Lebkuchen und Treuepunkte - Mats Norén - E-Book

Lebkuchen und Treuepunkte E-Book

Mats Norén

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Beschreibung

Als Anfang Dezember der erste Schnee fällt, kreuzen sich an einer Kasse im Supermarkt die Wege von Jenny und Ben. Beide sind sich auf Anhieb sympathisch und je näher das Weihnachtsfest rückt, desto vertrauter werden sie sich. Doch beide hüten jeweils ein großes Geheimnis …

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Mats Norén

Lebkuchen und Treuepunkte

1

„Guck mal, Mama, es schneit!“ Aufgeregt zerrte der kleine Junge am Ärmel seiner Mutter und zeigte durch das große Fenster nach draußen. Ben Jäger stand an der Kasse hinter ihnen und blickte ebenfalls hinaus. Tatsächlich rieselten im sanften Schein der Straßenlaternen winzige Flöckchen hinab auf den im Halbdunkel liegenden Parkplatz vor dem Supermarkt, wo sie sich jedoch fast im selben Moment wieder auflösten.

„Kann ich gleich einen Schneemann bauen?“, fragte der Junge weiter.

„Nein, mein Schatz, du isst gleich noch was und dann gehst du ins Bett“, lächelte seine Mutter. „Wir haben schon fast halb acht!“

Enttäuscht blickte der Junge weiter nach draußen.

„Der Schnee bleibt heute auch noch gar nicht liegen“, erklärte seine Mutter bedauernd. „Dafür ist es noch ein bisschen zu warm. Vielleicht kannst du am Wochenende mit Papa einen Schneemann bauen.“

Das munterte den Jungen wieder auf und zufrieden half er seiner Mutter dabei, den Einkaufswagen Richtung Ausgang zu schieben. Ben dachte daran, wie sehr er sich früher ebenfalls immer über den ersten Schnee gefreut hatte.

Im Kindergarten hatte er sich stets als Erster die Nase am Fenster plattgedrückt und konnte es kaum abwarten, bis die Erzieherin ihm endlich Jacke und Schuhe angezogen hatte, damit er draußen spielen konnte. Später in der Schule hatte er jede Pause genutzt, um sofort auf den Schulhof zu laufen. Anfangs hatte er immer in Windeseile einen kleinen Schneemann gebaut, später lieferte er sich mit seinen Freunden umkämpfte Schneeballschlachten. Mit zunehmendem Alter ließ das Interesse allerdings etwas nach, was nicht zuletzt daran lag, dass er als Teilnehmer des motorisierten Straßenverkehrs die Schattenseiten von Schneematsch und Eis auf der Fahrbahn kennenlernte.

„Hey!“ Ein sanfter Stoß gegen seinen Oberarm riss ihn aus seinen Gedanken. Die junge Kassiererin lachte ihn an. Der etwas nachlässig gebundene Zopf, der ihre schulterlangen Haare zusammenhielt, wippte dabei munter auf und ab. Offenbar arbeitete sie noch nicht lange dort, denn obwohl Ben häufiger in der Filiale einkaufte, hatte er sie bisher noch nie gesehen.

„Sorry“, murmelte Ben und sah sich peinlich berührt um. Zum Glück war um diese Zeit im Supermarkt nicht mehr viel los und er stand allein an der Kasse. Verlegen erwiderte er das Lächeln. „War gerade abgelenkt.“

„Das hab ich gemerkt.“ Hinter ihrer Brille blitzten die Augen der Kassiererin fröhlich auf. „Träumst du schon von Weihnachten?“

Sie zeigte auf die beiden Packungen mit Lebkuchen, die Ben aufs Band gelegt hatte.

„Nee, ich hab nur gerade gehört, was der Junge gesagt hat.“

„Scheinst ja viel für Schnee übrig zu haben. Ich hab dich zweimal gefragt, ob du die Treuepunkte sammelst.“

„Oh.“ Mehr fiel Ben nicht ein.

