Die barmherzige Lüge - Leni Behrendt - E-Book

Die barmherzige Lüge E-Book

Leni Behrendt

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Beschreibung

Leni Behrendt nimmt längst den Rang eines Klassikers der Gegenwart ein. Mit großem Einfühlungsvermögen charakterisiert sie Land und Leute. Über allem steht die Liebe. Leni Behrendt entwickelt Frauenschicksale, wie sie eindrucksvoller nicht gestaltet werden können. Sengend heiß brütete die Sonne über dem weiten ostpreußischen Land. Es war eine Schwüle, die den Wunschtraum steigerte, ständig im Wasser zu liegen und etwas Eiskaltes zu trinken. Für die Landbewohner jedoch bedeutete dieser harmlose Traum Luxus, denn für sie gab es trotz der Gluthitze harte, schwere Arbeit. Die Roggenernte neigte sich ihrem Ende entgegen, und um diese köstliche Gabe gut und trocken unter Dach und Fach zu bekommen, mußten sich die Menschen tüchtig tummeln. Daher ging der Blick des schlanken Reiters, der schon seit Tagen von früh bis spät bei seinen Leuten auf dem Felde weilte, immer wieder zum Himmel hin, dessen leuchtende Bläue sich zu trüben begann. Hie und da ballten sich Wölkchen zusammen, dick und bauschig wie schmutzige Watte, und von der See her kam immer häufiger ein Luftzug, der die emsig Schaffenden wohl aufatmen ließ, im allgemeinen jedoch nichts Gutes verhieß. In kurzer Zeit mußte ein Gewitter aufziehen, was Mensch und Tier erquickt hätte, den knistertrockenen goldgelben Garben jedoch nicht zuträglich sein konnte. Denn mit dem Gewitter pflegt auch Hagelschlag einzusetzen, und der würde die Körner aus den Ähren zu Boden peitschen. Also mußten die letzten Fuhren unbedingt noch geborgen werden. Daher ritt Jobst von Götterun unermüdlich von Wagen zu Wagen, sprach hier einen Arbeiter an, gab da einen Rat. Einmal sprang er ab, ließ den Gaul laufen und stakte die Garben zu dem lachenden Mädchen hoch oben auf dem goldenen Berg. Ruckzuck – ruckzuck ging es unermüdlich fort und fort, und die Leute wurden zu noch emsigerer Arbeit angespornt. Wagen um Wagen schwankte schwerbeladen davon, leere fuhren an ihre Stelle. Es gab auf dem großen Gutshof wohl kein Pferd, kein einigermaßen brauchbares Gefährt, das nicht eingespannt war. Auch der alte Oberinspektor, auf Uhlener Herrschaft geboren und in ihren Diensten ergraut, legte Hand an, wo es nottat. Seine Augen schweiften immer wieder besorgt zu der Stelle hin, wo sich die Wolken zusammenballten. Eben schwankten wieder drei Wagen davon, acht weitere harrten noch ihrer Fuhre. Wenn es noch gelang, sie trocken unter Dach und Fach zu bekommen, dann konnte man von Glück sprechen. Dann war für dieses Jahr der Roggen trocken geborgen. Am fernen Horizont blitzte es schon ab und zu auf.

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Leni Behrendt Bestseller – 17 –

Die barmherzige Lüge

Heirat nur aus Mitleid?

Leni Behrendt

Sengend heiß brütete die Sonne über dem weiten ostpreußischen Land. Es war eine Schwüle, die den Wunschtraum steigerte, ständig im Wasser zu liegen und etwas Eiskaltes zu trinken. Für die Landbewohner jedoch bedeutete dieser harmlose Traum Luxus, denn für sie gab es trotz der Gluthitze harte, schwere Arbeit. Die Roggenernte neigte sich ihrem Ende entgegen, und um diese köstliche Gabe gut und trocken unter Dach und Fach zu bekommen, mußten sich die Menschen tüchtig tummeln. Daher ging der Blick des schlanken Reiters, der schon seit Tagen von früh bis spät bei seinen Leuten auf dem Felde weilte, immer wieder zum Himmel hin, dessen leuchtende Bläue sich zu trüben begann. Hie und da ballten sich Wölkchen zusammen, dick und bauschig wie schmutzige Watte, und von der See her kam immer häufiger ein Luftzug, der die emsig Schaffenden wohl aufatmen ließ, im allgemeinen jedoch nichts Gutes verhieß. In kurzer Zeit mußte ein Gewitter aufziehen, was Mensch und Tier erquickt hätte, den knistertrockenen goldgelben Garben jedoch nicht zuträglich sein konnte. Denn mit dem Gewitter pflegt auch Hagelschlag einzusetzen, und der würde die Körner aus den Ähren zu Boden peitschen. Also mußten die letzten Fuhren unbedingt noch geborgen werden. Daher ritt Jobst von Götterun unermüdlich von Wagen zu Wagen, sprach hier einen Arbeiter an, gab da einen Rat.

