Lena in Babylon - Dora Duncker - E-Book

Lena in Babylon E-Book

Dora Duncker

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Beschreibung

Schade um das nette, begabte Mädchen. Ich fürchte, wir werden sie zum Ersten entlassen müssen.« »Wenn es nur nicht Knall und Fall sein muss! Mir scheint, wir kommen nicht darum, so leid es mir täte. Das Betragen des Mädchens außer dem Dienst –« »Ist da auch etwas vorgefallen?«, fragte Fräulein Löffler ganz bestürzt. Der Beamte rieb sich mit dem Zeigefinger ein paar Mal über den stark geröteten Nasenrücken, ehe er antwortete. »Hm, Fräulein, ja, das ist so eine Sache. So 'ne hübsche junge Person. Man kann es ihr ja im Grunde nicht verdenken. 'N bisschen Pläsier will der Mensch auch haben. Soll sich da so was angebandelt haben mit einem jungen Bankier. – 

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Lena in Babylon

Dora Duncker

Historischer Roman

idb

ISBN 9783964843319

Kapitel 1

In einem geräumigen Zimmer, dessen Einrichtung so einfach war, dass sie beinahe an Armut grenzte, saßen zwei junge Mädchen in tiefer Trauerkleidung und ein Mann, der die Höhe der Sechzig erreicht haben mochte, um einen runden, mit einer blau und rot gewürfelten Decke bedeckten Tisch.

Von draußen schlug in kurzen Absätzen ein stößiger Nordost gegen die Fensterscheiben.

Am Himmel zogen graue, schwere Wolken einher und verdunkelten auf Augenblicke das kahle, unfreundliche Gemach. Man konnte dann nur noch die bleichen Gesichter der beiden Mädchen und die auf dem Fußboden verstreuten Blütenblätter von weißen Astern und hellfarbigen Rosen deutlich unterscheiden. Ein widerlicher Geruch von Karbol, Räucheressenzen, Zichorienkaffee und toten Blumen durchzog den Raum.

Eine Zeit lang war es ganz still zwischen den Dreien. Nur ab und zu klirrte ein Kaffeelöffel gegen eine der Tassen auf dem Tisch, vornehmlich von dem breiten geblümten Sofa her, auf dem in gebückter Haltung der Mann – eine starkknochige, breitschultrige Gestalt – saß. Als er jetzt mit der Hand ungeschickt gegen die dickbauchige Kaffeekanne stieß und beinahe den ganzen stark duftenden Trank verschüttet hätte, rief er ungeduldig die beiden ihm gegenübersitzenden Mädchen an.

»Bring' doch endlich eine von Euch Licht, man sieht ja nicht die Hand vor Augen mehr.«

Die schlankere und schmächtigere der beiden Mädchen war sofort aufgesprungen und kam nach einigen Augenblicken mit einer brennenden Lampe wieder, die sie in der einen Hand trug, während die andere sich schützend über die rot verweinten Augen legte. Auch die im Zimmer verbliebene Schwester beschattete ihr Gesicht vorerst gegen den grell einfallenden Lichtschein.

Nachdem das Mädchen die Lampe auf das rot gewürfelte Tischtuch gestellt hatte, schloss sie sorgfältig die Fensterläden, durch deren herzförmige Ausschnitte jetzt kaum noch ein fahler Tagesschein drang, so schnell hatte die Dunkelheit zugenommen. Auch der Wind war stärker geworden. Heulend pfiff er gegen die Hauswand und wieder zurück, als ob er sich erbose, da einen Widerstand zu finden.

Als das junge schmächtige Mädchen mit ihrer Verrichtung am Fenster fertig war und sich dem Tische wieder zuwandte, standen ihr die Tränen in den Augen.

»Welch' eine Nacht für Mutter da draußen«, stieß sie halblaut, selbst wie vom Frost geschüttelt, hervor.

Die jüngere Schwester, kleiner und rundlicher wie sie, drückte ihr die Hand. Auch in ihren Augen standen Tränen.

»Grässlich, Lotte, solch' eine erste Nacht auf dem Kirchhof.«

Der Mann auf dem Sofa überhörte absichtlich die halblaute, ruckweise geführte Unterhaltung zwischen seinen Töchtern. Er rührte in seiner Kaffeetasse und warf dabei einen halben, verlangenden Blick auf den Pfeifenständer an der Wand, sich gegenüber.

Nee, nee, das würd' ja wohl doch nichts werden. So an Mutters Begräbnistag ging das nicht wohl an. – Mit einem langen Zuge leerte er den Kaffeerest aus seiner großen Tasse, schob mit dem Rücken der Hand Brotkrumen und Gerätschaften beiseite und sah dann mit einem halb mitleidigen, halb genierten Blick zu seinen beiden stumm dasitzenden Töchtern hinüber.

»Ihr wolltet ja was mit mir bereden, Kinder. Na, denn man los und lasst die Köpfe nicht so miesepetrig hängen, wie ein paar kranke Gäule. Mutter war doch nu mal nicht zu helfen. Ein Wunder, dass wir sie so lange behalten haben. Nu hilft's mal nichts, nu müssen wir eben ohne sie fertig zu werden suchen. Was wollt Ihr also?«

Lotte, die ältere und schlankere von beiden, hatte ihr Taschentuch hervorgezogen und schluchzte, keines Wortes mächtig, leise hinein. Die andere, Lena, versuchte ihre Schwester zu trösten. Als sie sah, dass ihre Bemühungen nicht den geringsten Erfolg hatten, wandte sie sich zu ihrem Vater hinüber.

»Wir wollten mit Dir darüber sprechen, Vater, dass Lotte und ich, wo wir nun hier nicht mehr nötig sind, unseren alten Plan wieder aufnehmen und nach Berlin ziehen wollen. Onkel Karl ist ja soweit auch ganz dafür, und er meinte, Dir würd's auch recht sein, wenn wir uns nun endlich selbstständig machten. Es sei doch auch mehr als notwendig, und hier in dem Nest nichts für uns zu holen.«

»Hm. Und wie dachtet Ihr Euch das? Du wirst Dir das ja doch wohl mit Onkel Karl schon alles gründlich ausklabautert haben, Lena?«

»Ja, Onkel meinte – er wird ja auch noch selbst mit Dir reden – das Beste wäre, wir gingen so schnell als möglich, damit hier nicht erst noch viel draufgeht. Es ist ja jetzt bald Ende September. Die Wohnung wirst Du vielleicht noch zum 1. Oktober los, und wir haben gerade jetzt zum Quartal doch die beste Chance für Berlin.«

»Das klingt ja alles sehr schön, aber was denkt Ihr, was aus mir werden soll, hm?«

»Du hast ja doch Deine Gnadenpension, Vater – und wenn Du uns los bist, dann kostet Dich doch das Leben nicht mehr viel. Wenn wir erst verdienen, schicken wir Dir ja auch gern dazu, Vater, und so ein einzelnes Zimmer, vielleicht bei Karsten in der Färbergasse, wo Du immer so gern im Garten sitzest, das kann ja doch auch die Welt nicht kosten.«

