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Jugendbuch ab 10 Jahre Tauch ab in eine Welt zum Träumen und Fürchten. Leila Pierce ist ein ganz normales Mädchen. Jedenfalls glaubt sie das, bis sie eines Tages ein seltsames Buch auf dem Dachboden findet. Als sie daraus vorliest, öffnet sie versehentlich ein Portal in eine fremde Welt. Beim Erkunden dieser Welt erfährt sie, dass sie eine Hexe ist, und schon längst an der Magieschule Elathi erwartet wird. Erst weigert sie sich, ihr altes Leben aufzugeben. Doch als ihre Mutter es ihr verbieten will, wird sie neugierig und möchte unbedingt erfahren, welches dunkle Geheimnis sie verbirgt. In der magischen Welt Fortmedow erwarten sie Abenteuer und Rätsel. Zu allem Übel wird das Leben von Leila und ihrer Schwester Elina auch noch von einem bösen Magier bedroht. Kann Leila es schaffen und sie beide retten?
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Seitenzahl: 326
Veröffentlichungsjahr: 2020
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Für Lisa, die der Grund für diese Idee ist.
Für Nico, der mich vom ersten Tag an auf diesem Weg begleitet hat.
FREMDE WELT
DIE SCHULE
BRIEF AUS ELATHI
DIE ANKUNFT
UNWILLKOMMEN
FREUNDSCHAFT ENTSTEHT
DAS VOLTANUS
DIE AUFENTHALTS-GENEHMIGUNG
DER SCHUTZ
DER TESTFLUG
DIE PETZE
DIE TANZSTUNDE
DER BALL
DIE ENGELSNACHT
DAS GEHEIMNIS
BESUCH IM KÖNIGSSCHLOSS
DAS ENDE
DER RETTER
ÜBERWINDUNG
EIFERSUCHT
ABSENDER UNBEKANNT
DIE GEFAHR
KRANKENSTATION
ALLEINGANG
WIEDERSEHEN
GESTÄNDNIS
FERIEN
Eine Staubwolke wirbelte Leila entgegen, als sie die Luke zum Dachboden öffnete. Sie hustete und wedelte mit der Hand vor ihrem Gesicht, um die lästigen Stäube fernzuhalten. Dann zog sie die Treppe herunter.
»Guck doch mal am Speicher. Vielleicht hab ich’s nach oben geräumt«, hatte ihre Mutter gesagt. Leila Pierce war nicht begeistert, jetzt auch noch Zeit auf dem Dachboden zu verschwenden, nachdem sie schon das ganze Wochenende damit zugebracht hatte, das ganze Haus nach ihrem Geschichtsbuch abzusuchen. Doch es half nichts, sie musste das Buch heute finden oder sie würde am nächsten Tag einen Eintrag im Klassenbuch riskieren. Und das bereits zwei Wochen nach Beginn des Schuljahres.
Kein guter Anfang!
Vorsichtig kletterte sie Stufe für Stufe nach oben, und als sie die Bodenöffnung erreichte, kroch der Geruch von modrigem Holz in ihre Nase. Durch die alten Fenster an den Giebeln pfiff ein kalter Wind. Ungewöhnlich für die sonst so lauen Septembertage. Die kühle Luft ließ sie trotz des Pullovers frösteln. Sie betrat den Dachboden und sah sich um. Die freihängende Glühbirne, die an der Decke im Windzug wackelte, spendete nur spärlich Licht. Das kleine Fenster auf der anderen Seite half da auch nicht.
Der Speicher stand voll mit Kisten, Schachteln und allerlei gebrauchten Möbeln, die teilweise noch aus ihrer Kindheit stammten. Darunter ihr altes Kinderbett aus hellem Buchenholz, das bis vor drei Jahren noch in ihrem Zimmer gestanden hatte. Jetzt verrottete es zwischen einer funktionsunfähigen Schirmlampe, auf der sich inzwischen etliche Millimeter Staub angesammelt hatten und einem schwarzen Bücherregal, das ihre Mutter unbedingt haben wollte, nur um es ein halbes Jahr später schon wieder auszusortieren. Sie durchsuchte einige Kisten, in denen sie aber nur Weihnachtsschmuck und andere Deko-Artikel fand.
»Wo soll ich da denn anfangen?«, flüsterte sie.
Am Donnerstag war der Orangensaft in Leilas Schultasche ausgelaufen und sie hatte das Buch auf den Küchentisch gelegt, um ihre Tasche zu säubern. Da hatte es aber nicht mehr gelegen, als sie es am nächsten Tag wieder einpacken wollte. An dem Morgen hatte die Zeit nicht mehr ausgereicht, es zu finden und dafür hatte sie in der Schule mächtigen Ärger bekommen. Heute Abend hatte sich herausgestellt, dass ihre Mutter ausgerechnet an dem Tag die Küchenschränke aussortiert und die Sachen – unüblich für ihre Mutter – gleich auf den Dachboden gebracht hatte. Und hatte sich natürlich nicht mehr daran erinnern können, ob das Geschichtsbuch von Leila ebenfalls dazwischen gerutscht war.
Sie kramte sich eine Zeit lang durch die Kisten. Eine gefühlte halbe Stunde später fand sie endlich das Geschichtsbuch zwischen den Kochbüchern ihrer Mutter und den Fotoalben der Familie.
Sie setzte den ersten Fuß auf die Treppe, um wieder hinunterzuklettern, da fiel ihr Blick auf eine Truhe, die versteckt hinter einem Regal an der Wand stand und die sie vorher noch nie gesehen hatte. Kurz überlegte sie, sie einfach zu ignorieren, aber dann siegte die Neugierde.
Sie seufzte und gab dem Verlangen nach. Sie krabbelte auf allen vieren in das Eck, Spinnweben verfingen sich in ihrem Gesicht und sie erschauderte. Die Truhe schien antik zu sein, mit abgewetzten Ecken und kleinen Kratzern. Sie war aus einem überaus massiven Holz gefertigt, auf der vorderen Seite erkannte Leila ein eingeschnitztes Symbol: ein Stern, umgeben von einem Kreis und darin eingeritzt einige Wörter. Leila konnte sie aber nicht entziffern, weil sie in einer unbekannten Sprache verfasst waren.
