16,99 €
Nominiert für den Deutschen Buchpreis 2018! Die Kindheit endet tatsächlich erst dort, wo die Geschichte unserer Eltern zur eigenen Geschichte wird und wir vor ihren wie vor den eigenen Abgründen die Augen nicht mehr verschließen können. Maria-Maria reist nach Rumänien, um ihren verunglückten Vater zu besuchen und ihn, trotz seiner besitzergreifenden Geliebten, zu betreuen. In seinen Augen hat sie, die Tochter, die reale Utopie der kommunistischen Gesellschaft verraten. Sie wiederum erkennt in ihm ausschließlich den festgefahrenen Parteirhetoriker, der sich als moralische Instanz aufspielte, anderen Opfer abverlangte, aber selbst ein bigottes Leben führte. Der neue Roman von Carmen-Francesca Banciu handelt vom Tod eines vermeintlichen Patrioten, für den Vaterland, Partei und der Aufb au einer neuen Gesellschaft stets den wichtigsten Platz in seinem Leben einnahmen und von der Liebe, die man sich von den Eltern erhofft, die einem versagt bleibt, und die man selbst zu geben vielleicht nicht imstande ist. Sie spürt der Frage nach, wie man Abschied von den Eltern nehmen, wie man mit ihren Lebenslügen umgehen kann, und welche persönliche Veränderung man dabei erfährt. Die versartige Sprache des Romans überträgt die Dramatik der zwischenmenschlichen Beziehungen direkt auf die Leser, die dadurch Teil des Erzählten werden. Banciu beobachtet das Sterben des Vaters, sie horcht und wartet. In der Wiederholung entfalten die Worte ihre Suggestivkraft. Banciu umkreist ihre Figuren, schöpft aus Erinnerungen wie aus einer geteilten Gegenwart. Ein Wort zieht das nächste nach sich. Man erlebt, wie sich Gedanken formen und wie sie wieder in sich zusammenstürzen. Ihr Abgesang auf die ideologische Überhöhung der Familie, der Partei und des Vaterlandes steckt voller Mut und Aktualität.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 266
Veröffentlichungsjahr: 2018
Carmen-Francesca Banciu
Tod eines Patrioten
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.dnb.de abrufbar.
ISBN: 978-3-96258-003-2(Print)
ISBN: 978-3-96258-023-0(E-Book)
www.palmartpress.com
1. Auflage, 2018, PalmArtPress, Berlin
Alle Rechte vorbehalten
© 2018 Carmen-Francesca Banciu
© PalmArtPress, Pfalzburger Str. 69, 10719 Berlin
Verlegerin: Catharine J. Nicely
Umschlagzeichnung: Carmen-Francesca Banciu
Lektorat: Barbara Herrmann, Martin A. Völker
Hergestellt in Deutschland
Für Nori-EleonoraDer Schmerz ist über sich hinausgewachsenDer Schmerz hat sich in eine Blume verwandeltAus dem Herzen der Blume sind Flügel gewachsenMein Herz ist ein singender VogelIch kann fliegen.
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Nachwort
Danksagung
Für Vater waren drei Dinge wichtig
In der festgefügten Reihenfolge
Das Vaterland
Die Partei
Die Ehre der Familie
So hat Vater mir das erklärt
Schon in meiner Kinderzeit
So hat Vater das immer wieder gesagt
So hat Vater das in seinen Reden geschrieben
So hat Vater das in seiner Abschiedsrede betont
Vaters letzte Worte kenne ich nicht
Mit dem Sterben hat sich Vater Zeit genommen
Er hat sich Zeit gelassen
So viel Zeit, dass ich nicht mehr warten konnte
Die Nachricht von Vaters Tod
Erreichte mich in der schönsten Stadt der Welt
Und ich eilte zu meinem Vater
Zu seinem Begräbnis
Wollte Vater keinen Priester
Er hatte seine Wünsche aufgeschrieben
Er hat seine Trauerrede selbst verfasst
Selbst unsere Reden für sein Begräbnis
Hat Vater geschrieben
Vater hat seine Trauerrede selbst geschrieben
Er hat die Zeremonie bestimmt
Er hat seine Kleidung ausgesucht
Vater hat alles genau festgelegt
Er hat alles aufgeschrieben
Jedes Jahr aufs neue
Und doch hat der Tod
Vater überrascht
Zu seinem Begräbnis
Wollte Vater keinen Priester
An Mutters Grab gab es drei Priester
Einen katholischen
Einen orthodoxen
Und Vater
Der Rabbi wurde nicht eingeladen
Vater liebt es, Reden zu halten
Vater liebt es zu predigen
Vater liebt es, sich reden zu hören
Vater will keinen Priester
Aber bei seinem Begräbnis
Wird er nicht selbst predigen können
Die Kirche sagt
Wer ein Begräbnis mit Priester haben will
Der muss Kirchensteuer zahlen
Vater wollte keinen Priester
Er hat niemals Kirchensteuer gezahlt
Vater will wie ein Hund begraben werden
So sagen die Nachbarn
Und die Verwandten
Und die Bekannten