»Na, das ist doch wenigstens nett von Dir, Lena, dass Du bei diesem ganzen Plan auch ein bisschen an Deinen alten Vater gedacht hast. Wahrhaftig, das freut mich. Geh', hol' mir einen Korn aus dem Schrank. Ich muss 'n Schluck für den Magen haben. Ganz schwubbrig ist mir geworden bei dem Gedanken, dass ich nun hier allein sollte sitzen bleiben in den kahlen vier Wänden, – aber bei Karsten, das ist nicht übel – danke – kannst mir gleich noch einen geben, Lena. War das heut' ein Tag! – Karsten ist ein honoriger Mensch, und wird mich gut halten gegen eine kleine Vergütung, und dann, wenn Ihr erst verdient – – Und was meinst Du, Lena, wenn ich mal zum Herrn Oberamtmann nach Klockow rausführe? Vielleicht legt er noch 'ne Kleinigkeit drauf, wenn ich ihm sage, dass ich nun ganz allein stehe auf der Welt, und die Alte tot, und meine Mädchen mich verlassen haben – schenk' mir noch einen ein, Lena – am Ende bin ich doch im Oberamtmann seinem Dienst invalide geworden.«

»Ja, das tu' Du man, Vater, tu' Du man was für Dich«, warf jetzt Lotte mit tränenverschleierter Stimme ein. »Der Herr Oberamtmann ist ein guter Mensch!«

»Das wäre nun ich, wenigstens so ungefähr, und nu kommt Ihr d'ran. Wie habt Ihr Euch das mit Berlin denn gedacht?«

»Ich geh' doch zur Telefonie, Vater. Das weißt Du ja längst.«

»Ist denn die Wartezeit schon um, Lena?«

»Noch nicht, aber in ein paar Wochen, derweile helfe ich Lotte sich etablieren.«

»Lotte sich etablieren?!«

Nur mit Mühe verhielt der Alte ein lautes Lachen. Um es herunterzuwürgen, schenkte er sich den vierten Korn ein.

»Als was will sich Lotte denn etablieren?«

»Sie will weiter Putz machen, Vater; hat doch hier schon ganz nett verdient, unsere Lotte«, warf Lena ein und zog die ältere Schwester protegierend an sich.

»Zum Etablieren gehört aber doch vor allen Dingen Geld und noch mal Geld«, und der Alte sah seine Töchter mit einer Art melancholisch-humoristischem Zwinkern von der Seite an.

Lotte wurde über und über rot.

»Ich denke, Vater – Lena meint – Onkel Karl sagt –«

»Unser mütterliches Erbteil müsstest Du uns natürlich auszahlen, Vater. So steht's im Testament, und so ist's auch in der Ordnung«, platzte Lena heraus.

Der Alte schlug auf den Tisch, dass Flasche, Glas und Tassen zusammenklirrten.

»I sieh mal einer an, wie klug die Mädchen heutzutage sind. Ja freilich, wenn's im Testament steht –«

Und wieder zwinkerte er mit einem lachenden und einem weinenden Auge zu ihnen hinüber.

»So, und nun weißt Du, Vater, wie wir's meinen, und nun kannst Du ja überlegen, ob Dir's so recht ist.«

Und dabei stand Lena auf und zog ihre Schwester mit in die Höhe.

»Komm Lotte, Du musst jetzt ein bisschen ausruh'n.« Die Mädchen waren noch nicht bis zur Tür gelangt, als vom Flur her die Klingel anschlug.

»Wer kann denn da noch kommen? heut' am Begräbnistage, und so spät –«

Lena ging schnell hinaus, um zu öffnen, und kehrte in Begleitung eines jungen Mannes zurück, der in verlegener Haltung eintrat.

Der Alte auf dem Sofa hatte sich schwerfällig nach der Tür umgewandt. Als er den jungen Mann bemerkte, legte sich ein breites, gemütliches Lächeln über sein Gesicht.

»Franz! So, so! Na, das ist ja 'mal nett, mein Jung', dass Du Dich noch ein bisschen seh'n lässt, an so'n schlimmen Tag. Na setz' Dich man. Trinkst 'n Korn mit, Franz?«

Der junge Mann, eine hübsche, kräftige Erscheinung, blickte unschlüssig von den beiden Mädchen zu dem Alten auf dem Sofa zurück.

Lotte hatte sich abgewandt, aber Lena nickte ihm ermutigend zu.

»Ich will nicht lange aufhalten, Herr Inspektor. Ich wollte nur fragen, ob der Herr Inspektor oder die jungen Damen etwas für mich hätten. In solchen Zeiten – aber am Ende störe ich doch nur –«

»Na zum Kuckuck, Mädchen, könnt Ihr denn den Mund nicht auftun und Franz Krieger zum Bleiben nötigen? Tut ja gerade, als ob uns ein wildfremder Mensch ins Haus gefallen wäre.«

Jetzt trat Lena auf den jungen Mann zu.

»Das versteht sich doch von selbst, dass Du hier bleibst, Franz, wenn Du magst.«

Franz Krieger sah mit einem fragenden Blick zu Lotte hinüber. Die aber stand in so müder, niedergeschlagener Haltung da, dass Franz sich mit einem leisen Seufzer zu Lena zurückwandte.

»Na, wenn's recht ist, bleibe ich auf ein Stündchen.« Der Inspektor schob ihm die Kornflasche zu.

»Ein Glas, Lena. Allemal der Bienvenu, mein lieber Franz –. Ihr braucht Euch nicht zu genieren, Mädels – wenn Lotte ausruhen will –«

Die Mädchen gingen mit einem kurzen Kopfnicken zur Tür hinaus. Franz sah ihnen nach und sprach eine ganze Weile gar nichts. Dann schenkte er das vor ihm stehende Glas voll, blickte hinein und sagte: »Ja, ja. Die Frau Inspektor, das war 'ne Frau. Die armen Mädchen haben viel verloren.«

Der Alte trommelte erst eine ganze Weile auf den Tisch, ehe er sich entschloss, eine Antwort zu geben.

»Hm, ja – besonders die Lotte wird's schwer haben. Sie ist Mutters Ebenbild. Auch so 'ne weiche, anschmiegsame Natur, die gleich die Flügel hängen lässt. Lena wird eher d'rüber wegkommen. Die lässt sich so leicht nicht unterkriegen oder die Butter vom Brot nehmen. Na, was sagst Du denn dazu, Franz, dass die beiden nach Berlin wollen?«

Dem Angeredeten schoss das Blut ins Gesicht. Er brauchte eine ganze Weile, bevor er antworten konnte.