Das Symbol kam ihr bekannt vor, als hätte sie es schon einmal gesehen. Aber sie kam nicht darauf, wo. Sie klappte das Schloss der Truhe auf und kippte den Deckel mit ganzer Kraft nach hinten. In der Truhe befanden sich allerlei Dinge. Vorsichtig zog sie etwas aus schwarzem, dünnem Stoff heraus. Zuerst dachte sie, es wäre eine Jacke, doch als sie den Stofffetzen genauer betrachtete, erkannte sie, dass es sich um eine Art Umhang mit Kapuze handelte. An ihrer Mutter hatte sie den aber noch nie gesehen.
Ein Halloweenkostüm?
Sie legte ihn beiseite. Als Nächstes fiel ihr etwas Glänzendes auf, das am Boden der Truhe lag. Sie hob es auf: ein länglicher Kristall an einer silbernen Kette. Es ähnelte einem Pendel.
Gehört möglicherweise zum Kostüm.
Wobei sie fand, dass der Kristall echt aussah und nicht wie eine erschwingliche Kopie. Ihre Mutter war weder der Typ für teuren Schmuck noch ein besonders großer Fan von Halloween. Daher schien es doch äußerst unwahrscheinlich, dass diese Sachen ihrer Mutter gehörten.
Während sie den Kristall mit Bewunderung betrachtete, stieß sie auch hier auf das Symbol. Leila vermutete, dass es damit mehr auf sich haben musste als nur ein Kostüm. Möglicherweise handelte es sich bei dem Symbol um ein Familienwappen und bei dem Umhang und dem Diamanten um Erbstücke, die ihre Mutter hier oben sicher verwahrt hatte. Vermutlich kam ihr das Zeichen deshalb auch so bekannt vor.
Gedankenverloren spielte sie an ihrer Kette und da schlug die Erkenntnis ein wie ein Blitz.
Meine Kette!
Da hatte sie das Symbol schon einmal gesehen! Ein kristallähnlicher Anhänger in kräftiger grüner Farbe, silbern eingefasst und darauf der Stern mit dem Kreis eingraviert wie auch auf dem pendelartigen Gegenstand. Das bestärkte ihre Vermutung, dass es sich um ein Familienwappen handeln könnte. Aus welchem Grund sollte sonst auf ihrem Amulett dasselbe Symbol sein? Leila freute sich sehr über diesen Fund. Sie kannte niemanden aus ihrer Familie außer ihrer Schwester und ihrer Mutter. Es fühlte sich an, als läge in dieser Truhe eine Verbindung zu ihren Verwandten, ihrer Familie.
Erneut suchte sie in der Truhe nach weiteren Hinweisen. Neben einem gusseisernen Kessel und einem steinernen Mörser lag auch ein außerordentlich großes Buch und auf dessen ledernen Einband war wieder das Symbol. Sie nahm es heraus und schlug die erste Seite auf. Gähnende Leere. Die Blätter waren aus dünnem Pergament gefertigt und Leila befürchtete, es zu zerreißen. Also blätterte sie vorsichtig um. Auf der zweiten Seite stand es in fetten, schnörkeligen Lettern geschrieben …
In diesen Seiten wirst du lesen,
alles bisher da gewesen.
Mit reinem Herz und dem wahrhaft’gen Blut,
beendest du den dunklen Spuk.
Die Kraft der Vorfahren ist mit dir,
wenn du sie brauchst, sind sie bei dir.
Sie begriff nicht, was diese Worte bedeuteten. Möglicherweise erschloss sich ihr mehr, wenn sie weiterlas. Also blätterte sie die nächsten Seiten durch. Merkwürdige Texte, Zeichnungen von Dämonen, sonderbaren Kreaturen, Blättern, Kräutern, Engeln, Feen und vielen anderen Objekten füllten die folgenden Seiten des Buches. Sie erschauderte. In dem Moment, als sie anfing, den nächsten Text zu lesen, ertönte vom Erdgeschoss die dumpfe Stimme ihrer Mutter.
»Hast du’s?«
Schnell packte sie die Sachen - alle bis auf das Buch - zurück in die Truhe. Sie glaubte kaum, dass ihre Mutter begeistert wäre, wenn sie in diesem Buch läse. Lieber wollte sie es erst durchschauen und danach ihre Mutter befragen. Sie würde es in ihrem Zimmer verstecken. Dann schnappte sie sich ihr Geschichtsbuch und verließ den Dachboden, während sie ihrer Mutter zurückrief: »Ja, ich hab’s!«
Sie brachte das Buch in ihr Zimmer und versteckte es unter ihrem Bett. Später würde sie sich in Ruhe damit befassen.
Ihre Mutter stand an der Küchenzeile und bereitete das Mittagessen zu.
»Kann ich dir helfen? Was gibt’s denn heute«, fragte sie.
»Gemüselasagne. Gern, schneidest du bitte die Karotten in Scheiben?« Leila grinste breit. Sie war die Einzige in der Familie, die kein Fleisch aß und daher musste sie sich meistens mit den Beilagen begnügen. Nicht dass das schlimm wäre. Aber sie freute sich dennoch, wenn ihre Mutter ein komplett vegetarisches Gericht zauberte.
Als Leila die Gemüselasagne in den Ofen schob, schlenderte ihre kleine Schwester Elina durch die Küchentür und setzte sich auf einen Stuhl am Esstisch. Sie ließ den Kopf in die abgestützten Hände fallen und seufzte schwer. Dabei wallten ihre langen braunen Haare über ihren Rücken.
»Alles in Ordnung«, fragte Leila und setzt sich neben sie.
»Julia ist doof.«
»Habt ihr euch schon wieder gestritten?« Leila verdrehte die Augen. Julia war Elinas beste Freundin und sie stritten sich mindestens einmal die Woche wegen Kleinigkeiten. Und jedes Mal vertrugen sie sich einen Tag später wieder. Leila hielt die Streitereien für unnötig, das sagte sie ihrer Schwester aber besser nicht. Wobei meistens nicht ihre Schwester den Streit anzettelte.
»Sie hat behauptet, ich würde betrügen, nur weil ich gewonnen habe und ihr das nicht passt«, sagte Elina und verschränkte die Arme vor der Brust.
»Hast du denn geschummelt«, fragte Leila.
Elina schüttelte den Kopf. Wenn ihre kleine Schwester schmollte, fand Leila sie tatsächlich einmal nicht nervig, sondern richtig niedlich.
