Lehrerin einer neuen Zeit - Laura Baldini - E-Book
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Laura Baldini

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Beschreibung

Die ergreifende Lebensgeschichte der Ausnahmepädagogin als packender historischer Roman   Sie widmete ihr Leben den Kindern und veränderte die Welt für immer: Die spannende Geschichte der Maria Montessori ist ein Lehrstück über Engagement, Gefühle und die Kraft mutiger Frauen.   Jedes Kind hat Talente und Bedürfnisse, die es zu entschlüsseln und zu beantworten gilt: Dieser heute selbstverständliche Lehrsatz der modernen Pädagogik war vor rund 100 Jahren eine unbekannte Idee. Bis die italienische Pädagogin Maria Montessori eine Revolution auslöste.   Noch jung und unbedarft ist Maria Montessori im Rom des Jahres 1896 von den Zuständen in einer psychiatrischen Klinik schockiert. Gegen alle Widerstände gibt sie den kleinen, lethargischen Patienten Spielzeug und holt sie in ein Leben, das sich niemand zu träumen gewagt hätte. Doch als Maria ihr Herz an einen Kollegen verliert, steht alles auf dem Spiel.   Mit »Lehrerin einer neuen Zeit« zeichnet Laura Baldini den Werdegang der großen Pädagogin hautnah und mit schillernder historischer Präzision nach. Ihre Roman-Biografie verleiht dem Montessori-Konzept ein menschliches, weibliches und zerbrechliches Gesicht, dem sich Leserinnen in einer mitreißenden Erzählung über Wissenschaft und Liebe nähern.    »Was Kinder betrifft, betrifft die Menschheit!« – Maria Montessori    Mehr als 1.000 Einrichtungen in Deutschland folgen heute dem Montessori-Konzept, das Entfaltung und Selbstbestimmung vor Drill und Auswendiglernen stellt. Wer »Lehrerin einer neuen Zeit« gelesen hat, wird den Wert dieser Pädagogik noch einmal mehr zu schätzen wissen.    Starke Frauen in einer einmaligen biografischen Romanreihe   »Lehrerin einer neuen Zeit« ist der erste Band der historischen Romane der »Bedeutende Frauen, die die Welt verändern«. Bekannte und aufstrebende Autorinnen widmen sich unglaublichen Frauenfiguren der Geschichte, die nichts weniger waren als Revolutionärinnen in ihrem Bereich. Lassen Sie sich entführen in aufregende Zeiten und große Frauenschicksale.  

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Seitenzahl: 395

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© Piper Verlag GmbH, München 2020Lektorat: Dr. Annika KrummacherCovergestaltung und -motiv: Johannes Wiebel | punchdesignunter Verwendung von Motiven von shutterstock.com

 

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Inhalt

Cover & Impressum

Irrenanstalt Ostia bei Rom, 1894

Rom, Herbst 1894

Rom, Herbst 1895

Irrenanstalt Ostia bei Rom, 1895

Rom, 1895

Rom, Ende Februar 1896

Rom, März 1896

Rom, Anfang April 1896

Irrenanstalt Ostia bei Rom, Mai 1896

Rom, Anfang Juli 1896

Rom, August 1896

Rom, August 1896

Psychiatrische Klinik in Rom, August 1896

Berlin, September 1896

Psychiatrische Klinik in Rom, Oktober 1986

Irrenanstalt Ostia bei Rom, Dezember 1896

Rom, Frühjahr 1897

Psychiatrische Klinik in Rom, Herbst 1897

Rom, Herbst 1898

Rom, Frühjahr 1899

Rom, Anfang Juni 1901

London, Ende Juni 1901

Florenz, Januar 1902

Bologna, März 1902

Wie ging die Geschichte weiter?

Nachwort

Irrenanstalt Ostia bei Rom, 1894

Die Glocken der Chiesa Sant’Aurea kündigten die Abendmesse an. Der tiefe, metallene Klang hallte zwischen den Häusern wider und drang durch die dicken Mauern des alten Gebäudes, das einst ein Kloster gewesen war. Das Läuten hatte etwas Beruhigendes und Vertrautes. Die Kirchenglocken weckten vage Erinnerungen an ein Leben in Freiheit, an Lachen und ausgelassenes Spiel. An einen Hof mit Hühnern, denen die Kinder hinterherliefen, um sie zu fangen. An eine sonnendurchflutete Werkstatt und den Geruch von frisch gehobeltem Holz. Doch sobald die Glockenklänge erstarben, verschwanden auch die freundlichen Bilder einer vergangenen Zeit.

Luigi hockte zusammengekauert auf einer harten Matratze. Man hatte ihn erneut in die winzige Zelle gesperrt, in der nichts als ein kahles Stahlrohrbett stand. Durch ein kleines, rechteckiges Fenster ganz oben an der Wand sah er den Himmel, der sich dunkelblau färbte und den Untergang der Sonne ankündigte. Luigi konnte sich nicht erinnern, warum er schon wieder hier war. Sein Aufenthalt in der Zelle hatte etwas mit dem rostbraunen Fleck zu tun, der ihm anklagend von der grauen Wand entgegenleuchtete. Der Fleck erinnerte ihn an ein Tier, dessen Name ihm allerdings entfallen war, so wie er nach und nach alle Bilder und Namen vergaß, die mit seiner Vergangenheit zu tun hatten. Möglich, dass der rostbraune Fleck von seinem Blut stammte. Er würde die Wand so lange verunzieren, bis der Raum irgendwann neu ausgemalt wurde. Das konnte Jahre dauern, denn das Geld war knapp, und die Menschen, die man hier untergebracht hatte, waren der Obrigkeit weniger wert als der Unrat, der sich in den Armenvierteln Roms auf den Straßen sammelte. Im Istituto waren die Geisteskranken des Hafengebiets Ostia untergebracht, die Idioten und die Krüppel, die man wegsperrte, um den Rest der Gesellschaft vor ihrer Unberechenbarkeit zu schützen. Mit seinen erst acht Jahren war Luigi bei Weitem nicht der jüngste Insasse des Istituto. Im großen Saal nebenan befanden sich Kinder, die gerade erst angefangen hatten zu laufen. Doch statt sich über ihre ersten Schritte zu freuen und lachend durch den Raum zu stolpern, hockten sie auf ihren Betten und starrten mit leeren Augen an die schmucklose Decke.

Warum saß Luigi nicht bei ihnen? Hatte er wieder zugebissen? Einer der Wärter hatte ihn ein gefährliches Monster geschimpft, einen Wilden, der niemals gelernt habe, sich den Regeln der Gesellschaft zu unterwerfen. Dunkel konnte Luigi sich an den Geschmack von Blut erinnern. War es sein eigenes gewesen? Luigis Mund war seine einzige Waffe. Damit wehrte er sich gegen die Übergriffe der Erwachsenen, wenn sie ihm mit ihren starken Händen die Kleidung vom Leib rissen, um ihn mit eiskaltem Wasser abzuspritzen, damit er nicht stank wie ein Tier. Eine erniedrigende und qualvolle Prozedur, die sich jede Woche aufs Neue wiederholte. Gut möglich, dass sie ihn wegen eines Bisses in die Jacke aus stinkendem, kratzendem Stoff gesteckt hatten. Die langen Ärmel waren am Rücken fest zusammengebunden. Luigi konnte sich kaum noch bewegen. Und der Blutfleck an der Wand? Luigi blinzelte. An seinen langen Wimpern hingen winzige dunkle, getrocknete Tropfen. Seine rechte Schläfe pulsierte. Offenbar war er gegen die Wand gestoßen worden. Vorsichtig neigte er den Kopf und sah an sich herunter. Auch die Jacke war voller Blutspritzer. Wenn er das Gesicht verzog, spannte die Haut über seinem rechten Auge. Dort pochte eine Wunde, und das war gut so. Er begrüßte den Schmerz wie einen Freund, der ihm signalisierte, dass er am Leben war. Solange er ihn spürte, hatte er die Gewissheit, dass er noch nicht tot war. Alles war besser als die furchtbare Leere, die ihn Tag für Tag begleitete. Eine Leere, die er nur mit dem aussichtslosen Kampf gegen seine Wärter füllen konnte.