Einmal sprang er ab, ließ den Gaul laufen und stakte die Garben zu dem lachenden Mädchen hoch oben auf dem goldenen Berg. Ruckzuck – ruckzuck ging es unermüdlich fort und fort, und die Leute wurden zu noch emsigerer Arbeit angespornt.

Wagen um Wagen schwankte schwerbeladen davon, leere fuhren an ihre Stelle.

Es gab auf dem großen Gutshof wohl kein Pferd, kein einigermaßen brauchbares Gefährt, das nicht eingespannt war.

Auch der alte Oberinspektor, auf Uhlener Herrschaft geboren und in ihren Diensten ergraut, legte Hand an, wo es nottat. Seine Augen schweiften immer wieder besorgt zu der Stelle hin, wo sich die Wolken zusammenballten.

Eben schwankten wieder drei Wagen davon, acht weitere harrten noch ihrer Fuhre. Wenn es noch gelang, sie trocken unter Dach und Fach zu bekommen, dann konnte man von Glück sprechen. Dann war für dieses Jahr der Roggen trocken geborgen.

Am fernen Horizont blitzte es schon ab und zu auf. Eben rollte die letzte Fuhre knarrend vom Feld. Das aufmunternde »Hüh – hüh – hüh« der Wagenlenker klang zu den Leuten zurück, die erschöpft bis zum letzten, aber auch restlos zufrieden waren.

Götterun wischte sich mit dem Taschentuch über das Gesicht, ordnete den blonden Scheitel, reichte dann sein wohlgefülltes Zigarettenetui herum und versorgte die Rauchlustigen mit Feuer.

»Nun aber schnell, Leute, nach Hause, bevor ihr pudelnaß werdet«, ermunterte er die Menschen, die ihn umstanden. »Heute abend kommt der Lohn für den Fleiß. Oder seid ihr zu müde zum Feiern?«

»Nein, Herr Baron«, kam es lachend von allen Seiten. »Dazu sind wir nie zu müde.«

»Aber auch zur Arbeit nicht, ihr Getreuen, das habt ihr wieder einmal bewiesen.«

Als Götterun auf den Hof kam, sah er gerade die letzte Fuhre auf der Tenne verschwinden. Das Scheunentor flog zu.

Der Mann atmete tief auf. Das war gerade noch so geglückt. Nicht viel später hätte es getan werden dürfen, dann wäre soviel köstliche Frucht dahingewesen und mit ihr das Geld, das das Gut Uhlen doch so nötig brauchte.

Der Oberinspektor kam ihm entgegen.

»Herr Baron, soviel ich weiß, muß Fräulein Jödeborg um diese Zeit eintreffen.«

»Donnerwetter, ja, Herr Habermann, das hatte ich im Eifer ganz vergessen.«

Einen Blick auf die Armbanduhr und einen zum Himmel.

»Schöne Bescherung! Der Zug muß längst da sein, und jeden Augenblick kann das Unwetter losbrechen. Dazu ausgerechnet heute das Auto in Reparatur, die Gäule von der schweren Arbeit ziemlich ausgepumpt.

Da hilft also nichts, Hussa muß heran. Sorgen Sie doch bitte dafür, Habermann, daß er schleunigst in den Dogcart gespannt wird.«

Damit eilte er dem Schlosse zu, sprang in langen Sätzen die Freitreppe hinauf und wäre in der Halle beinahe mit der Repräsentantin des Hauses zusammmengeprallt.