»Mom sagt immer, man darf nicht lügen.«
»Genau«, warf ihre Mutter ein, drückte ihrer jüngsten Tochter einen Kuss auf den Kopf und lächelte stolz.
»Dann hast du dir nichts vorzuwerfen. Warte einfach, bis Julia sich bei dir entschuldigt«, sagte Leila und legte einen Arm um ihre Schwester, die den Kopf auf ihre Schulter sinken ließ.
Ein großer, stämmiger Mann mit schwarzen, kurzen Haaren betrat die Küche und kam auf sie zu.
Thomas Cliffton küsste ihre Mutter flüchtig und tätschelte Elina und Leila zur Begrüßung den Kopf. Obwohl er ihr Stiefvater war, hatte er ihnen von Anfang an das Gefühl gegeben, dass sie seine Töchter wären. Er hatte selbst keine Kinder, aber sich gefreut, als er herausfand, dass Leilas Mutter zwei Kinder mit in die Beziehung brachte. Das jedenfalls hatte ihre Mutter ihnen erzählt. Elina hatte Thomas sofort akzeptiert, Leila hingegen hatte längere Zeit gebraucht. Sie hatte ihren Vater im Gegensatz zu Elina noch kennengelernt, bevor er verschwunden war, um eine neue Familie zu gründen. Aber sie wollte die Hoffnung nicht aufgeben, dass er eines Tages zu ihnen zurückkehrte. Doch je älter sie wurde, desto mehr verwandelte sich das Gefühl der Hoffnung in ein bedrückendes Gefühl der Wut. Sie verstand nicht, warum er nicht einmal Elina und sie noch sehen wollte. Schließlich waren sie sein Fleisch und Blut. Der Gedanke an ihren Vater versetzte Leila jedes Mal wieder einen Stich ins Herz und sie wusste nicht, was überwog – Trauer oder Zorn.
»Na, meine Hübschen! Hab ich noch Zeit zu duschen oder ist das Essen schon fertig?« Tom warf einen Blick in den Ofen und streichelte mit der Hand über den Bauch.
»Ein paar Minuten hast du noch«, antwortete ihre Mutter und schob sich zwischen ihm und dem Ofen hindurch.
»Wir hatten heute eine interessante Rettungsaktion«, erzählte Tom, als sie beim Essen saßen, und schob sich eine Gabel Lasagne in den Mund.
»Warum?«, fragte ihre Mutter.
»Eine alte Dame rief heute bei uns an. Sie vermutete einen Einbrecher bei ihr zu Hause. Also sind wir so schnell wie möglich zu ihr gefahren.«
Tom arbeitete als Polizist bei der Polizei von Boston und erzählte ihnen oft von lustigen oder außergewöhnlichen Vorkommnissen während des Dienstes.
»Und dann?«, fragte Leila.
»Waschbär«, antwortete Tom grinsend. Dabei wirkten seine markanten Züge weitaus weicher. Das geschah sonst nur, wenn er herzhaft lachte oder ihre Mutter anschaute.
»Wie, Waschbär?« Ihre Mutter hörte auf zu essen.
»Ein Waschbär war der Einbrecher. Die nette, alte Dame war so erleichtert, dass sie uns glatt auf einen Tee einlud«, erzählte Tom. Leilas Handy vibrierte in ihrer Hosentasche. Sie zog es möglichst unbemerkt heraus und las die Nachricht von ihrer besten Freundin Cecilia.
Peter hat mich gefragt, ob ich morgen zu ihm kommen will. LOL.
Leila schmunzelte über den Text, denn Cecilia verachtete den armen Jungen aus der Parallelklasse. Aber er ließ sich einfach nicht abschütteln und machte sich vor seinen Freunden und Mitschülern immer wieder zum Affen, um Cecilias Aufmerksamkeit zu erregen. Leila war sich nicht sicher, ob er wusste, dass sich Cecilia nur über ihn lustig machte. Sie bemitleidete ihn. Aber natürlich nur heimlich.
»Kein Handy am Esstisch!«, sagte ihre Mutter im Befehlston.
Leila schob es seufzend zurück in ihre Hosentasche und aß weiter.
Nach dem Mittagessen verkroch sich Leila in ihr Zimmer und zog das Buch heraus. Sie setzte sich im Schneidersitz unter das Fenster in ihrem Zimmer, legte das Buch auf ihre Beine und schlug es auf. Wort für Wort sog sie ein und immer mehr wurde ihr bewusst, dass in diesem Buch Sprüche standen – Zaubersprüche. Und Rezepte für Elixiere und Tränke. Das war die einzige Erklärung, die Leila einfiel. Über einer besonders auffällig gestalteten Seite prangte die große Überschrift Fortmedow und darunter ein kurzer Spruch, den sie laut las.
»Öffne dich, oh, neue Welt,
zeig mir, was du bereithältst.
Ich bin würdig, lass mich rein,
Ich werd’ ein guter Gast sein.«
Als sie das letzte Wort ausgesprochen hatte, passierten plötzlich mehrere Dinge gleichzeitig. Obwohl kein Fenster geöffnet war, fegte ein orkanartiger Wind durchs Zimmer, der dafür sorgte, dass Leila das Buch kaum festhalten konnte. Ein warmer Schauer durchfuhr ihren Körper und vor ihr erschien aus dem Nichts ein weiß-blauer Schimmer, der aussah wie eine einzige große, seltsam geformte Seifenblase. Der Schimmer gestaltete sich mehr und mehr zu einem Kreis, der am Ende ihre Größe erreichte.
Sie sprang vom Fensterbrett und wartete angespannt, was passierte.
Zuerst nahm Leila an, dass das Innere des Kreises spiegelte, doch dann erkannte sie eine Wiese und dahinter dicht stehende Bäume – einen Wald. Also kein Spiegel.
Denn schließlich hielt sie sich immer noch in ihrem Zimmer auf und nicht auf einer Wiese. Als sie genauer hinsah, entdeckte sie, dass es sich nicht um einen normalen Wald handelte, so wie sie ihn kannte.
Die Wiese und die Bäume waren nicht grün – sondern bunt! Und glitzerten, als hätte jemand einen gewaltigen Glitzer-Streuer darüber verschüttet. Leila hatte den unaufhaltbaren Drang, den Schimmer zu berühren. Ihr Herz raste vor Aufregung.
Was würde passieren, wenn sie hineingriff?
