Leise, stirb leise & Morgen stirbst du - Reinhard Rohn - E-Book

Leise, stirb leise & Morgen stirbst du E-Book

Reinhard Rohn

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Beschreibung

Die ersten beiden Fälle von Lena Larcher erstmals in einem E-Book Bundle!


Leise, stirb leise

Ein Mörder wird zum Opfer

Als junger Mann wurde er zum Mörder, doch er wurde nie gefasst. 26 Jahre lang lebt er seitdem unentdeckt als angesehenes Mitglied der Gesellschaft, als Ehemann und Familienvater ein geordnetes Leben. Dann holt ihn jedoch die Vergangenheit ein: In Köln wird eine Prostituierte tot aufgefunden, ermordet nach »seinem« Muster von damals.

Dieses Mal ist er unschuldig, doch ein skrupelloser Erpresser schwört Rache. Und der Countdown läuft. Für Kommissarin Lena Larcher ein Fall, der sie an ihre beruflichen und persönlichen Grenzen treibt. Denn auch sie kämpft mit Gespenstern der Vergangenheit ...


Morgen stirbst du

Sie alles verloren. Jetzt kämpft sie ums Überleben.

Ein Jahr ist vergangen, seit Hauptkommissarin Lena Larcher Mann und Sohn bei einem Autounfall verloren hat. Nur mühsam kämpft sie sich zurück ins Leben und in den Beruf. In einer Trauerbewältigungsgruppe begegnet sie einem Mann, der ihr Interesse weckt. Doch kurz darauf wird dieser tot in einem heruntergekommenen Hotel in Köln aufgefunden. Lena ist die Einzige, die nicht an einen Selbstmord glaubt.

Beharrlich verfolgt sie eine gefährliche Spur und erkennt zu spät, dass sie in eine Falle gelockt wird ...

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Über das Buch

Leise, stirb leise

Ein Mörder wird zum Opfer

Als junger Mann wurde er zum Mörder, doch er wurde nie gefasst. 26 Jahre lang lebt er seitdem unentdeckt als angesehenes Mitglied der Gesellschaft, als Ehemann und Familienvater ein geordnetes Leben. Dann holt ihn jedoch die Vergangenheit ein: In Köln wird eine Prostituierte tot aufgefunden, ermordet nach »seinem« Muster von damals.

Dieses Mal ist er unschuldig, doch ein skrupelloser Erpresser schwört Rache. Und der Countdown läuft. Für Kommissarin Lena Larcher ein Fall, der sie an ihre beruflichen und persönlichen Grenzen treibt. Denn auch sie kämpft mit Gespenstern der Vergangenheit ...

Morgen stirbst du

Sie alles verloren. Jetzt kämpft sie ums Überleben.

Ein Jahr ist vergangen, seit Hauptkommissarin Lena Larcher Mann und Sohn bei einem Autounfall verloren hat. Nur mühsam kämpft sie sich zurück ins Leben und in den Beruf. In einer Trauerbewältigungsgruppe begegnet sie einem Mann, der ihr Interesse weckt. Doch kurz darauf wird dieser tot in einem heruntergekommenen Hotel in Köln aufgefunden. Lena ist die Einzige, die nicht an einen Selbstmord glaubt.

Beharrlich verfolgt sie eine gefährliche Spur und erkennt zu spät, dass sie in eine Falle gelockt wird ...

Über Reinhard Rohn

Reinhard Rohn wurde 1959 in Osnabrück geboren und ist Schriftsteller, Übersetzer, Lektor und Verlagsleiter. Seit 1999 ist er auch schriftstellerisch tätig und veröffentlichte seinen Debütroman "Rote Frauen", der ebenfalls bei Aufbau Digital erhältlich ist.

Die Liebe zu seiner Heimatstadt Köln inspirierte ihn zur seiner spannenden Kriminalroman-Reihe über "Matthias Brasch". Reinhard Rohn lebt in Berlin und Köln und geht in seiner Freizeit gerne mit seinen beiden Hunden am Rhein spazieren.

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Reinhard Rohn

Leise, stirb leise & Morgen stirbst du

Die ersten beiden Fälle von Lena Larcher erstmals in einem E-Book Bundle!

Inhaltsverzeichnis

Informationen zum Buch

Informationen zum Autor

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Leise, stirb leise

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

Danksagung

Morgen stirbst du

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Epilog

Nachbemerkung

Impressum

Reinhard Rohn

Leise, stirb leise

Kriminalroman

»Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich; jede unglückliche Familie jedoch ist auf ihre besondere Weise unglücklich.«

Lew Tolstoi, Anna Karenina

Prolog

Vor sechsundzwanzig Jahren

Ich muss sie töten, dachte er, töten, weil ich sie liebe.

Sonst würde er sich nie von ihr befreien können. Er würde ständig an sie denken, wie sie auf dem schwarzen Satin lag, mit diesem Funkeln in den hellblauen, halb gesenkten Augen, wie sie sich mit der Zunge über die roten Lippen fuhr und wie sie die Beine um ihn schloss. Ja, er musste sie auslöschen, um sie zu vergessen und frei zu sein.

In drei Wochen würde er heiraten – dann musste sie tot sein, seine schmutzige, heimliche Geliebte.

Sie nannte sich Fleur, aber er wusste, dass sie eigentlich Helga hieß – Helga Rothmann. Sie war einmal Schauspielerin gewesen, die ein paar kleinere Rollen im Fernsehen und am Theater gehabt hatte, aber nun war sie einundfünfzig, eine alte Hure, vom Leben gezeichnet. Trotzdem hatte sie ihn sofort fasziniert, als er in die Kneipe unten am Thürmchenswall gekommen war. Es hatte geregnet, und sie hatte an der Theke gestanden und einen Kaffee getrunken, aus einer kleinen weißen Tasse, auf der ein Abdruck ihres Lippenstifts zu sehen war. Ihre Fingernägel waren grellrot lackiert gewesen. Geziert hatte sie die Tasse umfasst und ihn angelächelt. Heiß und kalt hatte es ihn durchfahren – ältere Frauen hatten ihm immer schon gefallen, bereits in der Schule hatte er sich nicht selten in seine Lehrerinnen verliebt. Doch noch nie hatte er bei einer älteren Frau gelegen.

Zwei Stunden später hatte er in ihrem Apartment an der Dagobertstraße den schönsten Orgasmus seines Lebens erlebt. »Komm wieder, Kleiner«, hatte sie ihm zugeflüstert. »Diesmal war es umsonst – beim nächsten Mal kostet es aber was.«

So hatte es begonnen. Ein-, zweimal die Woche war er zu ihr gegangen – wann immer er es sich leisten konnte. Sie hatten nie viel geredet, er liebte ihren bereits verblühten Körper, ihre üppigen Brüste, ihre Falten am Hals, ihr blond gefärbtes Haar, die Art, wie sie ihn ansah, spöttisch und ein wenig desillusioniert.

Sie hatte einen Bann über ihn geworfen – den Bann der erfahrenen Frau, die sich nichts mehr erhoffte, keine Liebe, keine Träume.

Doch nun würde er die Geschichte abschließen. Er konnte nicht die junge, unschuldige Alma heiraten und weiterhin zu einer Hure gehen. Unmöglich. Alma wollte Kinder kriegen, sie wollte ein Haus, einen Garten …

Er hatte sich für zwanzig Uhr angekündigt – der letzte Gast an diesem Tag. Es sollte alles wie immer sein, nur dass er diesmal ein Abschleppseil dabeihatte und einen kleinen Benzinkanister, beides in einer Segeltuchtasche versteckt. Er musste äußerst umsichtig vorgehen, durfte keine Spuren zurücklassen.

Fleur hatte das Apartment in der vierten Etage, Dagobertstraße 38. Im Sommer konnte man bei offenem Fenster hören, wie die Studenten in der Musikhochschule übten.

Was wusste Fleur von ihm? Dass er Student war, dass er von ihr fasziniert war … nichts sonst.

Sie empfing ihn in einem weißen Bademantel. Sie sah müde aus, als sie ihn umarmte. Um ihren Mund war eine neue Falte entstanden. Ihr bläulicher, altmodischer Lidschatten war ein wenig zerlaufen. Zu Beginn ihrer Bekanntschaft hatte sie sich mehr Mühe gegeben, ihn zu betören.

Sie tranken ein Glas Sekt, der zu warm und billig war, dann zogen sie sich aus. Zum ersten Mal spürte er, dass er nervös war.

»Ich heirate bald«, sagte er, während er sich über sie legte. Sie roch nach Parfüm und Schweiß.

»Herzlichen Glückwunsch«, hauchte sie, »dann muss ich dich noch mal richtig rannehmen.«

Er lächelte, sie konnte manchmal ziemlich ordinär sein. Er küsste sie am Hals und spürte, wie er steif wurde, doch viel langsamer als sonst.

»Was ist?«, flüsterte sie ein wenig spöttisch. »Liebst du mich nicht mehr?«

Er dachte daran, wie ihre Wohnung brennen würde und dass er sich beeilen musste, um davonzukommen.

»Ich möchte, dass wir uns die Augen verbinden«, sagte er. »Was hältst du davon?«

Er wusste, dass sie zwei Stammkunden hatte, die auf eine solche Nummer standen.

Sie nickte und beugte sich vor, dann hatte sie schon zwei Schlafmasken in der Hand, die sie griffbereit in einer Schublade ihres Nachttisches aufbewahrte.

