schwester war auch an ihm damals nicht spurlos vorbeigegangen. Ein so junges Mädchen, eine Kämpferin, am Ende ohne jegliche Chance. Er hatte Ellie sofort für den nächsten Tag eingeplant: Die Ausführungen des Hausarztes, in Verbindung mit der familiären Vorgeschichte, ließen ihm ein schnelles Handeln unausweichlich erscheinen. „Sie haben Kopfschmerzen, Elena?“

„Ja.“ Ellie nickte leicht.

„Seit wann?“

„Seit circa fünf Wochen.“

„Können Sie den Schmerz lokalisieren?“

„Nein. Er ist überall.“

„Den ganzen Tag oder nur manchmal?“

„Meistens ist es in den frühen Morgenstunden am schlimmsten und wird dann im Laufe des Tages besser. Ich denke, dass ich vielleicht nachts falsch liege und deshalb morgens verspannt bin.“ Sie wollte es glauben. Sie wollte glauben, dass ihre Kopfschmerzen eine ganz simple und harmlose Ursache hatten.

„Haben Sie sonst irgendwelche Symptome oder Veränderungen an Ihnen bemerkt?“

„Nein.“

 „Doch“, mischte sich Juli ein. „Bei der Bandprobe vor zwei Wochen ist sie zusammengebrochen.“ Dr. Meiers Blick ging von Juli zu Ellie.

„Ich hatte zu wenig getrunken, … denke ich.“

„Wie ist es mit Ihren Sinnen? Können Sie gut sehen? Riechen? Ihre Lippen sehen trocken aus“, stellte Dr. Meier fest.

„Ich weiß.“  Unweigerlich berührte sie ihren Mund. Sie konnte sehen, wie sich Dr. Meiers Gesichtszüge leicht veränderten. Auch, wenn er sicherlich versuchte, keine erkennbare Regung zu zeigen, war Ellie nach den Jahren der Krankheit ihrer Tante und ihrer Schwester geschult darin, sämtliche Mimik der Ärzte und Schwestern zu deuten. Tatsächlich waren ihre Lippen in letzter Zeit immer trocken. Außerdem hatte sich ihr Geschmackssinn verändert. Manchmal schmeckte alles wie Pappe. Deshalb hatte sie in letzter Zeit kaum Appetit. Sie dachte kurz darüber nach, diese Auffälligkeit zu unterschlagen, verwarf den Gedanken aber wieder. Es würde ohnehin nichts am Ergebnis ändern. Wenn sie krank war - wie ihre Schwester -, würde die Diagnose ihr ganzes Leben verändern. „Und manchmal schmecke ich nichts mehr.“ Aus den Augenwinkeln konnte sie sehen, wie ihre Schwester sie geschockt ansah. Ellie hatte niemandem davon erzählt.

„Ich hatte heute Morgen keinen Appetit.“

„Gut, dann brauchen wir nicht noch extra warten. Die Untersuchung dauert zwischen fünfzehn und zwanzig Minuten. Die MRT-Elastografie zeigt mir kleinste Verschiebungen und Dehnungen. Dadurch kann ich sehen, welche Bereiche stark gedehnt werden: Diese sind weich. Und die, die sich nicht komprimieren lassen: Diese sind fest. Nach der Untersuchung kann ich so nicht nur sehen, ob Ihre Kopfschmerzen eventuell von einem Tumor kommen, sondern kann auch eine erste Einschätzung darüber tätigen, ob es sich gegebenenfalls um gutartiges oder bösartiges Gewebe handelt. Bösartige Tumore sind in den allermeisten Fällen fest.“ Jedes seiner Worte schallte in Ellies Kopf nach. Dr. Meier ging also von einem Hirntumor aus, oder? Warum sonst sollte er anstelle eines einfachen MRTs eine MRT-Elastografie machen? Waren ihre Symptome so eindeutig? - „Elena?“

„Ja?“ Ellie sah Dr. Meier an. Er schien eine Antwort zu erwarten, aber sie wusste nicht, was er sie gefragt hatte.

„Haben Sie alles verstanden?“ Sie nickte. Ihr versagte die Stimme.