Angst mischte sich mit Neugierde, die schließlich überwog. Langsam streckte sie ihre zitternde Hand aus. Kurz bevor sie den schimmernden Kreis berührte, kniff sie die Augen zusammen und hielt den anderen Arm schützend vor ihr Gesicht. Und dann trat sie einen Schritt nach vorne. Als ihre Finger die Barriere berührten, fühlte es sich an, als hätte ihr jemand einen Eimer eiskaltes Wasser über den Körper geschüttet. Sie fröstelte, dann folgte ein sie völlig vereinnahmendes Gefühl, als würde sie mit höchster Geschwindigkeit fliegen: Ihr Magen drehte sich und sie hatte keine Ahnung, wo oben und unten war. Alles um sie herum verschwamm durch die schier nie enden wollende Rotation.
Das Gefühl hielt nur kurz an, doch Leila erschien es wie eine Ewigkeit. Dann schlug sie unerwartet hart auf und die unangenehmen Empfindungen waren schlagartig weg. Eine Welle der Erleichterung durchfuhr sie. Es dauerte einen kurzen Augenblick, bis sich ihr Magen wieder beruhigt hatte. Leila öffnete die Augen und schaute in einen abendroten Himmel, an dem sich nur vereinzelt Wolken hielten. Sie stemmte sich auf die Ellbogen und zuckte zusammen, als ein stechender Schmerz ihren Rücken durchfuhr. Die harte Landung hatte Spuren hinterlassen. Sie sah sich um.
In ihrem Zimmer war sie nicht mehr, das war klar. Und der weiß-blaue Schimmer war ebenfalls verschwunden. Sie stand inmitten des ungewöhnlichen Waldes, den sie eben noch durch den seifenblasenartigen Schimmer gesehen hatte.
Die Bäume erstrahlten nicht in einem saftigen Grün, sondern in Lila, Gelb, Blau, Rosa, Rot und überall schimmerte und glitzerte es ihr entgegen. Der Boden war übersät mit Blumen in den gleichen bunten Farben, und auch dort funkelte es, so weit das Auge reichte. Leila schaute sich mit geweiteten Augen um und war beeindruckt. So etwas hatte sie noch nie gesehen.
Wo bin ich hier bloß gelandet?
Sie ging weiter und versuchte sich jeden einzelnen Zentimeter ihrer Umgebung einzuprägen. Einen Trampelpfad konnte sie auf dem weichen Waldboden nicht ausmachen. Der war mit bunten, glitzernden Ästen und Blättern bedeckt und seine gleichmäßige Oberfläche wurde nur ab und zu von einer dicken, bunten Baumwurzel gestört. In der Ferne hörte sie das deutliche Rufen eines Tieres, vermutlich ein Vogel. Doch es gab nichts, was einen anderen Menschen vermuten ließ.
Was bedeutete, dass keine Hilfe in der Nähe war und sie wusste nicht, wie sie wieder nach Hause kommen sollte. Panisch griff sie an ihre Hosentaschen, aber sie hatte ihr Handy zu Hause auf dem Nachttisch liegen lassen. Schließlich hatte sie nicht damit gerechnet, irgendwo hinzugehen. Oder zu fliegen. Oder zu reisen. Oder wie auch immer man das bezeichnen mochte.
Der Spruch!
Konnte ein oller Spruch sie wirklich hierher gebracht haben? Wenn ja, wie war das möglich? Andererseits war der Wald auch sehr ungewöhnlich, also wollte sie es zumindest versuchen. Angestrengt versuchte sie, sich an den Wortlaut zu erinnern.
»Oh, neue Welt ... nein … öffne dich, oh, neue Welt ... Und dann?« Sie überlegte angestrengt und probierte einige Kombinationen aus.
Nichts.
Sie brachte den Spruch nicht mehr zusammen. Verzweiflung überkam sie und sie hatte Angst, nicht mehr zurückzukommen. Ihr blieb nichts anderes übrig, als sich einen Weg aus dem Wald zu suchen, wenn sie jemals wieder nach Hause wollte. Vielleicht traf sie auf jemanden, der ihr helfen konnte.
Die Hoffnung stirbt zuletzt.
Also machte sie sich auf den Weg. Flotten Schrittes, denn auch wenn es jetzt noch hell war, würde es früher oder später dunkel werden. Und allein bei Nacht durch einen unbekannten und ungewöhnlichen Wald zu streifen – damit begann jeder Horrorfilm. Schnell schob sie den Gedanken beiseite. Angst war zwecklos, sie half ihr nicht weiter.
Glitzerndes Gebüsch und funkelnde Sträucher in allen möglichen Farben reihten sich aneinander, zwischen denen sie sich hindurchzwängen musste. Dabei zog sie sich etliche Kratzer an den Armen und Händen zu. Das Knistern der abgefallenen Blätter unter ihren Füßen untermalte ihre Schritte. Allmählich entspannte sie sich ein wenig.
Doch das hielt nicht lange an. Jäh, als hätte sie eine unsichtbare Mauer durchquert, veränderte sich die Atmosphäre des Waldes. Nun standen die Bäume viel dichter aneinander und verdunkelten die Szenerie. Der Wald versprühte nichts Unbeschwertes mehr, sondern blankes Unbehagen.
Die Farben waren dunkler, intensiver und dazwischen stieg dichter, farbiger Nebel auf. Ein mulmiges Gefühl breitete sich in Leila aus, trotzdem blieb sie nicht stehen. Sie bewegte sich immer weiter geradeaus. Zwar versuchte sie, sich an der Sonne zu orientieren, aber das erwies sich als schwerer als erwartet. Denn die Sonne war nicht mehr zu sehen. Der Himmel schien auf einen Schlag ebenso duster wie der Rest. Aber sie zwang sich, weiterzugehen.
Sie kam an ein Häuschen. Hoffnung erwachte. So leise wie nur möglich schlich sie sich näher ran und versuchte zu erkennen, ob dort drin jemand wohnte. Doch je weiter sie sich darauf zu begab, desto weniger ähnelte es einem normalen Haus. Es bestand gänzlich aus Ästen, Gräsern und Blättern und war genauso bunt wie alles hier. So etwas hatte sie noch nie gesehen. Außerdem war es viel zu klein, als dass darin ein Mensch hätte leben können. Andererseits kannte sie bislang kein Tier, das zu solch einem Bauwerk fähig war.
