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Leni Behrendt nimmt längst den Rang eines Klassikers der Gegenwart ein. Mit großem Einfühlungsvermögen charakterisiert sie Land und Leute. Über allem steht die Liebe. Leni Behrendt entwickelt Frauenschicksale, wie sie eindrucksvoller nicht gestaltet werden können.
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Seitenzahl: 198
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Gemächlich wanderte ein junges Mädchen den Weg entlang, der sich durch die Heide schlängelte. Die Augen, so blau wie der Himmel, der sich über das verträumte Stückchen Erde wölbte, schienen sich nicht sattsehen zu können an all dem Neuen, Niegeschauten. Der krautbewachsene Boden, die Baumgruppen und Büsche aller Art, der Bach, der munter und geschwätzig über blankgewaschene Steine hüpfte, weiter hinten der Wald, der die Ebene wie schützend umschloß, das alles war dem Stadtkind wundersam neu.
An einer Stelle gaben die Bäume einen Durchblick zum Horizont frei, an dem die untergehende Sonne im Halbrund stand. Wie ein Feuerbrand lohte es ringsum.
Die im Schauen versunkene Wanderin, die wie ein verwunschenes Wesen in dieser träumenden Einsamkeit anmutete, ließ sich auf den kniehohen Stein, an den sie fast gestoßen wäre, sinken. Dabei gab es ein helles Klingen. Es rührte von der Laute her, die dem Mädchen auf dem Rücken hing. Schräg über die Brust lief ein buntbestickter Lederstreifen, der oben und unten an dem Instrument befestigt war und sich lustig auf dem hellen Grund des Kleides ausnahm. Gleichfalls buntbestickte Lautenbänder flatterten leicht im sachten Abendwind.
Eines davon berührte wie liebkosend des Mädchens Hand und weckte es aus seiner Versunkenheit. Den Blick wie trunken ins Weite gerichtet, zog es die Laute auf den Schoß, die Saiten klangen auf, und aus einer Wirrnis von Melodien zupfte die zarte Mädchenhand eine schwermütige Weise. Glockenrein setzte die junge Stimme ein:
»Wenn abends die Heide träumt,
erfaßt mich ein Sehnen,
und ich denk unter Tränen
an verlorenes Glück.
Wie schön war doch der
Sommertag,
wir gingen Hand in Hand
so selig durch den Rosenhag,
als wär’s ein Zauberland.«
O nein, was der jungrote Mund da sang, davon konnte das Herz nichts wissen. Ein Sehnen mochte es wohl erfassen, aber unter Tränen an verlorenes Glück zu denken, dazu war dieses Mädchen bestimmt noch zu jung. Hand in Hand mit dem Liebsten durch den Rosenhag wandeln, vielleicht?
Wie unter einem Zwang löste sich der Blick der Sängerin vom Horziont, wo das Abendrot allmählich verblaßte, und blieb an zwei Menschen haften, die nur einige Meter entfernt standen und dem Gesang wahrscheinlich gelauscht hatten. Der Rollstuhl gehörte eigentlich nicht hierher, wo alles heiligen Frieden zu atmen schien, auch nicht das finstere Antlitz des Mannes, der hinter dem Stuhl stand.
Erschrocken stand das Mädchen auf und näherte sich zögernd den beiden. Scheu streiften ihre Augen die Dame im Rollstuhl, die wiederum überrascht auf das junge Menschenkind schaute, das in all seiner taufrischen Schönheit dastand.
»Guten Abend«, sprach die Dame in die Stille hinein. »Wenn ich nicht irre, dann sind Sie Fräulein Rothe?«
»Ja«, war die überraschte Antwort.