Als Ellie und Juli nach dem MRT und einer gefühlten ewigen Stunde des grausam, stillschweigenden Wartens zurück ins Untersuchungszimmer kamen, saß Dr. Meier bereits an seinem Schreibtisch. Ihre Blicke trafen sich, als sie gerade die Tür hinter sich geschlossen hatte. Ein Moment, der alles veränderte. Ellie kannte diesen Blick. Er sagte mehr als tausend Worte. Im Bruchteil einer Sekunde kamen ihr all die Bilder der Vergangenheit in den Sinn: Ihre todkranke Schwester; ihr Körper, der kaum noch mehr war als eine leere Hülle; die Tränen ihrer Mutter, vor Verzweiflung darüber ihrer kleinen Tochter beim Sterben zusehen zu müssen; die Beerdigung, … die fassungslosen Gesichter, jeder hinter dem Sarg zu gehende Meter tonnenschwer. Es folgten die Bilder ihrer Kindheit: Ihre todgeweihte Tante; ihr Körper, der kaum noch mehr war als eine leere Hülle; die Tränen ihrer Mutter, die ihrer Schwester beim Sterben zusehen musste und noch nicht ahnte, dass in ihrem Leben viel Schlimmeres folgen würde; die Beerdigung, … die fassungslosen Gesichter; sie selbst als Kind an der Hand ihrer Mutter, für die jeder Schritt bleischwer war. Und nun war sie an der Reihe: Sie war todkrank; ihr Körper würde nicht mehr sein, als ein Schatten ihrer selbst; ihre Mutter würde Tränen der Verzweiflung weinen über die Tatsache, dass sie ihr nicht helfen könne; ihre Familie würde hinter ihrem Sarg hergehen und der Weg bis zum Grab würde unendlich erscheinen. 

Der Bruchteil einer Sekunde. Ein einziger Blick. Dr. Meier musste nichts sagen. Sie, Ellie, 22 Jahre alt, Sängerin, begeisterte Kletterin, mit einem wundervollen Partner an ihrer Seite, voller Lebensfreude und mit so vielen Plänen für die Zukunft. Sie, Ellie, … sie würde sterben. Sie spürte, wie ihre Schwester eine Hand auf ihre Schulter legte, ... tonnenschwer.