Ich will keinen Priester für Vater
Ich will nicht nachzahlen
Vaters Kirchensteuer
Vater hat alles aufgeschrieben
An seinem Sarg soll die rote Fahne wehen
Seine Orden und Ehrenzeichen will Vater tragen
Und das Alphorn soll tönen
Aus unserer Stadt
Bis in sein Bergdorf
Und die Geliebten sollen kommen
Seine unzähligen Geliebten
Seine ewig treue Kette
Von Geliebten
Der Todesengel erschien drei Tage nach Ostern
Er kam als junger Mann in einem Blechkarren
Vater war Kartoffeln kaufen
Vater hat den Engel überhört
Vater hat den Engel übersehen
Der Engel rollte auf ihn zu in seinem Karren
Ließ Blitz und Donner über ihn fallen
Und spuckte Wut aus seinen sieben Köpfen
Vater hat den Engel überhört
Vater hat den Engel übersehen
Vater hielt die Kartoffeltüte fest
Vater flog empor
Dann fiel er zu Boden
Die Finger um die Henkel der Tüte gekrampft
Die weiße Tüte zerfetzt
Verletzte Kartoffeln bluteten am Straßenrand
Eines Tages ist Vater Kartoffeln kaufen gegangen
Und kam nie wieder zurück in sein Zuhause
Kartoffeln und Brot
Kartoffeln und Brot am Straßenrand
Mehr hat man mir nicht erzählt
Ich habe Vater nur zwei Mal weinen gesehen
Als der Präsident unserer jungen Republik gestorben ist
Und an Mutters Grab
Vater weiß, zu welcher Zeit man weinen muss
Zu welcher Zeit Ohnmacht das richtige Handeln ist
Seit Vater im Krankenhaus liegt
Weint Vater jeden Tag
Ich möchte gern wissen
Was Vater denkt, wenn er weint
Aber Vater sagt es mir nicht
Er erzählt von dem Patrioten Avram Iancu
Und von der rumänischen Revolution von 1848
Von den Märtyrern dieser Revolution
Er spricht nicht
Über die Revolution von 1989
Nicht über ihre Märtyrer
Und nicht über mich
Über meine Revolution
Über unsere Revolution
Vater spricht nicht über mich
Und meine Familie
Die wir alle dabei waren
Die wir unser Leben aufs Spiel gesetzt haben
Vater übersieht diese Revolution
Er ignoriert sie
Blendet sie aus
Vater erzählt von den Märtyrern Horia, Closca und Crisan
Und von dem Patrioten Avram Iancu
Und er weint, als wäre das gestern geschehen
Als wäre Avram Iancu sein Sohn
Vater hat keinen Sohn
Das hat er immer bedauert
Vater hat bedauert, dass er eine Tochter hat
Eine Tochter, die an einer Revolution teilgenommen hat
An einer Revolution, die er übersehen, ausklammern will
Vater hat keinen Sohn
Damit musste er sich abfinden
Ich musste mich auch damit abfinden
Aber hier im Krankenhaus weiß ich es
Keiner von uns hat sich damit abgefunden
Vater sucht nach seinem Sohn
Und ich suche nach Vater
Ich beobachte
Ich horche
Ich spüre meinem Vater nach
Und warte
Warte, dass Vater mir etwas Wichtiges sagt
Jeden Tag besuche ich Vater
Jeden Tag höre ich genau hin
Ich verfolge Vaters Blicke
Versuche, seine Wünsche zu erahnen
Seinen Bedürfnissen vorauszueilen
Will Vater Mühe ersparen
Jede Mühe
Ich gebe ihm Wasser
Aber Vater will kein Wasser
Ich gebe ihm Essen
Aber Vater will nicht essen
Ich öffne das Fenster
Ich schließe das Fenster
Vater will keine frische Luft
Vater friert
Ich besorge ihm eine zweite Decke
Ich massiere seine Hände
Ich massiere seine Füße
Ich versuche es wieder mit dem Trinken
Ich versuche es wieder mit dem Essen
Vater nimmt einen Schluck
Schüttelt sich
Verzieht sein Gesicht
Die Bissen sind zu groß
Die Schlucke sind zu kalt
Auch das Essen ist zu kalt
Ich wärme das Essen
Das Essen ist zu warm
Ich lasse es abkühlen
Mein Hals friert ein, schimpft Vater
Merkst du nicht, wie kalt das ist
Wie kannst du mir nur so etwas geben
Schon immer hab ich es gewusst
Nichts kannst du richtig
Ich verfolge Vaters Blicke
Versuche seine Wünsche abzulesen
Seinen Bedürfnissen vorauszueilen
Will Vater die Mühe ersparen
Jede Mühe
Ich schaue auf seinen Mund
Beobachte jede Bewegung
Ich führe ihm den Löffel zum Mund
Ich wische seinen Mund ab
Ich säubere seine Prothese
Vater hat Schmerzen
Ich drücke auf die Klingel und rufe die Schwester
Was tut dir weh, frage ich
Vater sagt
Alles
Vater sagt
Der Stolz und die Würde
Ich stecke ihm die Prothese in den Mund
Vaters Windeln wechsele ich nicht
Vater spricht leise
Ich muss mich zu seinem Ohr hinneigen
Er schließt die Augen
Sein Mund zittert
Die Wange bebt
Ich nähere mich seinem Mund und warte
Warte, dass Vater mir sagt
Etwas
Auf das ich seit Jahren warte
Seit Jahren warte ich darauf
Seit ich mich kenne, warte ich darauf