Luigi wünschte, die Kirchenglocken würden erneut erklingen, damit die freundlichen Erinnerungen an ein Leben zurückkehrten, das es wert war, dafür zu kämpfen. Aber mit jedem Tag, den er hier verbrachte, wurden die Bilder blasser. Luigi fürchtete nichts mehr als den Zeitpunkt, wenn sie völlig verschwunden wären. Wenn er wie die anderen Kinder resignieren und sich kampflos seinem Schicksal ergeben würde. Er legte den Kopf auf den Knien ab und lauschte in die Stille. Sie war finster und bedrohlich, wie ein Loch ohne Boden, in dem man langsam versank. Luigi wartete auf die Glocken, irgendwann würden sie die Gläubigen wieder zum Gebet rufen und ihn für einen kurzen Moment aus der leeren Dunkelheit holen.

Rom, Herbst 1894

Wo bleibt Papa?« Nervös lief Maria im Speisezimmer auf und ab. Bei jedem Geräusch, das eine vorbeifahrende Kutsche ankündigte, eilte sie zum hohen Fenster, das auf die Straße führte, und schaute suchend nach unten.

»Er wird gleich kommen«, beruhigte Renilde Montessori ihre Tochter. Sie blickte von ihrer Stickarbeit auf, einem kleinen Spitzendeckchen, das sie später auf die dunkle Kommode aus glänzendem Kirschholz legen wollte, damit jeder Besucher gleich sehen konnte, dass eine geschickte und fleißige Dame dem Haushalt vorstand. »Dein Vater weiß, dass er dich heute zur Universität begleiten muss.«

»Manchmal denke ich, Papa verspätet sich absichtlich, um mein Studium noch komplizierter zu gestalten. Dabei ist es so schon schwierig genug. Jeden Tag heißt es, sich aufs Neue gegen neidvolle Kommilitonen und ignorante Professoren durchzusetzen. Sie wollen allesamt keine Frau in ihren ehrwürdigen Räumen sehen.« Maria kehrte zum Esstisch zurück und ließ sich wenig elegant auf einen der Stühle plumpsen. Ungeduldig trommelte sie mit ihren langen, schlanken Fingern einen Takt auf die Tischplatte.

»Unsinn. Dein Vater wird gleich da sein. Er weiß, dass du nicht allein zum Anatomischen Institut fahren kannst. In diesem Fall reicht es auch nicht, wenn ich oder eine andere Frau neben dir in der Kutsche sitzt. Für eine Anstandsdame ist dein Vorhaben zu außergewöhnlich, du brauchst männliche Begleitung.« Mit gerunzelter Stirn warf Renilde einen tadelnden Blick auf Marias Hand. »Hör mit dem Geklopfe auf«, forderte sie streng.

Schuldbewusst zog Maria ihre Hand zurück in ihren Schoß. Trotz ihrer vierundzwanzig Jahre fühlte sie sich manchmal in der Gegenwart ihrer Mutter wie ein kleines Mädchen, das wegen seines ungestümen Benehmens gemaßregelt wurde. Dabei war sie eine der ersten Frauen Italiens, die erfolgreich Medizin studierte, und war im letzten Monat sogar mit dem begehrten Rolli-Preis geehrt worden, der ihr ein stattliches Stipendium von tausend Lire gewährte. Seither war Maria von ihren Eltern finanziell weitgehend unabhängig.

»Bei jedem anderen Seminar oder bei einer Vorlesung wäre es mir gleich, wenn ich zu spät käme«, sagte Maria. Sie war es gewohnt, dass sie als Frau den Vorlesungssaal erst betreten durfte, wenn alle männlichen Kollegen da waren und einen Platz gefunden hatten. Da einige immer zu spät kamen, musste sie regelmäßig warten und hörte nie die einleitenden Sätze der Vortragenden. »Aber bei meiner ersten Stunde im Seziersaal, noch dazu einer Privatstunde, wäre es äußerst unangenehm, wenn ich nicht pünktlich wäre. Professor Bartolotti würde mir das sehr übel nehmen.«

»Ich weiß, Maria. Und deinem Vater ist der Umstand durchaus bekannt, das kannst du mir glauben.« Seit Tagen gab es im Hause Montessori kein anderes Gesprächsthema. Maria ließ keine Gelegenheit aus, mit ihrer Familie über ihre Ängste zu sprechen. Der Saal, in dem tote Menschenkörper untersucht wurden, war in ihren Augen ein gruseliger Ort, den sie am liebsten gemieden hätte. Aber ohne die Anatomiestunden gab es keinen Abschluss. Also musste Maria sie über sich ergehen lassen.

Renilde legte ihre Stickarbeit auf dem Tischchen ab und sah ihre Tochter ermutigend an.

»Du bist schon so weit gekommen, du wirst auch diesen Teil des Studiums schaffen.« Im Gegensatz zu ihrem Mann, dem Finanzbeamten Alessandro Montessori, war sie von Anfang an vom Berufswunsch ihrer Tochter begeistert gewesen und hatte sie in ihrem Vorhaben, eine der ersten Ärztinnen Italiens zu werden, bedingungslos unterstützt. Für Renilde war Marias Entscheidung nicht unerwartet gekommen. Nach sechs Jahren Grundschule hatte ihre Tochter eine technische Sekundarschule besucht und danach ein zweijähriges Studium der Naturwissenschaften abgeschlossen. Da war die Medizin beinahe eine logische Konsequenz. Alessandro Montessori sah das etwas anders, doch Renilde war stolz auf ihre Tochter. Vielleicht mischte sich eine Spur Neid darunter, denn auch die Mutter hatte einen wachen Geist und interessierte sich für die Naturwissenschaften. Leider war es ihr verwehrt gewesen, ein Studium zu absolvieren. Dieses Privileg erkämpften sich die Frauen des neuen, vereinigten Königreichs Italien erst allmählich.

»Du könntest die Wartezeit sinnvoll nutzen und dein Haar neu hochstecken«, schlug Renilde vor. »Es hat sich eine Strähne gelöst, was nicht nur nachlässig, sondern auch frivol aussieht. Du kannst es dir nicht leisten, dass über dich getratscht wird.«

Maria verzog den Mund. Sie war es gewohnt, dass ihre Mutter ihr Aussehen bemängelte. Renilde Montessori, geborene Stoppani, stammte aus einer Großgrundbesitzerfamilie in Chiaravalle, einer kleinen Stadt in der Nähe von Ancona. Wie viele Italiener war sie der festen Überzeugung, dass die katholische Kirche den Menschen nicht nur den einzig wahren Glauben anbot, sondern ihnen auch die Regeln vorgab, an die sie sich im Leben zu halten hatten. Sittsamkeit erschien ihr als eine der höchsten Tugenden.

Gerade als Maria dem Vorschlag ihrer Mutter Folge leisten wollte, hörte sie, wie sich im Erdgeschoss die Eingangstür öffnete.

»Endlich!« Rasch sprang sie auf. Die Haarsträhne war vergessen. Maria griff nach ihrer ledernen Umhängetasche, in der sich ihre Bücher, ihre Unterlagen und das Federmäppchen befanden, und stürmte zur Treppe. Damit sie nicht so schwer schleppen musste, hatte sie ihre Bücher in dünne Hefte geteilt, von denen sie immer nur diejenigen mitnahm, die sie gerade brauchte. Sobald sie ihre Prüfungen bestanden hatte, wollte sie die Einzelteile wieder zu Büchern binden lassen. Trotzdem wog die Tasche einige Kilogramm.