»Und dass wir uns fesseln«, fuhr er fort. »Erst fessele ich dich an das Bett, dann du mich.«

Erstaunt schaute sie ihn an. »Möchtest noch mal was Neues ausprobieren, was?«

Er nickte.

Als sie gefesselt und mit der Schlafmaske vor den Augen im Bett lag, holte er das Abschleppseil hervor.

»Was tust du?«, rief sie und wandte blind den Kopf. Unruhe hatte sich in ihre Stimme geschlichen. Sie war eine erfahrene Frau, die einen Sinn für Gefahr hatte.

»Ich liebe dich«, sagte er, als er sich über sie beugte und ihr das Seil um den Hals legte. »Deshalb musst du mir verzeihen.«

Sie war schneller als er – sie brachte es noch fertig, einen schrillen, beinahe unmenschlichen Schrei auszustoßen, bevor er das Seil mit aller Kraft zuziehen konnte. Ihr Körper bäumte sich auf, sie schlug mit den Beinen um sich, riss an ihren Fesseln, warf den Kopf hin und her, gab röchelnd Flüche von sich. Es dauerte viel länger, bis ihr Körper schlaff wurde, als er es sich vorgestellt hatte.

Für einen Moment, während er zu schwitzen begann und sein Herz bis in den Kopf hämmerte, hatte er das Gefühl, die Sache nicht durchzustehen – er musste aufhören und sie am Leben lassen, doch dann dachte er an seine Hochzeit. Er musste diese schmutzige Affäre hinter sich lassen.

Endlich wich die Kraft aus ihrem Körper. Er schaute sie nicht mehr an, während er sich anzog und hektisch das Benzin in der Wohnung verteilte. Er musste sich beeilen. Er hatte Angst, dass jemand sie gehört hatte. Der Teppich und die Laken fingen sofort Feuer. Alles schien nach Plan zu laufen, doch ihren Schrei hatte er noch im Ohr, als er schon wieder auf der Straße war und am Rhein entlang in Richtung Bahnhof ging.

Und diesen Schrei würde er in den nächsten Jahren nicht mehr loswerden.

1.

Um neun Uhr, hatte Gerald Bohl gesagt, der Kriminaldirektor. Sie solle um neun Uhr ihren Dienst antreten. Sie würde einen Schreibtisch haben und von ihrem Kollegen Henning Mahn eingewiesen werden. Sie solle die Sache ruhig angehen – neun Monate Pause seien keine Kleinigkeit. Der Fall, um den sie sich kümmern solle, sei eigentlich eingestellt worden – eine Frau sei vor über einem Jahr spurlos verschwunden, eine Zeitungszustellerin, die morgens auf ihrer Runde in Riehl wahrscheinlich ihrem Mörder oder einem geheimen Liebhaber begegnet sei, mit dem sie ihr normales Leben verlassen habe. Keine große Angelegenheit, aber das Richtige, um wieder in die alltägliche Polizeiarbeit zu finden. Und wenn die Sache zu anstrengend für sie sei, solle sie sich direkt bei ihm melden.

Ein kurzes, freundliches Telefonat.

Erst nachdem Lena Larcher aufgelegt hatte, war ihr aufgefallen, dass ihre Hände zitterten. Dann hatte die Glocke von Sankt Agnes geschlagen, und sie war zusammengezuckt.

Nach neun Monaten würde sie wieder ins Präsidium gehen – sie galt als gesund, zumindest dienstfähig. Von ihren Kopfschmerzattacken und den gelegentlichen Sehstörungen hatte sie nichts gesagt. Sie musste wieder arbeiten – raus aus der Wohnung, aus den Erinnerungen. Wenn sie die Kraft fände, würde sie auch endlich aus der Wohnung ausziehen, die nun, da Robert und Simon tot waren, viel zu groß für sie war.

Insgeheim wusste sie, dass ihr Vater dahintersteckte – der legendäre Hauptkommissar Georg Larcher, der vor über dreißig Jahren das entführte Mädchen eines Großindustriellen aufgespürt und gerettet hatte. Ihr Vater hatte mit Bohl gesprochen und ihm gesagt: Meine Tochter wird zu Hause verrückt, sie muss wieder arbeiten, findet etwas für sie.

Der Himmel war bewölkt, ein unfreundlicher Oktobertag in Köln. Die Uhr zeigte bereits zwanzig nach acht. Sie sollte sich beeilen, wollte sie nicht zu spät kommen.

Sie hatte nur einen Kaffee getrunken, und irgendwie, während sie sich auf den Weg nach Kalk zum Präsidium machte, hatte sie das Gefühl, gleich kein Wort herauszubringen. Es hatte in den letzten Monaten Tage gegeben, an denen sie nicht ein einziges Wort gesprochen hatte.

Was wäre, wenn Mahn ihr den Autoschlüssel in die Hand drücken würde, damit sie zu einem Einsatzort fuhr? Wieder durchlief sie ein Schauder. Daran hatte keiner gedacht, dass sie nach dem Unfall nicht mehr hinter einem Steuer gesessen hatte. Wahrscheinlich würden sich die stechenden Kopfschmerzen sofort wieder einstellen, sobald sie nur den Zündschlüssel herumdrehen würde.

An der Pforte im Präsidium erkannte man sie noch. Sie zückte ihren Dienstausweis und wurde mit einem freundlichen Lächeln durchgewinkt.

Sie atmete erleichtert auf, als wäre damit tatsächlich eine erste Hürde genommen.

Der Gang, auf dem die Mordkommission lag, war verlassen. Aus einer offenen Tür war ein Radio zu hören – die Neun-Uhr-Nachrichten. Sie war also pünktlich. Eine junge Frau mit grellrot gefärbten Haaren eilte aus dieser Tür, ein paar Computerausdrucke in der Hand, und stockte kurz. Dann nickte sie und streckte ihre Hand aus. »Ich bin Mona – Mona Beckmesser. Ihre Assistentin.«

Lena ergriff, ebenfalls lächelnd, die Hand der jungen Frau und dachte gleichzeitig, dass sie diesen Tag nicht durchstehen würde.

»Henning wartet schon«, sagte Mona. »Sie müssen gleich los – alle sind krank. Ganz Köln hat offenbar die Grippe.« Sie zuckte mit den Achseln und lächelte wieder. Zwischen ihren Schneidezähnen war eine kleine Lücke zu sehen. Sie war allenfalls Mitte zwanzig, wahrscheinlich frisch von der Polizeischule, und trug winzige rote Stecker im Ohr und rote Leinenturnschuhe.

»Ich dachte, ich übernehme einen alten Fall«, sagte Lena.

»Hat sich geändert«, erwiderte Mona und schob Lena förmlich in ein Büro hinein. Es war zum Glück ein anderes, nicht ihr altes. In der Ferne sah sie die Spitzen des Doms.

Henning Mahn saß an seinem Schreibtisch vor Schwarz-Weiß-Fotos und blickte auf, als Lena hereinkam. Er erhob sich mit einem Seufzen und ging auf sie zu, um sie wie eine Verwandte, die er lange nicht gesehen hatte, zu umarmen. Er war dünner geworden, wirkte ein wenig ausgezehrt. Trotzdem war er mit seinen dichten braunen Haaren immer noch ein attraktiver Mann von Anfang fünfzig. Sie erinnerte sich, dass er sie kurz nach dem Unfall ein-, zweimal angerufen hatte, um sie zu trösten, aber sie hatte nie lange mit ihm gesprochen.

»Lena«, sagte er, »schön, dass du zurück bist. Wir haben gleich Arbeit, viel Arbeit.«

Mona war bereits wieder hinausgegangen. Vom Gang waren Stimmen zu hören, die sich jedoch nicht näherten.

»Ein neuer Fall?«, fragte sie und ging zu dem zweiten Schreibtisch, der völlig leer war. Ein Computer, ein Telefon – mehr befand sich da nicht.

»Leider – ich wollte dich schon anrufen. Gestern, spätabends. Ein Brand in einer Wohnung am Eigelstein. Eine tote Frau, wurde wahrscheinlich erdrosselt, bevor das Feuer gelegt wurde.« Er seufzte wieder. »Larsen und Wiegand sind beide krank – schwere Grippe. Haben sich gegenseitig angesteckt.«

Lena setzte sich auf den Schreibtischstuhl. Ich kann das alles nicht, sagte eine Stimme in ihr. Doch was willst du sonst anfangen mit deinem Leben?, flüsterte eine andere.

»Gut«, sagte sie mit fester Stimme. »Ich bin bereit. Wohin müssen wir?«

Mahn lächelte. »Ich hole uns einen Kaffee und bringe dich auf den neuesten Stand. Ich bin sicher, wir werden gut zusammenarbeiten.«

Sie fuhren nach Köln hinein. Zum Glück hatte sich Henning Mahn hinter das Steuer ihres Dienstwagens gesetzt. Sie konnte sein Aftershave riechen. Er begann zu erzählen, dass er wieder Bass spiele, in einer richtigen Rockband. Irgendwie hatte sie das Gefühl, dass er sie beeindrucken wollte – und dass etwas mit seiner Ehe nicht stimmte. Wie hatte seine Frau geheißen? Anna oder Annelie? Sie wusste es nicht mehr. Eine dünne, ausgemergelte Frau, die aussah, als würde sie dreimal in der Woche ins Fitnessstudio gehen.

»Hast du eigentlich Kinder?«, fragte sie, als er am Ring in den Eigelstein abbog. Sofort bedauerte sie die Frage – sie hätte es eigentlich wissen müssen.