»Woher kennen Sie mich denn, gnädige Frau?«
»Von Ihrem Bild, das Sie mir schickten.«
Ein Ausdruck des Erschreckens glitt über das Mädchengesicht und überflutete es mit heißer Röte. »Dann sind Sie?«
»Feline Elchenbrock. Und das ist mein Sohn Egbrecht.«
Ein banger Blick aus den leuchtendblauen Augen ging zu dem Genannten hin, der sich leicht verneigte, die lichte Mädchengestalt dabei mit einem Blick streifend, wie man ihn etwa bei einer unangenehmen Begegnung hat. Und da stotterte Holda Rothe, die sonst gewiß nicht schüchtern war, kläglich heraus: »Aber dann bin ich wahrscheinlich nicht weit von Elchenheiden, und ich wollte doch… ich werde doch… erst morgen erwartet.«
Ein amüsiertes Lächeln umzuckte den Mund der Dame. »Da Sie jedoch heute schon da sind, Fräulein Rothe, so sollen Sie mir herzlich willkommen sein.«
Aufatmend beugte sich das Mädchen über die feine Frauenhand, die sich ihr entgegenstreckte. Und dann perlte ein herzerfrischend frohes Lachen auf.
»Oh, Frau Gräfin, das war so ein richtiger Schreck in der Abendstunde! Also bin ich dreist den falschen Weg gegangen. Denn ich wollte heute noch nicht nach Elchheiden, sondern nach Waldheide, um dort zu übernachten. Ich gedachte erst ein wenig die Gegend kennenzulernen, außerdem wandere ich gern…«
»Und scheinen überhaupt ein bißchen abenteuerlich zu sein«, ergänzte die Gräfin, als das Mädchen unter ihrem nachsichtigen Lächeln verlegen schwieg. »Es ist recht gewagt, in einer fremden Gegend herumzustreifen. Ein Fremder kann sich in Wald und Heide sehr leicht verirren. Wo befindet sich Ihr großes Gepäck?«
»Auf dem Bahnhof, Frau Gräfin. Dorthin wollte ich morgen zurückwandern und dann ordnungsgemäß in Elchheiden eintreffen. Allein der Zufall wollte es anders.«
»Nehmen wir an, daß es ein guter ist.« Die Dame sah wohlgefällig in das klare Mädchengesicht. Es schien tatsächlich ein frischfröhliches Menschenkind zu sein, das sie da als Gesellschafterin und Haustöchterchen zugleich engagiert hatte. Hoffentlich hielt diese es in der leiderfüllten neuen Umgebung aus, brachte ein wenig Sonne darein.
Einen Seufzer unterdrückend, wandte sie sich an den Sohn: »Fahr zu, Egbrecht, damit wir nach Hause kommen. Fräulein Rothe wird nach der langen Wanderung müde und hungrig sein.«
Der Rollstuhl setzte sich in Bewegung, und neben ihm her schritt Holda Rothe ihrem neuen Wohnort zu. Wohl hatte die Gräfin ihr geschrieben, daß sie leidend sei, aber so schwer hatte sie sich das Leiden nicht vorgestellt. Ein tiefes Mitgefühl mit der Gelähmten erfüllte ihr Herz.
Es mußte nicht leicht sein, den Rollstuhl über den sandigen Weg zu schieben, doch der hochgewachsene Mann mit dem stolzen, hartgeschnittenen Antlitz schien es spielend zu schaffen. Er hatte noch kein Wort gesprochen, Holda nur so finster angeblickt, daß ein beklommenes Gefühl in ihr aufstieg.
Nachdem man ungefähr zehn Minuten gegangen war, hatte man den Wald erreicht. An seinem Rande blühten Heiderosen in verschwenderischer Fülle. Entzückt ließ Holda ihre strahlenden Augen über die prangende Blütenpracht schweifen.
Eine kurze Strecke ging es auf breitem Weg durch Wald, und dann bot sich dem überraschten Mädchen ein neuer Anblick. In einer Lichtung, wie hingezaubert, lag ein stattliches Anwesen. Langgestreckte Gebäude umschlossen im Geviert einen riesengroßen Hof, über den sie nun schritten. Dann kamen Anlagen mit Ziersträuchern, Blumenrabatten und einem Springbrunnen auf dem gepflegten Rasengrund. Ein sauberer Kiesweg wurde überquert, dann stand man vor dem schloßartigen Wohnhaus.