„Und?“

„Was und?“

„Sammelst du die?“

„Ach so. Nein, danke.“

„Das ist aber kein gutes Zeichen.“

Ben nickte lächelnd in Richtung des Plakats mit den Treueprämien. „Na ja, es ist nur so, dass ich eigentlich kein Geschirr mit Weihnachtsmotiv brauche.“

Er kramte grinsend sein Portemonnaie aus der Tasche.

„Tja, mit Schneemann gibt’s leider keins“, erwiderte die Kassiererin und gab ihm sein Wechselgeld. Mit einem Zwinkern verabschiedete sie sich und ging zum Pfandautomaten, dessen Signalleuchte mal wieder irgendein Problem meldete. Ben sah ihr möglichst unauffällig nach. Trotz der etwas unvorteilhaft geschnittenen Jacke, die zu ihrer Arbeitskleidung gehörte, erkannte er ihre zierliche Figur. Sie trug schlichte, modische Jeans und ebenso im Trend liegende Winterstiefel. Sie war genau sein Typ, aber nun fiel ihm nichts mehr ein, um das Gespräch fortzusetzen. Um sich nichts anmerken zu lassen, marschierte er mit angestrengt abgewandtem Blick Richtung Ausgang, ohne zu bemerken, dass sie ihm möglichst unauffällig hinterher sah.

Vor der Tür stieß er fast mit einem Polizisten zusammen, der mit aufs Handy fixiertem Blick auf den Eingang zusteuerte.

„Vorsicht, Herr Kommissar“, grinste Ben, als er seinen ehemaligen Klassenkameraden Florian erkannte. „Augen auf die Straße.“

„Ach, hi Ben.“ Florian begrüßte ihn mit einer flüchtigen Mischung aus Handschlag und Umarmung. „Sorry, bin total im Stress. Sandra hat mir gerade einen Einkaufszettel geschickt. Echt komisch, worauf sie Hunger hat, seitdem sie schwanger ist … Na ja, ich muss mich beeilen, wir müssen gleich auch noch zum Geburtstag vom Schwiegervater. Sorry.“

„Kein Ding, dann lass dich nicht aufhalten!“

„Danke, wir sehen uns!“ Florian betrat den Supermarkt und Ben schlenderte zu seinem Auto, während er fasziniert die langsam zu Boden schwebenden Schneeflöckchen im Schein der Laternen beobachtete.

Die junge Kassiererin verfolgte die ganze Szene neugierig aus ihrem Versteck neben dem Pfandautomaten und zuckte zusammen, als ihr plötzlich jemand auf die Schulter tippte.

„Entschuldigung“, sagte Florian und sah noch einmal auf sein Handy-Display. „Bei meiner Freundin spielen gerade die Hormone verrückt und sie besteht ausdrücklich auf Zartbitter-Schoko-Lebkuchen. Wo finde ich den bitte?“

„Äh, direkt da drüben.“ Die Kassiererin deutete über einen Stapel reduzierter Adventskalender hinweg. „Falls Ihr Freund noch welche übrig gelassen hat.“

Florian sah sie verständnislos an.

„Den Sie gerade draußen begrüßt haben …“, fügte sie erklärend hinzu.

„Ach so!“ Endlich fiel der Groschen und Florian grinste kurz. „Stimmt! Na ja, wenn ich hier keinen mehr kriege, weiß ich ja dann, wen ich fragen muss.“

Während Florian noch die restlichen Punkte seiner Einkaufsliste abarbeitete, betrat Ben schon das nur wenige hundert Meter vom Supermarkt entfernte Fitnessstudio und begann mit seinem Training. Als er rund zweieinhalb Stunden später nach einer ausgiebigen Dusche wieder ins Freie trat, wurde er von einer Winterlandschaft begrüßt. Tatsächlich war es nun um kurz nach 22 Uhr so weit abgekühlt, dass der Schnee auch liegenblieb. Noch immer rieselten kleine Flocken hinab. Für einen Moment dachte Ben an den Jungen aus dem Supermarkt. Der würde morgen früh wohl ziemlich enttäuscht sein, wenn die Sonne alles wieder zum Schmelzen brachte.