Leila kauerte sich hinter einen Baum und beobachtete das Häuschen eine Weile, doch nichts rührte sich. Sie hatte den Gedanken an die Angst verworfen und gerade beschlossen zu dem Häuschen zu gehen und zu klopfen, als ohne Vorwarnung ein starker Wind durch die Bäume düste. Orkanartig wie schon zuvor in ihrem Zimmer. Mit dem heftigen Wehen stellte sich auch das Gefühl ein, dass sie beobachtet wurde. Sie sah sich um, entdeckte aber niemanden. Doch der Eindruck, beobachtet zu werden, verschwand nicht. Ein Zeichen, das Häuschen lieber zu meiden?
Kurzerhand beschloss sie, das Häuschen zu ignorieren und lieber möglichst schnell aus dem Wald zu kommen.
Sie atmete noch einmal tief durch, packte all ihren Mut zusammen und ging dann weiter geradeaus. Nach ein paar Schritten hörte sie Laute hinter sich. Raschelnde Blätter, knacksende Äste. Geräusche, die entweder von Tieren oder Menschen verursacht wurden. Was es wirklich war, wollte sie nicht bei einem Aufeinandertreffen herausfinden. Immerhin wusste sie nicht, welche Arten von Tieren in diesem Wald lebten. Was, wenn es Raubtiere gab, die Menschen fraßen und ihre Witterung schon aufgenommen hatten?
Ihr Magen rebellierte. Sie sah sich um, doch konnte immer noch niemanden entdecken. Das mulmige Gefühl verstärkte sich und schnürte ihren Brustkorb zusammen. Ihr Herz und ihr Puls rasten um die Wette, die Hände waren kalt vom Schweiß. Bei dem Gedanken an wilde Raubtiere rann es ihr eiskalt den Rücken runter. Sie hetzte los. Sie rannte, so schnell ihre Beine sie trugen, ungeachtet dessen, wohin sie lief. Sie sprang über Äste und Sträucher, ihre Lunge drohte zu bersten, doch sie sprintete weiter und weiter.
Als das Stechen in ihrer Seite unerträglich wurde, musste sie stehen bleiben. Sie spürte, wie ihr schwindelig wurde, und sackte am Boden zusammen. In ihren Ohren sauste es vor Anstrengung, sie nahm die Hitze im Kopf wahr, doch ihre schweiß-nassen Hände waren eiskalt. Sie spürte deutlich das Blut durch ihre Adern fließen. Schweiß tropfte ihr von der Stirn, ihr T-Shirt klebte an ihrem Körper, trotzdem fröstelte sie. Sie saß auf der Erde und fühlte sich unfähig, aufzustehen. Nur ganz allmählich beruhigte sich ihre Atmung und sie lauschte in den Wald hinein.
Sie hörte eindeutig Stimmen, die näher kamen – in ihre Richtung. Erneut schoss Panik in ihr hoch. Hektisch schaute sie sich nach einem Versteck um. Sie würde keinen weiteren Sprint aushalten. Sie sprang hinter eine lilafarbene Böschung, sofort spürte sie tiefe Kratzer an den Unterarmen und sah Blut daran herunterfließen. Sie ignorierte das Brennen. Wirklich Schutz bat ihr der Zufluchtsort nicht, doch es war zu spät. Ihre Verfolger waren nur noch wenige Meter von ihr entfernt.
Also verfolgt mich doch jemand!
Zwei Männer, gehüllt in lange schwarze Umhänge, die Kapuzen tief ins Gesicht gezogen … sie standen da und schauten sich um. Ihr Blick fiel auf die Böschung, hinter der Leila Schutz gesucht hatte. Sie war sich sicher, dass sie sie sehen konnten.
Ein heiß-kalter Schauer lief über ihren Körper.
Was wollen die von mir?
Plötzlich schoss schwarzer Dunst in Form von wie Blitze von den beiden Männern in Leilas Richtung, verfehlten ihren Kopf nur knapp und trafen mit einem lauten Knall den Baum hinter ihr, wo die Dunstblitze die Rinde in Fetzen rissen und nur ein klaffendes Loch hinterließen. Entsetzt über die Wirkung des Dunstes, drückte Leila sich tief in den Boden.
Ich muss hier weg! Sofort!
Mit rasendem Herzen schaute sie sich um und hoffte, irgendeine Eingebung oder einen Ausweg zu finden. Krach! Erneut donnerte ein Dunstblitz an ihr vorbei und riss einen Krater, so groß wie ein Kleinwagen, nur wenige Meter von ihr entfernt in den Boden. Sie musste einen Ausweg finden, bevor einer der schwarzen Blitze sie traf. Doch jedes Mal, wenn sie versuchte, hinter der Böschung hervorzukommen, um die Flucht zu ergreifen, prasselte es weitere Dunstblitze.
Auf einmal tobte wieder ein so kräftiger Wind, dass Leila sich kaum auf ihren Beinen halten konnte. Sie griff nach einem Ast und krallte sich mit aller Kraft daran fest. Als sie einen Blick auf die beiden Männer warf, sah sie, dass es ihnen nicht anders erging. Sie hielten sich aneinander fest und versuchten, dem Wind zum Trotz, auf Leila zuzugehen. Aber sie brachten die Beine kaum einen Schritt nach vorne. Das freute Leila aber nur kurz, denn auch sie schaffte es nicht wegzurennen.
»Du entkommst uns nicht«, schrie einer der Männer. Leila spähte zu ihnen. Der Wind hatte ihnen die Kapuzen der Umhänge aus dem Gesicht gefegt. Doch die Gesichter waren von goldenen Masken verdeckt. Einer der beiden hatte kurze schwarze Haare, der andere rote. Mehr konnte sie nicht erkennen. Keine Miene, keinen Blick, nichts.
Aus welchem Grund verfolgten diese Männer sie? Aus Spaß? Dafür schienen sie ihr zu verbissen.
Sie musste es trotz des Sturms hier wegschaffen. Es schien keinen anderen Ausweg für sie zu geben. Sie wusste nur nicht, wie sie gegen den Wind ankommen sollte. Aber kampflos aufgeben würde sie nicht. Sie würde sich nicht erwischen lassen.
Leila drückte sich mit aller Kraft vom Boden ab, stand mit wackeligen Beinen auf und versuchte loszulaufen. Doch sie kam keinen einzigen Zentimeter voran. Sie riskierte einen Blick zurück und sah, dass die Männer am Boden knieten und versuchten, sich auf allen vieren fortzubewegen. Zu ihrem Glück erfolglos.