»Maria!«

»Ja?« Sie drehte sich zu ihrer Mutter um.

»Du bist doch rechtzeitig zum Abendessen wieder zu Hause?«

»Ich weiß es nicht.«

»Flavia hat gestern frische Pasta gemacht. Die bereitet sie heute Abend mit Butter und Salbeiblättern zu. Das ist eine deiner Lieblingsspeisen.«

»Das klingt verlockend, Mama, aber ich kann dir leider nicht sagen, wie lange ich im Seziersaal brauchen werde.«

Für einen Moment wirkte Renilde enttäuscht. Die Aussicht, länger als gewohnt auf die Rückkehr ihrer Tochter warten zu müssen, missfiel ihr. Die abendlichen Gespräche mit Maria bildeten den Höhepunkt in ihrem eintönigen Alltag. Seit Jahren wusste sie über jede Kleinigkeit im Leben ihrer Tochter Bescheid, und so sollte es auch in Zukunft bleiben.

»Ich werde auf dich warten.«

»Bis später!« Maria warf ihrer Mutter eine Kusshand zu und lief wenig damenhaft den Gang entlang zum Vorzimmer. Dabei raffte sie ihre langen Röcke, um nicht über den Saum zu stolpern. Die kleine goldene Uhr, die sie an einer Kette um den Hals trug, baumelte hin und her.

Im Flur stand ihr Vater neben der Eingangstür. Er hatte dem Dienstmädchen Flavia seine Aktentasche übergeben, seinen Hut aber aufbehalten. Auch seinen Gehstock hielt er weiter in der behandschuhten Hand. Alessandro Montessori war ein stattlicher Mann, der auf sein Äußeres großen Wert legte.

»Wenn du weiter so rennst, wirst du noch über deine eigenen Füße fallen«, bemerkte er missbilligend.

Maria war froh, dass er überhaupt wieder mit ihr sprach. Nachdem sie ihm vor gut zwei Jahren mitgeteilt hatte, dass sie Ärztin werden wollte, hatte er wochenlang kein Wort mit ihr gewechselt und sie geflissentlich ignoriert, wenn sie ihn um seine Meinung gefragt hatte. Die gemeinsamen Mahlzeiten waren eine Tortur gewesen. Zum Glück war diese Phase vorbei. Zwei wichtige Ereignisse hatten maßgeblich dazu beigetragen. Zum einen das Rolli-Stipendium, zum anderen die Ehre, die Maria vor zwei Jahren beim Blumenfest in der Villa Borghese zuteilgeworden war. Damals hatte sie im Namen der Universität der italienischen Königin Margherita eine Fahne und einen Blumenstrauß überreicht. Hinterher war ein Foto von Maria und der Monarchin in den Zeitungen abgelichtet worden. Die Reporter hatten nicht nur Margheritas Schönheit gepriesen, sondern auch die Anmut und die Eleganz der jungen Medizinstudentin.

Auch wenn Alessandro endlich wieder stolz auf seine Tochter sein konnte, schienen die Tage, an denen er ihr mit warmer, bedingungsloser Zuneigung begegnet war, für immer der Vergangenheit anzugehören. Zu schwer wog die Enttäuschung, dass sie sich gegen seinen Willen für die Medizin entschieden hatte. Maria hatte sich damit abgefunden.

»In einer Stunde muss ich im Anatomiesaal stehen«, sagte sie aufgeregt.

»Das ist kein Ort für eine junge Frau«, brummte ihr Vater.

»Ich bin dir dankbar, dass du mich begleitest«, erwiderte Maria unbeirrt.

Statt zu antworten, öffnete ihr Vater die Eingangstür der Wohnung und ließ ihr den Vortritt. Maria nahm von Flavia ihren dünnen Staubmantel entgegen. Das Dienstmädchen arbeitete seit einem Jahr bei der Familie Montessori. Ihre Vorgängerin Silvia war unverheiratet schwanger geworden, weshalb sie, noch am Tag, an dem sie ihren Umstand gebeichtet hatte, das Haus hatte verlassen müssen. Renilde Montessori duldete keine moralischen Verfehlungen. So fortschrittlich sie in Hinblick auf die Ausbildung ihrer Tochter war, so konservativ waren ihre Vorstellungen von der Beziehung zwischen Mann und Frau. Maria schlüpfte nicht in den Mantel, sondern warf ihn bloß locker über ihre Schultern. Ihr war nicht kalt. Ganz im Gegenteil, vor Aufregung liefen feine Schweißtropfen über ihre Schläfen. Ihr Herz schlug schnell, und sie atmete flacher als sonst. Vielleicht hätte sie heute Morgen ihr Korsett etwas lockerer schnüren sollen. Aber sie hatte die Erfahrung gemacht, dass sie mit ihrer Erscheinung die Blicke der männlichen Kollegen beeinflussen konnte. Je enger die Taille und je femininer ihr Aussehen, umso eher schlug ihr Bewunderung statt Feindseligkeit entgegen, wenn sie die langen, düsteren Gänge der Universität entlanglief.

Schnell trat Maria ins Treppenhaus und stieg vor ihrem Vater die breite Wendeltreppe ins Erdgeschoss hinab. Vor dem Haus wartete eine geschlossene dunkle Kutsche. Alessandro Montessori war damit eben aus dem Finanzministerium gekommen, wo er als erster Revisor arbeitete. Für gewöhnlich lief er zu Fuß den Tiber entlang nach Hause. Die Tatsache, dass er eine Kutsche gerufen hatte, bewies Maria, dass er sie nicht unnötig hatte warten lassen. Ein Gefühl der Dankbarkeit durchflutete sie.

Als der Kutscher Maria erblickte, sprang er mit einem Satz vom Kutschbock und öffnete galant die Tür des Wagens.

»Grazie mille!« Geschickt kletterte Maria ins Innere. Ihr Vater nahm ihr gegenüber auf der rot gepolsterten Bank in Fahrtrichtung Platz. Kaum dass beide saßen, setzte sich die Kutsche mit einem Ruck in Bewegung und ratterte über die unebene Straße.

Die Universität La Sapienza, die 1303 als päpstliche Universität gegründet worden war, befand sich immer noch in der Nähe des Heiligen Stuhls. Mittlerweile war sie staatlich und teilte sich in vier Fakultäten auf: eine theologische, eine philosophische, eine juristische und eine medizinische. Der heutige Weg führte Maria und ihren Vater quer durch Rom, vorbei an einigen großen Sehenswürdigkeiten. An jedem anderen Tag hätte Maria den Blick aus der Kutsche genossen. Sie liebte die pulsierende Stadt, die mit jedem Gebäude von einer Vergangenheit erzählte, in der der Vatikan mit weltlichen Herrschern um die Vormachtstellung gekämpft hatte. Erst seit der Einigung Italiens wuchs Rom zu einer modernen Hauptstadt heran, in der kriegerische Auseinandersetzungen nicht mehr auf der Tagesordnung standen. Wie in einem riesigen Freilichtmuseum reihte sich ein Kunstwerk an das andere. Doch heute konnte Maria weder dem Kolosseum noch dem Forum Romanum, der Engelsburg oder dem Pantheon die gebührende Aufmerksamkeit schenken. Selbst als sie den Tiber überquerten, bedachte sie den Fluss mit keinem Blick. Nervös knetete sie ihre Hände in ihrem Schoß und betrachtete sorgenvoll die roten Flecken, die zurückblieben.