Ein Zettel zum Abschied

„Wozu brauchst du Zeit bis morgen früh? Was willst du so Wichtiges erledigen? Du hast keine Zeit, Ellie!“ Juli saß neben ihrer Schwester im Auto. Sie standen vor einer roten Ampel kurz vor dem Haus ihrer Eltern. Die ganze Fahrt hatten sie nicht geredet. Juli wusste, dass sie für ihre Schwester stark sein musste, aber der Kloß in ihrem Hals war zu groß. Sie hatte ihre Tränen nicht zurückhalten können. Ihre Schwester war krank. Genau wie ihre kleinste Schwester es gewesen war. Genau wie ihre Tante. „Du hättest alles von dort aus regeln können. Oder ich hätte es erledigt. Die Uni, das Gespräch mit Mama und Papa. Alles.“ „Es geht nicht um sie.“ Ellie konnte nicht weinen. Vielleicht war sie zu geschockt. Vielleicht hatte sie es auch einfach innerlich längst gewusst. „Ich hätte Alex zu dir gebracht. Du hättest im Krankenhaus mit ihm reden können.“ „Alex wird es nicht erfahren!“ „Ellie, wie soll das gehen? Wie willst du ihm DAS verheimlichen?“ „Ich werde ihn verlassen. DAS ist es, was ich erledigen muss.“ Ellies Stimme war ganz ruhig. Ganz bedacht. Sie sah ihre Schwester nicht an. Ihr Blick ging geradeaus ins Leere. „Bitte?!“ Juli war durch die Worte so irritiert, dass sie erst durch das hupende Auto hinter ihr die nun grüne Ampel bemerkte. Sie fuhr los, bog in die nächste Kreuzung und hielt am Straßenrand. Sie drehte sich zur Beifahrerseite und betrachtete ihre Schwester: „Wieso willst du das tun? Er liebt dich. Und du liebst ihn.“ „Genau deshalb.“ Ellie wandte sich ihr zu. „Ich liebe ihn. Mehr als alles andere. Alex ist der wichtigste Mensch in meinem Leben.“ „Warum willst du ihn dann verlassen?“ Juli konnte ihre Schwester nicht verstehen. „Weil ich will, dass er glücklich ist. Du weißt genauso gut wie ich, wo das hier hinführt. Wir wissen, was der Tumor mit mir machen wird. Er wird mich zerstören. Genau wie er es bei Stella getan hat und bei Caterina. Ich möchte nicht, dass er das miterleben muss. Ich will nicht, dass er hilflos zusehen muss, wie mein Körper und mein Geist immer weiter zerfallen, bis von mir nichts mehr übrig bleibt.“ „Ellie, …“ Juli wusste nicht, was sie sagen sollte. „Alex und ich lieben es, zu reisen, zu klettern, wir sind immer aktiv, immer unterwegs. Dieses Leben ist es, wofür wir brennen. Doch genau dieses Leben ist für mich vorbei. Dieses Leben kann ich nicht mehr leben. Und ich will ihm das Seinige nicht nehmen.“ „Du weißt, dass er dich nie verlassen würde. Er würde jeden Schritt mit dir gehen.“ „Das weiß ich. Und deshalb werde ich es ihm nicht sagen. Ich gebe ihn frei.“ „Ich finde, dass er die Möglichkeit haben sollte, selbst zu wählen.“ „Du weißt genau wie ich, dass er sich nie gegen mich entscheiden würde. Natürlich würde er das nicht. Alex hat keine Ahnung, was diese Diagnose bedeutet. Er hat keinen Schimmer, was aus mir werden wird.“ „Ich finde das nicht gut.“ „Das musst du nicht. Du musst es nur akzeptieren.“ „Wie soll das gehen? Wie willst du einfach aus seinem Leben verschwinden?“ „Ich werde einen Weg finden. Wichtig ist, dass die Menschen schweigen, die es wissen. DU wirst es ihm nicht sagen!“  „Ellie, ich …“ Juli konnte die Ausführungen ihrer kleinen Schwester zwar im Ansatz verstehen, empfand ihre Entscheidung aber nach wie vor als falsch. „Willst du einer todkranken Frau einen Wunsch ausschlagen?“ Ellie sah ihre Schwester an. Ein leicht provokantes Funkeln lag, trotz der schrecklichen Situation, in ihren eigentlich leeren Augen. „Das ist nicht dein Ernst.“ Juli schüttelte den Kopf. Vor sechs Jahren hatte Stella ihre Schwestern mit diesen Worten immer dazu gebracht, ihr jeden Wunsch zu erfüllen. Ellie lehnte den Kopf zur Seite und spitzte unschuldig ihren Mund. „Du spielst die Krebskarte?“ „Ja. Weil ich es kann.