»Drei«, erwiderte er. »Sind aber schon flügge.«

Dann hatten sie den Tatort erreicht. Ein hässliches Mietshaus, das wohl noch aus den Fünfzigerjahren stammte. In der dritten Etage war ein Fenster eingeschlagen worden, die Fassade war verrußt.

»Also«, sagte Henning mit aufgesetzter Fröhlichkeit, während er den Motor abstellte, »unser erster gemeinsamer Fall. Die Kollegen von der Technik sind noch bei der Arbeit, aber die Leiche ist seit heute Morgen in der Rechtsmedizin.«

»Wann wurde die Frau entdeckt?«, fragte Lena.

»Gestern um dreiundzwanzig Uhr ging der Notruf ein.«

Die Haustür stand offen. Ein dunkles, muffiges Treppenhaus empfing sie. Lena ließ Henning den Vortritt. Jeweils zwei Wohnungstüren passierten sie auf den Etagen. Lena versuchte, sich die Namen der Bewohner zu merken, aber der Blick verschwamm ihr, und der rasende Kopfschmerz, der sie seit dem Unfall immer wieder heimsuchte, stach ihr in den Schädel.

Nicht jetzt, dachte sie, nur nicht jetzt – sie musste sich konzentrieren.

Die Wohnungstür war eingetreten und aus den Angeln gerissen worden und stand gegen die Wand gelehnt im Flur. Es roch nach Rauch und dem chemischen Löschmittel der Feuerwehr.

»Hallo«, rief Mahn und trat ein. Drei Männer der Spurensicherung waren bei der Arbeit. Zwei drehten sich nach ihnen um und nickten ihnen zu. Sie waren jung, kaum dreißig. Lena kannte sie nicht. Der dritte Mann war Jürgen Weiler, er war Anfang sechzig, ein dünner, baumlanger Kerl, der bereits mit ihrem Vater zusammengearbeitet hatte. Als er Lena erkannte, lächelte er und hob die Hand.

»Bist du endlich wieder an Bord?« Er kam auf sie zu und deutete eine ungeschickte Umarmung an, obwohl er seinen weißen Papieranzug trug.

»Seit heute«, gab sie leise zurück.

Dann schaute sie sich um. Hier war ein Mensch zu Tode gekommen, aber davon war nichts zu spüren, wie sie das sonst von einem Tatort kannte. Der Täter hatte versucht, seine Spuren zu verwischen. Das Feuer hatte ein Doppelbett zerstört, die Matratze war fast vollständig verbrannt, nur ein paar verkohlte Metallfedern ragten noch heraus. Das Bettgitter war teilweise geschmolzen. Auch ein Schrank war verbrannt. Hier und da standen noch Pfützen des Löschwassers. Scherben lagen auf dem Boden. Durch das eingeschlagene Fenster drang frische Luft herein.

»Der Experte der Feuerwehr ist schon abgezogen«, sagte Weiler an Lena gewandt. »Eindeutig Brandstiftung. Der Täter hat sogar den Benzinkanister dagelassen. Hat sich keine Mühe gegeben, etwas zu vertuschen.«

Lena wandte sich um. »Wie viele Zimmer hat die Wohnung?«

»Nur dieses Zimmer, eine kleine Küche und ein Bad«, antwortete Weiler.

»War die Tote eine Domina?«, fragte Lena.

Mahn schaute sie an und zog die Augenbrauen in die Höhe. »Eine Domina – wie kommst du darauf?«

Sie deutete auf ein verkohltes Holzkreuz an der Wand. »Wenn ich mich nicht irre, nennt man dieses Holzgebilde Andreaskreuz – es wird gerne von Dominas zur Erbauung ihrer Kundschaft verwendet.«

»Wieso kennst du dich mit so etwas aus?«, fragte Mahn.

Statt zu antworten, verließ Lena das Zimmer und öffnete die Tür zum Bad, in dem das Feuer nicht gewütet hatte. Es war klein, kaum drei Quadratmeter groß, ein dunkler fensterloser Raum. Eine Toilette, eine Dusche, ein Waschbecken mit einem Spiegelschrank. Da das Licht nicht funktionierte, sah sie ihr Gesicht als Halbschatten im Spiegel. Ihr halblanges blondes Haar schimmerte kurz auf, als sie den Schrank öffnete. Kosmetika, Schmerztabletten, drei Schachteln Kondome in verschiedenen Größen, eine Haarbürste, in der lange blonde Haare steckten, eine benutzte Zahnbürste, Zahnpasta. Mehr war hier nicht zu finden. Auf einem schäbigen Holzstuhl standen eine Dose mit Erfrischungstüchern und eine angebrochene Küchenrolle. Hier würde die Spurensicherung höchstwahrscheinlich eher fündig werden.

Sie verließ den Raum und hörte, wie Mahn mit Weiler redete. Hatten sie etwas von Bedeutung gefunden – ein Mobiltelefon, eine Handtasche, ein Notizbuch?

»Bisher nichts«, antwortete Weiler. »Ein Notizbuch wäre mit Sicherheit auch verbrannt. In dem Nachttisch hat ein kleines Kreuz aus Bronze gelegen. Wenn dir das hilft …«

»Eine katholische Domina«, sagte Mahn und lachte.

Auch die kleine Küche hatte das Feuer verschont. Allerdings überzog eine dünne Schicht Ruß den billigen Küchentisch, zwei Holzstühle, zwei Hängeschränke, eine schmale Arbeitsplatte mit einer schmutzigen Kaffeemaschine und eine Spüle, in der eine saubere Tasse mit dem FC-Logo stand. Einen Herd gab es nicht, lediglich einen Kühlschrank, in dem Lena drei Flaschen Sekt, vier Flaschen Mineralwasser und einen offenen Joghurt vorfand. Gewohnt hatte die tote Frau in dieser Wohnung nicht – dieses Apartment war ihr Arbeitsplatz gewesen. Vermutlich war sie keine Domina, sondern eine gewöhnliche Prostituierte, die hier auf eigene Rechnung arbeitete. Eine Domina benötigte eine Menge Utensilien, etwa eine Streckbank, einen Strafbock. Das alles konnte nicht verbrannt sein.

Henning Mahn tauchte in der Tür zur Küche auf.

»Wissen wir schon, wer die Tote ist?« Lena öffnete einen der Hängeschränke. Ein paar Tassen und Teller standen da, sonst nichts.

»Ich war heute Nacht nur kurz vor Ort«, sagte Henning und hob die Hände, als müsste er sich rechtfertigen. »Da herrschte das reine Chaos. Drei Feuerwehrwagen … Man konnte die Wohnung noch nicht betreten. Und die anderen Mieter waren evakuiert worden. Wir wissen aber, wer die Wohnung gemietet hat.« Er zog ein abgegriffenes schwarzes Notizbuch aus der Tasche. »Eva Helmes, geboren am 12. April 1961 in Köln.«

Eine Hure, die schon verdammt lange im Geschäft war, dachte Lena. Dann fiel ihr etwas ein – ein eigentlich unliebsamer Gedanke. »Wie ist die Frau genau getötet worden?«, fragte sie. »Wissen wir das schon? Hat der Täter vielleicht ein Abschleppseil benutzt?«

»Ein Abschleppseil?« Mahn zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung, doch in der Rechtsmedizin werden sie es bestimmt wissen.«

Wann hatte sie ihren Vater zuletzt gesehen? Sie konnte sich nicht genau erinnern. Bei der Beerdigung von Robert und Simon, gewiss, das war allerdings neun Monate her. Danach hatte er ein paarmal angerufen, sie hatte jedoch, wenn sie seine Nummer auf dem Display gesehen hatte, gleich wieder aufgelegt. Sie wollte seinen Trost nicht – er war nie ein Ehemann oder Vater gewesen, der trösten konnte. Dazu war er zu sehr Polizist gewesen, den sie manchmal wochenlang kaum zu Gesicht bekommen hatte. Auch von der Krankheit ihrer Mutter, die sie mehr und mehr auszehrte, hatte er anfangs kaum Notiz genommen. Erst als es längst zu spät gewesen war, hatte er sich drei Wochen Urlaub gestattet. Doch zu einer Schiffsreise die norwegischen Fjorde hinauf hatte es nicht mehr gereicht. Eine kleine Tour über den Rursee – mehr hatte er seiner vom Krebs gezeichneten Frau nicht mehr bieten können.

Über seine Arbeit hatte er kaum geredet, ein Fall allerdings hatte ihm großes Kopfzerbrechen bereitet: der Mord an einer Prostituierten vor sechsundzwanzig Jahren. Die Frau war mit einem Abschleppseil erdrosselt worden. Anschließend hatte der Täter sie mit Benzin übergossen und angezündet. Daran erinnerte Lena sich genau, sie war gerade sechzehn Jahre alt gewesen, und am Tag des Mordes hatte sie mit David, ihrem ersten Freund, geschlafen, in einem kleinen Gartenhaus am Rande des Beethovenparks. Seiner Großmutter hatte das Haus gehört, es hatte nach Stroh gerochen, und in der Nähe hatte ein alter Bär gebrüllt, der in einem winzigen Käfig, der zu einem Privatzoo gehörte, eingesperrt gewesen war.