»Also soll es wirklich Ernst werden? Sie dürfen das nicht leiden, Herr Inspektor.«

»Leiden? Papperlapapp. Wenn der Knüppel beim Hund liegt.«

»Ist es so lange gegangen, Herr Inspektor, na, dann wird's ja wohl auch noch ein Weilchen weiter geh'n. Und zwei so hübsche Mädchen wie Lotte und Lena –«

Der Inspektor lachte laut auf. Dann brummte er etwas in seinen martialischen Schnauzbart, das wohl eine Art Reuebekenntnis für sein heute so überaus unpassendes Lachen bedeuten sollte.

»Du denkst wohl gar an 'n Mann, Franz? Arme Mädchen kriegen heutzutage nicht so leicht einen. Zu meiner Zeit war das was anderes. Als ich meine Luise nahm, hatte die keinen roten Dreier in der Tasche. Die 1500 Mark, die die Mädchen von ihr kriegen, hat sie sich in der Ehe zusammengespart mit ihrem privaten Gemüse- und Obsthandel, als wir noch draußen in Klockow waren. Die hat sie ja denn auch trotz Krankheit und Not bis zum Letzten festgehalten. Aber heute – pfui Deibel – nee –« und der Inspektor spuckte in weitem Bogen auf die Diele.

Franz Krieger rückte unruhig auf seinem Stuhle hin und her. Er schien im Begriff, eine von der Behauptung des Inspektors weit abweichende Bemerkung zu machen, als der Alte das Wort schon wieder beim Wickel hatte und mit einem gehörigen Sprunge auf eine früher gefallene Bemerkung zurückkam.

»Und was Du da von so lange gegangen sein sagst, das stimmt auch nicht, mein Jung'. Es ist eben gar nicht gegangen. So lange Mutter lebte, – und du lieber Gott, wie hat der arme Wurm die letzten Jahre gelebt, – war kein Gedanke, dass die Mädchen aus dem Hause konnten. Das weißt Du ja selber, Franz. Alles wäre drunter und drüber, und meine Alte vor der Zeit daran Kaput gegangen. Nu aber ist es höchste Zeit, dass der Hausstand hier aufgelöst wird und jeder seine Wege geht. Ich hab' mich man bloß ein bisschen falsch gestellt, vorher, als die Mädchen davon anfingen. Im Grunde haben sie tausendmal recht, und froh will ich sein, wenn ich den ganzen Krempel erst los bin und in Karsten seinem Garten in Frieden meine Pfeife rauchen kann –«

Und der Inspektor warf wiederum einen sehnsüchtigen Blick auf die metallbeschlagenen Pfeifenköpfe an der Wand, die von dem Reflexlicht der Lampe hell beleuchtet, verlockend zu ihm herüberglänzten.

Franz Krieger war während dieser endlosen Rede noch unruhiger als zuvor auf seinem Stuhle hin- und hergerückt.

Tausend Einwände hatte er auf dem Herzen. Würde der egoistische, eigensinnige alte Mann gewillt sein, auch nur einige davon ruhig anzuhören?

In seiner Unschlüssigkeit nahm Franz nun doch das so lang verschmähte Branntweinglas an die Lippen und trank es mit einem Zuge leer. Dann, nach einem tiefen Atemzuge fasste er sich ein Herz.

»Ihre Pfeife im Garten bei Karsten rauchen – das könnten Sie ja doch wohl auch, Herr Inspektor, ohne dass die jungen Mädchen dazu nach Berlin müssten, wenigstens – Lottchen nicht. Die hat doch hier mit ihrer Putzmacherei früher schon, als die Mutter noch besser war, ganz nett verdient – und – wenn der Hausstand hier durchaus aufgelöst werden soll – meine Mutter, Herr Inspektor, die würde Lottchen gleich zu sich nehmen –«

Der Alte sah ihn beinahe mitleidig an:

»Nee Franz, mein Jung', die Vorschläge, die lass Du man sein – damit wirst Du kein Glück haben – die Mädchen trennen sich nicht –. Und warum sollen sie denn nicht auch ihr Heil in Berlin versuchen, wie so viele andere –«

»Und dabei vielleicht zugrunde gehen, wie so viele andere«, murmelte Krieger vor sich hin. Laut sagte er nur:

»Welche Garantien haben Sie denn, Herr Inspektor, dass es Ihren Töchtern glückt? Berlin ist ein heißer Boden und viel gehört dazu, sich da durchzubringen. Die Konkurrenz ist groß in jeder Branche, und die Gefahren nicht minder für junge alleinstehende Mädchen, die keinen, aber auch gar keinen Anhalt haben. Fortwährend fordert die Großstadt ihre Opfer. Sollte es denn keine Mittel geben, Ihre Töchter davor zu bewahren, dass sie vielleicht auch, über kurz oder lang, zu diesen Opfern gehören?«

Der Inspektor hatte dem jungen Mann zuerst mit staunender Verwunderung zugehört. Zu einer so langen Rede hatte Franz Krieger sich nach des Alten Wissen noch niemals aufgeschwungen und zu einer, des Alten Meinung nach »so höllschen gebildeten«, erst recht nicht. Dann aber war er ungeduldig geworden und schlug zuletzt heftig mit der Faust auf den Tisch.

»Kotz schock Krieger, was soll denn das bedeuten? Lass Du das Flaumachen sein, das rat' ich Dir! Die Lena ist ein ganzer Kerl, die wird die Lotte schon ins Schlepptau nehmen, und dann – was die Gefahr betrifft, na hör' mal Jung', das ist denn doch ein bisschen starker Tobak. Meine Mädchen sind ordentlich und rechtschaffen erzogen und für solche Mädchen gibts keine Gefahr. Und nun aus und basta!«

Franz Krieger hatte sich erhoben und war im Begriff, sich zu verabschieden, als der Inspektor einlenkte.

»Nee, so wars nicht gemeint. Bleib Du man ruhig sitzen und erzähl' mir auch ein bisschen was. Die Kinder werden ja nun wohl auch gleich zurückkommen, wenn Lotte wieder ein bisschen zuwege ist. Dann isst Du ein Butterbrot mit uns. Essen muss ja der Mensch am Ende auch an solchem Tag. Aber von der Berliner Geschichte fang Du mir nicht wieder an, das rat' ich Dir.«

Und dabei schlug der Alte seinem Gast auf die Schulter, dass es klatschte.

Wirklich kamen Lotte und Lena jetzt zurück, Lotte sehr blass, aber nicht mehr mit ganz so verschwollenen Augen. Sie setzte sich zwischen ihren Vater und ihre Schwester an den runden Tisch und blickte, ohne sich an der Unterhaltung zu beteiligen, nur manchmal stumm und nachdenklich zu Krieger hinüber, der jetzt auf des Inspektors Aufforderung vom Geschäft zu erzählen begann.

»Na, wie's scheint, macht sich die Sache, mein Jung'.«

»Über Erwarten gut, Herr Inspektor.«

»Bist auch ein ordentlicher Mensch, Krieger.«

Der junge Mann antwortete nicht gleich, sondern sah zu Lotte hinüber, ob sie des Vaters Bemerkung mit Miene oder Blick bestätigen würde.