Seit ich mich kenne, warte ich auf Vater
Vater öffnet den Mund und sagt
Ich muss dir was sagen
Seit Jahren warte ich darauf
Darauf, dass Vater mir etwas zu sagen hat
Es pocht in meinen Schläfen
Das Herz schlägt
In meinen Adern
In meinem Hals
Ich warte
Hochgespannt
Vater sagt
Hör mir zu
Sei endlich vernünftig
Mach, was ich dir sage
Ich kann es nicht mehr selbst tun
Gib gut acht, sagt Vater
Im Schlafzimmer
Hinten im schwarzen Schrank
Da liegen zwei gute Pullover
Lass sie nicht vergammeln
Lüfte sie
Sonst fressen die Motten sich durch
Lass die Motten sie nicht fressen
Jeden Tag nähert sich Vater dem Tod
Jeden Tag flieht Vater den Tod
Jeden Tag nähert sich ihm der Tod
Dann weicht der Tod einen Schritt zurück
Und wieder gewinnt Vater
Einen Tag
Und so spielen sie Verstecken
Ein blutrünstiges Spiel
Das Sterben geht langsam voran
Manchmal stockt es
Wie beim Verkehr
Beim Straßenverkehr
Vater hat im Straßenverkehr nicht aufgepasst
Wohin wolltest du so eilig
Vater sagte
Ich bin immer in Eile
Jetzt muss Vater langsam sein
Viel langsamer
Immer langsamer
Bis die Uhren
Alle seine Uhren stehen bleiben
Vaters Hauptuhr hält noch Schritt
Gleichmäßigen Schritt
Sie ist funkgesteuert
Die Batterie wird mindestens fünf Jahre halten
Vater sagt
So viel Schmerz
Warum muss ich so viel Schmerz erdulden
Ich will das nicht
Ich will nichts mehr
Aber die Uhr
Die Hauptuhr läuft weiter
Noch fünf Jahre
Könnte Vater im Bett liegen
Noch fünf Jahre
Könnte Vater jeden Tag mit dem Tod ringen
Noch ganze fünf Jahre
Könnte Vater schimpfen und fluchen
Und mit dem Leben kämpfen
Noch fünf Jahre
Könnte Vater im Bett liegen
Auf dem Rücken liegen
Ausgeliefert, wie ein Käfer
Noch fünf Jahre lang könnte sich Vater wund liegen
Am Rücken und am Hintern
Vater hat keinen Hintern mehr
Er ist nur noch ein Sack voll Knochen
Ein Sack
In dem die Hoden verloren herumrollen
Da sind Vaters Hoden
Da ist Vaters Samen, aus dem ich stamme
Vaters Samen
Wen hat er sonst noch befruchtet
Außer Mutter
Vater liegt im Bett und sagt
Ich esse nicht
Das Essen bringt mein ganzes System durcheinander
Jeden Tag spricht Vater von seinem System
Sein System ist blockiert
Vater kann sich nicht entleeren
Vater liegt im Bett und wird klistiert
Mit Mühe kommt heraus
Was ohne Hilfe stockt
Die Pflegerin beachtet mich nicht
Sie beachtet auch Vater nicht
Sie achtet auf seinen Stuhlgang
Vaters Stuhl ist hart wie Stein
Die Pflegerin erledigt alles
Mit kurzen, schnellen Bewegungen
Vater liegt auf dem Rücken
Er kann nichts weiter tun
Das Fleisch wackelt
Die Haut hängt
Die Hoden wanken
Wie verschreckt
Verloren im baumelnden Hodensack
Vaters Gesäß nur Haut und Knochen
Vaters Schamhaar spärlich
Reste nur
Weiß und dünn
Diese Schamhaare
Haben seine Geliebten gesehen
Diese Schamhaare
Haben seine Geliebten liebkost
Geküsst
Seine unzähligen Geliebten
Eine Kette von ewig treuen Geliebten
Eine Kette von ewig treuen Geliebten
Männer sollen viele Geliebte haben
Dann erst sind sie richtige Männer
So geht die Mär in meines Vaters Land
Und Frauen sollen keine Geliebten haben
Keinen einzigen
Dann
Dann erst sind sie die richtigen Frauen
Mutter hatte nie einen Geliebten
Mutter hatte einen Verlobten
Und dann einen Ehemann
Für immer
Bis der Tod -
Bis sie sich ihm
Durch den Tod
Entzogen hat
Mutter hat sich uns allen entzogen
Oder war es anders
Und wir haben uns ihr entzogen
Wir waren immer weg
Wir waren immer beschäftigt
Mutter war auch beschäftigt
Und dennoch
Mutter war allein
Denn Mutter hatte keinen Geliebten
Und keine Freundin
Nur einen Ehemann
Aber den hatte sie auch nicht
Sie hatte einen Ehemann
Auf den sie immer warten musste
Und wenn er kam
War er müde
Und satt
Vater liegt auf dem Rücken
Die Pflegerin arbeitet geschickt an ihm
Ihre Bewegungen sind geübt
Fließend
Sie wischt, wäscht, wechselt, wickelt
Für den Moment hat sie Vaters System gerettet
Ich stehe versteinert vor dem Bett
Die Pflegerin erledigt alles geschickt und geschwind
Sie beachtet mich nicht
Sie beachtet auch Vater nicht
Sie achtet auf sein Gesäß
Den Sitz der Windeln
Und den Zehner
Denn ich ihr in die Kitteltasche stecke
Vater liegt nackt auf dem Rücken
Seit Tagen liegt Vater nur auf dem Rücken
Mit verletztem Kopf
Mit gebrochenem Schlüsselbein
Mit wunder Schulter
Vater braucht Hilfe