Mahn war kaffeesüchtig. Kaum hatten sie die Wohnung verlassen, musste er sich nach einer Kaffeebude umsehen. Lena ließ ihn gehen. Sie klingelte an zwei Türen im Haus, doch niemand öffnete. Erst in der Wohnung im Parterre traf sie jemanden an. Eine alte Frau in einem bunt gemusterten Kittel sah sie feindselig an. »Was wollen Sie?«, stieß sie hervor. »Ich gehe nirgendwohin. Mich kriegt hier keiner aus der Wohnung.«

Lena zückte ihren Ausweis, eine Bewegung, die ihr guttat und Sicherheit verlieh, wie sie selbst bemerkte. »Die Frau in der dritten Etage«, sagte sie. »Eva Helmes … haben Sie die Frau gekannt?«

Die Alte verzog den Mund. Lena blickte auf das Klingelschild neben der Tür. »H. Krott«, stand da. »Sie war eine Nutte, hat sich Marlise genannt. Warten Sie …« Überraschend flink drehte die alte Frau sich um und verschwand in ihrer Wohnung. Als sie zurückkehrte, hielt sie ein Stück Papier in der Hand. »Ich weiß, dass Marlise tot ist. Ist sie verbrannt, oder hat jemand ihr was angetan?« Ohne eine Antwort abzuwarten, hielt sie Lena ein Farbfoto hin. Eine Frau in einer roten Bluse mit zurückgekämmten, blond gefärbten Haaren stand neben der Alten und hatte den Arm um sie gelegt. Die Frau lächelte, sie hatte makellos weiße Zähne, ihr Lachen wirkte jedoch geziert und ein wenig müde. Sie hatte einen großen, wie aufgemalten Leberfleck am linken Mundwinkel. Eine schöne Frau, die ein wenig in die Jahre gekommen war.

»War mein fünfundsiebzigster Geburtstag, letztes Jahr im Mai«, sagte die Alte. »Da ist Marlise extra gekommen, um mir zu gratulieren. Hat mir eine Flasche Sekt geschenkt. Sonst hatten wir nicht viel Kontakt.«

»Haben Sie gesehen, wer zu ihr gegangen ist? Welche Freier sie hatte?« Mit einem freundlichen Nicken steckte Lena das Foto ein.

»Da waren manchmal Männer – sind gleich hoch in die Wohnung.« Die Alte verzog wieder den Mund. »Viele waren es aber nicht mehr.«

»Wissen Sie, wo Marlise gewohnt hat?«, fragte Lena.

Henning tauchte wieder in der offenen Haustür auf, einen Pappbecher mit Kaffee in der Hand.

Die Alte starrte zu ihm hinüber, dann blickte sie Lena an. »Ich weiß nicht genau … Können Sie morgen wiederkommen? Mir ist ganz schwindlig von der Aufregung. Die Frau aus dem Blumenladen hat gesagt, dass die Leiche abtransportiert worden ist.«

»Sie wissen nicht, wo Marlise gewohnt hat?«, fragte Lena erneut. »Es könnte wichtig sein.«

»Doch. In Mülheim, in einem neuen Apartmenthaus mit Blick auf den Rhein. Hat sie mir mal voller Stolz erzählt.«

Henning fuhr und telefonierte gleichzeitig. Offenbar war er zu Hause ausgezogen, jedenfalls versuchte er, einen gebrauchten Herd zu kaufen, und feilschte um den Preis.

Lena hielt das Foto von Eva Helmes in der Hand. Eine schöne Frau, zweifellos. Mit blauen Augen, einem offenen, klaren Blick und einem makellos geformten Mund, aber in ihren Gesichtszügen lag ein Hauch Verzagtheit oder Enttäuschung. Eine Frau, die viel erlebt hatte. Und nun war sie tot – erdrosselt, wenn ihre Vermutung stimmte.

Warum tötete jemand eine Prostituierte? Weil er nicht bezahlen wollte? Wohl kaum.

»Ich brauche auch noch einen Kühlschrank«, sagte Henning ins Telefon. »Ist mir egal, ob der neu ist.« Nachdem er das Telefonat beendet hatte, blickte er Lena an. »Ich habe mich getrennt.« Er zögerte. »Na ja, meine Frau hat mich rausgeworfen. Ich habe Schulden gemacht. Ich hatte da so eine Phase, in der ich …«

Lena wandte den Blick. Sie wollte nicht wissen, warum Henning hinausgeworfen worden war. »Ich verstehe«, sagte sie leise. Dann schaute sie das Foto wieder an. »Kannst du Mona anrufen? Wir müssen herausfinden, wo Eva Helmes gewohnt hat. Irgendwo in Mülheim. Jemand muss die Wohnung öffnen.«

Henning nickte. Dann bog er scharf ab. Das rechtsmedizinische Institut lag am Melatengürtel, ein Stück hinter dem Friedhof. Drei Tage war sie nun nicht mehr am Grab gewesen – auch das gehörte zu ihrer Strategie, wieder gesund zu werden. Sie hatte sich zu lange unter Toten aufgehalten. Nach dem Unfall war sie wochenlang durch die Wohnung gelaufen, hatte Roberts Lieblingsmusik – Depeche Mode – gespielt oder den Fernseher laufen lassen und so getan, als wären ihr Mann und ihr Sohn nur kurz zum Fußball oder zum Einkaufen gegangen und würden gleich zurückkehren, atemlos und lächelnd in der Tür stehen.

»Wir sollten hineingehen.« Henning stieß sie an, weil sie keine Anstalten machte, auszusteigen. »Ich weiß, ein Brandopfer sieht schlimm aus. Bringen wir es hinter uns!«

Lena sagte nichts, sondern öffnete die Tür. Sie atmete tief ein. Der Wind wehte vom Friedhof herüber, sie meinte, den Duft von Tannen wahrzunehmen. Eigentlich hätten ihr Mann und ihr Sohn auf dem Nordfriedhof begraben werden sollen, aber zu Anfang ihrer Liebe war sie oft mit Robert auf dem Melatenfriedhof spazieren gegangen. Er hatte diesen Friedhof geliebt und immer neue Entdeckungen gemacht. Deshalb hatte sie ihn und Simon hier bestatten lassen.

Eine junge Ärztin hatte sich bereits an die Arbeit gemacht. Mit einem Diktiergerät in der Hand ging sie um die Leiche herum und sprach mit monotoner Stimme. Es war, als würde sie sich über eine Mumie beugen. Alles an der Toten war verkohlt, auch das Haar, nur an einem Fuß war noch ein Stück unverbranntes, rosiges Fleisch auszumachen. Lena wandte sofort den Blick. Davor, Leichen anzuschauen, hatte sie bisher nie zurückgeschreckt, aber auch das hatte sich seit dem Unfall geändert.

Die junge Frau kam auf sie zu. »Doktor Brake«, stellte sie sich vor. »Ich habe schon mit der Leichenschau begonnen. Der Staatsanwalt hat sich auch angekündigt.«

Kaum hatte sie sich wieder abgewendet, wurde die Tür geöffnet. Professor Doktor Tepper, der Direktor der Rechtsmedizin, ein großer grauhaariger Mann in einem weißen Kittel, trat ein. Ihm folgte ein zweiter Mann, der einen langen schwarzen Mantel und einen dunklen Filzhut trug. Erst als er den Hut abnahm, erkannte Lena ihn: David Bauer. Eine Zeit lang war er der wichtigste Mann in ihrem Leben gewesen. Später war er Roberts bester Freund geworden. Daran, dass er als Staatsanwalt den Fall übernehmen könnte, hatte sie gar nicht gedacht.

Tepper nickte ihr zu, dann schob David Bauer sich an ihm vorbei. »Lena, du bist wieder im Dienst?«, sagte er, ohne allzu vertraut zu klingen. Er machte auch keine Anstalten, sie zu umarmen oder ihr die Hand zu reichen.

»Zum Glück – wir brauchen dringend Verstärkung«, warf Henning ein, nachdem Lena einen Moment zu lange mit ihrer Antwort gezögert hatte.

Tepper deutete auf die Leiche. »Frau Doktor Brake musste nicht lange nach der Todesursache suchen. Sie kam quasi mitgeliefert.« Er machte ein paar Schritte zu einer Arbeitsplatte und hob eine mittelgroße durchsichtige Plastiktüte hoch. Lena spürte, dass Henning sie anschaute.

»Ein Abschleppseil, stark verkohlt, aber nicht einmal das Feuer hat es ganz zerstören können«, sagte Tepper. »Damit hat der Täter die Frau getötet. Daran gibt es keinen Zweifel.«

Sie hoffte, dass es nicht nach Flucht aussah, als sie das Institut mit Henning verließ. Sie hatten sich kaum fünfzehn Minuten hier aufgehalten. Niemand hatte genauer als David von ihr wissen wollen, wie der Unfall passiert war. Warum hatte sie den Lastwagen nicht gesehen, dem sie die Vorfahrt genommen hatte? War die Straße glatt gewesen? Hatte sie die Windschutzscheibe und die Seitenfenster am Wagen nicht richtig vom Eis befreit? War sie auf die Kreuzung gerutscht, weil sie zu schnell gewesen war? Es hatte ihm nicht gereicht, dass sie alle Schuld auf sich genommen hatte. Er hatte jede Einzelheit wissen wollen, als wäre es im Nachhinein möglich, den Unfallhergang zu rekonstruieren. Und dann hatte er eine Frage gestellt, die sie vollends aus dem Gleichgewicht gebracht hatte: Hat Robert noch etwas gesagt, bevor er gestorben ist?