Trotz seiner Jacke spürte Ben die kalte Abendluft und schlug den Kragen hoch. Schnell ins Auto, dachte er sich und lief mit gesenktem Blick die Stufen hinunter. Auf dem Gehweg stieß er fast mit einer Frau zusammen. Sie trug eine Mütze und eine Brille und hatte ihren voluminösen Schal mindestens zweimal um Hals und Kopf gewickelt.

„Entschuldigung“, sagte Ben.

„Schon gut, nichts passiert.“

Ihre Stimme kam ihm bekannt vor. Als Ben genauer hinsah, erkannte er hinter dem Schal die Kassiererin wieder.

„Ach, wir haben uns doch heute schon gesehen“, stellte er freudig fest.

„Ja, da warst du auch schon abgelenkt“, gab die junge Frau zurück. Ben bildete sich ein, dass ihre Augen hinter der Brille dabei erneut aufblitzten. „Oder bist du nur müde vom Sport?“

„Es geht schon“, gab Ben zurück und musste grinsen. „Und was machst du um die Zeit und bei dem Wetter hier draußen? Auch den Spaß am Schnee entdeckt?“

Die junge Frau pustete verächtlich gegen ihren Schal. „Ich hab endlich Feierabend, aber der Bus war schon weg. Die haben anscheinend zum Monatsanfang den Fahrplan geändert.“

„Ich bin mit dem Auto hier. Wo musst du denn hin?“

„Nach Hause“, gab sie sarkastisch zurück.

„Schon klar“, griente Ben. „Und wo ist das?“

„Willst du mich etwa mitnehmen?“

„Na ja, ich würde dir das auf jeden Fall mal unverbindlich anbieten.“

„Es ist aber ein ganzes Stück.“

„Dann solltest du erst recht nicht laufen. Und ich habe heute nichts mehr vor.“

„Hm.“ Sie dachte angestrengt nach. Angesichts der Aussicht auf einen langen Fußmarsch in der kalten Dunkelheit war das Angebot verlockend. Und wer mit einem Polizisten befreundet ist und wegen ein bisschen Schnee offenbar alles um sich herum vergisst, stellt doch bestimmt keine Gefahr dar. Zur Not hätte sie ja sogar noch ihr Pfefferspray in der Tasche …

Eine Sache musste sie allerdings noch klären. „Ich soll aber nicht zu fremden Männern ins Auto steigen.“

„Ich bin Ben“, kam prompt die erhoffte Information.

„Jenny.“

„Freut mich. Dann können wir jetzt los?“

„Du gehst aber ran.“

„Natürlich. Sonst frieren mir die Ohren ab und dann kriege ich beim nächsten Mal noch weniger mit.“

„Oh, dann aber schnell. Da ist ja nicht mehr viel Spielraum.“

„Haha, sehr aufbauend“, meinte Ben lakonisch, während er in Richtung Parkplatz zeigte und gleichzeitig dorthin losmarschierte. Sein Wagen war direkt in der ersten Reihe geparkt und er öffnete Jenny galant die Beifahrertür.

„Darf ich bitten?“ Er deutete eine leichte Verbeugung an.

„Ganz schön creepy“, stellte Jenny fest, während sie lächelnd ins Auto stieg.

„Das hat man davon, wenn man mal Gentleman sein will“, seufzte Ben mit gespielter Verzweiflung und beeilte sich, ebenfalls einzusteigen.

„Und, wo wohnst du?“, fragte er, als er den Motor startete.