Vater braucht Hilfe für die einfachsten Bedürfnisse
Bei den einfachsten Verrichtungen
Vater ist entmutigt
Noch vor wenigen Tagen
War er voller Vertrauen
In das Leben
In sein weiteres
Sein zukünftiges Leben
Noch vor wenigen Tagen
War er ganz bei Kräften
Besuchte noch seine Geliebten
Hundert würde er werden
Hundert und noch älter
Sagten die Nachbarn
Hundert wäre er geworden
Hundert und noch mehr
Wir konnten mit ihm nicht Schritt halten
Warum musste er übermütig werden
Vater liegt auf dem Rücken
Wie ein hilfloser Käfer
Vor wenigen Tagen hat Vater sich wie immer beeilt
Vater ging aus dem Haus Kartoffeln kaufen
Und ist nie wieder zurückgekehrt in sein Zuhause
Vater war flink und schnell
Zu schnell
Jetzt liegt er auf dem Rücken
Und sagt, füttert mich nicht
Ich will nichts essen
Das Essen bringt mein System durcheinander
Vaters System kann nur sammeln und einschließen
Horten
Nichts abgeben
Außer Flüssigkeit
Vater bekommt Spritzen
Vater hängt am Tropf
Um die Flüssigkeit zu ersetzten
Vater ist nackt
Vater strampelt die Decke weg
Vater wird klistiert
Was tut dir weh, frage ich
Vater sagt
Alles
Vater sagt
Der Stolz und die Würde
Vater schläft die meiste Zeit
Vater wollte nach der Operation nicht wach werden
Immer wieder ist er eingeschlafen
Immer wieder hat er sich uns entzogen
Uns und dem Leben
Die Assistentin zwickte ihm in die Brustwarze
Vater wachte auf
So müssen Sie das machen, meinte sie
Dem Opa in die Brustwarzen zwicken
Dann macht er schon die Äuglein auf
Die Assistentin nimmt Vaters Nase zwischen zwei Finger
Sie schüttelt und rüttelt daran
Ich zucke zusammen
Ich zucke zusammen, bin still
Ich lasse es zu
Ich lasse es geschehen
Ich lasse ihn im Stich
Die Nase ist phallisch
Die Nase ist ein Symbol
Vater nährt sich nur noch von Symbolen
Die Assistentin nimmt Vaters Nase zwischen zwei Finger
Sie schüttelt und rüttelt daran
Erst im Ärztezimmer protestiere ich
Gegen diese Respektlosigkeit
Gegen diese Verletzung der Würde
Von wegen, sagt die Ärztin
Wir sind freundlich zu unseren Patienten
Wir pflegen einen herzlichen Umgang
Ein familiäres Verhältnis
Vater hat sich aufgegeben
Seine Prothese bleibt in der Schublade
Ohne Zähne sieht Vater alt aus
Und gebrechlich
Onkelchen
Väterchen
Opa
Opa sagen Frauen zu ihm
Opa, sagt eine junge Assistentin
Und die Ärztin
Und die Putzfrau
Väterchen, Onkelchen, Opa
Sagen Frauen zu ihm
Vater wird immer kleiner
Vater zieht sich zusammen
In Fötusstellung
Vater nähert sich dem Anfang
Dem Ursprung
Wie weit wird Vater gehen
Onkelchen
Väterchen
Opa
Sagen Frauen zu ihm
Was tut dir weh, frage ich Vater
Vater wird immer kleiner
Ein Fötus
Die Geliebten können ihn nicht erreichen
Vater nähert sich dem Anfang
Dem Ursprung
Dem Samen
Dem Ei
Eines Tages klingelte das Telefon
Das Telefon klingelte lange
Ich hatte einen eingegipsten Fuß
Ich hatte mir vorher noch nie etwas gebrochen
Und wollte es auch nie wieder tun
Das Telefon klingelte lange
Ich war ungeübt auf Krücken
Bewegte mich langsam
Zu langsam
Hatte ich eine Ahnung
Eine Vorahnung
Ich stöbere in meiner Erinnerung
Ich finde nichts
Dabei glaube ich an Gedankenübertragung
An unterbewusste Verbindungen mit vertrauten Menschen
Geraume Zeit hatte ich nicht mehr an Vater gedacht
Dann rief ich an
Am zweiten Ostertag
Ich hatte es lange hinausgeschoben
Diesmal klang Vaters Stimme ungewöhnlich munter
Das erste Mal seit Jahren klang seine Stimme fröhlich
Hoffnungsvoll
Seine Stimme war klar
Als hätte Vater ein neues Leben begonnen
Eine neue Liebe gefunden
Oder das Geheimnis des Lebens entdeckt
Das erste Mal seit Jahrzehnten klagte Vater nicht
Über korrupte Politiker
Über reale oder eingebildete Katastrophen im Land
Über die schlechten TV-Programme
Die er trotzdem täglich verfolgte
Über den Zerfall
Des Bildungssystems
Des Gesundheitswesens
Der Sitten
Das erste Mal seit der Revolution sagte Vater nicht
Alles im Land sei schlecht geworden
Vater lachte am Telefon und war zufrieden
Und diesmal freute ich mich, mit ihm gesprochen zu haben
Ich hatte es lange vermieden, Vater anzurufen
Aber zu Ostern
Wenigstens zu Ostern und zu Weihnachten
Und zu den Geburtstagen
Sollte man möglichst anrufen
Sollte man sich bei den engsten Verwandten melden
Wenigstens dann
Wenn man sich sonst nichts zu sagen hat
Wir hatten uns nicht viel zu sagen