Als sie statt nach ihm, mit vollkommen abwesenden Blicken in irgendeinen Winkel starrte, meinte er schüchtern:

»Das Verdienst daran ist nicht groß, Herr Inspektor. Essen und trinken müssen die Leute am Ende immer, wie Sie eben selbst behaupteten. Na, und dann ist gerade in Kolonialartikeln die Konkurrenz hier am Platz nicht groß. Wenn es sich so weiter macht, hoffe ich in zwei Jahren meiner Mutter das Kapital herauszahlen zu können, das sie mir zuliebe hineingesteckt hat. Dann bin ich die Schulden los und mein eigener Herr.«

Wieder sah er nach Lotte hinüber und wieder ohne jeden Erfolg. Dagegen nickte Lena ihm freundlich zu, und der Inspektor schmunzelte und schlug ihm bedeutungsvoll abermals klatschend auf die Schulter.

Dann kam, wie zu erwarten gewesen, die Rede noch einmal auf Berlin. Jetzt wurde sogar Lotte gesprächig, und bald war es Franz Krieger völlig klar, dass er bei den beiden zunächst Beteiligten ebenso wenig gegen den Berliner Plan ausrichten würde, als es kurz zuvor bei dem Alten der Fall gewesen war.

Beide Mädchen waren völlig eingenommen von ihrem künftigen Beruf und dem neuen Leben, das sie sich zu schaffen im Begriff standen. So zartfühlend sie es auch vor dem Vater zu verbergen trachteten, Franz fühlte es doch heraus, dass ihnen der Boden unter den Füßen brannte und sie fort begehrten aus dem kleinen Nest und den engen Verhältnissen mit all' jener gebieterischen Energie, die nur erfahrungslose, blind hoffende Jugend gibt.

Er überzeugte sich in dieser Stunde davon, dass ihm nichts übrig blieb, als sich zu fügen.

Berlin lag nicht aus der Welt. In kaum vier Stunden war es zu erreichen. Er würde die beiden jungen Mädchen ja mit Gottes Hilfe nicht ganz aus den Augen verlieren. Auch die zwei Jahre, bis er als vollkommen selbstständiger Mann dastand, würden vorübergehen und dann, ja dann würde vielleicht alles anders und besser werden.

Als es neun Uhr schlug, empfahl er sich mit einem fragenden besorgten Blick auf Lottchen. Sie war im Laufe des Abends immer bleicher, immer gedankenabwesender geworden. Aber es gelang ihm nicht, ihr ein gutes, tröstendes Wort zu sagen. Sie bemerkte es nicht einmal, wie sehr ihn danach verlangte.

Nachdem der Tisch abgeräumt worden, suchten auch die Schwestern und der Inspektor ihre Schlafkammern auf, und zum ersten Mal seit der Todeskrankheit der Mutter hörten die Mädchen den Stelzfuß des Vaters nicht noch stundenlang über die Diele stapfen. Eine große Beruhigung schien über ihn gekommen zu sein, seitdem die nächsten Zukunftspläne festgestellt worden waren.

Lena schlief ein, kaum dass sie unter die Decke geschlüpft war, Lotte hörte es noch zwölf schlagen, ehe sie in einen tiefen Schlaf verfiel. Ihr träumte, sie habe ein prachtvolles Hutgeschäft in Berlin etabliert. In langen Reihen lagen die Hüte aufgeschichtet da, nach der neuesten Mode reich mit bunten, vielfarbigen Blumen garniert. Als sie aber näher zusah, waren es die Kränze auf ihrer Mutter frischem Grab. Und am Kopfende des Grabes stand Franz Krieger in der Amtstracht des Pastors Schmidt. Gleich dem Pastor heute Morgen, hielt auch Franz die Hände über dem Grabe erhoben, aber nicht in segnender Bewegung, sondern beschwörend und warnend. –

Vierzehn Tage später war alles geordnet. Der bescheidene Hausrat war unter Aufsicht Onkel Karls verkauft worden, bis auf ein paar Möbelstücke, die der Inspektor bei Karsten eingestellt hatte und das kleine Eigentum der Mädchen, das nach Berlin voran geschickt worden war. Lotte und Lena hatten ihr mütterliches Erbteil ausgezahlt erhalten und ihr bisschen Kleidung zusammengepackt. Bei den wenigen bekannten Familien – Lotte hatte dabei auch ihre Kundschaft nicht vergessen – waren Abschiedsbesuche gemacht worden, und während an einem der ersten Oktobertage der Inspektor, die Pfeife im Munde, sich gemütlich in Karstens Garten in der Sonne dehnte, froh, die »ganze Schererei« los zu sein, dampften Lotte und Lena, fröhlicher Zukunftshoffnungen voll, der neuen Heimat entgegen.

Onkel Karl war tags zuvor in entgegengesetzter Richtung in seine Heimat zurückgefahren. Nur seinen Nichten zuliebe hatte er es so lange in dem kleinen Nest und bei seinem schrulligen Schwager ausgehalten.

Lotte und Lena hatten nur eine einzige gute Bekannte in Berlin, Marie Weber, eine Schulfreundin Lenas. Sie wurde von Lena außerordentlich bewundert, da sie schon seit einem Jahre als Telefonistin angestellt war.

Es traf sich sehr glücklich, dass Fräulein Weber bei Ankunft der Schwestern gerade dienstfrei war. Sie konnte die Landsmänninnen an der Bahn empfangen und gleich zu dem bescheidenen Hotel garni führen, in dem sie selbst bei ihrer ersten Ankunft in Berlin abgestiegen war.

So weit es ihre Zeit erlaubte, stand sie auch sonst den Schwestern während der ersten Tage rührig zur Seite und veranlasste auch Lena dazu, sich unverzüglich noch einmal bei der Ober-Postdirektion zu melden.

Vor allem aber musste so schnell als möglich eine passende kleine Wohnung gefunden werden, damit Lotte keine Zeit verlor. Von rechtswegen, behauptete Fräulein Weber, hätte sie schon Anfang September ihr Geschäft eröffnen müssen, wollte sie auf einen Saisonerfolg rechnen. – Lotte aber ließ sich durch diese Behauptung nicht einschüchtern. Mit rastlosem Fleiß gedachte sie das Versäumte nachzuholen, sobald sie nur erst ein Arbeitsstübchen hatte und über die Bezugsquellen genügend orientiert war.

Mit der Kundschaft, hoffte sie, würde sich's dann schon machen. Hatte sie doch zu Haus, solange es mit der Mutter noch leidlich gegangen war, einen ganz respektablen Kundenkreis gehabt. Zu ihrer großen Genugtuung hatte Lotte auch hier das Handgeld sozusagen in der Tasche. Marie Weber hatte bereits einen Winterhut bei ihr bestellt.

Allerneueste Mode im Preise von zehn Mark. Wenn der Hut schön würde und sie recht gut kleidete, hatte die Telefonistin versprochen, unter ihren Kolleginnen für Lottes Hüte Propaganda zu machen.