Ein Bau, der schon Jahrhunderte trutzig überdauert haben mochte, feudal, romantisch, geheimnisvoll. Zu beiden Seiten des mächtigen Portals standen auf Podesten lebensgroße Elche wie hoheitsvolle Hüter. Und einen Elch zeigte auch das Wappen derer von Elchenbrock, das steingehauen über der Haustür prunkte.
Überwältigt schaute Holda Rothe auf das stolze Bild, erst ein Diener in schlichter Livree, der sich lautlos genähert hatte, ließ sie aus ihrer Versunkenheit aufschrecken.
»Das ist unser getreuer Gottfried«, stellte die Gräfin mit einem lächelnden Blick auf den Mann, in dessen Augen es überrascht aufblitzte, vor. »Führe die junge Dame zu Auguste, damit sie sich ihrer annimmt. Auf Wiedersehen beim Abendessen, Fräulein Rothe!«
Noch ganz benommen von all dem Neuen folgte Holda dem Diener zu einem Seitenflügel, in dem sich die Wirtschaftsräume befanden. Ein großer Flur nahm sie auf, dann ging es weiter nach der geräumigen Küche, an dessen Herd ein rundliches weibliches Wesen stand und der Fremden mit unverhohlener Neugier entgegensah. Es waren Augen, die einem Menschen bis auf den Grund der Seele zu schauen schienen.
»Das ist Fräulein Rothe«, erklärte der Mann mit der stoischen Ruhe des gutgeschulten Dieners. »Frau Gräfin wünscht, daß du dich der Dame annimmst.«
»Ja, Fräulein, wie kommen Sie denn so plötzlich her?« ließ die Wirtschafterin ihrer Verwunderung freien Lauf. »Sie werden doch erst morgen erwartet.«
»Ich bitte um Entschuldigung für mein verfrühtes Eintreffen«, sagte Holda lächelnd. »Aber Frau Gräfin und Herr Graf lasen mich in der Heide auf…«
»Wie kommen Sie denn da hin?« wurde unfreundlich dazwischengefragt.
»Zu Fuß vom Bahnhof.«
»Ist das die Möglichkeit?« Die Küchengewaltige stemmte die Arme in die Hüften. »Und gleich mit einem Dudelsack? Das kann ja gut werden!«
Der barsche Ton schüchterte Holda merkwürdigerweise gar nicht ein. Immer noch lächelnd fragte sie: »Wo sollte ich das empfindliche Instrument denn lassen?«
»Zu Hause. Solche Firlefanzereien sind hier nicht angebracht«, kam es brummend zurück. »Ein Glück, daß ich Ihr Zimmer schon instandgesetzt habe, sonst wüßte ich tatsächlich nicht, wohin mit Ihnen. Kommen Sie mit.«
Mit Schritten, die ihrem Ärger Ausdruck gaben, ging sie voran. Durch die Küche, einen Flur, die Treppe hinauf, über einen Gang. An dessen Ende öffnete sie eine Glastür. Nun wurde der Gang breiter und war mit einem dicken Läufer belegt. Links zeigte er Fenster mit duftigen Gardinen und üppig blühenden Topfblumen auf den Brettern, rechts hohe Flügeltüren.
Eine davon öffnete die Wirtschafterin und betrat vor dem jungen Mädchen ein Zimmer, in dem alles licht und hell war: die Möbel, das breite Bett mit dem duftigen Himmel und der hellgrünseidenen Daunendecke, der gleichfalls grüngemusterte Teppich, die zarten Gardinen.
»Wie schön!« sagte Holda erfreut, was ihre Begleiterin freundlicher stimmte.