“ Sie musste lachen. Und Juli konnte nicht anders als in dieses sarkastische Lachen einzusteigen. Gar nichts an dieser Situation war lustig. Sie hatten wirklich keinen Grund zum Lachen, aber sie konnten es nicht kontrollieren. Sie lachten und lachten, bis sie weinten. Alles hatte sich in den letzten Stunden geändert. Aus einem glücklichen Leben mit unendlich vielen Plänen war ein Leben am seidenen Faden geworden. Schreckliche Monate würden folgen, das wussten sie beide nur zu gut. --- „Und?“ Ihre Mutter stand im Flur noch bevor Ellie und Juli das Haus richtig betreten hatten. Da war er wieder. Dieser Moment. Dieser minimale Augenblick. Sich treffende Blicke, die Worte überflüssig machten. Ihr Vater war hinter ihrer Mutter aufgetaucht. „No, no, no. Non dev´essere vero. Per favore, dio.“ Sie hatte sich an die Brust ihres Mannes gelegt und weinte. „Dimmi che non è vero. Non prenderti un altro mio figlio.“… „Mama.“ Ellie ging einen Schritt auf sie zu und legte vorsichtig ihre Hand auf ihren Rücken: „Ich werde nicht sterben.“ „No?“ Ihre Mutter wandte sich ihr zu. „Nein. Dr. Meier wird mich heilen. Ich gehe morgen in das Krankenhaus und lasse alle Untersuchungen machen. Dann kann er uns genau sagen, was wir machen. Ich bin nicht Stella. Und auch nicht Caterina. Beruhige dich, ja?“ „Non morirai. Tu stai bene. Non sei Stella.“ „Ja, Mama. Ich bin nicht Stella. Ich werde nicht sterben.“ Margherita umarmte ihre Tochter und hielt sie ganz fest. „Non morirai. Ti amo, Elena. Ti amo!“ „Ich liebe dich auch, Mama!“ Ellie wandte sich aus ihrer Umarmung. „Ich muss einige Sachen packen und werde dann zum Proberaum fahren.“ Sie drehte sich um und verschwand über die Treppe nach oben. Juli folgte ihr. „Warum hast du sie angelogen?“ „Was hätte ich denn sagen sollen?“ „Die Wahrheit?“ „Wozu? Wenn ich sterbe, dann erfahren sie es früh genug. Warum soll ich ihnen ihre Hoffnung nehmen?“ Ellie stand vor ihrem Kleiderschrank und warf Kleidung aufs Bett, die sie in ihre Kliniktasche packen wollte. Juli setzte sich auf die Bettkante. Ihre Schwester hatte Recht. Die ganze Zeit dachte sie an alle anderen, organisierte, überlegte was für wen am besten war.  „Und wir wissen nicht, ob es ein Glioblastom wie bei Stella ist.“ „Da seid ihr ja endlich.“ Maj, Nik und Pete standen im Proberaum an ihren Instrumenten und spielten die ersten Klänge, als Ellie und Juli mit Verspätung zur Probe kamen. „Jetzt aber schnell. Wir müssen unbedingt noch mal die Songs fürs Wochenende durchgehen.“ „Ich muss vorher mit euch reden.“ Ellie war weiter in den Raum hineingegangen. „Ich werde am Wochenende nicht dabei sein.“ „Bitte?“ Maj sah sie entgeistert an. „Wie soll das denn ohne dich funktionieren? Sollen Juli und ich jetzt einfach deine Parts übernehmen?“ Sie wirkte empört. „Es tut mir leid. Ihr werdet für unbestimmte Zeit ohne mich auskommen müssen.“ „Was soll das heißen?“ Nik betrachtete Ellie und Juli, während er seine Bassgitarre wieder zurück auf ihren Ständer stellte. Irgendwas war anders. Die beiden Schwestern verhielten sich seltsam. „Mein Zusammenbruch vor zwei Wochen, … ich hatte nicht einfach zu wenig getrunken …“ Ellie stockte, als sie merkte, wie ihre Schwester neben ihr zu weinen begann. „Entschuldigung.“ Juli drehte sich um und ging Richtung Sofa. „Was ist los?“ Auch Maj hatte ihre Gitarre zur Seite gelegt und war auf Ellie zugekommen.  Pete hatte sich hinter seinem Schlagzeug erhoben. „Ihr wisst alle, dass meine Schwester an einem Hirntumor gestorben ist.“ Ellie hätte auch einfach „Ich habe einen Gehirntumor und bin todkrank“ sagen können, aber sie konnte es nicht. „Nein …“ Maj sah erst Ellie schockiert an, wandte ihren Blick dann kurz zu Juli und zurück: „Das ist nicht wahr.“ „Doch, ist es. Ich habe nicht einfach zu wenig getrunken. Mich hat es genauso getroffen wie meine Tante und Stella.“ „Wirst du operiert?