»Hoppla, Frau Fröse, das war stürmisch!«

»Herr Baron, Fräulein Jödeborg muß längst auf dem Bahnhof sein.«

»Ja, leider hatte ich die Kleine total vergessen.«

»Aber bald wird das Gewitter über uns sein, da können Sie doch unmöglich fahren, Herr Baron!«

»Ich muß, Frau Fröse. Das kleine Mädchen graut sich ja zu Tode. Denn mögen die jungen Damen auch noch so couragiert tun, vor Gewitter fürchten sie sich mehr oder weniger alle.«

Eiligst hatte er den Wettermantel angezogen und die Mütze ins Gesicht gedrückt. Er eilte davon, den Ställen zu, wo Hussa gerade eingespannt wurde.

Es kostete Mühe, ihn zwischen die Deichsel zu bekommen. Denn erstens ging er höchst ungern im Gespann, und dann hatte er sich auf die wohlgefüllte Futterkrippe gefreut. Er schäumte im Gebiß, scharrte unwillig den Boden, und kaum, daß sein Herr die Leine ergriff, preschte er auch schon davon, daß die Hufe kaum noch den Boden berührten.

Fast ununterbrochen raste er dahin, und so konnte es geschehen, daß der Bahnhof in kurzer Zeit erreicht war.

An der Wetterseite standen die blauschwarzen Wolken dicht wie eine Wand. Es grollte und blitzte unausgesetzt.

Götterun sprang vom Wagen, band den nervösen Gaul fest und stürmte dem Bahnhofsgebäude zu.

Im Eingang bemerkte er eine weibliche Gestalt, die auf der Treppenstufe hockte und vor sich hin schluchzte. Sie war so in ihrem Jammer versunken, daß sie den Mann erst bemerkte, als er vor ihr stand. Erschrocken fuhr das Mädchen zusammen und starrte ihn an. Der Wettermantel verhüllte die hochgewachsene Gestalt, der Kragen war bis zu den Ohren hochgeschlagen und die Mütze so tief heruntergezogen, daß sie das Gesicht halb verdeckte.

»Onkel Jobst –?« kam es leise fragend.

»Der bin ich, kleine Sölve –«

Da sprang das Mädchen auf. Zwei zitternde Hände umfaßten seinen Nacken, zwei heiße, zuckende Lippen preßten sich auf die seinen.

»Onkel Jobst, wie gut, daß du da bist«, stammelte es außer sich vor Erregung. »Ich dachte schon – ich glaubte schon du wolltest mich nicht – haben. Aber daß du nun doch gekommen bist – daß du mich nicht im Stich gelassen hast – das, das will ich dir danken!« schluchzte es an seinem Halse.

»Aber, aber, Sölve, mein kleines Mädchen, wie kannst du dich nur so erregen«, versuchte er zu beschwichtigen, während er die bebende Gestalt umfaßte. »Ich dich im Stich lassen? Wie kommst du auf die absurde Idee?«

»Jetzt ist ja alles gut – ich bin ja so froh –«, lachte und weinte sie nun durcheinander.

»Na, siehst du. Aber jetzt müssen wir eilen, damit wir noch trocken nach Hause kommen. Ist das dein ganzes Gepäck?«

»Nein, das habe ich aufgegeben. Viel ist es aber trotzdem nicht.«

»Wir lassen es morgen holen.«

Er nahm ihr das Köfferchen aus der Hand, umfaßte mit der freien Rechten ihre Schulter und zog sie fort, zum Wagen hin. Besorgt prüfte sein Blick den Himmel.

Sie mußten es schaffen! Denn blieben sie hier, konnten sie stundenlang warten, bis sich das Gewitter ausgetobt hatte.

»Rasch, Sölve, steig ein –«, ermunterte er. Dann nahm er ebenfalls Platz, und Hussa, den heimatlichen Stall witternd und das aufziehende Wetter fürchtend, jagte davon.

Als hätte das Gewitter nur auf diesen Augenblick gewartet, brach es nun los. Und zwar mit einer Wucht, daß selbst dem Manne angst und bange wurde.

Sinnlos vor Furcht raste Hussa dahin, daß die Insassen des Wagens hin und her geschleudert wurden. Sölve schrie laut auf.

»Halte dich an mir fest!« rief er ihr durch den Sturm entgegen; denn er hatte beide Hände nötig, um den rasenden Hussa zu zügeln.