Es gab ein paar Versuche, das zu ändern
Ich will nicht behaupten, sie seien fehlgeschlagen
Sie sind eingeschlafen
Aus Mangel an
An was
Es gab ein paar Annäherungsversuche
Vater hat mich sogar besucht
Vater hat mich ein einziges Mal besucht
In meinem neuen Zuhause
In meinem neuen Land
Obwohl ich für ihn eine Vaterlandsverräterin war
Jahrelang hatte Vater meine Einladungen ignoriert
Er dürfe nicht fliegen
Wegen seines Herzhilfegerätes
Es heißt Herzschrittmacher
Jahrelang klagte er
Er könne nicht so weit reisen
Weil er sich nicht kräftig genug fühle
Weil ich so weit weg wohne
Im Ausland
Und weil er nicht allein reisen möchte
Denn sie, die Ersatzehefrau, wolle ihn nicht begleiten
Und ihr, der Geliebten, sei es verboten ihn zu begleiten
Die Ersatzehefrau erlaube es nicht
Natürlich sagte Vater das nicht genau so
Mit diesen Worten
Vielleicht wollte Vater eigentlich
Dass wir ihn abholen
Aber darauf bin ich nie gekommen
Ist das wahr
Vielleicht
Wollte ich, dass Vater uns besucht
Wollte ich es wirklich
Ich hatte Angst vor Vaters Besuch
Ich hatte Angst
Vor all dem noch nie Ausgesprochenen
Das zwischen mir und Vater stand
Ich hatte Angst vor Vaters Besuch
Wie ich Angst hatte
Vor all dem, was mit ihm zu tun hatte
Wollte ich
Wollte ich mit all meiner Kraft
Dass er kommt
Wollte ich
Wollte ich aus vollstem Herzen
Dass er kommt
Ich wollte
Und ich wollte nicht
Aber Vater
Wollte er uns besuchen
Ich glaubte nicht
Vater würde kommen wollen
Ich dachte nicht
Vater könnte Angst haben
Hatte auch Vater Angst
Kann man vor seinem eigenen Kind Angst haben
Kind, sage ich
Wenn ich an Vater denke, bin ich erwachsen
Wenn Vater an mich denkt, denkt er an ein Kind
Ist es so
Denkt Vater überhaupt an mich
Oder erinnern ihn die anderen erst daran
Ich weiß es nicht
Und ich werde es nie erfahren
Erinnern die Erinnerungen an Mutter ihn an mich
Vater hält die Erinnerung an Mutter wach
Die Erinnerungen an die täglichen Streitereien
Wenn er auch mal zu Hause war
Die Streitereien, die meistens meinetwegen ausbrachen
Erinnert ihn an mich das tägliche Leben
Mit all den Dingen, die auch mich und Mutter umgaben
Woran denkt Vater, wenn er an mich denkt
Denkt Vater an mich, wenn er an mich denkt
Woran denkt Vater wirklich
Vater hat eine eigene Art, sich zu erinnern
Je länger die Erinnerung an Mutter zurückliegt
Je weiter die Erinnerung an Mutter wegrutscht
Desto deutlicher schafft er ihr Bild
In den letzten Jahren hat er Mutters Bilder vergrößert
Hinter Glas weggesperrt
In große Rahmen gezwängt
Gereiht an die Wand gehängt
Gestaffelt auf den Flügel gestellt
Dazu schreibt Vater Worte, die Mutter nie gesagt hat
Weil es Vater passen würde
Wenn Mutter sie gesagt hätte
Oder einfach
Weil Vater gewohnt war
Beruflich
In der Politik
Für die anderen zu sprechen
Oder etwa
Weil Väter es so in sich tragen
Andere zu entmündigen
Nein, so stimmt das nicht
Vater war ein Dichter
Er verdichtete die Realität
Die Realität, die Vater erfunden hat
Vater hat eine romantische Liebe erfunden
Zu Mutter
Mutter konnte sich nicht mehr wehren
Vater hatte sich immer die romantische Liebe erträumt
So wie Dichter sie haben
So wie die Liebe des Nationaldichters zu seinen Geliebten
Besonders zu einer seiner Geliebten
Die zum Glück verheiratet war
Und so konnte die Liebe immer romantischer werden
Auch Vaters Liebe konnte romantisch sein
Mutter war nicht mehr verheiratet
Mutter war tot
Vater hat eine eigene Art sich zu erinnern
Je länger die Erinnerung an Mutter zurückliegt
Je weiter die Erinnerung an Mutter wegrutscht
Desto deutlicher schafft er ihr Bild
In den letzten Jahren ließ Vater Mutters Grabstein entfernen
Und an der Stelle eine Statue errichten
Mutter mit Tüten voll bepackt
Mit den unverzichtbaren
Mit den von ihr unzertrennlichen
Mit den von ihr untrennbaren
Mit den von Mutter unvorstellbar fehlenden Tüten
Die Tüten befüllt mit alldem, was sie brauchte
Um die köstlichsten Kostbarkeiten für uns zu zaubern
Ihre Art, ihr Verlangen nach Vater zu verwandeln
Ihr einziger Weg, uns ihre Liebe zu zeigen
Mutter
Mit den schweren Tüten
Die Vater für sie nie getragen hat
Mutter ist zur Heldin der Familien geworden
Zur Ernährerin der Gesellschaft
Zur göttlichen Zubereiterin
Zur Göttin
Zum Symbol
Vater hat eine Vorliebe für Symbole
Wäre ich gestorben