Auf einmal ertönte ein lautes Rauschen über Leila, das sie trotz des tosenden Winds hören konnte, und sie wandte den Blick nach oben. Zwischen den Baumkronen hindurch flog etwas, ein goldenes Wesen mit gewaltigen Flügeln, es kam immer näher. Sanft, so als ob der Wind dem Wesen nichts ausmachte, landete es vor Leila. Ihr stockte der Atem bei dem Anblick der sich ihr bot.
Ein Löwe. Kein normaler Löwe, sondern ein Löwe mit Flügeln. Und als wär das noch nicht seltsam genug, züngelten sich statt der imposanten Mähne rot-gelbe Flammen um seinen Kopf. Die Hitze der Flammen strahlte ihr entgegen. Das Tier schnaubte durch seine kräftige Nase, die so groß war wie Leilas ganze Handfläche, dann tappte das Tier einen Schritt auf sie zu. Es war nur noch wenige Zentimeter von ihr entfernt und Leilas Herzschlag setzte aus. Wegzulaufen hätte sie nicht mehr geschafft, also kniff sie die Augen zusammen, um das Folgende nicht sehen zu müssen …
… als sie völlig unerwartet weiches Fell an ihrem Arm spürte.
Sie öffnete vorsichtig die Augen und beobachtete, wie das Tier seinen Kopf an ihren Arm schmiegte, so wie es Katzen gewöhnlich taten. Ihr fiel auf, dass sich die rot-gelben Flammen blau gefärbt hatten und ihr – entgegen der Erwartung – nicht im geringsten Schmerzen bereiteten. Sie sah ihm kurz zu, bevor sie ihm sanft über seinen Kopf streichelte. Es drückte sich fester an Leila und sie hatte den Eindruck, als gefiele es ihm.
Da kamen ihr die zwei Verfolger wieder in den Sinn. Die hatte sie glatt vergessen. Auch dass sich der Wind inzwischen gelegt hatte, bemerkte sie erst jetzt. Das und ihre Unaufmerksamkeit hatten die Männer genutzt.
Sie waren jetzt fast bei ihr. Sofort wurde ihr erst heiß und dann sofort kalt, ein spitzer Schrei entglitt Leilas Kehle. Bevor sie reagieren konnte, richtete sich der Löwe auf – zwischen ihr und den Männern. Er brüllte und dann schossen heiße Flammen aus seinem Maul. Sie hielt sich die Arme vors Gesicht, um sich vor der Hitze zu schützen. Als Leila wieder aufsah, brannten die Umhänge der beiden Männer bereits lichterloh. Sie rappelten sich auf und hetzten davon, während sie versuchten, ihre Umhänge zu löschen.
Einen Augenblick lang schaute Leila ihnen nach, um sicherzugehen, dass sie nicht wieder zurückkamen. Dann setzte sie sich auf einen Stamm, der nahe ihr am Boden lag und stieß erleichtert die Luft aus, die sie angehalten hatte. Noch immer schlug ihr Herz wie wild und ihre Hände und Beine zitterten. Der Löwe nahm neben ihr Platz und leckte ihr über das blutige Knie, das sie sich aufgeschlagen hatte. Zu ihrer Überraschung verschwanden die Schmerzen. Sie betrachtete das Tier.
»Was bist du?«
Doch statt einer Antwort – die sie ohnehin nicht erwartet hatte - spreizte das Wesen die riesigen Flügel, nahm Anlauf und verschwand zwischen den Baumkronen.
Leila blieb einige Augenblicke sitzen, schaute dem Tier hinterher und versuchte sich zu sammeln.
Was war das?
Es gab keine fliegenden Löwen mit brennenden Mähnen. Also wo war sie hier? Die Dunstblitze und das ungewöhnliche Tier ließen sie an Magie denken. Aber so schnell der Gedanke aufgetaucht war, schob sie in auch wieder beiseite.
Magie gibt es nicht!
Warum waren die zwei Männer hinter ihr her gewesen? Waren das sowas wie Polizisten und sahen hier nur anders aus? Konnte das sein?
Leila zweifelte immer mehr an ihrem Verstand und überlegte kurz, ob sie sich irgendwo den Kopf gestoßen hatte. Doch das hatte sie nicht. Sie schüttelte den Kopf. Darüber konnte sie sich später immer noch Gedanken machen. Wenn sie wieder zuhause war. Jetzt musste sie zuerst einen Weg hier raus finden.
Also stand sie auf und ging weiter. Immer noch wachsam, doch diesmal begegnete ihr niemand oder verfolgte sie.
Es dauerte vielleicht fünfzehn Minuten bis der Wald lichter wurde und vor ihr eine Ansammlung von Gebäuden auftauchte. Sie schritt aus dem Waldrand heraus und drehte sich einmal um ihre eigene Achse. Weit und breit war nicht mehr als dieses kleine Dorf vor ihr. Oder was auch immer es war. Der überschaubare Ort war vollständig von einem See umgeben und nur eine einzige steinerne Brücke führte zu drei großen Gebäuden. Direkt mitten im Wasser ragte eine Steinmauer empor, wie früher um Schlösser oder Burgen, um diese vor Angriffen zu schützen, und ging einmal rund um das Dorf herum. Die Mauer schien den See in zwei Teile aufzuteilen. Fasziniert musterte Leila diesen ungewöhnlichen und zugleich schönen Ort. Es wirkte so natürlich, so idyllisch.
Sie hoffte, jemanden anzutreffen, der ihr ein Handy leihen konnte. Leila überquerte die Brücke und folgte einem Schotterweg, der wenige Meter direkt durch den Park führte. Dann spaltete er sich in drei Teile und die zu je einem Gebäude führten. Drei rechteckige Häuser reihten sich um einen Park mit weitläufigen grünen Wiesen und wuchtigen Bäumen – diesmal allesamt grün, so wie sie es gewohnt war. Über den Eingängen der Häuser aus roten Klinkersteinen trugen vier weiße Säulen ein kleines Vordach. Außerdem war jedes der Häuser mit großen und verschnörkelten weißen Fenstern und einem spitzen schwarzen Dach gesäumt. Das Mittlere der Häuser war das größte und stand quer gegenüber. Eine massive Marmortreppe führte zu einer nicht weniger eindrucksvollen weißen Tür, die mindestens doppelt so groß war wie Leila. Die anderen beiden Häuser waren etwas kleiner. Über deren ganze Fassade zogen sich bestimmt dreißig rechteckige Erker.