Ob es sich bei der Toten wirklich um Eva Helmes handelte, ließ sich noch nicht sagen. Dazu musste man zunächst eine DNA-Probe nehmen oder ihren Zahnarzt ausfindig machen und etwaige Röntgenbilder auswerten. Für eine einfache Analyse war die Tote zu entstellt. Die Rechtsmedizinerin versprach, ihre Ergebnisse noch am selben Tag ins Präsidium zu schicken. Über die Todesursache gab es in der Tat keinen Zweifel. Ob die Tote betrunken oder betäubt gewesen war – darüber mussten weitere Untersuchungen Aufschluss geben.

David hatte sich mit einem festen Händedruck von ihr verabschiedet. »Ruf mich in den nächsten Tagen einmal an«, hatte er gesagt. Sein Tonfall hatte ihr nicht verraten, ob seine Worte dienstlich oder eher privat gemeint waren.

»Ich habe so ein seltsames Gefühl, dass unsere Tote gar nicht die Hure ist«, sagte Henning, während sie die Mülheimer Brücke überquerten.

Mona hatte ihnen inzwischen mitgeteilt, dass der Hausmeister des Apartmenthauses mit einem Schlüssel auf sie wartete.

Das Haus lag tatsächlich direkt am Rhein, ein weiß getünchter Block inmitten einer gepflegten Gartenanlage. Der Hausmeister, ein älterer Mann in einem blauen Overall, stand in der offenen Tür. Vorwurfsvoll blickte er auf die Uhr. »Ich dachte, Sie kommen gar nicht mehr«, beklagte er sich.

Lena zeigte ihm wortlos ihren Ausweis.

Die Wohnung lag in der dritten Etage. Der Hausmeister schloss auf und verzog sich dann wieder, obschon ihm seine Neugier anzusehen war.

Die Geschäfte von Eva Helmes schienen nicht so schlecht gelaufen zu sein. Der Wohnraum, in den man eintrat, wurde von einem riesigen Flachbildschirm und schweren schwarzen Ledermöbeln beherrscht. Ein Panoramafenster wies auf den Rhein hinaus. An einer Wand hing eine historische Kölner Stadtansicht mit dem halb fertigen Dom und dem hölzernen Kran auf dem Turm, der jahrhundertelang dokumentiert hatte, dass der Bau der Kathedrale keineswegs abgeschlossen war. Ansonsten waren die Wände kahl, bis auf das Foto einer wunderschönen blonden Frau, die Lena erst auf den zweiten Blick erkannte: Eva Helmes als junges Mädchen, mit siebzehn oder achtzehn Jahren. Sie hielt ihr Gesicht in den Wind und lächelte, doch der verborgene Schmerz, den Lena auf der Fotografie der Nachbarin entdeckt hatte, war auch hier zu spüren.

Henning hatte sich Latexhandschuhe übergestreift und ging zu der Musikanlage hinüber. Einen Moment später erschallte laute Musik. Eine Oper. Rigoletto, erkannte Lena. »La Donna e mobile«.

»Oh«, sagte Henning erstaunt und stellte die Anlage wieder ab. »Eine Nutte mit Geschmack.«

Lena bedachte ihn für diese Bemerkung mit einem wütenden Blick. Sie ging in die Küche, die supermodern und unbenutzt aussah, und dann in den zweiten Raum, der von dem kleinen offenen Flur abzweigte. Sie musste das Licht einschalten, weil der Raum vollkommen dunkel war. Als die Deckenlampe, eine modische weiße Kugel, aufgeflammt war, verharrte sie erstaunt.

Sie befand sich im Schlafzimmer und gleichzeitig in einer Art Schrein. Vor dem Fenster, dessen Jalousie heruntergelassen war, stand ein kleiner Tisch mit zwei roten Kerzen und dem Foto eines etwa zehnjährigen Mädchens mit einem Trauerflor. Es saß im Rollstuhl und hatte den Kopf zur Seite gedreht, der geöffnete Mund wirkte verzerrt; vielleicht lächelte es, oder vielleicht litt es an Schmerzen, offenkundig aber war es schwerbehindert. An den Wänden hingen Fotos von dem Mädchen – sicherlich mehr als zwanzig. Sie zeigten das Leben des Kindes, als Säugling mit verdrehtem Kopf, als etwa Einjährige auf einer gelben Decke, angeschnallt in einem Kinderwagen. Unter dem letzten Foto, das das Mädchen in einem geblümten Badeanzug wieder in einem Rollstuhl sitzend zeigte, stand: Larissa 1978–1990.

»Wir sollten Weiler und seine Leute vorbeischicken«, erklärte Henning. »Hier sieht es zwar aus, als hätte die polnische Putzfrau das Etablissement eben erst verlassen, aber vielleicht finden sie doch noch etwas, und wir müssen nach Unterlagen …« Er tauchte neben Lena auf und verstummte. »Was ist das?«, fragte er und deutete in den Raum.

»So«, erwiderte Lena, »sieht es wohl aus, wenn eine Mutter um ihr Kind trauert, das vor über zwanzig Jahren gestorben ist.«

2.

Im Nachhinein hatte er das Gefühl, dass es gute Jahre gewesen waren – nach dem Mord. Gelegentlich hatte er noch immer den Schrei im Kopf, und nachts erwachte er mitunter mit rasendem Herzschlag, weil er im Traum Fleurs schönes Gesicht vor sich gesehen hatte, aber ansonsten hatte er alles im Griff. Nie war er ins Visier der Polizei geraten.

Die Zwillinge waren auf die Welt gekommen, dann zwei Jahre später ihre Tochter Carolin. Er hatte Karriere gemacht. Sie hatten ein schönes Haus in einem langweiligen Stadtteil von Köln gebaut, waren eine ordentliche Familie, und doch …

Wann war er zum ersten Mal wieder zu einer Hure gegangen? Es musste vier oder fünf Jahre her gewesen sein. Spätabends, nach einem anstrengenden Tag war er nicht nach Hause, sondern aus einer Laune heraus ins Pascha gefahren, in dieses riesige Kölner Edelbordell. Es lag in einer düsteren Gegend zwischen Bahngleisen; wer sich hier nachts hinbegab, hatte nur ein Ziel. Die ersten Mädchen, die er sah, waren viel zu jung, kaum zwanzig, und er wollte schon zum Nightclub abdrehen, ein viel zu teures Bier trinken und wieder verschwinden, als er eine ältere Blondine bemerkte, die auf einem Hocker vor ihrem Apartment saß, ganz am Ende des Ganges, und vollkommen gleichmütig eine Zigarette rauchte. Sie nannte sich Lola und sprach mit einer leicht norddeutschen Einfärbung, was ihm sofort gefiel. Er bestellte Champagner, und sie gingen das ganze Programm durch, und er merkte, wie sehr ihm diese Besuche gefehlt hatten. Er war kein gewöhnlicher Bordellbesucher, sagte er sich, er war anders, es ging ihm nie um ein schnelles, kurzes Vergnügen, er liebte Frauen wie Lola, die nur im Halbdunkel existieren konnten, die auf eine gewisse Weise ehrlich waren, ihm kein Theater vorspielten.

Ein paarmal ging er zu Lola, in unregelmäßigen Abständen. Er nannte sich Eberhard, ein absurder Name, der ihm gefiel, und er spürte, wie ausgeglichen ihn diese Besuche machten. Dann war Lola plötzlich verschwunden. Ihr Apartment hatte eine junge Thailänderin übernommen, die ganz enttäuscht war, dass er ging, ohne ihr auch nur einen zweiten Blick zuzuwerfen.

Ja, mit Lola hatte es wieder angefangen, dann hatte er sich eine Hure am Ebertplatz genommen, kaum fünfhundert Meter von dem Haus entfernt, in dem Fleur ihre Dienste angeboten hatte. Sie nannte sich Kaja und hatte schon Altersflecken auf den Handrücken. Nur einmal hatte er den Drang verspürt, ihr die Hände um den Hals zu legen und zuzudrücken.

Eigentlich war alles in Ordnung.

Bis er von der toten Hure erfuhr. Sie war schon über fünfzig, wurde als Eva H. bezeichnet. Jemand hatte sie mit einem Abschleppseil erdrosselt und danach die Wohnung angezündet, um Spuren zu verwischen. Genau wie er vor sechsundzwanzig Jahren. Eine Tat mit Vorsatz also. Es war, als wäre da ein Doppelgänger auferstanden, der sich eine Menge Zeit gelassen hatte.

Das Erschrecken kam ein wenig später, als er in der Küche saß und in den Garten blickte.

Er sah Fleur vor sich, er hörte ihren letzten unmenschlichen Schrei und spürte, wie sie in ihrer Todesangst um sich trat. Er hatte sie mit seinem Angriff vollkommen überrascht. Wahrscheinlich war das in ihrer Panik ihr letzter Gedanke gewesen: Warum? Sie begriff nicht, dass er rein in seine Ehe gehen wollte, er musste sein schmutziges zweites Leben auslöschen, bevor er heiratete. Diese dunkle Seite an ihm sollte nicht mehr existieren. Deshalb hatte Fleur sterben müssen.

Leo würde in drei Wochen heiraten. Der Gedanke durchzuckte ihn wie ein Blitz. Nein, versuchte er sich zu beruhigen, es war vollkommen lächerlich. Unmöglich. Der Doppelgänger, der nun aufgetaucht war, konnte nicht sein eigener Sohn sein.

Leo war intelligent, introvertiert, wortkarg, er neigte zwar gelegentlich zu Wutausbrüchen, aber er war nicht gewalttätig. Und warum hätte er zu einer Prostituierten gehen sollen? Er hatte mit der freundlichen, aufgeschlossenen Verena eine wunderbare Frau an seiner Seite.