Auch für mich hätte Vater ein Symbol gefunden
Dann hätte er meine Bilder eingerahmt
Und mich zur Heldin der Revolution erhoben
Und sich vorgenommen
Sich täglich an mich zu erinnern
Die Familie war für Vater wichtig
Nach dem Vaterland
Nach der Partei
Die Familie war ein Symbol
Die Familie ist die Zelle der Gesellschaft
Die Zelle ist die kleinste lebende Einheit aller Organismen
Und was sagt Vater zum Individuum
Und was sagte die Partei dazu
Vater ist in der Partei geblieben
In der Partei, die es nicht mehr gibt
Nicht mehr so gibt, wie sie einmal war
Doch Vater glaubt an die Zelle
An die kleinste Einheit
Und hält an Erinnerungen fest
Er baut ein Mausoleum für Mutter
Weil sie ein Teil der Familie ist
Weil er mit ihr zusammen eine Zelle bildet
Und auch mit mir
Obwohl Vater nicht glaubte
Dass es mich dazu unbedingt braucht
Aber Mutter glaubte das
Und damit war der Streit entflammt
Der Streit, der ein Leben lang währte
Mutters Leben lang
Es gab einige Versuche der Annäherung
Zwischen Vater und mir
Vielleicht brauchte Vater jemanden
Um die Zelle am Leben zu erhalten
Da Mutter geflohen war
Oder vielleicht brauchte er das eher
Um die schwindende Erinnerung an mich neu zu beleben
Hat Vater wirklich an mich gedacht
Es gab einige Versuche der Annäherung
Vater kam mit seiner Begleitung
Vater kam mit seiner lebenslangen Begleitung
Vater kam mit seiner Sekretärin
Vater kam mit seiner Geliebten
Vater kam mit Rebeca
Vater kam mit seinem Koffer
Mit seinem alten Koffer
Vater kam mit dem Bus
Quer durch Europa
Vater kam mit seinem alten Koffer
Überwand Grenzen
Vater kam zu mir nach Berlin
Es gab einige Versuche der Annäherung
Der Bus hatte Verspätung
Dies hatte Vaters Ankunft verschoben
Oder war es Vater, der die Verspätung verursacht hat
Um mehr Zeit vor dem Wiedersehen zu gewinnen
Wir warteten auf dem Busbahnhof
Für mehrere Stunden
Es war Winter
Und es war kalt
Ob es wohl kalt in dem Bus war, hatte ich mich gefragt
Ob es kalt im Bus gewesen ist, fragte ich Vater
Nein, sagte er, die Technik heutzutage
Nein, sagte Vater, das war ein westlicher Bus
Nein, sagte Vater, das ist wohl anders bei euch
Bei euch friert man nicht
Es gab einige Versuche der Annäherung
Vater stieg aus dem Bus, den alten Koffer in der Hand
Die kirgisische Astrachanmütze auf dem Haupt
Immer noch war Vater ein König, der seine Krone trug
Vater, ein kleiner Mann mit Glaskugeln in den Augenhöhlen
Und glänzend das Silber in seinem Haar
Wir hatten lange gewartet
Meine Kinder und ich
Wir haben lange gewartet
Alle zusammen
Eine Familie
Eine Zelle
Waren wir auch mit Vater zusammen eine Zelle
Wir waren zwei Zellen nebeneinander
Eine Zelle, die sich geteilt hatte
Und die sich weiter teilen,vermehren wird
Vater stieg aus dem Bus
Hinter ihm die Begleitung
Rebeca
Vater machte einen verschlafenen Eindruck
Vater machte einen verwirrten Eindruck
Oder war Vater mit seinem Eindruck beschäftigt
Den er auf uns machen wollte
Den er auf uns machen würde
Oder war Vater so beschäftigt
Dass er gar nicht an den Eindruck dachte
Den er machen würde
Ich weiß nicht, welchen Eindruck ich auf Vater machte
Ich hatte Angst
Hatte auch Vater Angst
Man soll sich umarmen
Wenn man sich lange nicht gesehen hat
Man soll sich auch küssen
Vater zu küssen, das war mir fremd
Auch Mutter küsste mich nicht
Ich kann mich nicht daran erinnern
Und doch hat mich Mutter auch mal geküsst
Sicher hat Mutter mich geküsst
Und sicher auch Vater
Aber wann
Und wieso erinnere ich mich nicht daran
Oder warum will ich mich nicht daran erinnern
Sicher hat Vater mich auch mal geküsst
Ich kann mich nur an etwas erinnern
Das ich vielleicht erfunden habe
Vielleicht war es ein Traum
Und im Traum leckte Vater mein Gesicht
Ich war drei Jahre alt, oder so
Vater leckte mit der Zunge über mein Gesicht
Wie über einen abgegessenen
Wie über einen benutzten Teller
Und ich ekelte mich
Jetzt stand Vater vor mir
Ich sollte ihn umarmen
Vater schaute auf unsere Kleidung
Wie lauft ihr nur so angezogen herum
Wie lauft ihr nur herum
Wie kommt ihr denn nur zum Bahnhof
Habt ihr nichts anderes anzuziehen
Mein Sohn trug zerschlissene Jeans
Meine Tochter Rastalocken
Die Jüngste wie immer Turnschuhe
Auch im Winter
Ich zuckte zusammen
Zum Angriff bereit
Seine Begleitung zog ihn am Ärmel