“ Nik sah sie besorgt an. „Du wirst doch gesund, oder?“ „Das weiß ich noch nicht.“ Ellie konnte die geschockten Gesichter ihrer Freunde sehen. „Ich werde morgen aufgenommen, es werden Untersuchungen gemacht und dann werden sie die für mich passende Therapie erarbeiten.“ Ellie versuchte ein Lächeln. „Wir sind für dich da … die ganze Zeit! Wann immer du uns brauchst.“ Pete, der ansonsten gerne Spaß machende, immerzu lustig und gut gelaunte Mann, wirkte plötzlich ganz ernst. Maj weinte. Ellie und Juli waren seit dem Kindergarten ihre besten Freundinnen. Sie ging einen Schritt auf Ellie zu und nahm sie in den Arm. Ellie ließ die Umarmung zu. Nik und Pete taten es Maj gleich. „Wir fünf, … wir halten zusammen. Wir sind für dich da!“ Er streckte die Hand in Richtung Juli „Komm zu uns.“ Langsam erhob sich Juli. Die Umarmung ihrer Freunde tat Ellie gut. Sie hatte das Gefühl, sich fallen lassen zu können und nicht funktionieren zu müssen. „Ich habe noch eine Bitte an euch.“ Als sie sich aus ihrer Umarmung gelöst hatten, sah sie ihre Freunde der Reihe nach an: „Ich werde Alex verlassen. Ich möchte nicht, dass irgendjemand von euch ihm gegenüber erwähnt, dass ich krank bin.“ „Was? Warum?“ Maj sah sie genauso irritiert an wie vorhin ihre Schwester. „Ich weiß, was dieser Tumor mit mir machen wird. Meine Tante, Stella, … ich weiß, dass dieser Tumor mein Leben zerstören wird und meinen Körper und meinen Geist zerfrisst. Ich will nicht, dass Alex das miterlebt.“ Ellie konnte in den Gesichtern ihrer Freunde sehen, dass sie, ebenso wie Juli, von ihrer Entscheidung nicht begeistert waren. „Ich möchte auch keine Diskussion darüber. Es ist meine Entscheidung!“ „Ok.“ Maj nickte. „Verstanden.“ „Ich werde ihm nichts sagen.“ Pete nickte ebenfalls. Ellie sah Nik an. „Ich weiß, dass ich viel von dir verlange, Nik. Alex und du: Ihr seid richtig gute Freunde geworden. Aber ich bitte dich wirklich inständig …“ „Ich werde schweigen. Ja, wir sind gute Freunde. Aber du, … wir fünf, … das gibt es schon viel länger. Es ist deine Entscheidung. Wie du schon sagtest. Und ich stehe hinter dir.“ Ellie stand seit zehn Minuten vor der Wohnungstür seines Appartements. Sie traute sich nicht hinein. Tausende Gedanken gingen ihr durch den Kopf, während sie gleichzeitig nur Leere fühlte. Wie gerne würde sie sich einfach in seine Arme legen und sich halten lassen. Wie gerne würde sie ihm alles sagen. Einfach in seinen Armen weinen. Aber das konnte sie nicht. Sie konnte nicht so egoistisch sein und sein Leben zerstören, nur weil das ihrige beendet war. Es wäre besser, er würde sie hassen, als zuzusehen, wie sie zerfallen und das Zeitliche sie segnen würde. Die Hoffnungslosigkeit, die Ohnmacht, den Schmerz zu fühlen, wenn er ihr nicht helfen kann, wäre viel schlimmer als das Gefühl verlassen zu werden. Als sie den Schlüssel gerade im Schloss umdrehen wollte, öffnete sich die Tür von innen. Alex stand strahlend vor ihr: seine blau-grauen Augen, seine markanten Gesichtszüge, sein sportlich-athletischer Körperbau, seine dunkelblonden, perfekt gestylten, Haare. Als Ellie ihn damals im Kletterpark kennengelernt hatte, war sie vom ersten Moment an verliebt gewesen. Eigentlich hatte sie nicht an Liebe auf den ersten Blick geglaubt. Aber dieser junge, charismatische Mann, der ihr so hilfreich und motivierend zur Seite gestanden hatte, der hatte es ihr angetan. „Da bist du ja endlich!“ Alex ging einen Schritt auf sie zu und legte seine Hände um ihre Taille. „Ich habe dich schrecklich vermisst.“ Er zog sie zu sich heran und küsste sie. Ellie erwiderte seinen Kuss. Seine Lippen auf ihren – ein so vertrautes Gefühl. Sein Aftershave in ihrer Nase – ein so vertrauter Geruch. Seine Hände an ihren Hüften – eine so vertraute Berührung. Als er sie losließ, lächelte er immer noch glücklich vor sich hin. „Ich habe das Essen schon im Ofen. Ich hatte eher mit dir gerechnet.