All das hätte man vor sechsundzwanzig Jahren allerdings auch von ihm gesagt.

Deshalb war er niemals in Verdacht geraten.

Nachdem er über Skype lediglich ein paar Minuten mit Alma gesprochen hatte, die müde und abgespannt aus ihrem Krankenhaus in Stellenbosch gekommen war, eine Erschöpfung, die ihn nervte, denn es war ihr unbedingter Wunsch gewesen, ein Jahr in einem Hospital in Südafrika zu arbeiten, beobachtete er sich selbst, wie er durch das leere und nun viel zu große Haus wandelte. Die Gedanken an Leo, an die Hochzeit, an die tote Hure kreisten in seinem Kopf.

Sollte er Pierre anrufen und sich beiläufig erkundigen, wie es Leo ging, ob er nervös war, ausgeglichen? Die beiden waren Zwillinge, und so unterschiedlich sie waren – Pierre wusste stets über seinen Bruder Bescheid.

Einmal, als Kind, als sie eben in dieses neue Haus gezogen waren, hatte Leo einen Frosch gefangen und ihn mit kleinen Nadeln traktiert. Alma war damals außer sich gewesen und hätte ihrem Sohn beinahe eine Ohrfeige verpasst. Ein wenig später hatte er eine kleine Drahtfalle im Garten entdeckt, in der man Mäuse oder Ratten lebend fangen konnte, aber wer sie aufgestellt hatte, hatte er nie herausgefunden.

Nein, Leo war kein Kind gewesen, das irgendwie auffällig gewesen war.

Und doch blieb die Unruhe.

Er ging zum Rhein, lief die Promenade hinunter und rief Leo an, ohne Erfolg, nur der Anrufbeantworter meldete sich. Dann schaute er auf seinem Smartphone im Internet nach, ob etwas Neues über den Mord an der Hure auf den Zeitungsseiten stand, doch weder der Express noch der Stadt-Anzeiger brachten neue Informationen. Die Polizei hatte noch nicht einmal den Namen der Toten bestätigt. Es war bisher auch kein Foto veröffentlicht worden. Lediglich die Besitzerin eines Blumenladens, der sich im Nachbarhaus befinden musste, hatte im Express über die tote Hure und deren Freier geredet. »Ja, sie hieß Marlise, sie hat jeden Freitag Blumen bei mir gekauft, rote Rosen. Für ihr Kind, hat sie gesagt. Ihre Freier? Da waren ein paar Männer, meistens ältere, aber auch so ein hübscher, junger Blonder ist oft ins Haus gegangen.«

Ein hübscher Blonder? Konnte man Leo so bezeichnen? Er war zweifellos attraktiv, groß gewachsen, hatte ein ebenmäßiges Gesicht; blond war er auch.

Er steckte sein Smartphone ein und ging zum Haus zurück. Er trank zwei Gläser Rotwein. Die Unruhe, die ihn überfallen hatte, ließ sich mit Alkohol jedoch nicht dämpfen. Irgendwann ging er in die erste Etage hinauf. Leos Zimmer war noch so, wie er es vor fünf Jahren verlassen hatte. Ein großes New-York-Bild an der Wand, schwarz-weiß, nur die Taxis hatten ihre typische gelbe Farbe. Daneben hingen ein paar Urkunden. Schulbester im Tischtennis, Dritter im Zehntausendmeterlauf. Eine Urkunde aus der Tanzschule. Alles brav und unauffällig.

Mechanisch öffnete er den Kleiderschrank. Alte Pullover, ein paar vergessene T-Shirts. Im Schreibtisch verblichene Postkarten, Schulhefte, Kugelschreiber, ein paar Karten für Konzerte, die Leo besucht hatte.

In der untersten Schublade ein altes Briefmarkenalbum, das noch von Almas Vater stammte. Und darunter … Ihm stockte der Atem, obwohl es eigentlich nichts Besonderes war. Ein zerlesenes Pornoheft, auf dessen Cover einem eine rothaarige Frau mit Kussmund ihre üppigen Brüste entgegenreckte. Reife Ladys hieß das Heft. Leo musste es vor etlichen Jahren gekauft haben. Als Jahr stand »April 2003« ganz klein über dem Titel.

Diese Hefte gab es also immer noch, selbst im Internetzeitalter, dachte er verschämt und erschreckt zugleich. Er sah sich als Vierzehnjährigen vor sich. Er hatte solche Zeitschriften mit Fotos älterer Frauen damals selbst, die Kapuze seines Parkas tief ins Gesicht gezogen, am Bahnhof gekauft.

Durch das leere Haus hörte er das Telefon klingeln. Als wäre er ertappt worden, legte er das Heft zurück und schloss die Schublade.

Leo war am Telefon.

»Du hast angerufen?«, sagte er leise. »Ist was mit Mutter?«

Typisch, dass er zuerst nach Alma fragte.

»Nein, alles in Ordnung«, erwiderte er mit heiserer Stimme. »Ich wollte nur wissen, wie es dir geht … so kurz vor der Hochzeit. Und ob ich etwas tun kann.«

Leo zögerte einen Moment. Vermutlich wunderte er sich über die plötzliche Fürsorglichkeit seines Vaters.

»Heute geht es mir nicht so gut«, erklärte er. »Ich habe den ganzen Tag Magenkrämpfe und Kopfschmerzen. Wahrscheinlich habe ich mir einen Virus eingefangen. Meint Verena auch. Sie hat mir Kamillentee gekocht.«

»Ja, vermutlich ein Virus«, sagte er und spürte, wie sich sein Magen zusammenzog. Dann beendete er das Gespräch mit ein paar Floskeln.

Genauso war es ihm nach dem Mord an Fleur ergangen. Er hatte sich mehrmals übergeben müssen und hatte drei Tage lang keinen Bissen heruntergebracht. Alma hatte ihn pflegen müssen.

3.

Larissa – 1978–1990.

Lena nahm das Foto von der Wand und betrachtete es. Das Mädchen lachte, ja, sein Mund hatte sich zu einem ungelenken, gleichwohl heiteren Lachen verzogen, und in seinen Augen stand ein Funkeln des Glücks. Larissa mochte behindert gewesen sein, aber sie hatte Freude und Glück verbreiten können.

Der fürchterliche Gedanke an Simon und an seine Lebensdaten – 2003–2014 – durchzuckte sie. Ein heftiger Schmerz breitete sich in ihr aus. Rasch, bevor sie es fallen ließ, hängte sie das Foto zurück. Henning war zum Fenster geeilt und zog die Jalousien hoch, als würde ihm diese düstere, höhlenartige Atmosphäre des Raumes Beklemmungen bereiten.

»Du solltest auch Handschuhe anziehen«, sagte er vorwurfsvoll. Er warf noch einen Blick auf das ordentlich gemachte Bett und kehrte in die Diele zurück.

Larissa musste die Tochter der Toten gewesen sein, keine Frage, aber ein Ehemann oder Freund fand sich auf keinem der Bilder.

Aus dem Wohnraum erklang wieder Musik, diesmal leiser. Henning hatte die Anlage wieder eingeschaltet. Lena nahm ein Papiertaschentuch aus der Tasche ihrer Jeans und öffnete vorsichtig einen voluminösen Kleiderschrank, ohne einen Fingerabdruck zu hinterlassen. Blusen, Röcke, Kleider, nichts Auffälliges und schon gar nichts, das zum Arbeitsoutfit einer Prostituierten gehörte.

Neben dem Bett befand sich ein schmaler Nachttisch, dessen Schubladen sie gleichfalls öffnete. Eine abgegriffene Bibel und ein schwarzes Notizbuch lagen darin, das sie sogleich herauslegte und aus dem eine Postkarte mit dem Foto des Eiffelturms ragte. »Liebe Eva«, hatte jemand in einer runden, gleichmäßigen Handschrift geschrieben, »ich bin für ein paar Tage nach Paris gefahren. Tapetenwechsel! Ich wünsche Dir Stärke für all das, was Du auch immer tun wirst. S.«

Der Poststempel war verwischt, aber alt sah die Karte nicht aus.

Lena ärgerte sich, dass sie nichts eingesteckt hatte, keine Latexhandschuhe, keine Plastiktüten für Gegenstände, die sie sicherstellen musste.

Sie legte die Postkarte mit dem Notizbuch auf das Bett und kehrte zu Henning zurück. Er hatte einen antiken Sekretär geöffnet.

»Was ist das für eine merkwürdige Frau!«, sagte er. »Sieh dir das an! Sie hat offensichtlich Kinderbücher gesammelt.«

Der Sekretär hatte eine Klappe, die man wie einen kleinen Tisch nutzen konnte, und da entdeckte sie ein paar Bücher, sieben oder acht, ordentlich aufgereiht. Astrid Lindgren, Janosch und ein größeres Buch, dessen Anblick ihr schier den Boden unter den Füßen wegriss. Grimms Märchen in einer bibliophilen Ausgabe. Auf einem Flohmarkt auf der Rheinpromenade hatte sie das gleiche Buch vor einigen Jahren gekauft. Es hatte merkwürdigerweise nach Tabak gerochen. Die Sonne hatte geschienen, Simon war zwei Jahre alt gewesen. Sie spürte den Druck seiner schmalen Hand noch in ihrer, doch dann schob sich eine andere Erinnerung vor: Ein älterer, sechs- oder siebenjähriger Simon, der von einem Stuhl auf Roberts Rücken sprang, sich dort festklammerte, und dann trabte Robert mit ihm in das Kinderzimmer, und sie folgte den beiden. Simon lag in seinem Bett zwischen ihnen, und sie begann, Märchen vorzulesen. »Hans im Glück« hatte ihm besonders gut gefallen, von diesem Märchen hatte er gar nicht genug bekommen können.