Während Lottes schlichter Sinn sich nur auf das nächste Notwendige richtete, war Lena förmlich berauscht von Berlin, das sie bisher nur einmal flüchtig besucht hatte.

Ganz gegen ihre sonstige praktische Gewohnheit brachte sie ganze Tage nur im Anstaunen der Berliner Herrlichkeiten hin. Der in diesem jungen Geschöpf lebende und bisher kaum geweckte Schönheits- und Genusssinn kam in diesen ersten Berliner Tagen mit plötzlicher Gewalt zum Ausbruch.

Was konnte man in den wundervollen durchsonnten Herbsttagen auch Besseres tun, als die märchenhaft schönen Auslagen hinter den großen Spiegelscheiben der Magazine bewundern, den herrlichen Tiergarten durchstreifen, Denkmäler und private sowie öffentliche Prachtgebäude beschauen? Nein, so wundervoll hatte Lena sich Berlin denn doch nicht vorgestellt. Lotte war wirklich grenzenlos philiströs, dass sie an nichts weiter dachte, von nichts weiter sprach, als von Wohnungssuchen und Wohnungseinrichtung, von Einkäufen an Material und den besten und billigsten Bezugsquellen. Blieb Lotte wirklich einmal an einem Schaufenster stehen, so war es zweifellos das einer Modistin, von dem sie dann ihrerseits nicht loszureißen war.

Lottes inständige Bitten, ihre unantastbaren Beweisführungen, dass dies Leben nur Geld verschlinge, ohne die geringste Aussicht auf Einnahmen zu gewähren, vermochten Lena endlich dazu, mit dem Wohnungssuchen Ernst zu machen.

Die Wirtin des kleinen Hotel garni, in das Marie Weber sie geführt hatte, war eine ordentliche Frau. Sie meinte es gut mit den hübschen, jungen, gänzlich erfahrungslosen Dingern und hatte ihnen geraten, sich an die Querstraßen der südlichen Friedrichstraße zu halten. Dort würde eine kleine passende Hofwohnung im Preise von 3–400 Mark noch zu finden sein. Überdies sei die Gegend für die Zwecke von Fräulein Lottchen außerordentlich günstig. Es wohne da in den großen Mietskasernen eine Menge kleinen Publikums beisammen, das sie als Kunden heranziehen könne. Auf eine Konkurrenz mit Gerson und Bestellungen aus dem Tiergartenviertel würde sie ja wohl doch nicht gleich rechnen können, hatte die Wirtsfrau lächelnd hinzugefügt und Lottchen dabei freundlich auf die Schultern geklopft.

So hatten die Schwestern, von Marie Weber des näheren unterwiesen, in der Krausen- und Schützenstraße zu suchen begonnen, aber nichts eigentlich Passendes oder Wünschenswertes gefunden.

Lena war der Sache bald überdrüssig. Der Tag war sommerlich warm und sie schlug vor, in einer kleinen Konditorei in der Nähe Station zu machen und Eisschokolade zu trinken. Lotte aber, für gewöhnlich die bei Weitem nachgiebigere und minder energische von beiden, verstand in diesen Angelegenheiten nun einmal keinen Spaß. Sie erklärte Lena ganz kategorisch, dass sie erstens seitdem sie in Berlin wären, täglich mindestens sechzig Pfennig zu viel verbraucht hätten, und zum zweiten, dass sie die Wohnung noch heute suchen, finden und auf eigene Hand mieten werde, wenn Lena noch einmal abschnappe.

Das half. Lena wollte sich denn doch das Heft nicht so ohne Weiteres aus den Händen winden lassen. Auch war Lotte, trotzdem sie sich jetzt im ersten Ansturm mächtig zusammenraffte, im Grunde herzlich unpraktisch und würde vermutlich, auf sich selbst gestellt, eine grundfalsche Wahl treffen.

So suchten sie denn gemeinsam weiter, bis sie in der Tat noch an demselben Nachmittag nicht nur etwas Passendes, sondern auch etwas Hübsches gefunden hatten.

In der Zimmerstraße, zwischen der Wilhelm- und Friedrichstraße, waren sie, einem Mietszettel nachgehend, in eines der älteren Berliner Häuser geraten. Durch einen tiefen dunklen Torweg kamen sie in einen überraschend freundlichen hellen Hof, um den sich die Hintergebäude im Viereck zogen. Keines über zwei niedere Stockwerke hoch, sodass der blassblaue Oktoberhimmel breit und hell hineinsehen konnte.

In einen Winkel gedrückt stand sogar noch ein alter Nussbaum da, und breitete sein noch völlig grünes Blätterdach über die sauberen Pflastersteine. Vor den meisten der Fenster waren grüne Blumenbretter, dicht mit bunt blühenden Herbstpflanzen bestellt, angebracht. Hinter den Scheiben blinkten schlichte aber durchaus saubere Vorhänge. Nirgend lärmten schmutzige verwahrloste Kinder, alles machte einen gediegenen freundlichen Eindruck, der weit mehr an kleinstädtisches Behagen, als an das wüste Durcheinander großstädtischer Mietskasernen gemahnte.

Lotte fühlte sich wohl hier, noch ehe sie die im Hinterhaus zu vermietende Wohnung angesehen hatte. Hier würde sie, das war ihr im ersten Augenblicke klar, arbeiten und etwas leisten können. Die großen hohen Häuser mit den engen dunklen Höfen hatten sie von Anfang an erschreckt und geängstigt, wenn sie sich auch in ihrem ausgesprochenen Pflichtgefühl überwunden haben und jedes einigermaßen passende Quartier, ohne Rücksicht auf ihre besonderen Liebhabereien, gemietet haben würde.

Lena war nicht im gleichen Masse begeistert. Sie fand das ganze Anwesen grenzenlos kleinbürgerlich, so gar nicht ein bisschen »Berlin«. Aber am Ende gestand sie seufzend, dass sie ja vorerst nicht in der Lage seien, große Sprünge zu machen. Also zugegriffen, wenn die Wohnung einigermaßen taugte.

Eine schmale, sehr steile Treppe führte zu dem zweiten Stockwerk hinauf. Die Wohnung bestand aus einer Küche, einem großen, freundlichen zweifenstrigen und zwei kleinen einfenstrigen Zimmern und kostete 400 Mark. Sämtliche Räume gingen ineinander. Der einzige Übelstand war der, dass die Küche zunächst an der Treppe lag, sodass Lottes zukünftige Kundschaft diese Küche würde passieren müssen. Aber auch darin sah die kleine Enthusiastin keinen Hinderungsgrund. Man konnte mittels einer Gardine einen ganz netten Durchgang herstellen, der von dem dahinter liegenden Wirtschaftsapparat nichts ahnen ließ.

Mit dem Wirt, einem der Ladenbesitzer des Vorderhauses, wurde ein kulanter Vertrag auf zwei Jahre abgeschlossen.

Ganz stolz darauf, Besitzerinnen einer eigenen Wohnung in Berlin zu sein, verließen die Schwestern das Haus.