»Du musst diese Übung nicht machen«, sagte ihr Vater leise. »Jeder würde verstehen, wenn du das Studium abbrichst. Es ist keine Schande, wenn du dich für einen anderen Beruf entscheidest.«

»Auf gar keinen Fall!« Die Antwort schoss ihr förmlich aus dem Mund. Etwas sanfter fügte sie hinzu: »Was mich auch heute erwarten wird, ich werde nicht aufgeben. In zwei Jahren verlasse ich als Dottoressa die Fakultät.«

Bekümmert legte Alessandro Montessori seine hohe Stirn in Falten. Zu seinem Ärger gesellte sich die Sorge um seine Tochter. »Es ist nicht gut, wenn eine junge Frau in die entblößten Körper toter Menschen schneidet.«

»Ach, Papa.« Maria rollte ungeduldig die Augen. »Wir haben dieses Thema schon so oft besprochen. Warum ist es eine Selbstverständlichkeit, dass junge Männer Tote sezieren, und ein Skandal, wenn junge Frauen es machen?«

»Weil es unschicklich ist! Ich will mir gar nicht vorstellen, was du zu sehen bekommst.«

Maria schüttelte bloß den Kopf und antwortete nicht. Sie war diese Diskussion leid, von der sie wusste, dass sie zu keinem befriedigenden Ergebnis führte. In einen toten Körper zu schneiden, war immer gruselig, egal, ob der Schnitt von einer männlichen oder einer weiblichen Hand vollzogen wurde. Maria wusste, dass sie ihre Erfahrungen im Seziersaal allein machen musste. Angeblich war es männlichen Studenten nicht zumutbar, entblößte Körper zu studieren, wenn eine Frau anwesend war. Die Professoren vertraten die Meinung, dass junge Studentinnen grundsätzlich keine nackten Körper betrachten sollten. Es in Gegenwart von Männern zu tun, galt erst recht als obszön. Deshalb würde Maria zuerst theoretischen Privatunterricht erhalten, um dann allein im Seziersaal ihre Übungen durchzuführen. Sie durfte erst in den Saal, wenn alle anderen Studenten mit ihren Aufgaben fertig waren. Wenn die Kommilitonen trödelten, würde die Sonne bereits untergegangen sein, wenn es Maria endlich gestattet war, den Raum zu betreten.

Die Kutsche hielt vor dem vierstöckigen hellen Gebäude der Medizinischen Fakultät. Eine breite Treppe führte zum Eingang, der rechts und links von mächtigen Säulen flankiert war. Maria kletterte aus dem Wagen, und ihr Vater folgte ihr.

»Soll ich dich noch zum Saal begleiten?«

Maria blickte sich um. Der Platz vor dem Universitätsgebäude war weitgehend leer. Eine Mutter zog ein quengelndes Kind auf die andere Straßenseite, während ein Bursche sich mit einem schweren Handkarren abmühte, der mit verbogenen Metallteilen beladen war. Niemand schenkte ihr Beachtung. Marias Blick glitt die Fassade des Gebäudes hoch. Hinter einem der hohen Fenster im ersten Stock erkannte sie die Gestalt eines ihrer Professoren. Er hatte gesehen, dass Maria nicht allein gekommen war. Damit war dem Anstand Genüge getan.

»Nein, das ist nicht notwendig. Vielen Dank!«

»Wann soll ich dich wieder abholen?«

»Es reicht, wenn du mir gegen zehn eine Kutsche schickst«, meinte Maria. »Ich glaube nicht, dass irgendjemand zu später Stunde kontrollieren wird, ob du in der Kutsche sitzt.«

»Zehn Uhr?«, wiederholte ihr Vater grimmig.

Noch bevor er Protest einlegen konnte, verabschiedete sich Maria von ihm und lief die Treppe hoch zum Eingang. »Ich muss mich beeilen!«, rief sie und winkte ihm zu.

Im Inneren des Gebäudes war es kühl. Sie zog den Mantel enger um sich. Die dicken Mauern sorgten dafür, dass im Sommer die oft unerträgliche Hitze der Stadt draußen blieb und im Winter angenehme Temperaturen herrschten. Im Frühling und Herbst war es dagegen unerwartet frisch. Gegenüber vom Eingang hing eine übergroße Uhr, die an die unpersönliche Halle eines Bahnhofs erinnerte. Sie passte so ganz und gar nicht zur üppigen Barockausstattung der Räumlichkeiten. Dieser Teil der Universität war in einem ehemaligen Bischofspalazzo untergebracht. Aus Platzmangel hatte man die vier Fakultäten auf viele verschiedene Gebäude quer über Rom verstreut. Dieser Palazzo der Medizinischen Fakultät zählte zu den vornehmsten Adressen. Steinerne Blumengirlanden an den Handläufen der Treppengeländer und pausbackige Engel in Fensternischen legten Zeugnis vom vergangenen Reichtum einstiger Bewohner ab. Auch wenn hier und da die Goldfarbe der Reliefs abblätterte, konnte man immer noch erahnen, wie eindrucksvoll die Empfänge und Ballnächte gewesen sein mussten, die hier abgehalten worden waren. Heute liefen mehr oder weniger motivierte Studenten durch die schmalen, hohen Gänge und verschanzten sich zum Studium hinter weiß gestrichenen Türen.

Maria nahm immer zwei der niedrigen Stufen auf einmal und gelangte rasch in das Zwischengeschoss, wo der Institutsdiener hinter einem Glasfenster saß. Maurizio war ein ungepflegter kleiner Mann, der im Krieg gegen die Habsburger seinen rechten Arm verloren hatte. Jetzt hockte er den ganzen Tag in der winzigen Holzkabine, las Zeitung oder aß das Salamibrot, das ihm seine Frau jeden Morgen mit in die Arbeit gab. Maurizio schenkte Maria keine Beachtung, sie lief an ihm vorbei und ging weiter in den zweiten Stock, wo der Anatomiesaal lag. Auf dem Weg über den Gang kamen ihr zwei Studenten entgegen. Andrea Testoni und Marco Balfano stammten aus reichen römischen Bürgerfamilien und hatten mit ihr das Studium begonnen. Beide hatten erst halb so viele Prüfungen absolviert wie Maria, was auf ihren ausschweifenden Lebenswandel zurückzuführen war. Lieber verbrachten sie ihre Nächte in den Cafés und Bars der Stadt, besuchten Soireen oder Tanzveranstaltungen, statt zu lernen. Sie begegneten Maria mit Hochmut und hatten sie in den letzten zwei Jahren noch nie gegrüßt. Dafür ließen sie keine Gelegenheit aus, um ihr das Leben schwer zu machen. Als Andrea Testoni sie erblickte, grinste er hinterhältig. Dann wandte er sich an Marco Balfano, der einen Kopf größer war als er selbst, und sprach so laut, dass Maria ihn hören musste: »Heute wird die hochnäsige Ziege ihre längst fällige Lektion erhalten.«

Balfano lachte zur Antwort. Obwohl Maria die Gehässigkeit der beiden gewohnt war, kränkten sie ihre Worte. Sie hatte keinem der beiden etwas getan. Allein die Tatsache, dass sie eine Frau war, genügte, dass die Männer sich in ihrer Ehre gekränkt fühlten. Maria schluckte ihren Ärger hinunter und ging hoch erhobenen Hauptes an ihnen vorbei. Die Absätze ihrer knöchelhohen Schnürschuhe hallten laut vom gefliesten Boden wider. Maria konzentrierte sich auf den Lärm, den sie selbst verursachte, und versuchte, das hämische Lachen der beiden zu ignorieren. Am Ende des Flurs blieb sie stehen. Angestrengt lauschte sie. Hinter der Tür waren Stimmen zu vernehmen. Die Kommilitonen hatten ihre Übungen noch nicht beendet. Das hieß, sie musste warten. Nervös trat sie zu einem der Fenster und lehnte sich gegen das Fensterbrett aus Marmor. Es dauerte schier eine Ewigkeit, bis die Tür sich öffnete und zwei weitere Studenten auf den Gang traten. Sie schenkten Maria keine Beachtung und liefen schweigend an ihr vorbei, als wäre sie Luft. Beide wirkten mitgenommen und blass. Kurz darauf ging die Tür noch einmal auf. Diesmal kam Professor Bartolotti heraus.