»Bei uns ist alles schön«, entgegnete sie gnädig. »Nebenan ist das Bad.«
»Danke, Fräulein.«
»Eine Frau bin ich.«
»Entschuldigen Sie bitte, Frau Auguste. In diesem entzückenden Zimmer werde ich mich sehr wohl fühlen.«
»Müßte man, aber Undank ist nun mal der Welt Lohn. Haben Sie denn eigentlich gar kein Gepäck?«
»Das ist noch auf dem Bahnhof. Was ich heute brauche, birgt das Köfferchen.«
»Na, schön. Um sieben Uhr gibt es Abendbrot, halten Sie sich also bereit. Mein Mann, der Diener Gottfried, wird Sie nach dem Speisezimmer führen. Unpünktlichkeit gibt es bei uns nicht, verstanden?«
»Ja, Frau Auguste.«
Jetzt wurde das Mädchen ungeniert und sehr eingehend gemustert, und dann kamen Fragen, in barschem Ton gestellt, der wahrscheinlich die Neugier verdecken sollte, die Gustchen förmlich aus den Augen sprang.
»Woher kommen Sie?«
»Aus Königsberg.«
»Du lieber Himmel, auch das noch! Von Großstadtmädchen halte ich nämlich nicht viel. Die haben doch bloß Kino und Tanzerei im Kopf. Das gibt’s bei uns nicht, verstanden?«
»Ja. Auf eben erwähnte Dinge lege ich gar keinen Wert.«
»Abwarten! Wenn die alten Scharteken, die wir bisher hier hatten, so scharf auf Vergnügen aus waren, dann ist es ein so junges Blut wie Sie allemal. Ich habe die Frau Gräfin oft genug gewarnt, sich so was Firlefanziges ins Haus zu nehmen. Sind Sie wenigstens schon zwanzig?«
»Nein, aber ich werde es nächstens.«
»Ich sage ja, viel zu jung für uns! Haben Sie denn was Ordentliches gelernt?«
»Wie man’s nimmt. Ich machte Ostern mein Abitur.«
»Wollen Sie denn studieren?«
»Ja.«
»Was?«
»Medizin.«
»Na, hören Sie mal, davon möchte ich Ihnen entschieden abraten. So ein spilleriges Ding und Doktor werden? Das hat ja noch nicht einmal so viel Kraft, um einen Zahn zu ziehen.«
Diese Entrüstung entlockte Holda ein herzfrohes Lachen, das die Gestrenge jedoch gnädig auffaßte. Denn es klang eher wohlwollend als tadelnd, als sie meinte:
»Sie scheinen noch ein rechter Kindskopf zu sein. Aber sowas will die Frau Gräfin ja partout um sich haben. Fröhlichkeit soll um sie herrschen, als ob die in diesem Haus angebracht wäre! Hier gibt’s nichts zu lachen, bloß zu trauern. Nun wissen Sie Bescheid, Fräulein Rothe.«
»Sagen Sie ruhig Holda zu mir.«
Guste starrte sie mit aufgerissenen Augen an wie etwas Grausiges. Dann jammerte sie, indem sie buchstäblich die Hände überm Kopf zusammenschlug: »Ach, du liebes Gottchen im Himmel droben, daß du das zuläßt! Das ist doch Frevel!«
»Warum denn?« fragte Holda verständnislos. »Ist mein Name etwa frevelhaft?«
»Ach was!« schnauzte Auguste, besann sich dann jedoch auf ihre Würde und wurde sachlich. »Wenn Sie studieren wollen, haben Sie auch das Geld dazu? Oder sind Sie gar so etwas wie eine Werkstudentin?«
»Erraten, Frau Auguste.«
»Dann lassen Sie man lieber das Studieren, und werden Sie was Vernünftiges. Wie Sie es vorhaben, kommt doch bloß ein Hungerleben dabei heraus. Nehmen Sie mal zuerst zwanzig Pfund zu, damit Ihnen nicht der Wind durch die Backen pustet.«
Damit entfernte sie sich gewichtigen Schrittes, und die Zurückbleibende hatte Mühe, nicht herzlich hinter ihr herzulachen.
*
Bald darauf betrat Holda das Speisezimmer, wo die Hausherrin bereits in ihrem Rollstuhl am gedeckten Tisch saß. Ein weites Gemach mit gediegenen Möbeln, die wohl schon seit Generationen breit und wuchtig ihren Platz behaupteten.