»Was ist los?«, fragte Henning. Er berührte sie an der Schulter. »Ist dir nicht gut?«

Lena schaute ihn an. Sie bemerkte, dass sie sich auf den Sekretär gestützt hatte. Fahrig strich sie sich eine blonde Strähne aus der Stirn. »Alles in Ordnung«, sagte sie und richtete sich auf. Ich kann das nicht, flüsterte eine Stimme in ihrem Inneren. Neun Monate waren eine lange Zeit, und doch waren sie viel zu kurz, um mit diesem schmerzvollen Verlust fertigzuwerden. Der Schmerz lauerte überall, in jedem Moment, selbst in der Wohnung einer völlig fremden Frau.

»Brauchst du ein Glas Wasser?«, fragte Henning hilflos, doch statt in die Küche zu laufen, stellte er die Musik ab, als hätten die Opernklänge Lena so aus der Fassung gebracht.

»Würde es dir etwas ausmachen, dich allein in der Wohnung umzusehen?«, fragte sie. »Mir ist nicht gut. Eine leichte Magenverstimmung. Ich brauche ein wenig frische Luft.«

Henning nickte. »Ja, geh nur, kein Problem.«

Bohl muss es ja nicht gleich erfahren, dachte sie, sagte es aber nicht.

Als sie die Wohnungstür öffnete, stand da ein Junge, vielleicht achtzehn, neunzehn Jahre alt, dunkelhaarig, in einer schwarzen Lederjacke. Er verharrte einen Moment, den linken Arm erhoben, als habe er eben auf den Klingelknopf drücken wollen. Überrascht schaute er sie an, dunkle, braune Augen, unrasierte Wangen. Er lächelte ein wenig unsicher. Dann sah sie, dass er eine Schachtel unter den rechten Arm geklemmt hatte, die etwa so groß wie ein Schuhkarton war.

»Ja?«, fragte sie, ohne ihren Dienstausweis zu zücken. Wie ein Freier auf Hausbesuch sah der Bursche nicht aus, auch nicht wie ein Zuhälter, der zum Abkassieren vorbeikam.

»Eva?«, fragte er mit überraschend tiefer Stimme. »Frau Eva Helmes?«

Sie nickte und zog die Tür hinter sich zu, um zu verhindern, dass Henning ungebeten auftauchte.

»Ich bin der Bote«, sagte der Bursche. »Ich bringe Ihre Bestellung.« Dann hielt er ihr den Karton hin, als wäre es eine Pizza, die er vorbeibrachte.

Lena war eine Sekunde unschlüssig, bevor sie nach dem Karton griff.

»Ich weiß«, sagte der Junge mit einem Lächeln, »Sie haben erwartet, dass er selbst kommt, aber er sitzt unten im Auto. Er meinte, es wäre besser, wenn er nicht im Haus gesehen wird.«

»Wer sitzt unten im Auto?«, fragte Lena. Der Karton war eine namenlose Pappschachtel, die sich überraschend leicht anfühlte.

»Na, der Priester«, erwiderte der dunkelhaarige Junge und wollte sich schon abwenden und zum Fahrstuhl gehen, mit dem er offensichtlich hinaufgefahren war, doch dann fiel ihm etwas ein, und er drehte sich noch einmal um, nun wieder mit ernster Miene. »Ach ja, vierundzwanzig Schuss Munition sind auch dabei. Wird ja wohl für den Anfang reichen.«

Lena packte ihn am Arm und hielt ihn zurück. »Sie müssen noch einen Moment bleiben«, sagte sie, nun förmlicher und lauter, dann zog sie ihren Ausweis hervor, der seine Wirkung tat. Der Junge fluchte und riss sich los. Lena ließ den Karton fallen und packte mit der zweiten Hand zu, gleichzeitig rief sie nach Henning. Während sie den rechten Arm des Jungen herumdrehte und hinter ihr die Tür geöffnet wurde und Henning auftauchte, sah sie, wie der Karton zu Boden fiel. Der Deckel öffnete sich, und eine Pistole segelte heraus und schlitterte über den Boden ins Halbdunkel des Treppenhauses.

Die Waffe, die Eva Helmes offenkundig bestellt hatte, war eine SIG Sauer P226. Henning kannte sich mit Waffen aus. Er hatte seine Dienstpistole gezogen und dirigierte den Boten in die Küche.

Dem Jungen war Schweiß auf die Stirn getreten.

»Wie heißt du?«, fragte Henning barsch. »Und was wolltest du hier?«

Der Junge unterdrückte einen Fluch, seine Kiefer mahlten, als würde er gleich ausspucken. Er bedachte Lena mit einem düsteren Blick.

»Ich habe nichts getan, ich sollte nur die Schachtel abgeben. Was läuft hier eigentlich ab?«

Henning drückte ihn auf einen der vier supermodernen Drahtstühle, die in der Küche standen. »Was hier abläuft – das solltest du uns sagen!«

Lena zuckte zusammen, als plötzlich grell und irgendwie bedrohlich das Telefon in der Wohnung klingelte. Nach dreimaligem Läuten sprang der Anrufbeantworter an. »Hier ist Eva – leider bin ich im Moment nicht zu Hause. Aber hinterlassen Sie gerne eine Nachricht.« Eva Helmes hatte eine angenehme, weiche Stimme, die sie kurz erschaudern ließ – damit hätte sie auch im Radio Karriere machen können.

Eine freundliche, durch und durch private Ansage.

Ein Piepen erklang. Auch Henning und der Junge hatten den Kopf gedreht und lauschten.

Jemand räusperte sich, als wäre er irritiert, mit einer Maschine zu sprechen. »Wo bist du?«, sagte eine tonlose Männerstimme. »Du weißt doch, dass ich anrufen muss …« Dann war erneut ein verärgertes Räuspern zu vernehmen, bevor die Verbindung unterbrochen wurde.

Henning wandte sich wieder dem Jungen zu. »Deinen Namen!«, sagte er und packte ihn im Genick.

»Erkan Saner«, sagte er, und dann, mit emporgerecktem Kopf: »Ich bin türkischer Staatsbürger und protestiere …«

»Du machst gar nichts«, unterbrach ihn Henning. »Wieso bringst du hier eine Knarre vorbei?«

Der Junge stieß einen Zischlaut aus. »Ich wusste nicht …«

Lena fiel ein, dass unten in einem Wagen jemand auf den Jungen wartete. Was hatte er gesagt? Der Priester? Im nächsten Augenblick klingelte es an der Tür.

»Es hat ihn jemand hergebracht«, sagte Lena und schaute Henning an. »Wahrscheinlich ist dieser Jemand ein wenig ungeduldig geworden.«

»Du bleibst hier sitzen und zählst laut vor dich hin«, sagte Henning und beugte sich zu dem Jungen vor. »Ich will dich zählen hören. Eins, zwei …«

Während Erkan anfing zu zählen, gingen sie zur Tür. Henning erkannte mit einem Blick, dass die Wohnung über eine Gegensprechanlage mit Kamera verfügte, die man einschaltete, indem man einen Hörer abnahm. Auf einem kleinen Display über dem Hörer tauchte das Bild eines etwa fünfzigjährigen Mannes auf, der ganz und gar nicht wie ein Priester aussah. Henning reichte Lena den Hörer und nickte ihr zu.

»Ja?«, sprach sie zaghaft hinein.

Auf dem Display war zu sehen, wie der Mann sich vorbeugte, um in ein Mikrofon in der Hauswand zu sprechen. »Eva?«, fragte er. »Was ist los? Trinkt ihr da noch gemütlich Kaffee, oder was? Erkan soll seinen Arsch in Bewegung setzen! Ich habe noch zu tun.«

Henning öffnete die Tür und eilte ins Treppenhaus. Aus der Küche war Erkan zu hören, der nun bei fünfunddreißig angekommen war und brav weiterzählte.

»Einen Moment noch«, sagte Lena und bemühte sich, das Zittern in ihrer Stimme zu unterdrücken. »Ich hatte noch eine Frage. Erkan kommt gleich. Wir haben nur …«

»Er soll sofort kommen. He, es ist keine Kleinigkeit, was ich da für dich tue …« Der Mann wandte sich wieder um und blickte in die Kamera. Er hatte dunkle Haare, die er gegelt und nach hinten gekämmt hatte, eine Sonnenbrille hatte er über die Stirn zurückgeschoben, seine Koteletten waren länger als üblich.

»Wie lange soll ich diesen Scheiß noch machen?«, rief Erkan aus der Küche.

Lena antwortete nicht. Sie sah auf dem Display, wie der Mann sich abrupt umwandte, dann hob er mit verblüfftem Gesicht die Hände und geriet aus dem Blickfeld der Türkamera. Henning hatte sich ziemlich beeilt. Kurz tauchte er mit seiner gezogenen Dienstwaffe im Display auf und zwinkerte ihr zu.

Henning befahl dem Mann mit einer Bewegung seiner Pistole, sich zur Wand zu drehen und die Hände zu heben. Dann gab er Lena die Pistole und tastete den Mann routiniert ab. Wie ein schweres, unförmiges Stück Eisen fühlte sich die Waffe in ihrer Hand an. Würde sie schießen können, falls es nötig war? Einem weiteren Menschen das Leben neben? Im Dienst hatte sie bisher nur zweimal eine Waffe einsetzen müssen, und verletzt hatte sie dabei niemanden. Sie spürte einen bitteren Geschmack im Mund. Einen Moment später nahm Henning ihr die Waffe wieder ab. Er bedeutete dem Mann, sich neben den Jungen zu setzen. Auch er wirkte nun angestrengt. Eine Ader an seiner Schläfe pulsierte.