“ „Ich hing bei der Bandprobe fest“, entschuldigte sich Ellie. „Das ist ja nichts Neues.“ Er lächelte. Er war nicht sauer. Ellie folgte ihm in die kleine, aber geschmackvoll eingerichtete Küche. Im Türrahmen blieb sie stehen. Sie betrachtete ihn, wie seine flinken Finger Gurke und Paprika für den Salat klein würfelten. Er summte gut gelaunt zur im Hintergrund laufenden Musik. Alex hatte keine Ahnung, welche Lawine der heutige Tag im Leben seiner Freundin ausgelöst hatte. Und er wusste noch nicht, mit welcher Kraft diese Lawine auch sein Leben tangieren würde. „Ellie?“ Sie schreckte aus ihren Gedanken hoch. Alex sah sie – immer noch lächelnd - an. „Ja?“ „Ich hatte dich gefragt, ob du mir eben das Öl reichen kannst. Aber du bist ja ganz weit weg mit deinen Gedanken.“ Das war eine Aussage, kein Vorwurf. „Entschuldige.“ „Schon gut.“ Alex hatte sich selbst das Öl aus dem Schrank genommen. Er betrachtete seine Freundin: „Ist alles okay?“ Seine Augen fixierten sie. In Gedanken sagte sie: „Nein! Nichts ist okay. Ich bin krank, todgeweiht. Ich habe einen bösartigen Hirntumor, wie meine Schwester, und ich werde wahrscheinlich sterben. Mein Körper wird zerfallen, ich werde Schmerzen haben, ich werde nie wieder die Ellie sein, die ich war. Ich werde ans Bett gefesselt sein, zu müde zum Leben. Ich werde am Ende nur noch sterben wollen. Nichts ist okay. Gar nichts. Bitte, tesoro mio. Bitte. Halte mich. Halt mich fest und lasse mich nie wieder los. Ich brauche dich. Ich brauche dich mehr als jemals zuvor.“ „Ja, es ist alles gut“, kam ihr stattdessen über die Lippen und sie bemühte sich um ein Lächeln. „Wirklich?“ Sie wirkte unglaublich müde und erschöpft. Irgendwie traurig. „Ja. Ich bin nur k. o. Die Woche war anstrengend: viele Bandproben und eine Ausarbeitung für die Uni.“ Es gab keine Ausarbeitung. Aber das wusste Alex nicht. „Ich bin einfach nur müde.“ Alex lächelte sie an. Er glaubte ihr. „Was hältst du davon: Ich koche zu Ende, dann essen wir und dann bekommst du eine Massage auf dem Sofa?“ „Das klingt wundervoll.“ Ellie nahm sich ein Glas und Wasser aus dem Kühlschrank. Sie setzte sich an den kleinen Esstisch und wartete. „Wie war dein Seminar? Irgendwas Interessantes?“ „Seminar, Essen, Zusammensitzen. Nicht wirklich.“ „Und die Vorträge?“ „Gut, aber das interessiert dich nicht wirklich“, er lächelte sie wissend an. „Und bei dir?“ „Wie gesagt, viel Stress.“ „Ausarbeitung fertig? Welches Thema?“ Was sollte sie sagen? Es gab keine Ausarbeitung. Sie hatte ihn noch nie belogen. Aber es war das Richtige. „Fertig, aber das interessiert dich nicht wirklich“, imitierte sie ihn. Und Alex gab sich damit grinsend zufrieden. „Keinen Appetit?“ Alex betrachtete Ellies Teller. Sie hatte nicht viel gegessen. „Nicht wirklich. Tut mir leid, dass du extra gekocht hast.“ Sie sah ihn reumütig an, ihr Kopf schmerzte. „Das macht doch nichts. Leg dich aufs Sofa. Ich räume hier noch auf und dann komme ich zu dir.“ Ohne ein weiteres Wort stand Ellie auf und verschwand ins helle und modern eingerichtete Wohnzimmer. Durch die großen Fenster konnte sie über die Dächer hinweg den Fluss sehen. Die glänzenden weißen und schwarzen Möbel ließen den Raum in einem stilvollen Ambiente erscheinen. Das graue Ecksofa fügte sich perfekt in den Raum ein. Der kleine, schwarze Wohnzimmertisch stand auf einem runden, schwarzen, flauschigen Teppich. Die drei Grünpflanzen verliehen dem Wohnzimmer ein angenehmes Flair. Alex` Mutter war Floristin. Sie hatte im gesamten Appartement Pflanzen verteilt. Zur Verbesserung des Raumklimas, zur Förderung der Konzentrationsfähigkeit, zur Senkung des Stresslevels, zur Reinigung der Luft von Schadstoffen und zur Erhöhung der Luftfeuchtigkeit, wie