Blitz auf Blitz durchzuckte den schwarzen Himmel, der Donner knatterte und dröhnte fast ohne Pause, der Regen prasselte hernieder, daß die beiden Menschen trotz ihrer Wettermäntel in wenigen Minuten durchnäßt waren.

Sölve hielt den Onkel mit beiden Armen umklammert und ihr Gesicht an seine Schulter gedrückt, um die grellen Blitze nicht sehen zu müssen. Bei jedem Donnerschlag zuckte sie zusammen, und die Blicke Götteruns gingen immer wieder besorgt zu ihr hin. Er machte sich heftige Vorwürfe, daß er das Gewitter nicht doch abgewartet hatte.

Kurz bevor sie von der Chaussee in die Allee einbogen, die zum Schloß führte, ließ die feste Umklammerung des Mädchens nach. Der Kopf rutschte von Götteruns Schulter und schlug hart auf die Seitenlehne des Wagens.

»Sölve, Kind, was hast du denn?« rief er erschrocken, packte die Zügel mit einer Hand und umfaßte das Mädchen, das vom Sitz zu fallen drohte, mit dem freien Arm. So fuhren sie vor das Portal, wo Frau Fröse sie schon erwartete.

Vom Hof her kam ein Stallbursche gelaufen, der das Gefährt in Empfang nahm.

Das Unwetter hatte nachgelassen, war aber immer noch arg genug, um die Menschen nicht eine Sekunde länger als nötig im Freien verweilen zu lassen. Darum versuchte Götterun erst gar nicht festzustellen, warum seine Begleiterin so plötzlich in sich zusammengesunken war, sondern hob die verhüllte Gestalt auf die Arme und trug sie an der erschrockenen Hausdame vorbei in die Halle. Dort schob er die Kapuze von Sölves Gesicht und sah in ein totenbleiches Antlitz.

»Großer Gott, sie ist ja ohnmächtig! Armes Ding. Ich könnte mich ohrfeigen, daß ich sie dem rasenden Wetter aussetzte. Bitte, Frau Fröse, Sie nehmen sich wohl ihrer an –?«

»Selbstverständlich, Herr Baron. Vielleicht bringen Sie die junge Dame in das für sie bestimmte Zimmer.« 

Schweigend stieg der Schloßherr mit seiner Last die breite teppichbelegte Marmortreppe hinauf, durchquerte ein Vorzimmer und öffnete die Tür zu einem Gemach, in dem alles licht und traut war.

Auf das weiße flauschige Fell, das den Diwan bedeckte, legte er die stille Gestalt, zog die Kapuze von Gesicht und Kopf und erschrak von neuem über die Blässe des verhärmten Antlitzes.

Er nahm schweigend die starkriechende Essenz, die Frau Fröse ihm reichte, und rieb der Ohnmächtigen damit Stirn und Schläfen.

Sein Bemühen wurde auch bald belohnt. Sie schlug die Augen auf, ließ sie angstvoll umherschweifen und erschauerte.

»Wo bin ich –?«

»Zu Hause, kleine Sölve!«

»Ach ja – zu Hause – bei dir – Onkel Jobst – wie schön«, stammelte sie, schlang die Arme wieder um seinen Hals und drückte ihre Lippen auf die seinen.

»Onkel Jobst, daß ich zu dir kommen durfte –«

Mit einem tiefen Seufzer ließ sie die Arme sinken und kuschelte sich in das Kissen.

Behutsam griff Götterun nach ihrem Puls, richtete sich dann auf und sah seiner Hausdame in das bekümmerte Gesicht.

»Der Puls geht schwach, aber regelmäßig. Zuerst muß sie aus den nassen Kleidern und ins Bett. In der Zeit werde auch ich mich umziehen.«

Als er eine halbe Stunde später gebadet und frisch gekleidet wieder erschien, schlief Sölve in ihrem Bett mit den duftigen Spitzenvorhängen in tiefster Erschöpfung.

In den schneeweißen Kissen und der zartgrünen Daunendecke trat die Blässe ihres Antlitzes noch schärfer hervor. Und hätte der leise Atem das Spitzengeriesel des Nachtkleides über der Brust nicht ezritten lassen, so hätte man diese bleiche, regungslose Gestalt für tot halten müssen.

Lange sah Jobst von Götterun auf das Mädchen nieder.

»Hat sie etwas gegessen?« fragte er die danebenstehende Hausdame flüsternd.