Gespeist wurde an dem runden Tisch im Erker, weil der in der Mitte des Raumes stehende für drei Personen zu groß und wuchtig war. Die sorgfältig gedeckte Tafel ließ darauf schließen, daß man hier Wert auf verfeinerte Lebensweise legte. Es lag ein Hauch von Vornehmheit über Raum und Menschen.
»Nun, Fräulein Rothe, sind Sie mit Ihrer Unterkunft zufrieden?« fragte die Hausherrin freundlich.
»Sehr, Frau Gräfin. Ein so entzückendes Zimmer habe ich nicht erwartete. Überhaupt ist alles, was ich bisher sah, so einzig schön, daß ich mich ordentlich müde gefreut habe.«
»Das ist der Reiz der Neuheit, mein Fräulein«, ließ sich von der Tür her eine Stimme vernehmen, tief, dunkel, klangvoll. Sie paßte zu dem herrischen Mann, der an den Tisch trat und besorgt die Mutter musterte, die ihm herzlich zunickte.
»Ich fühle mich wohl, mein Junge.«
»Wirklich, Muttchen?«
»Ganz wirklich. Die Ausfahrt ist mir gut bekommen.«
»Dann bin ich beruhigt. Nehmen Sie Platz, Fräulein Rothe.«
Er wies mit einladender Handbewegung auf einen der wuchtigen Lehnstühle, in dem ihre grazile Gestalt fast verschwand. Der Hausherr ließ sich ihr gegenüber nieder. Gleich darauf servierte Gottfried das ländliche Mahl, das Holda sich trefflich munden ließ. Sie zierte sich durchaus nicht, als der Diener ihr die Schüssel mit den Speckeiern zum zweitenmal reichte, langte zu, und die Hausherrin sagte freundlich:
»So ist es recht, Fräulein Rothe! Essen Sie nur tüchtig. Sie sind ja in dem glücklichen Alter, wo Sie auf schlanke Linie noch nicht zu achten brauchen.«
»Würde ich auch sonst nicht tun, Frau Gräfin«, kam es vergnügt zurück. »Meinen guten Appetit lasse ich mir durch niemand und nichts rauben.« Als sie sah, daß der Diener das Zimmer verließ, setzte sie lachend hinzu: »Außerdem hat Frau Auguste mir geraten, mein Körpergewicht um zwanzig Pfund zu vermehren, bevor ich mit dem Hungerleben einer Werkstudentin beginne. Sonst traut sie mir nämlich nicht die Kraft zu, einen Zahn ziehen zu können.«
Frau Feline lachte amüsiert, was den Sohn aufhorchen ließ. Demnach schien ein Lachen bei der Dame nur selten zu sein. Kein Wunder bei dem Schmerzenszug in dem vornehmen Antlitz, den Augen, die gewöhnlich so leidvoll blickten, und dem weißen Haar, wie es nur Kummer und Gram so frühzeitig bleichen kann.
»Also hat unsere Getreue Sie bereits unter strenges Verhör genommen?«
»O ja, Frau Gräfin. Ich kam mir beinahe wie im Examen vor. Fürchtete schon, daß sie mir das Lachen verbieten würde, aber ein striktes Verbot erfolgte gottlob nicht. Denn ich lache für mein Leben gern!«
Wie fragend sah sie in die finsterblickenden Augen des Grafen hinein. Nanu, sie hatte doch nichts Ungehöriges gesagt? Lachen war doch etwas Gutes, Schönes. Komischer Kauz! Nein, er gefiel ihr nicht.
Umso mehr tat es die Gräfin. Die hatte sie bereits in ihr Herz geschlossen. Sie nahm sich vor, recht lieb zu der Ärmsten zu sein, die so jammervoll dahinvegetieren mußte. Ein Mitgefühl bemächtigte sich ihrer, das sie bis in den Traum verfolgte.