Leila folgte dem Weg geradeaus, bis sie vor der Tür des größten Hauses stand. Hier war keine Menschenseele. Sie klopfte. Niemand antwortete. Das hatte sie irgendwie schon erwartet. Also drückte sie vorsichtig die Klinke herunter und öffnete die Tür einen Spalt. Sie erkannte einen dunklen Steinboden und Säulen in der gleichen Färbung. Sie schob die Tür weiter auf und trat ein. Vor ihr erstreckte sich eine schmale, aber lange Eingangshalle, die zur linken Seite in einem langen Korridor mündete. Geradeaus führte eine ausladende, weiße Marmortreppe in den ersten Stock, deren Flügel zu beiden Seiten hinter der Wand verschwanden.
»Hallo?« Leilas Stimme brach. Wieder nichts. Sie rief erneut, dieses Mal etwas lauter.
»Was kann ich für Sie tun?«, rief ihr eine Stimme entgegen, untermalt von klackernden Schritten, die aus der Richtung des Korridors zu Leilas linker Seite kamen. Die Laute gehörten zu einer Frau, die schnellen Schrittes auf sie zukam. Sie war jung, ausgesprochen groß und schlank. Ihr lilafarbener Hut passte perfekt zum gleichfarbigen Samtkleid. Ihre unbedeckten Beine waren voll von schwarzen Tattoos, die scheinbar bis zum Hals hochragten. Dazwischen erkannte Leila viele, tiefe Narben. Ihre schwarzen, seidigen Locken verliehen ihr einen düsteren Look, die langen, spitzen und schwarz lackierten Fingernägel rundeten das Aussehen ab. An jedem Finger trug sie mindestens einen Ring und um den Hals ein Meer aus Ketten.
»Könnten Sie mir bitte Ihr Telefon leihen? Ich habe mich verlaufen und muss meine Mutter anrufen.«
»Verlaufen also, hm?«
Die Frau stand direkt vor ihr; sie hatte die Hände in die Hüfte gestemmt und die Augenbrauen hochgezogen.
Leila nickte, doch die Frau runzelte die Stirn.
»Wie heißen Sie?«
»Leila. Leila Pierce.«
Ein überraschter Ausdruck erschien auf dem Gesicht der Frau und sie faltete die Hände vor der Brust.
»Wir waren der Auffassung, Sie würden uns mit Ihrer Anwesenheit nicht beehren«, sagte sie nachdenklich. »Folgen Sie mir!«
Sie drehte sich auf dem Absatz um und stieg die Marmortreppe empor. Leila wusste nicht, was die Frau damit meinte, folgte ihr aber. Sie musste fast rennen, um ihr hinterherzukommen. So eine seltsame Reaktion auf die Erwähnung ihres Namens hatte sie noch nie erlebt. Waren sie sich schon mal begegnet? Aber daran würde Leila sich garantiert erinnern. Immerhin hatte die Frau vor ihr ein einprägsames Aussehen.
Vor einer weißen Holztür blieb sie stehen und Leila wäre beinahe gegen sie gelaufen. Sie klopfte drei Mal, ein strenges »Herein« dröhnte aus dem Zimmer. Wie befohlen öffnete die Frau die Tür, trat einen Schritt vor und verharrte in der Tür.
»Machen Sie es kurz, ich habe eine Menge zu tun«, herrschte die weibliche Stimme sie an.
»Ms Pierce ist hier.«
»Remona? Was …« Doch die Frau, die Leila hergebracht hatte, unterbrach sie.
»Leila Pierce.«
Stille. Einen langen Augenblick herrschte Schweigen, bevor die Stimme erneut ertönte.
»Bringen Sie sie herein.«
Die Frau folgte der Anweisung, trat durch die Tür und forderte Leila mit einer Handbewegung ebenfalls zum Eintreten auf. Leila schritt durch die Tür und blieb dann stehen, um sich umzusehen. Offensichtlich waren sie in einem Büro. Doch im Gegensatz zu den Büroräumen, die Leila bisher gesehen hatte, wirkte dieses eher wie ein gemütliches Wohnzimmer. Den Boden bedeckten orientalische Teppiche, darauf standen Möbelstücke aus rötlichem Holz.
Der Raum war länglich, etwa in der Mitte getrennt durch volle Bücherregale, die nur einen schmalen Durchgang zum hinteren Teil des Zimmers freigaben, der erhöht und nur über eine Treppe erreichbar war. Die Wände rundum schienen ein einziges großes Bücherregal zu sein. Selbst über und unter den Fenstern zogen sich die vollen Regale entlang. Lediglich die Fenster hatte man ausgespart.
Der vordere Teil war ausgefüllt mit einer kleinen Sitzecke, bestehend aus einem runden Holztisch, einem olivgrünen Sofa und gegenüber zwei Stühlen mit dem gleichfarbigen Samtbezug. Hinter zwei Bücherregalen, die als Raumteiler dienten und zwischen denen eine Treppe auf einen erhöhten Absatz führte, erkannte Leila einen großen Schreibtisch, an dem die Frau saß, zu der die strenge Stimme gehörte.
»Leila! Welch freudige Überraschung. Setz dich«, sagte die ernst dreinschauende Frau. Ihre Haare hatte sie zu einem strengen Dutt gebunden, der graue Ansatz ging in ein dunkles Schwarz über. Sie erhob sich von ihrem Stuhl, ging um den Schreibtisch herum und über die Treppe zu ihnen nach unten. Die ovale goldene Brille, die sie gerade noch auf der Nase getragen hatte, hing jetzt an einer Gliederkette von ihrem Hals. Sie deutete auf die Sitzecke neben sich. Leila folgte der Bitte und sank in den weichen Stoff des Stuhles, als sie sich setzte.
»Deine Mutter hat ihre Meinung also geändert?«, fragte die Frau und nahm ihr gegenüber Platz.
Meine Mom? Wovon spricht diese Frau? Und woher kennt sie Mom?
»Ähm, entschuldigen Sie bitte, aber wer sind Sie?« Ein sanftes Lächeln breitete sich auf dem Gesicht der Frau aus.