»Nein, Herr Baron, sie ist nicht wieder erwacht. Es ist wohl auch am besten, wenn wir sie schlafen lassen. Ich habe Anna schon Bescheid gesagt. Sie kann, während ich zu Abend esse, bei ihr wachen. Zur Nacht schlage ich mein Lager auf dem Diwan auf.«

»Wird das nicht Ihre Nachtruhe stören, Frau Fröse?«

»Durchaus nicht, Herr Baron. Und wenn schon – es geschieht ja für Ihren Gast.«

Darauf erwiderte der Mann nichts. Er ergriff die feine Frauenhand und drückte sie voll Verehrung an die Lippen.

Ein junges adrettes Mädchen trat ein, dem die Hausdame Verhaltensmaßregeln gab. Dann ging sie in Begleitung des Schloßherrn ins Speisezimmer.

Der alte Diener Michael ebenso wie der Oberinspektor und viele andere Angestellte auf Uhlen geboren und im Dienste derer von Götterun ergraut, stand schon wartend an der Anrichte.

Während des Mahles wurde nicht viel gesprochen. Doch als man in dem Teezimmerchen saß, tief in die bequemen Sessel geschmiegt, den Mokka trank, den niemand so köstlich zuzubereiten verstand wie Frau Fröse, Zigaretten rauchte, Obst und Konfekt naschte, wie der Baron es nach den Hauptmahlzeiten liebte, da kam man auf Sölve Jödeborg zu sprechen.

»Da scheint uns der Gewittersturm ja ein arg zerzaustes Vöglein ins Haus geweht zu haben«, sagte die Hausdame zu Götterun, der gedankenverloren seine Zigarette rauchte. »Ich muß schon sagen, daß ich in meinem Leben kaum jemanden in einer so jammervollen Verfassung gesehen habe wie dieses arme Menschenkind. Wie alt ist die junge Dame eigentlich?«

»Sölve – wie alt? Warten Sie mal – achtzehn oder neunzehn muß sie sein. Und jammervoll sagen Sie, Frau Fröse?«

»Mehr als das, Herr Baron. Man kann auch sagen: halb verhungert. Was mag dem armen Kinde geschehen sein?«

Jobst von Götterun gehörte nicht zu den Menschen, die ihr Herz sozusagen auf der Zunge tragen. Aber sprach er doch einmal über das, was ihn quälte, dann geschah es zu der schlanken weißhaarigen Frau, dem guten Geist seines Hauses, wie er sie nannte.

Seit fast zehn Jahren im Hause, hatte sie sich immer wieder bewährt und stets ihre Aufopferung und Treue bewiesen. Aus diesem Grunde war sie dem Schloßherrn ans Herz gewachsen wie etwas, das man nie mehr missen will. Sein Vertrauen und seine Verehrung für die Frau waren groß, sein Gefühl für sie so warm, daß man es schon mit Sohnesliebe bezeichnen konnte.

»Ja – was mag dem armen Kinde geschehen sein –«, wiederholte er ihren letzten Satz. »Ich weiß es nicht, Frau Fröse. Sie ist die Tochter der Frau, der meine erste schwärmerische Liebe galt.«

In den Augen der Frau blitzte es überrascht auf. Doch nur augenblicklich, dann hatte sie sich wieder in der Gewalt. Und doch war es von ihm bemerkt worden.

»Sie wissen darum, Frau Fröse?«

»Ja, Herr Baron. Allerdings nur vom Hörensagen. Als ich nach Uhlen kam, waren Sie über die schmerzliche Angelegenheit wohl gerade hinweg.«

»Hinweg? Nein, Frau Fröse, das war ich noch lange nicht – ich bin es wohl überhaupt nie gewesen. Ich lernte Frau Elga Jödeborg nebst Gatten und Töchterchen in Ägypten kennen, wohin mich ein Bummel durch die Welt führte. Ich hatte damals gerade mein Abitur hinter mir, und die Reise war ein Geschenk meines Vaters. Neunzehnjährig, lebensfroh und voller himmelsstürmender Ideale nahm ich schönheitstrunken in mir auf, was die Welt darbot.