Unser Gepäck, sagte sie, es ist noch im Laderaum
Rebeca, sagte ich
Wie schön, dich wiederzusehen
Wir haben uns alle umarmt
Und geküsst
Weil man das so macht
Und weil Vater unser Gast war
Und wir wollten ihn nicht beleidigen
Wir haben uns alle umarmt
Und geküsst, auf die Wangen
Auf die rechte
Und auf die linke
Vater streichelte die Köpfe der Kinder
Wir taten alles
Was man zu solchen Anlässen tut
Nur meine ältere Tochter sagte, ich will nicht
Wenn er so zu mir spricht
Nur meine ältere Tochter sagte
Ich mag meine Rastalocken
Ich werde sie nicht seinetwegen abschneiden
Sch, sagte die Begleitung
Sch-sch-sch! Schaut mal nach dem restlichen Gepäck
Wir fuhren mit der U-Bahn nach Hause
Der Zug war voll
Für Vater gab es einen freien Platz
Auch für Rebeca, ihm gegenüber
Die Kinder drängelten ins Wageninnere
Ich blieb neben der Tür stehen
Ich schaute hinüber
Unter den gestreckten Armen der Mitfahrer hindurch
Ob bei Vater alles stimmte
Rebeca gestikulierte aufgeregt
Blickte ihn wütend an
Was sie ihm sagte
Hörte ich nicht
Stadtmitte stiegen wir aus
Die Kinder trugen die Koffer
Ich trug Vaters unvermeidliche Aktentasche
Immer noch hatte Vater eine Aktentasche bei sich
Eine Aktentasche ohne Akten
Jedenfalls weiß ich von keinen Akten
Eine Aktentasche mit Gedichten vielleicht
Denn Vater schrieb ja weiterhin Gedichte
Sieben Jahre hatten wir uns nicht mehr gesehen
Sieben Jahre sind eine gute Zeit
Eine Zeit der Erneuerung
Wieder waren sieben Jahre vergangen
Seit ich mit meinem Sohn Vater besucht hatte
Von Mädchen hielt Vater nicht viel
Die Mädchen hatte Vater nicht mehr gesehen
Seit ihrer Abreise in den Westen
Und das war doppelt so lange her
Für Vater waren drei Dinge wichtig
In der festgefügten Reihenfolge
Das Vaterland. Die Partei. Die Ehre der Familie
Das hat mir Vater beibringen wollen
Für Vater waren drei Dinge wichtig
Dafür war Vater bereit, Opfer zu bringen
Jedes Opfer
Das hatte Vater mir beibringen wollen
Vater hatte keine Gelegenheit
Meinen Kindern all dies beizubringen
Vater wurde keine Gelegenheit gegeben
Vater hat keine Gelegenheit genutzt
Vater sagte, ihr seid nicht bereit, Opfer zu bringen
Vater glaubte
Dass uns Opferbringen zu besseren Menschen mache
Weil man zu verzichten lernt
Vater hat auf seine Familie verzichtet
Und hat sie selten gesehen
Vater hat auf Mutter verzichtet
Da er immer unterwegs war
Für die Partei
Vater hat nicht auf Rebeca verzichtet
Mit ihr zusammen hat er am Kommunismus gebaut
Vor allem mit ihr
Und sie haben sich beide geopfert
Wegen der Familienehre
Wegen der Partei, und wegen Mutter
Wir pfeifen drauf, sagen meine Kinder
Wir pfeifen auf diese Ehre
Andere Dinge sind uns wichtig
Für meine Kinder sind andere Dinge wichtig
Was kann wichtiger sein, fragt Vater
Für meine Kinder ist es wichtig
Dass sie das tun, was sie sagen
Dass sie das sagen, was sie denken
Sie denken, was sie wollen
Dass sie wollen, was sie denken, dass für sie gut ist
Woher soll ein Mensch wissen, was für ihn gut ist
Sagte Vater an dem Abend
Manchmal muss man Menschen zu ihrem Glück zwingen
Wenn man so jung ist, weiß man nicht, was gut ist
Ich war anderer Meinung
Und erst recht meine Kinder
Was Rebeca glaubte, konnten wir nicht erfahren
Ein anderes Mal, sagte Rebeca
Es ist doch egal, was ich denke
Ich kann doch verzichten
Wenn es den anderen so wichtig ist
Es gibt nichts Großartigeres
Nichts Bedeutungsvolleres
Als den anderen zu dienen
Das sagte Rebeca nicht
So lebte sie
An dem Abend wollte Vater nichts mehr essen
Außer dem Brötchen, das er von der Reise übrig hatte
Sonst verdirbt es, sagte er
Es ist schon nach Mitternacht, sagte er
Und ich kann auch nicht mehr sitzen
Für alle war das die richtige Entscheidung
Wir alle brauchten Zeit
Was immer Vater brauchte
Was immer Vater wissen wollte
Was immer Vater mitteilen wollte
Er wandte sich an Rebeca
Rebeca wollte die Geschenke auspacken
Aber nein, Großvater, sagten die Kinder
Das machen wir morgen, wenn du dich ausgeruht hast
Sie übten Verzicht
Die Nacht war lang
Ich konnte nicht schlafen
Vielleicht hat in der Nacht keiner von uns geschlafen
Die Kinder erzählten nichts davon
Vater sagte später, er könne immer weniger schlafen
Aber Rebeca sagte
Ich drehe mich im Schlaf nicht einmal um
Ein paar Versuche der Annäherung hat es gegeben.