Auf der Straße drückte Lotte zärtlich Lenas Arm.

»Wenn Muttchen das erlebt hätte, Lena, wie glücklich würde sie gewesen sein!«

Lena nickte nur und zog Lotte rasch zu einem Schaufenster, in dem Einrichtungsgegenstände ausgestellt waren. Hatte man die Wohnung einmal, sollte es nun auch rasch ans Möblieren gehen.

Die Einrichtung, die beiden Schwestern gleichen Spaß machte, hatte aber auch eine böse Schattenseite; sie riss ein weit größeres Loch in das mütterliche Erbteil, als sie irgend vermutet hatten. Erst jetzt sahen sie, dass das, was sie von Haus mitgebracht hatten, kaum für das Notwendigste ausreichte.

Gardinen für sämtliche Fenster, Vorhangstoff, um den künstlichen Korridor herzustellen, ein Sofa und ein paar Sessel für die Kundschaft, ein großer Arbeitstisch, ein Glasschrank für die Auslage der fertigen Hüte, eine bescheidene Kücheneinrichtung und tausend andere Dinge mehr mussten beschafft werden.

Das erste große Zimmer wurde als Verkaufs- und Empfangsraum eingerichtet, Lotte nannte es ihr »Atelier«, das erste kleine zum Arbeits-, Ess- und Wohnraum, in dem dritten noch kleineren schliefen die Schwestern. Es war gerade für die Betten und ein Waschtischchen darin Platz.

Während Lena noch mit der Einrichtung beschäftigt war, begann Lotte mit den Einkäufen für ihr Geschäft. Zwei große Kaufhäuser waren ihr genannt worden, in denen sie alles Notwendige geliefert erhalten würde.

Für den Einkauf von rohen Hüten das Engros- und Exportgeschäft von Ehlermann in der Leipziger Straße, für den laufenden Bedarf an Band, Federn und Blumen, Seiden-, Gaze- und Futterstoffen das Konfektionshaus von Levin am Hausvogteiplatz. In dies luxuriös, im großen Stil eingerichtete Geschäftshaus einzutreten, hatte Lotte das erste Mal eine heftige Überwindung gekostet.

Das prächtige Haus mit den eleganten Schaufensterauslagen, die hochherrschaftlichen Equipagen, die vor der Tür hielten und denen Damen in den elegantesten und modernsten Herbsttoiletten entstiegen, der galonierte Diener, der die breiten Glastüren aufstieß, das alles hatte sie derartig eingeschüchtert, dass sie eigentlich gar nicht gewagt hätte, dies Geschäftshaus zu betreten, wenn nicht Fräulein Weber sowohl als auch die Hotelwirtin sie vorher ausdrücklich versichert hätten, dass aus diesem großen prächtigen Hause viele Hunderte von jungen Mädchen in gleicher Lage wie sie ihren Bedarf bezögen.

Nach einiger Zeit fasste sie sich endlich ein Herz, trat ein und begann zu den sechs verschiedenen Hüten, die sie bei Ehlermann erstanden hatte, Bänder, Blumen und Sammet, ja sogar ein paar billige Federn auszusuchen. Der Einkauf ging sehr langsam und umständlich vonstatten. Aber da der junge Mann, der Lotte bediente, auf den ersten Blick sah, dass er einen Neuling aus der Provinz vor sich hatte, übte er Geduld. Das Genre kannte er. Überdies war die Kleine weit hübscher und hatte trotz ihrer Schüchternheit bedeutend bessere Manieren als andere ihres Schlages.

Heut, als beim ersten Einkauf, musste Lotte sämtliche Waren bar bezahlen, aber es wurde ihr gleichzeitig mitgeteilt, dass ihr von ihrem nächsten Einkauf ab schon ein Monatskredit auf Buch eröffnet werden würde. Bei regelmäßigen monatlichen Zahlungen erhalte sie vier Prozent Vergütung.

Über Lottes feines, blasses Gesichtchen zog ein frohes, dankbares Lächeln. Wie freundlich und entgegenkommend man in Berlin doch war! Wenn sie nur wüsste, warum man sie und Lena so sehr vor Berlin gewarnt hatte!

Vor allem Franz Krieger. Wenn er auch nicht viel darüber gesprochen hatte, so war doch sein ganzes Wesen eine einzige große stumme Warnung gewesen.

Ob er am Ende nur so schwarz gesehen, weil er sie gern hatte? Sie wusste es längst, aber immer hatte sie sich gescheut, es ihn merken zu lassen. Sie mochte ihn auch gern, gewiss, aber in anderer Art, und alles in allem hatte Lena viel mehr für ihn übrig. Lena mit ihrem frischen, lustigen, fröhlichen Wesen passte ja auch viel besser zu ihm, denn er war im Grunde auch lustig und heiter und nur immer so schrecklich verlegen ihr und Vater gegenüber. Es tat ihr ja von Herzen leid, aber wahrhaftig, sie konnte nicht anders. Sie hatte ganz andere Zukunftspläne, als die Frau eines Mannes zu werden, mit dem sie schon von Kindheit an gut Freund gewesen war. Hinaufarbeiten wollte sie sich, wie so viele in Berlin es vor ihr getan hatten. All' ihren Fleiß wollte sie zusammennehmen, bis sie es zu einem feinen Geschäft mit einem großen, prachtvollen Laden gebracht hatte, wie sie hier so viele sah. Dann sollten Vater und Schwester bei ihr wohnen und es so recht von Herzen gut bei ihr haben und dann, ja dann, wenn dann ein Mann bei ihr anklopfte, den sie lieb hatte mehr als alles auf der Welt, dann sollte er sie haben, ob er arm oder reich war, und herrlich und in Freuden wollten sie miteinander leben.

So ganz in Gedanken versunken, bis an das Kinn bepackt, war Lotte zu Hause angelangt. Als sie über den Hof schritt, hörte sie von ihrer Wohnung her, in der alle Fenster offen standen, um die köstlich warme Sonne einzulassen, eilfertige kurze Hammerschläge, die indes verstummten, während sie die Treppen hinaufstieg.

Die Tür zur Küche war halb geöffnet. An dieser Tür aber prangte etwas, was Lotte noch nie gesehen und was ihr die Röte der Freude bis unter das goldbraune Stirnhaar trieb: ein großes weißes Porzellanschild mit der weithin leserlichen schwarzen Inschrift:

»Charlotte Weiss, Putzmacherin«.

Hinter der Tür aber lachte Lena vor Freude über ihre gelungene Überraschung. –

Bei Tisch – die Herrichtung eines einfachen Mittagsbrotes hatte Lena bis zur ihrer Anstellung übernommen – rechneten die Mädchen und kamen zu dem betrübenden Resultat, dass von den 1500 Mark Kapital seit ihrer Abreise von der Heimat bereits über 500 Mark für Reise, Hotel, Miete, Einrichtung und Lottes heutige Einkäufe verausgabt waren.