„Ich sag dir schon, wo’s langgeht“, gab Jenny geheimnisvoll zurück. „Erst mal hier vorne rechts.“

„Alles klar.“ Ben ließ den Wagen auf die Straße rollen. „Arbeitest du eigentlich immer so lange?“

„Nicht immer, aber ich bin hier jetzt stellvertretende Filialleiterin und da ist zumindest montags auch nach den Öffnungszeiten meistens noch was zu tun. Dafür fange ich dann auch erst später an.“

„Dann Glückwunsch zum neuen Job! Das heißt, du bist ganz neu hier?“

„Danke! Nein, ich wohne schon länger hier. Nur die Filiale ist neu. Vorher war ich in der zwei Kilometer in die andere Richtung.“

„Aha, deshalb habe ich dich hier noch nie gesehen.“

„Das könnte sich ja jetzt ändern.“ Jenny sah ihren Chauffeur von der Seite an. „Was machst du eigentlich beruflich?“

Ben merkte, wie sie ihn prüfend musterte. „Rate mal!“, schlug er vor.

„Okay … Mal sehen.“ Jenny drehte sich noch etwas weiter zu ihm und grinste. „Also, weil du so schnell abgelenkt bist, können wir ja im Prinzip schon alles ausschließen, wo man sich konzentrieren muss. Da bleibt eigentlich nur ein Beamtenjob.“

Ben lachte auf. „Es leben die Vorurteile! Und: Ganz kalt.“

„Okay, dann vielleicht Polarforscher?“

„Nicht schlecht“, lobte Ben ihre schlagfertige Reaktion. „Aber weder das noch Eisverkäufer oder Tierpfleger im Pinguin-Gehege.“

„Schade, das fände ich eigentlich ganz süß“, grinste Jenny. „Hm, ist es irgendein grobes Handwerk? So was mit Abrissbirnen oder so?“

„Kein Handwerk.“ Ben lachte auf. Er fand Gefallen an dem Spiel. „Weiter geradeaus?“

„Ja, ist noch ein Stück, ich sag Bescheid.“ Jenny legte ihren Zeigefinger auf die Lippen und überlegte. „Machst du was Künstlerisches?“

„Nein, auch nicht wirklich.“

„Irgendwas im Handel? Bist du überhaupt irgendwo angestellt?“

„Weder noch, ich bin selbständig.“

„Aha, dann ist die Sache klar“, meinte Jenny und machte eine bedeutungsvolle Pause. „Ich hab null Ahnung.“

Wieder grinste Ben. „Ich bin Software-Entwickler.“

„Spannend“, erwiderte Jenny sofort und alles andere als überzeugend.

„Wow, so schnell und schlecht hat noch niemand gelogen“, stellte Ben amüsiert fest. „Aber die meisten haben eh keine Ahnung, was ich da so mache.“

„Da vorne links und direkt wieder rechts“, unterbrach Jenny, bevor sie auf seine Bemerkung reagierte. „Na, programmieren halt, oder?“

„Auch, aber in erster Linie bin ich so was wie ein externer Berater. Wenn es in einem Projekt ein Problem gibt und die Leute damit nicht fertig werden, suche ich den Fehler und eine passende Lösung.“

„Aha?“ Jenny wusste nicht so recht, was sie von dieser Erklärung halten sollte.

„Keine Sorge, das versteht niemand so richtig.“ Ben schien ihre Gedanken zu erraten. „Meiner Oma hab ich einfach immer gesagt, dass ich Computer-Detektiv bin.“

„Klar, das macht es viel verständlicher“, nickte Jenny mit ernster Miene und unterdrückte ein Lachen. Während Ben noch überlegte, ob sie das wirklich so meinte, zeigte sie auf ein Mehrfamilienhaus.

„Stopp, da vorn wohne ich“, erklärte sie. „Danke fürs Mitnehmen. Normalerweise würde ich dich ja noch auf einen Kaffee einladen, aber es ist schon so spät und ich hab sowieso gar keinen Kaffee mehr da.“

„Tja, wenn man so lange arbeitet, kommt man ja auch nicht zum Einkaufen.“ Ben grinste frech. „Soll ich dich noch kurz reinbringen?“

„Netter Versuch.“ Jenny lachte auf und öffnete die Tür.