»Ach, da sind Sie ja«, sagte er. Bartolotti war ein kleiner, dürrer Mann mit einem gekrümmten Rücken. Auf seiner spitzen Nase saß eine schmale Metallbrille, über deren Rand er seine Studenten aus dunklen Knopfaugen streng musterte. Er war einer der wenigen Professoren, die Maria mit Wohlwollen begegneten. Das war nicht von Anfang an so gewesen, doch er hatte seine Meinung geändert, als er bemerkt hatte, dass Maria zu allen Übungen rechtzeitig erschien, ihre Aufgaben gewissenhaft erledigte und die vorgeschlagene Lektüre studierte. Mittlerweile schätzte Bartolotti seine einzige Studentin und hatte sich gegen die Ansicht der restlichen Dozenten, allen voran Dr. Sergi, durchgesetzt und dafür gesorgt, dass Maria am Anatomieunterricht teilnehmen konnte, wenn auch nicht in Gesellschaft der anderen Studenten.

»Kommen Sie herein, Signorina Montessori, bevor es finster wird.« Er öffnete die Tür weit und winkte sie zu sich. Über seinem dunklen Anzug trug er einen nicht mehr ganz sauberen Arztkittel, auf dem sich Blutspuren und Reste anderer Sekrete befanden. Maria bemühte sich, nicht auf die Flecken zu starren.

Es war das erste Mal, dass sie den Anatomiesaal betrat. Bisher hatte sie nur Schauergeschichten über das Inventar des Raums gehört und sich ihr eigenes Bild in ihrer durchaus lebhaften Fantasie zusammengereimt. Zögerlich folgte sie dem kleinen Professor in den lang gestreckten Saal. Der Raum war höher als der Gang und die Decke mit üppiger, bunter Malerei verziert. Halb nackte, römische Göttinnen saßen in prunkvollen Wagen, die von seltsamen Fabelwesen gezogen wurden. Aber Marias Aufmerksamkeit galt nicht den jahrhundertealten Gemälden, sondern den hohen Schränken, die links und rechts an den Wänden standen. In den Regalen reihten sich Gläser in unterschiedlichen Größen aneinander. Der Inhalt der Behälter ließ sie schaudern. Körperteile von verstorbenen Menschen schwammen darin: Fingerglieder, Hände, aber auch Innereien und sogar der vollständige Körper eines Ungeborenen. Marias Magen drehte sich um. Ihr spätes Mittagessen, das sie vor Stunden zu sich genommen hatte, stieß ihr sauer auf. Die Gläser stanken entsetzlich nach Salmiak und Verwesung.

»Dort hinten können Sie Ihren Mantel ablegen und einen der Kittel überziehen, damit Sie Ihr Kleid nicht unnötig beschmutzen.« Professor Bartolotti zeigte mit ausgestrecktem Arm auf einen Kleiderständer im hinteren Teil des Saals, der durch einen Säulengang abgetrennt war.

Maria lief nach hinten, sorgfältig darauf bedacht, weder nach rechts noch nach links zu schauen. War es moralisch vertretbar, dass Teile von Verstorbenen für immer in Gläsern schwammen, statt friedlich in einem Grab zu ruhen? Beim Kleiderständer angekommen, hängte sie ihren Staubmantel auf und griff nach einem der Kittel. Der Saum war feucht und klebrig. Sie zuckte zurück und ließ den Stoff wieder los. Rasch nahm sie ihren Mantel vom Ständer, faltete ihn fein säuberlich zusammen und stopfte ihn mühevoll in ihre Umhängetasche. Sicher würde ihre Mutter später schimpfen, aber besser ein paar Falten im Stoff als die Spuren von Leichenteilen. Mit spitzen Fingern schob sie die Kittel auseinander und wählte einen aus, der zwar über und über mit Blut und hellerem Sekret bespritzt war, dessen Flecken aber eingetrocknet waren. Angewidert schlüpfte sie in den Kittel, dann kehrte sie zum Professor zurück. Bartolotti war an einen der Tische getreten und hatte eine Petroleumlampe entzündet. Das flackernde Licht warf schaurige Schatten auf die schmutzige Tischplatte.

»Wir haben uns nicht die Mühe gemacht aufzuwischen. Der Tisch wird ohnehin gleich wieder schmutzig«, meinte der Professor beiläufig.

Maria nickte bloß. Sie wollte den Mund lieber nicht aufmachen – aus Angst, sich zu übergeben.

»Sie werden heute erste Untersuchungen an Organen vornehmen«, erklärte Bartolotti. »Wir haben Innereien für Sie vorbereitet, die Sie genau studieren sollen. Ziel ist es, dass Sie erkennen, wo wichtige Blutgefäße verlaufen und wie die Konsistenz und Größe eines gesunden Organs im Vergleich zu einem kranken ist. Ich will, dass Sie alles, was Ihnen auffällt, detailliert in schriftlicher Form festhalten. Später im Semester bekommen Sie Körperteile vorgelegt. Dabei gilt es, sich Schicht für Schicht bis zum Knochen vorzuarbeiten und jede Sehne, jeden Muskel freizulegen. Nach diesem Semester sollten Sie sowohl blind als auch im Schlaf jeden noch so kleinen Teil im menschlichen Körper kennen und benennen können.« Er machte eine kurze Pause. »Die Resultate dieser Aufträge ergeben die Semesternote.«

Wieder nickte Maria und starrte die Schüssel auf der Tischplatte an. Das Wasser darin war rot gefärbt vom Blut, das sich die Studenten vor ihr abgewaschen hatten. Ein schmutziges, zerknülltes Handtuch lag daneben.

»Darf ich frisches Wasser holen?«

»Wie bitte?« Irritiert schaute Bartolotti über seinen Brillenrand.

»Ich würde gerne die Schüssel mit frischem Wasser füllen.«

»Das ist reine Zeitverschwendung. Es ist spät, und ich will nach Hause, wo meine Frau mit dem Abendessen auf mich wartet.«

Die Vorstellung von Essen, egal welcher Art, brachte Marias Magen zum Rebellieren.

»Bleiben Sie denn nicht hier?« Maria versuchte erst gar nicht, die Angst in ihrer Stimme zu verbergen. Das Gefühl kroch einer Spinne gleich ihren Körper entlang und nistete sich in ihrem Nacken ein. Sie zog die Schultern hoch.

»Natürlich nicht, was soll ich denn hier tun? Ihnen etwa dabei zusehen, wie Sie die Leber eines Säufers in feine Scheiben schneiden?«

Maria wurde schwindelig. Tapfer atmete sie ein und aus, um nicht bewusstlos zu werden. Der Gestank war entsetzlich. Sie fragte sich, ob die Dämpfe schädlich für ihre Gesundheit sein mochten.

»Ich werde Ihnen zeigen, wie man mit dem Seziermesser umgeht, wie man es richtig ansetzt, ohne sich dabei zu verletzen, und dann bringt Ihnen der Institutsdiener die Organe, die wir für Sie vorbereitet haben. Den Rest müssen Sie schon selbst erledigen. Haben Sie Ihre Bücher dabei?«

Maria bejahte leise.

»Sehr schön. Dann lassen Sie uns beginnen.«

Aus einem nierenförmigen Metallbehälter, der am Ende des Tisches stand, holte Bartolotti mehrere scharfe Instrumente und deponierte sie in einer Reihe auf der schmutzigen Tischplatte. Zielstrebig griff er nach dem ersten Skalpell und legte es geschickt in seine Hand. Mit geübten Bewegungen führte er Maria vor, wie man es richtig festhielt. Dann reichte er es an sie weiter und verlangte von ihr, es ihm gleichzutun. Genauso ging er mit den weiteren Instrumenten vor. Schon nach wenigen Minuten war der Privatunterricht beendet.