Der Junge wagte nicht, den Mann anzuschauen.

»Wer sind Sie?«, fragte Lena. »Warum hat er sie ›der Priester‹ genannt?«

Der Mann zog eine Grimasse. »Ich weiß nicht, warum Sie hier so einen Aufstand machen«, sagte er. »Wo ist Eva überhaupt? Warum ist Polizei in ihrer Wohnung?«

»Wir stellen hier die Fragen«, herrschte Henning ihn an. »Also, Mister Priester, wie heißen Sie?«

Der Mann stöhnte. Für einen Moment schien er sich anzuspannen, als würde er aufspringen und fliehen wollen. Er war muskulös, wahrscheinlich ging er regelmäßig ins Fitnessstudio. Er blickte den Jungen mit düsterer Miene an, dann wandte er sich an Lena, als wäre sie hier der gute Cop.

»Ich heiße Lebeck, nur Lebeck, kein Vorname. Und die Leute nennen mich ›der Priester‹, weil ich mal ein Semester Theologie studiert habe. Ist eine Ewigkeit her, aber an Weihnachten gehe ich immer noch in den Dom und rede mit dem lieben Gott.«

Lena nickte ihm zu, als Aufforderung weiterzusprechen, doch Lebeck schwieg, er blickte auf seine kräftigen, braungebrannten Hände.

»Woher kennen Sie Eva Helmes?«, fragte Lena.

Wieder klingelte im Wohnraum das Telefon, doch diesmal war der Anrufer noch ungeduldiger. Nach zweimaligem Läuten wurde aufgelegt.

»Was ist mit ihr?«, fragte Lebeck. »Ist ihr etwas passiert?«

»Das sagen wir dir, wenn du uns noch ein paar andere Dinge verraten hast.« Henning baute sich hinter Lebeck auf, seine Pistole immer noch in der Hand. »Zum Beispiel, ob du ein professioneller Waffenhändler bist oder ob du so etwas nur als Nebenjob machst.«

Lebeck tat so, als hätte er Henning gar nicht gehört. Sein Blick ruhte auf Lena. »Ich hoffe nicht, dass Eva etwas passiert ist. Wir sind befreundet, irgendwie. Bei mir hat sie angefangen als Aushilfe, an der Bar, ganz legal …« Er verstummte kurz. »Ich hatte einen Nachtclub am Friesenwall, vor ein paar Jahren, als dieses Geschäft noch Spaß machte. Heute habe ich eine Sauna in Pulheim, mit Restaurant, Pool und …«

Henning lachte spöttisch. »Eine Art öffentliches Schwimmbad, was?«

Lebeck drehte sich zu ihm um. Lena konnte sehen, wie er grinste. »Herr Oberwachtmeister«, sagte Lebeck, »hat jemand Sie schon einmal ein Arschloch genannt?«

Henning runzelte die Stirn und straffte sich, Lena machte eine beschwichtigende Handbewegung.

»Warum lassen Sie Eva Helmes eine Waffe bringen?«, fragte sie.

Ein weiteres Telefon klingelte, diesmal ein Smartphone. Erkan zog es aus seiner Tasche. Mit einem beinahe schmerzhaften Gesichtsausdruck blickte er auf das Display und schaltete das Gerät dann aus.

»Bevor ich noch ein Wort sage, will ich wissen, was mit Eva passiert ist.« Lebeck hatte sich von Henning wieder abgewandt. Er wirkte entspannter, als hätte er kurz seine Lage sondiert und festgestellt, dass seine Schwierigkeiten doch nicht allzu groß waren.

»Eva Helmes ist tot«, erklärte Lena. »Sie wurde wahrscheinlich in ihrem Apartment am Eigelstein erdrosselt. Danach hat der Täter die Wohnung angezündet, um seine Spuren zu verwischen.«

Lebeck senkte den Blick. Seine rechte Hand wischte über den Tisch, er wirkte ehrlich betroffen. »Wie kann das sein?«, sagte er leise vor sich hin. »Eva war eine nette, ehrliche Frau. Sie hat nie jemandem etwas zuleide getan – ganz im Gegenteil.«

Henning trat um den Tisch herum. Seine Pistole hatte er wieder eingesteckt. Vielleicht hatte er eingesehen, dass er hier mit seiner ruppigen Art nicht weiterkam. Er ließ Lebeck ein paar Momente Zeit für seine Trauer. Dann fragte er leise und eindringlich: »Wozu brauchte Eva eine Pistole? Was hatte sie damit vor? Fühlte sie sich von irgendjemandem bedroht?«

Lebeck hob den Blick. Er griff nach seiner Sonnenbrille und zog sie herab. »Ich weiß nicht«, erwiderte er. »Aber ich glaube, sie hatte ernsthaft vor, einen Mord zu begehen.«

4.

Er erwachte mitten in der Nacht, weil er einen Schrei hörte, lang und durchdringend und viel realistischer als der Todesschrei von Fleur, der so oft durch seine Träume gegeistert war. Er sprang auf, lief zum Fenster und blickte in den Garten hinaus. Fahles Mondlicht erhellte den Rasen und die Büsche, die ihre Blätter zu verlieren begannen. Da war niemand. Ein neuer Alptraum! Kaja, dachte er, sie hätte so geschrien, wenn er sie getötet hätte.

An Schlaf war nicht mehr zu denken – es war halb drei. Er setzte sich ins Wohnzimmer und starrte in die Dunkelheit hinaus. Alma fehlte ihm plötzlich, und dann dachte er wieder an Leo, der sich nun vermutlich krank in seinem Bett wälzte.

Nach dem Mord an Fleur hatte er über vierzig Fieber bekommen, er hatte im Fieberwahn geträumt, dass sie wieder lebendig geworden war, dass sie plötzlich die Augen öffnete und ihn hasserfüllt anstarrte. Du hast gar keine Macht über mich, hatten ihre Augen gesagt.

Ja, darum hatte er sie auch getötet. Er hatte wissen wollen, wie es sich anfühlte, so viel Macht zu haben, dass er über Leben und Tod entscheiden konnte. Es war ein großes Gefühl gewesen – und gleichzeitig war da eine Leere, als wäre er nun plötzlich allein auf der Welt, als würden die anderen Menschen in einem ganz anderen Universum existieren. Und so war es auch: Er lebte mit Blut an den Händen weiter, Blut, das nur er sah. Niemandem hatte er von Fleur und ihrem Tod erzählen können. Einmal war er versucht gewesen, seinen Mord zu beichten, zumindest einen Priester zum Mitwisser zu machen, er hatte sogar herauszufinden versucht, wann man im Dom eine Beichte ablegen konnte, aber im letzten Moment hatte er sich anders entschieden. Wer konnte schon wissen, wie ein Priester tatsächlich mit so einem Wissen umging? Stattdessen hatte er sich eines Nachts – wann war das gewesen? Vor elf, zwölf Jahren? –, als er den Gedanken an Fleur gar nicht losgeworden war, einmal in sein Büro gesetzt und hatte alles in ein Diktiergerät gesprochen. Fast zwei Stunden lang hatte er sich wie im Wahn alles von der Seele geredet – er war sein eigener Beichtvater gewesen, und irgendwie war daraus so etwas wie eine Liebeserklärung an Fleur geworden. Aber nein! Mit ihr hätte er niemals eine Familie gründen und Kinder haben können. Das Band hatte er dann zusammen mit ein paar Zeitungsberichten über Fleur und ihren Tod in einer Stahlkassette eingeschlossen. Danach hatte er Fleur beinahe vergessen können, und seine Nächte waren ruhiger geworden.

Der Tod hatte seinen Schrecken für ihn verloren, hatte er gedacht, doch nun hatte ihn durch eine simple Zeitungsnachricht ein anderes, ähnliches Entsetzen erfasst: Konnte tatsächlich Leo diesen Mord begangen haben? Aber selbst wenn sein diffuses Gefühl stimmte – was hatte er damit zu tun? Leo war alt genug, um für all seine Taten selbst verantwortlich zu sein.

Nein, so war es natürlich nicht – er war Leos Vater, er musste herausfinden, ob sich in seinem Kopf nur Hirngespinste entwickelten.

Sollte er Leo auf dem Weg zu seiner Kanzlei abpassen und ihn geradeheraus fragen, ob er zu dieser Prostituierten gegangen war?

Ein Vater, der seinen Sohn verdächtigte, weil er im selben Alter einen nahezu identischen Mord begangen hatte? Unmöglich!

Er kochte sich einen Kaffee, dann saß er weiterhin im Dunkeln da und zermarterte sich das Gehirn auf der Suche nach einem Plan. Er musste einen Weg finden, um hinter Leos Geheimnis zu kommen. Allerdings musste er sich eingestehen, dass er seinen Sohn nicht besonders gut kannte. Er hatte die Verbindung zu ihm vor langer Zeit verloren. Für ihn war Leo ein braver Jurist, der als Neuling in einer renommierten Kanzlei angefangen hatte und einen mäßigen Ehrgeiz an den Tag legte, doch nicht einmal dessen war er sich sicher.

Pierre, dachte er. Sein Bruder würde wissen, was Leo so trieb und dachte.