„So war das nicht gemeint“, versicherte Ben schnell. „Ich wollte nur sichergehen, dass dir auf dem Weg zur Tür nicht irgendeine düstere Gestalt auflauert.“

„Keine Sorge, das wäre das erste Mal.“ Jenny stieg aus und sah noch einmal lächelnd ins Auto. „Aber trotzdem danke.“

 Als sie ihre Wohnung betrat und fast über den Wäscheberg im Flur stolperte, den sie eigentlich am Vormittag noch in die Maschine hatte packen wollen, war sie froh, dass sie Ben so schnell hatte abwimmeln können – sie wollte nicht riskieren, einen schlechten ersten Eindruck zu machen.

2

Am nächsten Morgen schmiss Jenny direkt die Waschmaschine an. Zwar rechnete sie nicht damit, dass sie ihren gestrigen Chauffeur heute wiedersehen würde, aber man konnte ja nie wissen. Als sie sich zwei Stunden später auf den Weg zur Arbeit machte, war die Wäsche bereits zum Trocknen aufgehängt und die Wohnung ordentlicher als je zuvor.

Im Supermarkt tauchte Ben allerdings nicht auf. Vielleicht kauft er ja immer erst später ein, dachte Jenny, als sie bereits um 18 Uhr den Laden verließ und einem älteren Herrn ausweichen musste, der eine in ein Netz gewickelte Tanne vor sich herschleppte.

Ein Stück des Parkplatzes war seit dem Vormittag mit Bauzäunen abgeteilt. Weihnachtsbäume jeglicher Größe reihten sich an den Gittern und ein Verkaufsstand mit Weihnachtsschmuck zog das Interesse einiger Kunden auf sich. Jenny hatte dafür jedoch keinen Blick übrig. Wenn sie ihren Bus noch erwischen wollte, musste sie sich beeilen.

Weit kam sie jedoch nicht.

„Hey, heute schon früher Feierabend?“, meldete sich plötzlich eine bekannte Stimme neben ihr. Ben kam in dem Moment aus der kleinen Postfiliale neben dem Supermarkt und setzte ein strahlendes Lächeln auf.

Jenny erwiderte die freudige Reaktion und bemühte sich dann schnell, das zu verstecken.

„Kennen wir uns?“, fragte sie scheinheilig und runzelte die Stirn.

„Flüchtig“, spielte Ben mit. „Hoffentlich steigst du nicht ständig zu fremden Männern ins Auto. Wenn du da mal an den Falschen gerätst, wärst du definitiv nicht die Richtige für eine Gegenüberstellung.“

„Keine Sorge. Normalerweise nehme ich den Bus.“

„Den da?“ Ben zeigte zur etwa hundert Meter entfernten Haltestelle, an der gerade ein Wagen abfuhr.

„Verdammt!“ Jenny sah dem Bus hinterher und drehte sich dann zu Ben. Hinter der Brille blitzten ihre Augen auf. „Na toll, jetzt hab ich den schon wieder verpasst.“

Ben sah sie prüfend an. „Machst du das mit Absicht, wenn ich in der Nähe bin?“

Jenny verschränkte die Arme und kniff ebenfalls die Augen zusammen. „Die Frage sollte wohl eher lauten, warum du immer in der Nähe bist.“

„Touché.“ Ben grinste. „Das wirkt wohl jetzt ein bisschen seltsam, oder? Aber das war tatsächlich nur ein glücklicher Zufall.“

„Ach ja?“ Jenny schien nicht sonderlich überzeugt. „Was machst du denn hier?“

Ben deutete auf die Postfiliale hinter sich. „Ich hab gerade meinen Wunschzettel an den Weihnachtsmann abgeschickt.“

„Und jetzt?“

„Daumen drücken, dass ich das Lego-Piratenschiff bekomme.“

Jenny musste lachen. „Ich meine, was du jetzt vorhast. Musst du nicht arbeiten?“

„Doch, aber da bin ich ja flexibel. Warum fragst du, brauchst du noch mal eine Mitfahrgelegenheit?“, tat Ben scheinheilig.