In dieser Jugendseligkeit kam mir Frau Elga in den Weg und nahm mein leicht entflammtes Herz sofort gefangen. Ich liebte diese Frau mit der ganzen Stärke meines Gefühls. Der Gatte, ein echter Friese, ließ sich meine Vergötterung für seine Frau nachsichtig lächelnd gefallen. Er nahm den jungen Fant wohl nicht ernst. Obgleich er sehr viel älter war als sie, war die Ehe gut, und das damals sechsjährige Töchterchen das Glück und die Freude der Eltern. Auch ich liebte das Kind, weil es das der vergötterten Frau war, liebte überhaupt alles, was zu diesem bezaubernden Geschöpf gehörte.

Ich wich nicht mehr von ihrer Seite, und länger als ein Jahr bummelten wir durch die Welt. Nur der ausbrechende Krieg zwang uns, in die Heimat zurückzukehren.

Kurze Zeit darauf hörte ich, daß Herr Jödeborg einem Herzschlag erlegen wäre. Er hatte wohl selbst nicht gewußt, wie herzkrank er war. Ich habe mich während des Trauerjahres fern von ihr gehalten. Doch als das vorüber war und ich nach einer Verwundung in die Heimat beurlaubt wurde, eilte ich zu ihr und begehrte sie stürmisch zur Gattin. Was machten die sechs Jahre Altersunterschied zwischen uns? Mir waren sie kein Hindernis, zumal die Frau in ihrer Zartheit stets so rührend jung wirkte.

Ich werde nie den entsetzten Blick vergessen, mit dem sie meine ungestüme Werbung, verbunden mit einer noch stürmischeren Liebeserklärung, aufnahm. Sie besaß wohl nicht den Mut, den törichten Burschen abzuweisen, der ihre Güte und Herzlichkeit, die sie ihm entgegenbrachte, für Liebe gehalten hatte. Sie bat sich Bedenkzeit aus – und nahm wenige Tage später den anderen. Einen Jugendfreund, der sie schon seit langen Jahren liebte.

Später heiratete ich die Frau, die meine Familie mir aussuchte. Alles andere wissen Sie ja.«

Nach diesen Worten war es sekundenlang totenstill. Der Mann schien ganz gelassen, doch an der zitternden Hand, mit der er eine Zigarette in Brand steckte, merkte die Frau, daß er nicht so ruhig war, wie er vorgab. Dann legte er sich tiefer in den Sessel zurück.

»Ich habe nichts mehr von Frau Elga gehört«, sprach er dann sachlich weiter. »Um so mehr überraschte mich der Brief, den ich vor ungefähr zwei Wochen erhielt. Ihre Tochter schrieb mir, daß sie in Not sei und ich der einzige Mensch wäre, der ihr helfen könnte.

Dem Schreiben lag ein Brief ihrer Mutter bei. Der sollte nur dann in meine Hände gelangen, wenn Sölve in einer Bedrängnis nicht mehr aus noch ein wüßte. Darauf antwortete ich ihr, daß sie herkommen solle!«

»Ist Frau Elga denn tot?«

»Ja.«

»Und wie waren Ihre finanziellen Verhältnisse?«

»Die denkbar besten. Sie führte zu Lebzeiten ihres Mannes, ein Leben im großen Stil. Frau Elga hat sich nie einen Wunsch versagen brauchen, ihr Gatte war ein echter Globetrotter, und das Kind wurde wie eine Prinzessin erzogen.«

»Dann wundere ich mich, wie Fräulein Jödeborg so – ich will es beim richtigen Namen nennen – so herunterkommen konnte.«

»Ja, das ist merkwürdig. Darauf wird sie uns Antwort geben können – sofern sie mag.« Er erhob sich und trat ans Fenster

»Der Regen hat aufgehört, da will ich noch einen kleinen Bummel durch die Wirtschaft machen. Also gute Nacht, Frau Fröse!«

*

Was mir das Schicksal gab,

ich mußte zahlen

für jeden Tag voll Glück,

das mir beschert.

Nun hab’ ich nichts,

womit ich könnte prahlen,

nichts mehr, was mir gehört.

Die Sonnenstrahlen, die am nächsten Morgen wieder das Land überfluteten, drangen auch durch die Jalousien, die an zwei Fenstern des Schlosses herabgelassen waren, umtanzten die Schläferin, die nun schon Stunde um Stunde in ihrem daunenweichen Bett fast regungslos ruhte.

Sie gab nicht eher Ruhe, bis ihr hellgoldener Schein den tiefen Schlaf löste.