sie immer zu predigen vermochte. Auf dem großen Flachbildfernseher an der Wand hatten sie und Alex bereits viele Filme und Serien gesehen. An der ansonsten schlicht weiß gehaltenen Wand hatten sie hinter dem Sofa eine Collage mit gemeinsamen Fotos aufgehängt: vom Klettern in den Alpen, vom Skifahren in Méribel, vom Strand auf Gran Canaria, auf der Bergspitze der Königin der Dolomiten – Marmolada. An der Wand neben der Tür über dem schwarzen Sideboard hatte Ellie ein schlichtes fünfteiliges Leinwand-Set eines Bergpanoramas gehängt. Sie war so vertieft in die Betrachtung des ihr eigentlich so bekannten Raumes, dass sie nicht bemerkt hatte, wie Alex im Türrahmen aufgetaucht war und sie lächelnd beobachtete. „Überlegst du gerade, was wir hier für neue Dekoration brauchen können?“ Obwohl Ellie auch nach drei Jahren Beziehung nie offiziell bei ihm eingezogen war, verbrachte sie doch die meiste Zeit bei ihm. Für Dekoration war sie zuständig. Solange sie nicht den an sich schlichten Stil zerstörte, hatte sie freie Handhabe. Ellie selbst liebte diese elegante Dezenz, die das Appartement ausstrahlte. Trotz der Schlichtheit, oder gerade dadurch, wirkte es sehr exquisit. Auf das Sideboard hatte sie zwei unterschiedlich große LED-Lichtkugeln gestellt, die den Raum abends in eine angenehm romantische Atmosphäre versetzten. Sie leuchteten dezent orange, wie eine untergehende Sonne. In der schmalen, hohen Vitrine neben dem Fernseher hatte sie Souvenirs von ihren Reisen platziert. „Nein“, sagte Ellie ehrlich. „Dieser Raum ist perfekt, wie er ist.“ Alex lächelte. „Massage?“ „Ja.“ Alex setzte sich hinter Ellie auf die Sofakante und begann sie zu massieren. Sie genoss seine Nähe, seine Hände auf ihren Schultern, in ihrem Nacken, auf ihrem Rücken; dankbar, dass er hinter ihr saß, denn so konnte er die ein oder andere Träne, die über ihre Wangen floss, nicht sehen. Als Alex sich vorbeugte und ihr den Nacken küsste, huschte ihr das erste echte Lächeln des Tages über die Lippen. Nur für den Bruchteil einer Sekunde hatte sie vergessen, dass diese Augenblicke mit Alex die Letzten sein würden. „Ist wirklich alles okay, Liebling? Du bist so still heute.“ Während Alex sich von der Sofakante neben sie gesetzt hatte, wischte sich Ellie in einer schnellen Bewegung über die Wangen, um sicherzugehen, dass keine Träne mehr zu sehen war. Alex sah sie liebevoll an. „Ja. Ich bin wirklich nur müde, tesoro mio.“ „Okay.“ Er nickte. „Schauen wir unsere Serie weiter?“ Er machte eine leichte Kopfbewegung Richtung Fernseher. „Unbedingt.“ Auch sie nickte und zwang sich ein Lächeln ab – es war nicht echt. Als sie später am Abend nebeneinander im Bett lagen, hatte Ellie den Kopf auf seine Brust gelegt. Sie konnte seinen Herzschlag hören. Sie fühlte sich geborgen. „Alex?“, sagte sie leise. Sie war sich nicht sicher, ob er bereits eingeschlafen war. „Ja?“ Seine Stimme klang erwartungsvoll. Ellie bewegte sich von seiner Brust runter und legte sich ihm seitlich gegenüber, sodass sie ihn ansehen konnte. Ihren Kopf stützte sie mit ihrer Hand. „Ich liebe dich. Mehr als alles andere.“ Alex hatte das Gefühl, als würde ihr Blick ihn mitten ins Herz treffen. Sie schaute ihn nicht nur an, sie schaute tief in ihn hinein. Diese Frau war alles für ihn. Sie war sein Leben. „Ich liebe dich auch. Mehr als alles andere!“ Er streichelte ihr über ihren Arm. Ellie rückte näher an ihn heran und küsste ihn. Sie schob ihre Hand unter seine Decke und sein Shirt und streichelte seine nackte Haut. „Ich dachte, du bist müde?“ Er sah sie neckisch an. „Nicht mehr?“ „Nein.