»So, das war es auch schon«, sagte er zufrieden. »Ich habe Ihnen eine Lampe besorgt, damit Sie ausreichend Licht haben und die Organe nicht nach ihrer Form und dem Geruch beurteilen müssen«, bemerkte er und kicherte über seine Worte, die er für einen gelungenen Scherz hielt. »In weniger als einer Stunde können Sie hier die Hand nicht mehr vor Augen sehen. Die Sonne geht bereits unter.«

Marias Knie wurden weich. Warum gab es in dem Saal keinen Stuhl oder wenigstens einen Hocker, auf dem man sich kurz ausruhen konnte?

Bartolotti legte alle Instrumente zurück in den Metallbehälter und wischte sich die Hände an seinem Kittel ab. In dem Moment klopfte es. Noch bevor er laut »Herein!« rufen konnte, öffnete sich quietschend die Holztür, und Maurizio trat ein. Maria fragte sich, ob er die Tür mit dem Kinn geöffnet hatte, denn mit der verbliebenen Hand trug er eine große Schüssel vor sich her. Sie erinnerte an den Behälter, den Flavia in wenigen Wochen zum Backen des traditionellen Panettone im Advent verwenden würde. Aber aus dieser Schüssel stieg nicht der köstliche Duft von Vanille, Rosinen, Hefe und Zitronenschale auf, sondern ein bestialischer Gestank, der direkt aus der Hölle zu kommen schien.

Mit einem lauten Knall platzierte Maurizio den Behälter auf dem Tisch. Eine dunkle, schleimige Masse schwappte bis zum Rand der Schüssel. Wortlos ging der Diener mit schlurfenden Schritten wieder zur Tür.

»Maurizio wird so lange auf Sie warten, bis Sie hier fertig sind. Lassen Sie sich Zeit, und arbeiten Sie in Ruhe alle Forschungsobjekte durch.«

Nun murmelte der Diener unhöfliche Worte, doch sie verklangen in seinem dichten Vollbart, der ihm bis zur Brust reichte. Mit einem weiteren Knall schlug er die Tür hinter sich zu.

»Haben Sie noch irgendwelche Fragen?«

Marias Kopf war voller Fragen, aber sie wagte es nicht, sie zu stellen. Bartolotti wirkte ungeduldig, er griff nach seiner goldenen Taschenuhr und klappte sie auf. Es war nicht zu übersehen, dass er zu seiner Frau und seinem wohlverdienten Abendessen wollte. Schon schlüpfte er aus seinem Kittel, trug ihn zum Kleiderständer und hängte ihn dort auf. Als er zurückkehrte, hatte Maria immer noch keinen eingehenden Blick in die Schüssel gewagt.

»Es sind ein paar ganz hervorragende Anschauungsobjekte dabei«, sagte Bartolotti. »Ich bin schon gespannt auf Ihre Aufzeichnungen. Sie werden eine Menge lernen, meine Liebe.«

Maria zweifelte an ihrem Lernerfolg, denn sie fragte sich, wie sie es schaffen sollte hier zu bleiben, ohne in Ohnmacht zu fallen.

»Ich wünsche Ihnen gutes Gelingen!« Bartolotti wandte sich zum Gehen, als ihm noch etwas einfiel. »Bitte vergessen Sie nicht, die Lampe mitzunehmen, wenn Sie den Raum verlassen. Maurizio wird sie wegräumen. Und die zerschnittenen Organe werfen Sie einfach in den Eimer unter dem Tisch. Die Putzfrau wird sie morgen beseitigen.«

Sie verabschiedete sich von dem Professor, und sobald er den Saal verlassen hatte, hielt sie Ausschau nach dem erwähnten Eimer. Doch kaum hatte sie ihn entdeckt, schrie sie vor Entsetzen beinahe laut auf. In dem offenen Behälter lagen Fleischklumpen in unterschiedlichen Größen und Formen. Maria stürzte zum Fenster und riss beide Flügel auf. Dann lehnte sie sich nach draußen und hielt sich dabei am Fensterbrett fest. Gierig sog sie die herbstliche Abendluft in ihre Lungen. Noch nie war ihr der Geruch von Pferdeäpfeln, geröstetem Brot und dem Rauch, der aus den unzähligen Schornsteinen aufstieg, so lieblich erschienen wie jetzt. Für einen Moment schloss sie die Augen. Ihr Herz raste wie wild. Sie spürte das Blut durch den Körper pulsieren. Erst als der Gestank vollständig aus ihren Nasenflügeln entwichen war, öffnete sie langsam wieder die Augen und blickte nach unten. Eine Droschke polterte über die unebene Straße, eine Frau schleppte einen schweren Korb, der bis zum Rand mit angeschlagenen Tomaten und Gurken gefüllt war. Sie trug zerlumpte Kleidung und sah müde aus. Sicher hatte sie das Gemüse billig erstanden. Hinter ihr schlenderten zwei ältere Damen in eleganten Mänteln. Die eine trug einen zusammengeklappten Sonnenschirm in der Hand, der ihr als Spazierstock diente. Die Frauen liefen das neu angelegte Trottoir entlang, das nur bis zur nächsten Straßenkreuzung führte und dort im Nichts endete.

Maria sah den wohlsituierten Damen ebenso neidvoll nach wie der müden Frau in ihrem schäbigen Kleid. Wie gerne hätte sie mit ihnen getauscht! Alles erschien ihr im Moment erstrebenswerter als der Raum, in dem sie sich befand. Lieber hätte sie eimerweise fauliges Gemüse durch die Stadt getragen, als sich dem unappetitlichen Inhalt der Schüssel auf dem Tisch zu widmen. Was hatte sie Böses angestellt, dass man sie dermaßen bestrafte? War es ihr Hochmut, für den sie nun die Rechnung zahlte? Die beiden Frauen auf der Straße sahen aus, als wären sie mit ihrem Leben zufrieden. Sie schwätzten und lachten. Warum konnte Maria sich nicht mit den Kleinigkeiten des Lebens zufriedengeben? Weshalb nur hatte sie sich in den Kopf gesetzt, der Welt zu beweisen, dass eine Frau eine ebenso gute Medizinerin werden konnte wie ein Mann? Maria ballte ihre Hände zu Fäusten. »Weil es die Wahrheit ist«, sagte sie trotzig zu sich selbst.

Aus einer schmalen Seitenstraße trat ein Laternenanzünder. Unter den Arm hatte er eine Leiter geklemmt, in der anderen Hand hielt er eine kleine Lampe. Er ging zu einer der Straßenlaternen, klappte seine Leiter auf, kletterte hinauf und machte sich daran, das Licht zu entzünden. Die Sonne stand tief, in weniger als einer halben Stunde würde sie vollständig untergegangen sein. Maria trat vom Fenster zurück in den Raum. Besser, sie fing jetzt mit ihrer Arbeit an. Wieder drang der süßlich-faulige Geruch von Verwesung in ihre Nase. Sie versuchte, möglichst flach zu atmen, in der Hoffnung, dass nur wenig Luft in ihre Lungen geriet. Entschlossen kehrte sie zum Tisch zurück. Es war gut, dass Professor Bartolotti an die Lampe gedacht und sie bereits entzündet hatte. Bis auf die Lichtquelle war es nun finster im Raum. Die flackernde Flamme warf unheimliche Schatten an die Wände und schien die Inhalte der Gläser mit Leben zu füllen. Die missgestalteten Körperteile sahen aus, als würden sie in trüber Flüssigkeit einen bizarren Tanz aufführen. Maria zwang sich, nicht hinzusehen. Stattdessen widmete sie sich der Schüssel mit dem grausigen Inhalt. Eine dunkle, glänzende Masse lag obenauf. Sie stank erbärmlich, wie der Atem des Leibhaftigen. Maria drängte den Brechreiz zurück und griff danach. Das Organ war glitschig und kalt. Mit spitzen Fingern hob sie die Leber aus der Schüssel und klatschte sie auf den Tisch, wo sich das Organ nach allen Richtungen ausdehnte, als wollte es vor Maria davonlaufen. Aus der Nierenschale ergriff sie eines der Skalpelle und setzte zum ersten Schnitt an. Dabei summte sie die Melodie eines Kinderliedes, um sich abzulenken. Ihre eigene Stimme klang gespenstisch. »Lucciola, lucciola, vien da me, ti darò il pan del re, pan del re e della regina …«

In diesem Moment hätte Maria einer Schar von Glühwürmchen tatsächlich das Brot des Königs und der Königin gegeben, nur um nicht allein zu sein. Sie versuchte, nicht daran zu denken, was sie gerade tat. Noch vor Kurzem hatte die Leber einem Menschen gute Dienste erwiesen, doch jetzt lag sie in einer Schüssel auf einem schmutzigen Tisch. Denk an etwas Schönes!, ermahnte sich Maria vergeblich.