Blinzelnd öffnete Sölve die Augen, sah zuerst verständnislos auf die fremde Umgebung, bis sie sich auf die letzten Geschehnisse besann. Sie wußte nur noch, daß sie halb sinnlos vor Angst an Onkel Jobsts Seite im Wagen gesessen hatte, dann hatte sie irgendwo mollig und warm gelegen, und ein Männerantlitz hatte sich über sie gebeugt.

Wie sie jedoch in dieses wundervoll weiche Bett gekommen war, das wußte sie nicht. Wahrscheinlich war sie in Schloß Uhlen, der Sehnsucht ihrer Träume.

Sie ließ die Augen umherschweifen, und was sie in dem grünen Dämmerlicht sah, war wunderschön. Ein entzückendes Gemach, so recht geschaffen für den Geschmack verwöhnter Menschen.

Nun entdeckte sie auch die Dame, die in einem Sessel am Fenster saß und an etwas leuchtend Buntem strickte. Wie heimelig, wie traut das alles war! Ganz wie einst zu Hause. Tief und schmerzlich seufzte sie auf, und da hob die Dame den Kopf.

»Ich bin wach –«, sagte Sölve zögernd.

»Na endlich, Sie kleines Murmeltier«, sagte Frau Fröse lächelnd, indem sie an das Bett trat. »Sie haben etwa eineinhalbmal um die Uhr geschlafen. Und nun werden wir das Dämmerlicht verscheuchen und die liebe Sonne hereinlassen. Oder stört es Sie?«

»Nein.«

Gleich darauf flutete es golden ins Zimmer, und Sölve mußte einen Augenblick die Augen schließen, so blendete sie das Sonnenlicht. Aber dann ging es wie Erschrecken über ihr Gesicht, und sie öffnete die Augen weit

»Ich bin doch in Uhlen –?« stieß sie angstvoll hervor.

»Ja, das sind Sie«, klang da eine weiche Stimme auf, die das geängstigte Herz so wunderbar besänftigte. »Sie sind in Uhlen – und damit in guter Hut. Und ich bin Frau Fröse und werde Sie nach Herzenslust tyrannisieren.«

»Oh, wie schön –«, seufzte Sölve. Forschend sah sie in das gütige vornehme Frauenantlitz unter dem weißen Haar. Ihr Herz flog ihr sogleich entgegen.

»Freuen Sie sich nicht zu früh –«, lachte die Dame amüsiert. Es war ein so herzfrohes Lachen, daß Sölve immer mehr von dieser Frau entzückt war. »Ich kann nämlich gräßlich hartnäckig sein. Eine Probe werden Sie sofort erhalten. Ich gedenke Ihnen nämlich ein ausgiebiges Frühstück aufzudrängen.«

»Ich habe gar keinen Hunger.«

»Dacht’ ich’s doch. Aber darauf kann ich keine Rücksicht nehmen.«

Auf ihr Klingelzeichen erschien Anna mit einem leichten Frühstück, wovon Sölve auch gehorsam eine Kleinigkeit aß. Sie sah dabei jedoch Frau Fröse flehend an, daß diese sie nicht weiter quälte.

»Für den Anfang bin ich zufrieden. Es wird schon noch besser werden. Und nun erheben Sie sich aus Ihrem weichen Pfühl, damit Sie den Onkel empfangen können. Er wartet nämlich schon darauf, seinen Gast zu begrüßen.«

Obgleich Sölve noch sehr müde war, fügte sie sich widerstandslos. Sie wehrte auch nicht ab, als Frau Fröse ihr beim Ankleiden half; denn sie konnte sich kaum auf den Füßen halten.

Die Dame sah sehr wohl, wie es um den jungen Gast stand. Sie hatte Mühe, ihr Entsetzen über den erbarmungswürdigen Körperzustand dieses armen Menschenkindes zu unterdrücken – und über dessen ärmliche Kleidung. Ihr Herz öffnete sich vor Erbarmen weit.

»Jetzt kann ich aber wirklich nicht mehr –«, bat Sölve gequält, als sie angekleidet dastand.

»Brauchen Sie auch nicht. Sie legen sich auf den Diwan.«

Wohlig streckte sich das Mädchen auf das weiche Fell

»Ach, so schön. Ich bin doch noch immer verflixt schlapp.«

»Sind Sie denn krank gewesen, Fräulein Jödeborg?« fragte Frau Fröse, sich zu ihr auf den Diwan setzend.