Sie zerbrach sich darin den Kopf, wie der Frau mit dem schmerzlichen Lächeln wohl zu helfen wäre. Und da ein Traum ja Unmögliches möglich machen kann, fühlte sich Holda als hervorragende Ärztin. Als sie jedoch über die Heide schritt, um im Gefühl ihres Könnens der Gräfin Heilung von ihrem Leiden zu bringen, kam diese ihr leichtfüßig entgegen. Lachend schlug sie die Laute und sang dazu das Lied, das die jetzt Träumende am Abend gesungen hatte. Sie jubelte die Weise hinaus in die blühende Heide, und ihr Sohn, der glückstrahlend an ihrer Seite schritt, tat begeistert mit.
Allein der Anblick erfreute Holda keineswegs, sondern verursachte ihr einen brennenden Schmerz, der auch noch anhielt, als sie sich erschrocken im Bett hochrichtete. Unwillkürlich griff sie nach dem Kopf und stieß dort auf ein Etwas, das gewiß nicht traumhaft schön zu nennen war. Eine Biene hatte sich im Haar der Schläferin verfangen und in ihrer Bedrängnis zugestochen.
Bienen, nein, die liebte Holda durchaus nicht. Also tötete sie das Tierchen, das mit Verlust seines Stachels sowieso sein Leben einbüßen mußte, vollends und rieb dann wehleidig die schmerzende Stelle am Kopf. Der Tag fing ja gut an!
Sie sprang aus dem Bett, trat an das geöffnete Fenster, und was sich da ihren Augen bot, ließ ihr das Herz wieder einmal aufgehen vor Entzücken. Eine weite, gepflegte Rasenfläche, die wie smaragdgrüner Samt schimmerte. In der Mitte gleichfalls ein Springbrunnen, wie in den Anlagen vor dem Schloß. Den Rasen umsäumten Blumenrabatten und die Wege hoher Bäume.
Natürlich kannte Holda so manche Parkanlagen, aber diese schienen ihr besonders schön zu sein. Andächtig verharrte sie am Fenster, bis ein Geräusch sie aus ihrer Andacht riß. Sie beugte sich vor und erspähte unten eine Terrasse, wo Gottfried den Frühstückstisch deckte. Die Wirtschafterin stand daneben.
»Guten Morgen, Frau Auguste!« rief das Mädchen fröhlich, worauf die Angesprochene hochsah.
»Guten Morgen, Fräulein Rothe«, grüßte sie gnädig zurück. »Gut, daß Sie auch schon munter sind. Da kann Ihr Gepäck gleich nach oben gebracht werden.«
Fort war sie und erschien bald darauf bei Holda, in jeder Hand einen großen Koffer, die sie mit Nachdruck abstellte.
»Daß Gott erbarm, sind die Dinger schwer! Möchte nur wissen, was Sie da alles mitgeschleppt haben! Darüber wunderten sich schon die Männer, die das Gepäck von der Bahn holten.«
»Warum mühen Sie sich nun selbst damit ab?«
»Ach was!« wurde sie unwirsch unterbrochen. »Soll etwa so ein Mannsbild die Koffer hierherbringen, wo Sie im Spinnwebennachthemd herumlaufen? Und die Hausmädchen sollen sich durch Nebenarbeit nicht versäumen.«
»Ich hätte die Koffer ja holen können«, wagte Holda einzuwenden.
Die Gestrenge funkelte sie empört an. »Im Hemd vielleicht, was? Außerdem wären Sie Heimchen unter der Wucht zusammengeknickt.«
»Aber Frau Auguste, warum sind Sie den immer gleich so böse?« Holda lachte sie treuherzig an. »Es ist gewiß nicht meine Art, im Nachthemd herumzuspazieren. Ich besitze nämlich so ein Etwas, das sich Morgenrock nennt. Schauen Sie mal.«
Sie hielt der Frau das Kleidungsstück hin, worüber diese mißbilligend den Kopf schüttelte.