Jeder Handgriff war eine Tortur, jeder Schnitt eine Qual. Eiskalter Angstschweiß lief ihr über die Stirn und tropfte auf die Tischplatte. Maria fuhr dennoch mit ihrer Arbeit fort. Was sie sah, hielt sie in ihrem Notizbuch fest. Jedes Mal, wenn sie das Skalpell weglegte, wischte sie zuvor ihre Hände an dem schmutzigen Tuch ab, dann erst griff sie nach ihrem Stift. Trotzdem hatte sie das Gefühl, ihre wertvollen Schreibutensilien für immer zu besudeln. Nach und nach wurden die Organe in der Schüssel weniger. Die zerkleinerten Teile warf sie in den Eimer neben sich. Ihre Tätigkeit erinnerte sie an Flavia, die mit dem Küchenmesser die Sonntagsschnitzel bearbeitete. Nur dass Maria nicht ins Fleisch eines Schweins schnitt, sondern in die Leber eines toten Menschen.

Bei jedem Geräusch, das von der Straße in den Saal drang, zuckte Maria zusammen. Selbst das Ticken der goldenen Uhr, die an einer langen Kette um ihren Hals hing, erschien ihr unnatürlich laut. Nach einer gefühlten Ewigkeit war die Schüssel leer. Maria schaute hinein. Am Boden befand sich nur noch dickflüssiges Sekret. Erleichtert wischte sie mit dem schmutzigen Tuch über die Tischplatte und säuberte sie notdürftig. Dann trug sie die Wasserschüssel hinaus auf den Gang zum Waschbecken. Dabei hielt sie in der einen Hand die Lampe. Maria konnte es kaum erwarten, die ekelhafte Brühe wegzuschütten. Sie lief so schnell, dass zweimal Flüssigkeit über den Rand schwappte. Wieder im Seziersaal, entledigte sie sich endlich des schmutzigen Kittels, hängte ihn zurück zu den anderen und verließ eilig den Raum. Sie hastete die Treppen hinunter ins Zwischengeschoss, wo Maurizio in seiner Kabine eingeschlafen war. Als Maria ihn weckte, rappelte er sich auf.

»Beim nächsten Mal warte ich aber nicht so lang«, brummte er unfreundlich. Er nahm Maria die Lampe ab, und sie musste die letzte Treppe im Halbdunkel hinuntergehen. Zum Glück drang das Licht der Straßenlaterne durch die hohen Fenster in die Halle. Maria stürzte aus dem Gebäude und sog die frische Luft in sich auf. Neben der Gaslaterne wartete bereits die Droschke, die ihr Vater für sie bestellt hatte. Viel lieber wäre sie den ganzen Weg nach Hause gelaufen, aber es war natürlich undenkbar, allein durch die nächtliche Stadt zu marschieren. Als der Kutscher sie entdeckte, kletterte er vom Wagen. Der hagere Mann hatte seinen Hut tief in die Stirn geschoben und den Mantel fest um die Schultern gelegt. Ihm schien kalt zu sein.

»Ich warte seit einer ganzen Stunde«, sagte er mürrisch. »Die Zeit muss ich extra berechnen, ich hätte in der Zeit mindestens drei Fahrten machen können.«

Maria war zu erschöpft, um mit dem Mann ums Geld zu streiten. Müde kletterte sie ins Innere der Kutsche und sah aus dem Fenster, als der Wagen sich in Bewegung setzte. Ihr Kopf war völlig leer, und sie sehnte sich nach heißem Wasser und duftender Seife, um sich das Blut von den Händen zu waschen. Als die Droschke vor dem Haus ihrer Eltern anhielt, stieg sie aus und zahlte anstandslos die unverschämt hohe Summe. Während sie die Münzen aus ihrem Portemonnaie in die Hand des Kutschers zählte, wurde ihr schmerzhaft bewusst, dass sich solche Abende wiederholen würden. Bald musste sie nicht nur Organe, sondern auch Körperteile und irgendwann einen ganzen Menschen sezieren. Und sie würde das nicht wie die anderen Studenten in der Gruppe erledigen, sondern völlig allein.

Diese Vorstellung raubte Maria ihre letzte Kraft. Tränen liefen über ihre Wangen, und sie wollte nur noch ins Bett. Dem verständnislosen Blick des Kutschers schenkte sie keine Beachtung und ließ ihn ohne ein Wort des Grußes stehen. Rasch lief sie auf die Haustür zu, betrat das Wohnhaus und stieg die Wendeltreppe in den ersten Stock hoch.

Flavia schien bereits auf sie gewartet zu haben, denn kaum dass Maria klopfte, wurde die Tür auch schon geöffnet.

»Sie sind spät«, stellte das Dienstmädchen fest. Auch Flavia wirkte müde. Für gewöhnlich war sie um diese Zeit längst im Bett, denn sie musste am Morgen als Erste aufstehen, den Ofen einheizen und das Frühstück für die Familie herrichten. »Ihre Mutter wartet im Esszimmer auf Sie.«

Maria verspürte keine Lust, sich jetzt noch mit ihrer Mutter zu unterhalten. Aber es gab kein Entkommen. Renilde hatte ihre Tochter gehört und war in den Gang hinausgetreten.

»Komm, bevor das Essen völlig auskühlt«, meinte sie und winkte ihre Tochter ins Esszimmer.

»Ich habe keinen Hunger.«

»Unsinn. Du hast den ganzen Tag noch nichts gegessen. Du brauchst eine ordentliche Mahlzeit.«

»Haben Sie Ihren Mantel in der Kutsche liegen lassen?« Flavia warf einen Blick hinter Maria, als hätte sie dort ihr Kleidungsstück versteckt.

Müde öffnete Maria ihre Ledertasche und holte den zerknüllten Mantel hervor.

»Oh!« Flavia nahm ihn mit gerunzelter Stirn entgegen.

»Es tut mir leid«, entschuldigte sich Maria. »Ich fürchte, du wirst ihn bügeln müssen. Ich brauche ihn morgen wieder.«

Flavia nickte, doch Maria konnte ihr ansehen, dass die Dienstbotin lieber geflucht hätte. Was verständlich war, denn Maria hatte ihr eine weitere halbe Stunde ihres Schlafs geraubt.

Renilde Montessori stand immer noch wartend im Türrahmen des Esszimmers. Trotz der späten Stunde trug sie noch ihr eng geschnürtes dunkles Kleid mit dem feinen Spitzenkragen. Ihr Haar war akkurat mit mehreren Kämmen aus Horn hochgesteckt. Sicher hatte ihr Mann längst seinen Anzug gegen einen bequemeren Hausmantel getauscht und saß jetzt mit einer Zeitung, einer Zigarre und einem Glas Chianti im Salon, um den Tag gemütlich ausklingen zu lassen.