„Ich bin eben keine Frau für eine Fahrt.“

„Sehr schön. Ich hab da drüben geparkt.“ Ben zeigte lächelnd in die Richtung, aus der Jenny gerade gekommen war. In der Hektik hatte sie seinen Wagen gar nicht gesehen.

„Wieder nach Hause?“, fragte Ben, als sie im Auto saßen. „Oder hast du vielleicht Lust, was essen zu gehen?“

Jenny dachte kurz an ihre To-Do-Liste und entschied sich dann, dass ihre Bügelwäsche auch noch einen Tag warten könne. Sie nickte. „Klar, warum nicht. Schwebt dir was Bestimmtes vor?“

„Letzten Monat hat so ein neuer Irish Pub aufgemacht. Den wollte ich eigentlich schon längst mal ausprobieren.“

„Gibt‘s da auch was anderes als Stew?“

„Klar, die haben sogar Salat.“

„Wow, das klingt ja ganz schön exotisch.“

Ben grinste. „Dann warte mal ab, bis du die Cocktail-Karte siehst.“

Die tatsächlich sehr dem irischen Klischee entsprechende Kneipe lag direkt neben dem Weihnachtsmarkt und war ziemlich gut besucht. Nahezu alle Altersklassen waren vertreten und offenbar hatten sich auch bereits die ersten Gruppen von Arbeitskollegen zu ihren Weihnachtsfeiern versammelt. Ben entdeckte allerdings einen kleinen freien Tisch direkt am Fenster, das zur gegenüberliegenden Kirche zeigte. Er legte Jenny sanft den Arm um die Schultern und führte sie quer durch die Kneipe dorthin.

„Und, wie ist der erste Eindruck?“, fragte er und rückte ihr den Stuhl zurecht.

Jenny legte ihren Mantel auf der niedrigen Fensterbank ab. „Ich bin mir immer noch nicht sicher, ob du ein Gentleman oder doch etwas creepy bist.“

„Haha“, machte Ben und zog seine Jacke aus. „Ich meinte den Laden hier.“

„Gefällt mir“, nickte Jenny. Sie sah ihn zum ersten Mal ohne die dicke Winterjacke und stellte fest, dass sich unter seinem Hemd ein gut trainierter Oberkörper abzeichnete. „Wenn das Essen gut ist, kannst du mich gern öfter einladen.“

„Ach so, ich lade dich ein?“ Ben setzte sich ebenfalls und strahlte Jenny wieder an. „Gut zu wissen, das erspart uns eine peinliche Situation, wenn die Rechnung kommt.“

„Wobei du ja eigentlich noch mindestens einen Kaffee bei mir gut hast“, fiel Jenny wieder ein.

„Den können wir ja immer noch nachholen“, winkte Ben ab und klappte die Speisekarte auf. „Vorausgesetzt, ich werde heute Abend deiner Vorstellung eines Gentlemans gerecht.“

„Keine Sorge“, lachte Jenny. „Im Vergleich zu den anderen Typen, die mir so begegnen, bist du denen definitiv ein ganzes Stück voraus.“

„Was ja noch nichts heißen muss“, grinste Ben. „Aber das bedeutet, dass du nicht irgendwie vergeben bist? Das hätte ich sowieso vielleicht auch mal früher fragen sollen, oder?“

„Kein Bedarf, die Frage krieg ich an der Kasse jeden Tag ein paar Mal zu hören“, seufzte Jenny und studierte ebenfalls die Karte. „Aber nein, ich bin nicht vergeben.“

„Gut, dann muss ich ja keinen Eifersuchtsanfall befürchten, wenn ich dich nach Hause bringe.“

„Schlechte Erfahrungen gemacht?“ Jenny grinste Ben herausfordernd an.