»Ein Nuschtwerk ist das. Haben Sie von der Sorte noch mehr in den Koffern?«
Aha, dachte Holda amüsiert, die liebe Neugierde! Dann sagte sie harmlos: »Darin sind nur die Kleidungsstücke, die jeder Mensch haben muß.«
»Und wovon sind die Dinger denn so schwer?«
»Das machen die Bücher.«
»Wozu brauchen Sie die?«
»Um mich zu bilden.«
»Lernen also. Na, dazu dürfte Ihnen wenig Zeit bleiben. Sie stehen hier nämlich in Lohn und Brot und haben daher Ihre Pflicht zu tun, verstanden?«
»Selbstverständlich, Frau Auguste. Aber in meiner Freizeit…«
»Haben Sie wenig.«
»Na schön«, entgegnete das Mädchen friedfertig, was Guste beschwichtigte.
Es klang schon freundlicher, als sie sagte: »Man muß eben erst abwarten, ob Sie taugen oder nicht. Nun ziehen Sie sich an, in einer halben Stunde ist Frühstück. Heute werde ich Ihnen noch das Bad richten, aber bilden Sie sich nur nicht ein, daß dieses zur Gewohnheit wird.«
»Wo werde ich denn so unbescheiden sein«, tat Holda scheinheilig. »Ich kann mich als einfache Angestellte doch unmöglich von Ihnen bedienen lassen, die Sie hier eine so einflußreiche Persönlichkeit sind.«
»Nun schwingen Sie bloß nicht so große Töne.« Ihre Ehrfurcht fand bei der anderen keine Würdigung. »Von Bedienen kann hier gar nicht die Rede sein. Das gibt’s hier nicht. Die Frau Gräfin hält sich noch nicht einmal eine Zofe, weil sowas nur für gesunde Menschen ist. Bei uns gibt’s überhaupt nur so viel Dienerschaft, wie es sich für Herrschaften schickt.«
Damit verschwand sie im Badezimmer, und Holda lachte in sich hinein. Sie schloß einen Koffer auf, blickte prüfend auf die Kleider, wählte ein buntgemustertes Seidenkleidchen, dazu ein samtnes, besticktes Bolerojäckchen, breitete beides über das Bett und war gespannt, was die Gestrenge daran zu bekritteln haben würde.
Die nahm die niedlichen Sachen denn auch scharf aufs Korn und gab ihr Urteil ab: »Hm, ganz hübsch, nur zu flitterig und zu schade für den Alltag. Jetzt aber rasch angezogen! Wenn die Hofglocke klingelt, dann gibt es Frühstück. Schon das zweite; denn die Arbeit beginnt um sechs. Für Fräuleins wie Sie allerdings erst um acht, weil die Frau Gräfin dann auch erst erscheint. Sie hätte besser getan…« Was, das blieb unausgesprochen, weil die Tür hinter der Nörgelnden zuklappte.
Holda beeilte sich nun mit der Morgentoilette und war gerade damit fertig, als die Hofglocke bimmelte und es gleichzeitig im Hause gongte. Hier schien tatsächlich Pünktlichkeit zu herrschen.
Sie fand nach einigen Irrwegen die Terrasse, wo die Gräfin am Tisch saß und ihr Sohn an der Brüstung lehnte. Ein leichtes Kopfnicken des Mädchens zu ihm hin, das mit einer knappen Verbeugung erwidert wurde, dann neigte Holda sich über die feine Frauenhand.
»Guten Morgen, Frau Gräfin.«
»Guten Morgen, Fräulein Rothe. Gut geschlafen?«
»Danke, ausgezeichnet. Geweckt wurde ich weniger sanft und zwar durch einen Bienenstich am Kopf«, setzte sie lachend hinzu. »Man scheint mich hier als Eindringling zu betrachten, den man verjagen will.«
»Dagegen müssen Sie sich eben wehren«, war die lächelnde Erwiderung. Freundlich schaute dabei die Hausherrin in das reizende Mädchengesicht.
»Ja, was ist denn das?« Holda zeigte auf ein flauschiges kleines Etwas, das in einem Korbsessel saß und sie aus blanken Knopfaugen mißtrauisch musterte.