Am nächsten Morgen waren die Kinder in der Schule
Vater wachte spät auf und war wackelig auf den Beinen
Vater schaute sich um und sagte
Es muss für dich nicht einfach gewesen sein
In all den Jahren
Ich glaubte, in Vaters Augen eine Röte zu erkennen
Aber vielleicht war es eine Täuschung
Denn er wandte sich an Rebeca und sagte
Diese Kinder haben gar keine Manieren
Man sieht, dass kein Mann im Haus ist
Ich biss mir auf die Zunge
Übte Verzicht
Ein paar Versuche der Annäherung hat es gegeben
Vater blieb den ganzen Winter über
Wir gingen zum Arzt
Und der Arzt untersuchte ihn mit großer Sorgfalt
Wir besuchten Freunde, die ihn mit dem Auto abholten
Wir bekamen viel Besuch
Vater war eine Romanfigur geworden
Aus einem Roman, den sie bereits gelesen hatten
Und alle wollten ihm begegnen
Vater liebte
Vater ersehnte diese Aufmerksamkeit
Vater war überwältigt von allem, was er sah und erlebte
Vater bereute, nicht jünger zu sein, um alles auszukosten
Ich hatte nicht geglaubt, was die mir immer erzählten
Über all das, was es hier gibt
Ich hatte zuvor nicht geglaubt
Dass es so etwas gibt
Wiederholte er immer wieder
Vielleicht war ich doch ein Esel
Weil ich nicht früher kommen wollte
Rebeca sagte, alles zu seiner Zeit
Rebeca hatte für Vater immer ein passendes Wort
Rebeca sagte nicht
Siehst du, was hab ich dir immer gesagt
Rebeca sagte nicht
Du und deine Sturheit
Rebeca hatte für Vater immer ein passendes Wort
Immer die richtige Hilfe
Und Vater vertraute auf sie
Vater vertraute auf sie
Und auf keinen von uns
Nur Rebeca konnte zwischen uns vermitteln
Ohne sie wäre Vater vollkommen verloren gewesen
Ohne sie wären wir verloren gewesen
Und der Besuch hätte in einer Katastrophe geendet
Ein Leben lang hat Vater auf Rebeca vertraut
Eine Goldene Hochzeit hätten sie feiern können
Wären sie vermählt gewesen
Vater blieb über den ganzen Winter
Es wurde ein langer und schwieriger Winter
Gleichzeitig leicht und befreiend
Abends am Tisch saß Vater wie vor Gericht
Und es sah so aus
Als ob er Rebecas Hand halten würde
Um nicht vom Stuhl zu fallen
Wenn ich ihm Fragen stellte
Wenn ich ihm Ereignisse aus der Vergangenheit vorhielt
Vater schien sich an Rebecas Hand festzuhalten
Sich von Rebeca halten zu lassen
Vater
Verunsichert
Verletzlich
Sprachlos
Beim Abendessen saß Rebeca neben ihm am Tisch
Sprang jedes Mal auf, wenn Vater nach etwas suchte
Sprang jedes Mal ein, wenn Vater sie brauchte.
Und Vater brauchte sie unentwegt
In Gedanken hielt sich Vater an Rebeca fest
Vater hielt Rebecas Hand
Vater blieb den ganzen Winter
Vater blieb über den ganzen Winter
Es wurde ein langer und schwieriger Winter
Und gleichzeitig wurde er leicht und befreiend
Es wurde ein langer und bedrückender Winter
Den wir jeden Tag von seiner Schwere ein Stück befreiten
Abends am Tisch saß Vater wie vor Gericht
Schon am ersten Abend flogen die Funken
Kurz nach der Ankunft gab es die ersten Anzeichen
Vater war nicht vorbereitet
Ich auch nicht
Jedes Mal, wenn ich Vater ein Ereignis vorhielt
Einen Schmerz aus der Erinnerung hervorholte
Jedes Mal, wenn ich ein Ereignis herausholte
Wie man Perlen und kostbaren Schmuck
Aus eine verborgenen Kassette
Nein
Wenn man Perlen aus einer dunklen
Von Moos bewachsenen
Befallenen
Mit Moos überwucherten Grotte ausgräbt
Sorgfältig ans Licht hebt
Und von allen Seiten betrachtet
Jedes Mal geriet Vaters Stimme ins Schwanken