»Oh, verzeih mir meine Unhöflichkeit! Mein Name ist Prudence Winterbuttom, ich bin die Schulleiterin.«
»Schulleiterin?«
»Ja, genau.«
Leila hätte in diesem Gebäude vieles vermutet, aber gewiss keine Schule. Wenigstens hatten sie mit ziemlicher Sicherheit ein Telefon. Sie seufzte erleichtert auf. Sie wollte so schnell wie möglich hier weg.
»Könnte ich bitte Ihr Telefon benutzen? Ich habe mich verlaufen und müsste zu Hause …«
»Verlaufen?«, unterbrach Mrs Winterbuttom sie und zog die Augenbrauen zusammen.
Leila nickte. Mrs Winterbuttom lehnte sich zurück und musterte Leila nachdenklich. Schon wieder so eine seltsame Reaktion.
»Du bist also nicht wegen deiner Einladung gekommen?«, fragte sie nach längerem Warten.
»Welche Einladung?«
»Hm«, gab Mrs Winterbuttom von sich und starrte Leila weiterhin an. Anschließend herrschte ein kurzes Schweigen.
»Kaum zu glauben …«
»Ähm, verzeihen Sie, aber was ist kaum zu glauben«, fragte Leila. Sie verstand nichts von dem, was die Frau sagte.
»Kaum zu glauben, dass du offenbar keine Ahnung hast, wo du hier bist.« Leila erwartete eine Erklärung, doch Mrs Winterbuttom schaute sie nur mit ernstem Ausdruck im Gesicht an.
»Wo genau bin ich denn hier?«
»In der Magieschule ›Elathi‹.«
Magieschule? Magieschule!
Kurz überlegte Leila, ob ihr am Eingang die Beschilderung mit dem Wort ›Psychiatrie‹ entgangen war, aber dann hätte sie ja Ärzte oder Pfleger sehen müssen. Die gab es in einer Psychiatrie doch sicher, oder?
»Dein Gesichtsausdruck verrät so einiges, aber vor allem, dass du keine Ahnung hast, wovon ich rede«, gluckste Mrs Winterbuttom. Leila hingegen war nicht zum Lachen zumute. Sie starrte Mrs Winterbuttom nur an und kaufte ihr kein Wort ab.
Magieschule? Was für ein Schwachsinn!
Das Glucksen verstummte und Mrs Winterbuttoms strenge Miene kehrte zurück.
»Oh, du glaubst mir nicht.« Das war eine Feststellung, keine Frage. Sie warf einen kurzen Blick zu der Frau, die Leila hergeführt hatte und wieder zurück.
Mrs Winterbuttom grinste, schüttelte dann die Ärmel ihres tanngrünen Mantels nach hinten und schnipste mit den Fingern. Weißer Dunst floss aus ihrem Finger, formte sich zu einem winzigen Tornado wenige Millimeter über dem Tisch. Der Dunst legte sich und eine dampfende Kanne und drei Teeservice erschienen aus dem Nichts auf dem Tisch. Leila keuchte und riss die Augen auf.
Das hab ich mir doch eingebildet!
Mrs Winterbuttom schnippte erneut mit der rechten Hand. Wieder erschien weißer Dunst und schlang sich um die Kanne, die sich in die Luft erhob, in alle drei Tassen Tee eingoss und wieder zurück auf die Tischplatte sank.
»Willst du mir damit sagen, dass du noch nie etwas über Fortmedow oder Elathi gehört hast?«
Der Dunst war verschwunden; Mrs Winterbuttom nahm sich eine Tasse. Leila schüttelte den Kopf.
Die Augen von Mrs Winterbuttom wurden so groß, dass Leila Angst hatte, sie würden ihr gleich aus dem Gesicht fallen.
»Das überrascht mich«, flüsterte sie, nahm einen Schluck aus der Tasse und stellte sie dann wieder auf dem Tisch ab.
»Hat dir Remona nie erzählt, dass du eine Hexe bist?«
Eine Hexe? Die hat doch nicht mehr alle Latten am Zaun …
»Remona? Sie meinen meine Mutter?« Leila war der festen Überzeugung, dass sie in eine Psychiatrie oder so was geraten sein musste. Das war die einzig vernünftige Erklärung. Die einzige Erklärung, die sie gelten ließ.
»Genau. Ich weiß aus ihrem Brief, dass sie dich nicht auf die Schule schicken will, aber dass sie dir nicht einmal davon erzählt hat ...«
Mrs Winterbuttom schüttelte den Kopf.
»Unglaublich«, hörte sie die andere Frau sagen, die immer noch an der Tür stand.
»Du bist eine Hexe, Leila. Ebenso wie deine Schwester, deine Mutter und dein Vater«, sagte Mrs Winterbuttom mit ruhiger Stimme und beäugte Leila genau.
»Es gibt keine Hexen«, sagte Leila und verschränkte die Arme vor der Brust. Wenn es keine Psychiatrie war, dann mit Sicherheit eine versteckte Kamera. Das konnte nicht wahr sein.
»Ms Abernathy, setzen Sie sich bitte. Ich fürchte, das dauert länger.« Die Frau, die an der Tür gestanden war, setzte sich nun neben sie auf den freien Stuhl. Ihr Lächeln für Leila war einerseits freundlich, andererseits schien es auch mitleidig. Dann dachte Leila wieder an das, was Mrs Winterbuttom zuvor gesagt hatte.
»Meine Eltern sollen Hexen sein?«
»Oh, ja, noch dazu äußerst talentierte.«
Leila zog die Augenbrauen hoch. Sie versuchte, sich ihre Mutter an einer Schule für Magie vorzustellen, doch das war unmöglich. Ihre Mutter war eine dieser Personen, die sie sich am wenigsten als Hexe vorstellen konnte. Noch nicht mal als eine verkleidet an Halloween. Sie dachte an die Truhe auf dem Dachboden zurück und allmählich schwanden ihre Zweifel an der Echtheit der Aussagen von Mrs Winterbuttom. Trotzdem konnte sie es nicht begreifen.
»Das muss eine Verwechslung sein«, versuchte sie es erneut.
»Das ist es nicht. Ich kenne deine Eltern sehr gut, sie waren auch meine Schüler. An meinem ersten Jahr als Lehrerin hier an der Schule. Außerdem bist du hier. Und das Portal nach Fortmedow kann nur mit Magie geöffnet werden«, sagte Mrs Winterbuttom in ruhigem Ton.
Portal?