»Das ist unser kleiner Schnudel«, erklärte Frau Feline. »Ob er rasserein ist, das weiß ich nicht. Doch da mein Sohn ihn mir als Findling ins Haus brachte, besitzt das Tierchen hier Heimatrechte.«
»Du bist ja süß.« Holda näherte sich dem Hündchen, das knurrend das kleine Gebiß fletschte. Auch unter dem Tisch knurrte es. Sich bückend, bemerkte sie Jagdhund und Dackel, die sie alles andere als freundlich ansahen.
»Seid doch nicht so böse«, sagte sie schmeichelnd. »Komm einmal her, du brauner Gesell.«
Der rührte sich nicht. Dafür erhob sich der Jagdhund, ein prächtiger Bursche mit einem selten schönen gelockten Behang. Vorsichtig witternd kam er näher, setzte sich dann vor Holda und blaffte freudig auf. Das war ein Signal für den Langhaardackel, seine buschige Rute in Bewegung zu setzen, und schon war eine dicke Freundschaft geschlossen.
»Man merkt, daß Sie Tiere gern haben, Fräulein Rothe«, sagte die Gräfin befriedigt. »Sonst würden die Hunde nicht so freundlich sein. Selbst Schudel schaut Sie bereits wohlwollend an, was bei seiner Unbestechlichkeit beachtenswert ist. Die Hunde gelten bei uns überhaupt als Barometer für Sympathie und Antipathie.«
Nach dem Frühstück erhielt Holda die Erlaubnis, ihre Sachen auszupacken.
Nachdem alles fein säuberlich am bestimmten Platz lag, ging Holda nach der Terrasse zurück.
»Schon fertig, Fräulein Rothe? Das ist schnell gegangen.«
»Viel war ja auch nicht zu verstauen, Frau Gräfin«, gab das Mädchen frischfröhlich Antwort.
Unter frohem Geplauder verging die Zeit so rasch, daß Frau Feline dem Sohn erstaunt entgegensah, der zu gewohnter Zeit in Begleitung eines Herrn die Terrasse betrat.
»Guten Tag, Herr Doktor«, grüßte sie munter. »Sind Sie gekommen, um mich zu tyrannisieren?«
»Versteht sich, Frau Gräfin«, schmunzelte der ältere Herr. »So vergnügt heute? Das ist brav.«
»Das macht meine muntere Gesellschaft«, wurde ihm erwidert. »Die wirkt mehr Wunder, als Ihre Pillen und Tropfen, Doktorchen. Darf ich bekanntmachen: Herr Doktor Schliereit, Fräulein Rothe.«
»Ah, das zukünftige Fräulein Kollega, wie ich von dem Herrn Grafen hörte.« Der Arzt musterte das Mädchen mit einem Blick, wie man ihn etwa für altkluge Kinder hat, amüsiert und nachsichtig. Dann fühlte er den Puls der Gräfin und nickte zufrieden.
»Erfreulich, in der Tat. Scheint tatsächlich ein Aufheiterungspillchen zu sein, das kleine Fräulein. War schon immer dagegen, daß Frau Gräfin solche Sauertöpfe um sich hatten. Ich bin immer mehr für süße Konfitürenschälchen.« Er zwinkerte Holda verschmitzt zu, die hellauf lachte. So herzerquickend klang das Lachen, daß es selbst einen Griesgram hätte erheitern müssen.
»Wenn das nicht Musik ist!« schmunzelte der Arzt. »Wie alt sind wir denn eigentlich, mein munteres Vögelein?«
»Noch nicht ganz zwanzig, Herr Doktor.«
»Tja, da kann man noch gut lachen. Wenn es Ihre Zeit erlaubt, dann lassen Sie sich mal in meinem Hause sehen! Sind nämlich ein gutes Gespann zu meinen beiden vergnügten Weibsen. Und mein Sohn, der mit mir zusammen praktiziert, sieht sowas Holdseliges auch gern.«
»Herzlichen Dank für die schmeichelhafte Einladung«, gab sie verschmitzt zurück. »Werde ihr Folge leisten, sobald ich kann.«
Das war der Auftakt zu einer Freundschaft, die sich auch für die gräfliche Familie aufs beste bewähren sollte.«
*