»Nun komm schon, Maria«, forderte Renilde.

Ergeben schleppte sich Maria den Gang entlang.

»Hast du etwa geweint?« Fragend musterte Renilde das Gesicht ihrer Tochter.

»Es geht schon wieder«, behauptete Maria. »Aber bevor ich irgendetwas esse, muss ich ins Bad. Bitte entschuldige mich.« Auf dem Weg zum Bad konnte sie Renildes sorgenvollen Blick förmlich in ihrem Rücken spüren. Soweit Maria sich erinnern konnte, hatte Renilde sich darum bemüht, ihrer Tochter alle Ängste und Sorgen abzunehmen. Als Maria als einziges Mädchen die technische Schule Regia Scuola Tecnica Michelangelo Buonarroti besucht hatte, war Renilde es gewesen, die ihr allabendlich Mut zugesprochen hatte, wenn es wieder einmal Streit mit einem Jungen gegeben hatte. Und später, als Maria am Regio Istituto Tecnico Leonardo da Vinci Naturwissenschaften studiert hatte, war es wieder Renilde gewesen, die ihr geduldig zugehört und sie ermutigt hatte, weiter zu lernen, auch wenn die Noten hin und wieder nicht so gut gewesen waren. In all den Gesprächen hatte sie nicht nur Interessantes über die Naturwissenschaften erfahren, sondern auch am Leben ihrer Tochter teilgenommen und das Gefühl gehabt, selbst Teil der männerdominierten Welt zu sein.

Für gewöhnlich genoss Maria das Interesse ihrer Mutter und schätzte das Gefühl der Sicherheit, das sie ihr vermittelte. Doch heute wollte sie sich nicht mit Renilde austauschen. Bevor sie über die Erlebnisse im Seziersaal sprechen konnte, musste sie sich selbst darüber im Klaren werden, wie es weitergehen sollte. Würde sie einen weiteren Abend allein in dem Saal überstehen?

Maria betrat das Badezimmer und beugte sich über das Waschbecken. Sie drehte den Messinghebel auf, und sofort plätscherte kaltes Wasser aus dem Hahn. Im Hause Montessori gab es fließendes Heiß- und Kaltwasser – ein Luxus, über den nur wenige Familien in Rom verfügten. Marias Vater verdiente gut als hochrangiger Finanzbeamter, und auch die Mitgift ihrer Mutter war nicht unerheblich gewesen. Maria ließ das Wasser über ihre Hände laufen, bis sie dunkelrot waren und sie die Kälte nicht mehr spürte. Sie griff nach der weißen Seife, schäumte jeden ihrer Finger sorgfältig ein und genoss den sanften Maiglöckchenduft. Immer wieder führte sie die Hände an die Nase, an der etwas Schaum zurückblieb. Dann seifte sie auch die Wangen ein und spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht.

»Maria!« Es klopfte an der Badezimmertür. Durch die Milchglasscheibe war die Silhouette der Mutter zu erkennen. »Komm endlich aus dem Badezimmer. Die Pasta wird kalt.«

»Gleich, Mama!« Maria wusch den Seifenschaum aus dem Gesicht. Endlich war der Verwesungsgestank verschwunden. Mit einem weichen Handtuch trocknete sie sich ab. Dann schob sie die feuchten Locken, die aus ihrer Frisur gerutscht waren, hinter die Ohren, strich die Röcke glatt und warf einen Blick in den ovalen, goldgerahmten Wandspiegel. Die junge Frau, die ihr entgegenschaute, war trotz ihrer Müdigkeit außergewöhnlich attraktiv. Die Lippen waren voll und sinnlich, die Augen groß, dunkel und von dichten, langen Wimpern umgeben. Doch Maria vermisste die Entschlossenheit, die für gewöhnlich aus ihren Augen leuchtete.

Wieder klopfte Renilde ungeduldig an die Tür. Maria öffnete.

»Was machst du so lange im Bad?«

»Mich waschen.«

Renilde verzog missbilligend den Mund. »Komm, lass uns ins Speisezimmer gehen.«

»Ich habe wirklich keinen Hunger.«

»Dann iss wenigstens ein Stück Brot«, forderte Renilde unnachgiebig.

Maria resignierte und folgte ihrer Mutter. Zu ihrer großen Überraschung saß ihr Vater nicht wie erwartet im Salon, sondern hatte am Tisch Platz genommen und las dort in seiner Zeitung. Als Maria den Raum betrat, blickte er kurz hoch. In der Mitte des runden Tisches stand eine Porzellanschüssel mit Deckel. Ein einzelner Platz war gedeckt. Neben einem flachen Teller befanden sich eine sauber gefaltete Stoffserviette, schweres silbernes Besteck und ein fein geschliffenes Wasserglas, in dem sich das Licht der Petroleumdeckenleuchte spiegelte.

»Bist du sicher, dass du nichts essen willst?«

Renilde beugte sich über den Tisch und hob den Deckel der Schüssel an. Augenblicklich breitete sich der würzige Geruch von Salbei, Butter und Knoblauch im Raum aus. Marias Magen knurrte.

»Vielleicht koste ich einen Bissen.«

Renilde nickte zufrieden. Sie holte einen Schöpflöffel und füllte eine ordentliche Portion Pasta auf Marias Teller. Dann nahm sie eine kleine Schüssel mit fein geriebenem Parmesan und stellte sie gemeinsam mit der Pasta vor Maria auf den Tisch.

»Bitte schön.«

Mit dem köstlichen Geruch verschwanden die schrecklichen Bilder aus dem Seziersaal.

»Nun, erzähl schon. Wie war deine erste Stunde am Anatomieinstitut?«

»Gleich, Mama!« Maria hob abwehrend die Hände. Sie atmete den Salbeigeruch ein, und vor ihrem inneren Auge tauchte das Bild des lila blühenden Küchenkrauts auf. Es hatte eine beruhigende Wirkung. Die Anspannung der letzten Stunden fiel von ihr ab wie ein Panzer, der schwer auf ihren Schultern gelastet hatte.

»Lass sie doch erst einmal essen«, brummte Alessandro hinter seiner Zeitung.

Maria wickelte die frische Pasta mit der Gabel auf, schob den Bissen in den Mund und genoss das Aroma, das sich in ihrem Mund ausbreitete. Die Pasta schmeckte vertraut, nach Geborgenheit und Trost.

Ungeduldig beobachtete Renilde ihre Tochter beim Essen. Als der Teller fast leer war, konnte sie sich nicht mehr zurückhalten.

»Was hast du heute gelernt?«

Maria entfaltete die Serviette und tupfte sich die Butter von den Lippen.

»Ich habe gelernt, dass manche Männer einen schier grenzenlosen Einfallsreichtum entwickeln, wenn es darum geht, Frauen das Leben an der Universität schwer zu machen.«

Renilde faltete die Hände auf der Tischplatte. »Kannst du dich bitte etwas klarer ausdrücken?«

Auch Marias Vater lugte neugierig über den Rand seiner Zeitung.

»Der sogenannte Privatunterricht bestand darin, dass man mir erklärte, wie ich ein Skalpell halten soll. Danach musste ich allein und in beinahe völliger Dunkelheit stinkende Organe von toten Menschen zerstückeln – umgeben von ekelhaften Leichenteilen in übel riechender Flüssigkeit.«

Alessandro legte die Zeitung auf den Tisch. »Du musst das nicht machen, Maria. Du kannst das Studium beenden und ein ganz normales Leben führen.«

»Was ist denn ein normales Leben?« Maria hatte die Stimme erhoben. Ihre Müdigkeit war beinahe vollständig verflogen. »Willst du, dass ich einen Mann heirate und Kinder kriege? Hast du deshalb deine Kontakte zum Bildungsminister und anderen hochrangigen Beamten spielen lassen, damit ich an der Universität zugelassen werde?«

Ende der Leseprobe