“ Auch sie musste grinsen. Ein ehrliches Grinsen. „Wenn das so ist, …“ Alex zog sie an sich heran und küsste sie leidenschaftlich. Mit seinen Händen fuhr er ihren Rücken entlang, wobei er ihr Top hochstreifte um es ihr über den Kopf hinweg auszuziehen. Er küsste ihren Hals, ihre Schultern, ihre Brüste. Dann drehte er Ellie langsam von sich runter und zog sein Shirt aus. Sein nackter Oberkörper: seine breiten Schultern, muskulös, sportlich, durchtrainiert. Er hatte ein Sixpack, nicht zu sehr, gerade richtig. Ellie betrachtete den von ihr so geliebten Körper. Sie berührte seine Schultern, streichelte von dort über seine Brust und seine Muskeln. Alex lächelte sie an. Mit seinen Fingern fuhr er ihr vorsichtig durchs Haar und über ihre Wange. „Du bist so wunderschön“, flüsterte er, bevor er sie hingebungsvoll küsste. Ellie schlang ihre Arme um ihn und drückte ihn fest an sich. Sie ließ ihn auch nicht los, als er mit seiner rechten Hand seine Boxershorts und ihren String auszog. Sie hielt ihn einfach fest und wünschte sich in diesem Moment nichts mehr, als ihn nie wieder loslassen zu müssen. Als er in sie eindrang, genoss sie es ein letztes Mal, auf diese Art mit ihm so eng verbunden zu sein. So nah, wie nur er ihr kommen durfte. So nah, wie nur sie ihm. Durch die Umarmung konnte sie sein Herz an ihrer Brust spüren: Es wurde immer schneller. Ellie lockerte ihre Arme leicht und sah ihn an. Er hatte seine Augen geschlossen. Seine normalerweise perfekt gestylten Haare lagen in einem Wirrwarr auf seinem Kopf. Ellie liebte sein Haar, wenn es aussah, wie jetzt. So durfte nur sie ihn sehen. Das war ihr Alex. Sie nahm ihre rechte Hand von seinem Rücken und streichelte damit sanft über seine markanten Wangenknochen. Als Alex die Augen öffnete, lächelte er sie verschmitzt an. Sie konnte nicht anders als sein Lachen zu erwidern. Ein echtes Lachen. Sie beugte sich vor und küsste ihn innig. Für den Moment wollte sie alles vergessen. Den Tumor, den Tod, ihre Angst, die Monate, die kommen würden, die Tatsache, dass sie ihn in wenigen Stunden für immer verlassen würde. Für diesen einen Moment, für diesen einen Akt: Wo sie ihn in sich spürte … wo sein Atem immer schneller wurde, seine Bewegung rhythmischer, bis sie spüren konnte, wie er in ihr kam ...  ein letztes Mal.  Alex war neben ihr eingeschlafen, während Ellie die ganze Nacht wach gelegen hatte, um ihn beim Schlafen zu beobachten. Es war halb sechs. Um viertel nach sieben musste sie im Krankenhaus sein. Sie musste verschwinden bevor er wach werden würde. Langsam setzte Ellie sich auf. Immer noch betrachtete sie ihn, friedlich lag er dort. Nicht ahnend, dass sich mit dem Erwachen sein ganzes Leben ändern würde. „Ich liebe dich, ... ich liebe dich so sehr“, flüsterte Ellie leise. „Bitte. Vergiss mich nicht.“ Eine Träne lief über ihr Gesicht. „Tesoro mio. Per sempre.“ Vorsichtig beugte sie sich zu ihm rüber und küsste ihn. Alex bewegte sich ein wenig und ein seliges, glückliches Lächeln legte sich auf seine Lippen.  Ellie stand auf und verließ das Schlafzimmer. Im Badezimmer zog sie sich an, ging in die Küche, holte Zettel und Stift und schrieb. Bevor sie das Appartement verließ, warf sie einen letzten Blick auf ihren schlafenden Freund. „Es tut mir so leid, … bitte werde glücklich“, sagte sie, bevor sie die Tür leise schloss und seine Wohnung verließ. Als Alex zwei Stunden später erwachte, lag Ellie nicht mehr neben ihm. Er stand auf, im Badezimmer war sie nicht.  „Ellie?“ Er ging in die Küche, um sich einen Kaffee zu machen. Vielleicht hatte er einen ihrer Termine vergessen, er hatte keinen Grund, sich Sorgen zu machen. Als er sich mit dem fertigen Kaffee an den Tisch setzen wollte, sah er ihn: den Schlüssel und den Zettel, der alles verändern würde. Die Schrift war deutlich verwackelt, einige Buchstaben schienen durch Tränen verschwommen. Aber es war Ellies Handschrift, ohne Zweifel. Und die Botschaft war deutlich. Die Nachricht war nicht misszuverstehen.

Ich will dich nicht an meiner Seite