»Ja. Aber sagen Sie doch bitte Sölve zu mir.«

Es klopfte kurz, und Götterun trat ein.

»Ah, kleine Sölve, schon angekleidet? Das ist sehr brav. Ich muß um Verzeihung bitten, daß ich dich gestern dem schlimmen Wetter aussetzte.

Ja, was hast du denn, kleines Mädchen?« unterbrach er sich erstaunt, als er ihren entsetzten Blick sah.

»Du – du bist Onkel Jobst?« fragte sie fassungslos, ihn dabei furchtsam anstarrend. Sie sah die hohe Gestalt, das harte, rassige Antlitz mit den blauen, blitzenden Augen darin, das blonde Haar und die nervigen Hände, mit den beiden schweren Ringen an der Linken – und stöhnte dann auf, das Gesicht dabei in das Kissen drückend.

Götterun sah Frau Fröse an, die den Blick ebenso verständnislos zurückgab.

»Verstehen Sie das –?« fragte er leise, und sie zuckte hilflos die Schultern. Er setzte sich zu dem rätselhaften Mädchen auf den Diwan und wollte dessen Gesicht behutsam herumdrehen, doch sie streifte seine Hände ab, richtete sich halb auf, ihn dabei ansehend, als müsse sie sich sein Bild für alle Zeit einprägen!

»Sag, daß du nicht Onkel Jobst

bist –!« verlangte sie fast drohend.

»Aber, liebes Kind, ich kann mich doch nicht selbst verleugnen.«

Da fiel sie wieder in die Kissen zurück, und ein hartes Schluchzen erschütterte den elenden Körper.

»Wie kannst – du – mein Onkel

sein –?« kam es mühsam hervor. »Du bist ja noch – so – jung und ich habe dich geküßt.«

»Ach das ist es?« atmete er auf, faßte die Hände, die unruhig umhertasteten, und behielt sie in den seinen. Das schien sie zu beruhigen; denn das stoßende Weinen ließ langsam nach.

»Ich schäme mich doch so sehr –«, schluchzte sie zuletzt noch auf, das Gesicht wieder in die Kissen drückend.

»Sölve, nun höre mich bitte einmal an –«, sprach der Mann behutsam. »Ich kenne dich schon seit deinem sechsten Lebensjahr.«

Nun fuhr der Kopf herum.

»Aber wenn du – oder Sie – oder Herr Baron – Ach, ich weiß ja gar nicht mehr, wie ich sagen soll«, seufzte sie verzweifelt, und er lachte.

»Du törichtes kleines Mädchen! Natürlich bin und bleibe ich der Onkel Jobst für dich – wer denn sonst? Wenn du womöglich Herr Baron‹ sagst, dann muß ich dich mit ›gnädiges Fräulein‹ ansprechen. Wie scheußlich. Wie alt bist du eigentlich?«

»Neunzehn –«

»Na, siehst du, dann bin ich ja dreizehn Jahre älter. Also, bitte, Respekt vor meinem Alter! Auf den Onkeltitel verzichte ich auf keinen Fall.«

Wieder ein herzbanger zitternder Seufzer.

»Wie kommt es eigentlich, Onkel, daß du – wo du jetzt noch so jung bist, vor so vielen Jahren meine Mutter – geliebt hast? Sie muß doch viel älter gewesen sein als du.«

Ein Zucken ging über das harte Männerantlitz, die Zähne bissen sich zusammen wie im Schmerz

»Sechs Jahre waren es, Sölve –«

»Bleiben Sie doch bitte hier, Frau Fröse«, rief Sölve der Hausdame flehend nach, die taktvoll das Zimmer verlassen wollte. Sie wechselte mit dem Baron einen Blick, in dem lächelnde Zustimmung lag. So setzte sie sich still auf den nächsten Stuhl, und ihre Augen hingen an der jammervollen Gestalt, die so unruhig auf dem Diwan lag. Der Körper schien nur aus hautüberzogenen Knochen zu bestehen, das Gesicht war mager und entsetzlich bleich. Die glanzlosen Augen lagen tief in den Höhlen, und das farblose Haar war so dünn, daß überall die Kopfhaut hervorschimmerte.