Lotte meinte zwar, dass damit die Ausgaben ja nun auch überstanden seien, und es jetzt ans Verdienen ginge, Lena aber, die wieder sehr praktisch geworden war, seitdem ihr erster Berliner Rausch verflogen, sah die Dinge weniger optimistisch an.

Was fingen sie an, wenn ihre Einberufung nicht binnen Wochenfrist erfolgte und Lotte nicht gleich verdiente? Selbst im günstigsten Fall würde bis zu ihrer Anstellung als Telefonistin noch immer Zeit genug vergehen. Ärztliche Untersuchung, Aufnahmeprüfung, vier bis sechs Wochen unentgeltlicher Dienst, das neue Jahr würde herankommen, ehe sie würde mitverdienen helfen können!

Lena wurde plötzlich sehr niedergeschlagen und fing an, sich Vorwürfe darüber zu machen, dass sie für sich selbst nicht an eine interimistische Tätigkeit gedacht hatte. Welche? Da wäre freilich guter Rat teuer gewesen.

Lotte durfte von dieser Depression beileibe nichts merken. Lena dankte Gott, dass sie den Kopf so hübsch oben trug, und ganz Hoffnung, ganz glückliche Arbeitsstimmung war. Um doch wenigstens selbst auch gleich etwas zu tun, machte sie sich daran, ihre Kenntnisse in Geografie, Aufsatz und Rechnen für die Aufnahmeprüfung wieder aufzufrischen.

Lotte nahm indes selbstverständlich zuerst den bestellten Hut für Marie Weber in Arbeit. Ob es daran lag, dass sie ganz etwas besonders Gutes machen wollte, ob ihr von den vielen Modellen, die sie täglich in den Schaufenstern sah, zu vielerlei verschiedene Arrangements vorschwebten und sie verwirrten, kurz und gut, was ihr nie vordem begegnet war, sie konnte mit dem Hut nicht zustande kommen. Immer wieder hatte sie die Form anders besteckt. Einmal mit Schleifen und Blumen, dann mit Federn, schließlich nur mit Band. Eine ganze Menge Material war schon beschädigt und unansehnlich gemacht worden, und noch immer wollte es nicht das Richtige werden. Kein Wunder, dass das endlich fertiggestellte Machwerk Marie Weber nicht zusagte. Das junge Mädchen war rücksichtsvoll genug, sich nicht weiter darüber zu äußern, bezahlte auch den ausgemachten Preis, aber die Schwestern sahen es ihr an, dass sie keine zweite Bestellung machen würde, und auch auf ihre Weiterempfehlung schwerlich zu rechnen sei.

An diesem Abend weinte Lotte bitterliche Tränen, die ersten heißen seit dem Abschied von der Mutter Grab. Ihr Selbstvertrauen war tief herabgedrückt, ihre Hoffnungsfreudigkeit auf Null gesunken.

Ein besonderer Glücksumstand war es, dass gerade an einem der folgenden Tage Lenas Einberufung eintraf.

Nun gab es Neues zu denken und mitzusorgen, und auf Tage hinaus stand für die gutherzige, zärtliche Lotte nichts anderes als Lenas nächste Zukunft auf dem Spiel. Trotzdem die Schwester kerngesund war, erwartete Lottchen sie mit Herzklopfen von der Untersuchung bei dem Kassenarzt zurück. Würden Lenas Seh- und Hörkraft, ihre Lunge und die Blutzusammensetzung auch Gnade vor des Gestrengen Augen finden?

Nachdem die kleine schwerblütige Grüblerin über diese Sorge glücklich hinaus war, kam Lenas Aufnahmeprüfung an die Reihe. Bis in den grauenden Morgen des Prüfungstages hatte Lotte die Schwester examiniert und schweren Herzens sich und Lena immer wieder die Frage vorgelegt, ob Lena auch gut bestehen werde. Da der prüfende Postsekretär der Kandidatin selbst keine gar zu ängstliche Herzbeklemmung verursachte, war Lena endlich über Lottes Fragen fest eingeschlafen und die kleine Aufgeregte hatte die größte Mühe gehabt, die Schwester morgens rechtzeitig aus dem Bett zu bekommen.

Desto größer war die Freude, als Lena mit dem Übermut eines Schulknaben, der wieder 'mal eine mit Hangen und Bangen erwartete Versetzung hinter sich hat, heimkam.

Aufnahmeprüfung, Vereidigung, alles war glücklich überstanden, und nun ging es mit beiden Füßen zugleich hinein in ein neues Leben.

Täglich von 8–12 Uhr vormittags oder von 2–8 Uhr nachmittags – zuweilen verschoben sich die Stunden auch – hatte Lena Dienst, der während ihrer Ausbildung in zwei Teile zerfiel: In den praktischen Dienst unter Leitung einer Aufsichtsdame, in dem das Stadt- und Ferngespräch erlernt wurde, und in den Instruktionsunterricht bei einem Aufsichtsbeamten, der die Anfängerin über das Verhalten in und außer dem Dienst und die Vorsichtsmaßregeln bei Gewitter- und Feuersgefahr unterwies.

Lena mit ihrem anschlägigen Kopf erlernte das alles spielend. Ihr frisches, munteres Wesen trug das Seine dazu bei, sie beliebt und angenehm zu machen und ohne allzu optimistisch zu sein, durfte sie ihre Anstellung um Anfang Dezember erwarten. Dann gab es für eine siebenstündige Arbeitszeit durch zwei Jahre 2 Mark 25 Tagegelder. Davon ließ sich schon leben, sobald Lotte das ihre dazu verdiente.

Wie ein Kind freute sich Lena auf die Zeit, da sie in ihrer schmucken Uniform, der blauen Leinenjacke mit den rot abgesteppten Nähten und den goldenen Knöpfen, die zu dem glatten schwarzen Rock so nett passte, in Reih und Glied mit den anderen Kolleginnen würde arbeiten dürfen. Es war eine Zusammengehörigkeitsaussicht, die ihr ungemein verlockend erschien.

Während Lena so hoffnungsfreudig in die Zukunft sah, geriet Lottchen in eine immer gedrücktere Stimmung. Ihr anfangs so guter Mut wollte sich nicht wieder heben. Die Stunden, in denen Lena im Dienst war, dünkten ihr endlos lang zu sein, und immer trüber wurden die Gedanken, an denen sie in diesen einsamen Stunden spann. Sie war dies Alleinsein von Haus her so gar nicht gewöhnt. Dort war sie besonders während der letzten Jahre stets an der Seite der Mutter gewesen.

Wenn es noch viel zu tun gegeben hätte! Aber die Kundschaft stellte sich nur sehr spärlich ein und war recht wenig nach Lottchens Sinn.