„Nein, nur zu viele Filme geguckt“, lächelte Ben zurück und beugte sich leicht nach vorn. „Weißt du, eigentlich verbringe ich den Abend lieber vor dem Fernseher als in einer irischen Kneipe.“

„Verständlich“, nickte Jenny betont mitfühlend. „Aber schön, dass du extra für mich eine Ausnahme machst.“

Ben musste lachen. „Hoffentlich hab ich deine Abendplanung damit nicht durcheinander gebracht.“

„Na ja, ich hätte sonst das Bügelbrett aufgestellt und mich um meine Wäsche gekümmert“, winkte Jenny ab, während sie wieder auf die Karte sah. „Insofern ist das schon okay für mich.“

Bevor Ben noch etwas antworten konnte, tauchte ein Kellner an ihrem Tisch auf.

„Guten Abend“, grüßte er. „Wollt ihr schon was bestellen?“

Ben grüßte ebenfalls und sah Jenny fragend an. „Was willst du trinken?“

„Ich glaube, ich probiere mal das Kilkenny.“

„Da müsste ich bitte einmal den Ausweis sehen.“ Der Kellner sah von seinem Block auf.

Jenny starrte ihn verblüfft an, während Ben loslachte. „Echt jetzt?“

„Nein, nur ein Spaß.“ Der Kellner grinste. „Sorry, du erinnerst mich an eine Freundin von mir, die muss sich manchmal sogar bei Kinofilmen ab 16 ausweisen.“

„Ein hartes Schicksal“, stellte Jenny einigermaßen erleichtert fest und warf Ben einen warnenden Blick zu. „Du findest das lustig?“

Sofort verstummte er schuldbewusst. „Nein, überhaupt nicht.“ Er beugte sich und senkte die Stimme. „Aber du bist doch schon volljährig?“, fragte Ben scheinheilig und kassierte prompt einen leichten Tritt gegen sein Schienbein.

„Du Blödmann!“, wies Jenny ihn lachend zurecht. „Verarschen kann ich mich alleine! Und ja, ich bin 26.“

„Wie passend, ein Jahr jünger als ich.“ Ben wagte sich erneut an ein Grinsen. „Dann hätte ich gerne ein Guinness. Wenn man schon mal mit einer Dame unterwegs ist, die nichts gegen Bier hat.“

„Meinst du etwa, ich sollte als Frau lieber einen Cosmopolitan bestellen?“, stichelte Jenny und erntete ein Grinsen des Kellners.

„Ist das euer erstes Date?“, fragte er neugierig.

„Warum, gehen die Drinks dann aufs Haus?“, konterte Jenny schlagfertig.

„Ich seh mal, was sich machen lässt“, schmunzelte der Kellner. „Wollt ihr denn auch was essen?“

„Ich überlege noch“, ließ Jenny Ben den Vortritt.

„Hm.“ Auch Ben brauchte einen Moment. „Okay, ich hätte gerne den Big Burger mit Pommes.“

„Gern.“ Der Kellner sah zu Jenny. „Für dich auch?“

„Nein, danke.“ Jenny warf einen Blick auf die Teller am Nebentisch. „Pommes gehen zwar immer, aber die Burger sind mir definitiv zu groß. Ich glaube, ich bleibe beim Salat mit Hähnchen.“ Erneut schickte sie einen giftigen Blick zu Ben. „So ganz klischeehaft eben.“

„Das reißt du ja mit dem Bier wieder raus“, feixte der Kellner und steckte seinen Kugelschreiber wieder ein. „Dauert ungefähr 20 Minuten.“

Fast auf die Sekunde genau wurde ihr Essen serviert. Ben drehte seinen Teller ein wenig im Uhrzeigersinn, sodass die Pommes frites zu Jenny zeigten. Er fing ihren verstohlenen Blick auf seinen Teller auf und schob ihn noch etwas mehr in ihre Richtung. Als sie ertappt aufsah, grinste er. „Ich hab genug Filme und Serien gesehen, um zu wissen, dass wir uns die Pommes teilen werden.“

Jenny spürte, wie sie rot wurde und entschloss sich zu einem Ablenkungsmanöver.

„Und schon wird’s wieder creepy“, stellte sie kopfschüttelnd fest. „Du bist so’n kleiner Hobby-Psychologe, oder?“

„Nee, eigentlich nicht. Aber ich habe festgestellt, dass die Wahrscheinlichkeit, dass jemand Appetit auf Pommes hat, am größten ist, wenn nur jemand anderes welche bestellt.“

„Gut, das stimmt“, gab Jenny zu und schnappte sich wie zum Beweis eins der Kartoffelstäbchen.

„Ganz im Gegensatz zu Reis übrigens“, ergänzte Ben und Jenny verschluckte sich fast angesichts dieses völlig absurden Vergleichs.

„Das ist ja eine bahnbrechende Erkenntnis“, hustete sie schließlich. „Hast du mal dran gedacht, das in einer Fachzeitschrift zu veröffentlichen?“

„Klar, gab aber nur Absagen. Die Theorie war allen viel zu komplex. Nicht praxisnah genug.“ Mit einem Schulterzucken biss Ben in seinen Burger.

„Also, manchmal weiß man echt nicht, ob du nur einen Witz machst oder wirklich ein bisschen bescheuert bist.“

„Wenn du meine Freunde fragst, werden die alle eine ganz klare Antwort haben“, grinste Ben. „Und ja, genau die.“

„Schon wieder dieser Psycho-Quatsch“, stellte Jenny fest und bediente sich erneut an den Pommes. „Was sagen deine Freunde denn dazu?“

„Gar nichts, wir kommunizieren ausschließlich telepathisch.“

Jenny hob die Augenbrauen. „Gedanken lesen kannst du also auch?“

„Klar“, nickte Ben. „Ich kann sogar aus der Hand lesen.“

„Ach wirklich?“ Jenny legte die Gabel beiseite und hielt ihm ihre Hand hin. „Dann zeig mal, was du kannst.“

„Okay, kein Problem.“ Ben griff erst zur Serviette und nahm dann sanft ihre Hand in seine. Mit dem Zeigefinger strich er langsam und vorsichtig über ihre Haut und sah ihr schließlich direkt in die Augen. „Du hast eine starke Persönlichkeit und weißt, was du willst. Du lernst gerne neue Leute kennen, hast dabei aber klare Prinzipien. Und du weißt, dass Zeit kostbar ist und dass man sie nicht mit unnötigen oder sinnlosen Dingen verschwenden sollte.“ Er grinste wieder. „Davon abgesehen fühlt es sich so an, als hättest du eine echt gute Handcreme.“

Für einen Moment starrte Jenny ihn verblüfft an, dann fand sie ihr Lächeln wieder. „Okay, und was davon war jetzt ernst gemeint?“

„Alles natürlich“, versicherte Ben mit wichtiger Miene. „Stimmt das etwa nicht?“

„Soweit ich das selbst beurteilen kann, schon“, musste Jenny zustimmen und zog die Augenbrauen zusammen. „Aber da ist doch ein Trick dabei.“

„Kein Trick, pure Magie.“

„Wow, wir sitzen keine fünfzig Meter von einer Kirche entfernt und du lügst wie gedruckt.“

„Würde ich nie wagen.“ Ben grinste. „Ich hab nur mit den Informationen gearbeitet, die ich schon hatte. Das mit der Persönlichkeit ist ja offensichtlich und in deinem Job muss man sowieso kontaktfreudig sein. Das mit der kostbaren Zeit habe ich daraus abgeleitet, dass du hier bist und nicht am Bügelbrett stehst.“

„Nicht schlecht, Sherlock“, meinte Jenny anerkennend. „Das heißt also, du kannst nicht wirklich aus meiner Hand lesen?“

„Nein, nicht im Geringsten.“

„Gut.“ Sie lächelte erneut. „Dann könntest du sie ja jetzt eigentlich auch wieder loslassen.“