Zu Haus hatten die Frau Apothekenbesitzer, die Frau Doktorin, wenn nicht für sich, so doch für ihre zahlreichen Kinder, die Frau Steuereinnehmer, die Frau Kalkulator neue Hüte bei ihr bestellt, oder alte aufarbeiten lassen. Hier musste sie schon dankbar sein, wenn ein paar Mädchen aus den Nachbargeschäften kamen. Meist fanden sich indes nur Dienstmädchen bei ihr ein, die gegen Abend, während sie Einkäufe für ihre Herrschaft machen sollten, vorsprachen. Es handelte sich da beinahe stets um denselben Auftrag: Der vorjährige Winterhut sollte bis zum nächsten Ausgehsonntag neu aufgearbeitet werden.

Das waren Aufgaben, die in wenigen Stunden ausgeführt waren und im besten Fall etwa eine Mark für den Hut einbrachten.

Was hätte Lotte für eine einzige Kundin mit ausgiebigen Aufträgen gegeben! Für eine Kundin aus besseren Kreisen, mit der die Unterhandlung keine moralische Pein war, die sich bei dem feinfühligen Mädchen oft bis zum physischen Unbehagen steigerte.

Die Sehnsucht nach der toten Mutter wuchs wieder mächtig in ihr auf. Nur einmal während der vielen totstillen Stunden ihr Grab aufsuchen dürfen, ein paar armselige Blumen darauf niederlegen, über dem kahlen Hügel beten und weinen!

Und nicht allein zu der Toten, auch zu den Lebendigen trieb sie's zurück.

Sie wollte sich es nicht eingestehen und doch war es so, jetzt schon, nach wenigen Wochen, hatte das Heimweh sie gepackt. Nach dem Vater, nach den wenigen Bekannten, nach den engen, vertrauten Gassen sehnte sie sich zurück. Mehr als je zuvor musste sie auch an Franz Krieger denken. Wenn er am Ende doch recht gehabt und sie und Lena im Unrecht gewesen wären! Ein herzbeklemmendes Gefühl war es jedenfalls, allein und fremd zu sein unter Millionen von Menschen. Niemals ein bekanntes Gesicht zu sehen, einen freundlichen Gruß zu bieten oder zu empfangen. Die Freude würde sie überwältigt haben, wenn ihr eines Tages nur irgendein gleichgültiger Mensch aus der Heimat begegnet wäre. Nur einmal etwas anderes sehen als fremde Gesichter.

Wie viel besser hatte es doch Lena! Von ganzer Seele gönnte sie ihr das glücklichere Los, das sie gezogen hatte, aber dem Vergleich konnte sie sich nicht entziehen. Während die Schwester mit einer Schar von Kolleginnen, die alle die gleichen Interessen verbanden, zusammenarbeiten durfte, angestrengt arbeiten, ohne rechts und links zu sehen, saß sie allein, oft ohne jede genügende Beschäftigung, und ihre Augen suchten und fanden nichts als einen stillen, eng begrenzten Raum. Was ihr in den sonnigen Herbsttagen so gefallen, die abgeschlossene kleinstädtische Ruhe des mauerumfriedeten Hofes, schien ihr jetzt, wo der Herbstzauber dahin war, nur noch ein ödes totes Einerlei.

Grau, blätterlos, halb verschneit stand der Nussbaum da. Die Fenster der Nachbarn, die im Oktober einen so freundlichen Einblick in das Innere der Wohnungen gewährt hatten, waren fest verschlossen. Vor den Fenstern blühten keine Blumen mehr, und der breite, in das Mauerwerk hinein lugende Himmel war grau und schwer, wie alles in der engen Nachbarschaft.

In den Stunden, zu denen Lena da war, ließ sich freilich alles ganz anders an. Trotzdem sie meist todmüde nach Haus kam, wusste sie doch immer von allerhand lustigen und interessanten Dingen zu erzählen.

War der Dienst auch noch so streng und geregelt, die Aufsichtsdame noch so unnachsichtig, ein paar Augenblicke, um mit den Nachbarinnen zu plaudern, fanden sich doch immer. Und dann die große, fast einhalbstündige Erholungspause! Wie die Bienen schwärmten sie dann aus, die luftigen, sauber gehaltenen Steintreppen herunter in das kleine Paradies hinein, das die jungen Mädchen auf eigene Kosten begründet hatten und aus eigener Tasche erhielten. Da gab es guten Kaffee und Bier und belegte Brötchen, vor allem aber einen Schwatz, wie er lustiger bei keinem Kaffeekränzchen gedacht werden konnte. Was man da alles erfuhr und lernte! Unter den hundert Telefonistinnen in Lenas Saal waren neben den Töchtern aus einfachen Familien auch junge Mädchen aus den besten Kreisen vertreten. Ja drei wirkliche adelige, zwei Oberstleutnantstöchter und eine Majorstochter a. D., waren darunter. Sie waren weder hübsch noch so chic in ihren Straßenkostümen, wie die meisten der andern Mädchen, aber vornehm waren sie, kolossal.

Im Hause des Oberstleutnants von Strehsen hatte Prinz Leopold bei einem der vielen Brüder Pate gestanden. Jetzt waren die jungen Herren längst alle Kadetten oder standen als Leutnants in der Armee, und die Schwestern mussten mit verdienen helfen, damit die Offiziere nur einigermaßen standesgemäß leben konnten.

Warum die Brüder alle zum Militär gingen, wenn kein Geld dazu da war, auf diese etwas naseweise Frage Lenas hatte das älteste Fräulein von Strehsen, das sonst sehr nett mit ihr zu sein pflegte, freilich keine Antwort mehr gegeben, sondern ihr achselzuckend den Rücken gedreht. Aber das würde sich schon wieder geben. Sie war im Grunde nicht stolz, das Fräulein Clementine und für ein »Fräulein von« eine gutmütige Person.

Auch über die Arbeit selbst sprach Lena sich dauernd sehr befriedigt aus. Die Handgriffe wurden ihr spielend leicht. Nach acht Tagen schon hatte sie alle Verbindungen herzustellen verstanden. Auch sprach sie deutlich und hörte scharf. Förmlich gelehrte und von technischen Ausdrücken wimmelnde Vorträge über die sinnreiche Einrichtung der Schränke, über den Sprach- und Hörapparat, über das Arbeiten mit den Klinken wusste sie Lotte zu halten. Und wie sauber, ja förmlich appetitlich alles gehalten wurde, es war eine wahre Lust.

Lenas Enthusiasmus für ihren neuen Beruf kannte keine Grenzen. Er umfasste das Kleinste und das Größte mit gleicher Liebe.

So ganz eingenommen war Lena von ihren eigenen Interessen, dass sie es völlig übersah, wie blass und abgespannt Lotte war. Als sie dann eines Tages das trübselige, niedergeschlagene Wesen der Schwester zu bemerken begann, fing sie in ihrer frischen energischen Art heftig zu schelten an.

»Wo soll denn das hin, Lotte? Wie siehst Du denn aus? Das kommt von dem ewigen Stillsitzen und Alleinsein. Du wirst noch krank werden und dann haben wir's! Das muss anders werden. Zerstreuung und Bewegung musst Du haben.