Wilde Rose - Leni Behrendt - E-Book

Wilde Rose E-Book

Leni Behrendt

0,0

Beschreibung

Leni Behrendt nimmt längst den Rang eines Klassikers der Gegenwart ein. Mit großem Einfühlungsvermögen charakterisiert sie Land und Leute. Über allem steht die Liebe. Leni Behrendt entwickelt Frauenschicksale, wie sie eindrucksvoller nicht gestaltet werden können. Draußen tobte der Novembersturm in all seinem Getöse, doch in dem Schlafgemach des Schloßherrn von Brandungen herrschte eine Stille, die an Herz und Nerven zerrte. Reglos lag der Herr des feudalen Besitzes auf seinem Krankenlager, scharf beobachtet von dem geübten Auge des Arztes, der am Fußende des Bettes saß. An dessen Seite kauerte die Tochter des Kranken, ein blutjunges Menschenkind, das heute seinen neunzehnten Geburtstag beging. Das goldflimmernde Köpfchen lag müde auf der treuen Vaterhand, die Augen, so leuchtend blau wie das Meer im Sonnenschein, das tief unter dem Schloß brandete, hatte der Schlaf nun endlich übermannt. Mit einem Gefühl der Rührung schaute der »gute Onkel Doktor«, der die kleine Rosita vom ersten Schrei an kannte, auf die Schlafende, die ihm ans Herz gewachsen war, als wäre sie sein eigen Fleisch und Blut. Geschäftig tickte die alte Uhr auf dem Kaminsims, draußen trommelte der Regen gegen die Scheiben, der Sturm riß an den Jalousien und ließ die Fahne auf dem Turm knattern. »Detlef, wo bleibt er?« kam es unendlich müde von den zersprungenen Lippen des Kranken, wie diese Frage schon oft gestellt wurde, nachdem der Kranke wieder bei Besinnung war. »Er muß jeden Augenblick hier sein.« »Herr Doktor, glauben Sie wirklich daran?« »Dann will auch ich es tun, wenn nur das Warten nicht so entsetzlich schwer wäre.« O ja, es war schwer, dieses zermürbende Warten, das konnte der Arzt nur bestätigen, der zwölf Tage und Nächte lang um das Leben rang, das mehr als einmal zu verlöschen drohte. Aber was half all sein Wissen, seine langjährige Erfahrung, wenn die rechte Medizin nicht zur Stelle war. Und diese Medizin hieß Detlef Trutzger. Sorgenvoll schaute der Arzt auf den Kranken, der jetzt wieder so regungslos dalag, als wäre kein Leben mehr in ihm – und auf die schlafende Rosita, die der Vater zärtlich »Wilde Rose« nannte. Doch dann horchte der wachsame Hüter auf. Narrte ihn sein geschärftes Ohr, oder klang wirklich die Hupe eines Autos durch den tosenden Sturm? Leise erhob der Mann sich, warf einen forschenden Blick auf den Kranken und seine fest schlafende Tochter, dann ging er vorsichtig aus dem Zimmer.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 184

Veröffentlichungsjahr: 2023

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Leni Behrendt Bestseller – 64 –

Wilde Rose

Leni Behrendt

Draußen tobte der Novembersturm in all seinem Getöse, doch in dem Schlafgemach des Schloßherrn von Brandungen herrschte eine Stille, die an Herz und Nerven zerrte. Reglos lag der Herr des feudalen Besitzes auf seinem Krankenlager, scharf beobachtet von dem geübten Auge des Arztes, der am Fußende des Bettes saß. An dessen Seite kauerte die Tochter des Kranken, ein blutjunges Menschenkind, das heute seinen neunzehnten Geburtstag beging. Das goldflimmernde Köpfchen lag müde auf der treuen Vaterhand, die Augen, so leuchtend blau wie das Meer im Sonnenschein, das tief unter dem Schloß brandete, hatte der Schlaf nun endlich übermannt. Mit einem Gefühl der Rührung schaute der »gute Onkel Doktor«, der die kleine Rosita vom ersten Schrei an kannte, auf die Schlafende, die ihm ans Herz gewachsen war, als wäre sie sein eigen Fleisch und Blut. Geschäftig tickte die alte Uhr auf dem Kaminsims, draußen trommelte der Regen gegen die Scheiben, der Sturm riß an den Jalousien und ließ die Fahne auf dem Turm knattern.

»Detlef, wo bleibt er?« kam es unendlich müde von den zersprungenen Lippen des Kranken, wie diese Frage schon oft gestellt wurde, nachdem der Kranke wieder bei Besinnung war. Und stets sprach der Arzt die beruhigenden Worte:

»Er muß jeden Augenblick hier sein.«

»Herr Doktor, glauben Sie wirklich daran?«

»Dann will auch ich es tun, wenn nur das Warten nicht so entsetzlich schwer wäre.«

O ja, es war schwer, dieses zermürbende Warten, das konnte der Arzt nur bestätigen, der zwölf Tage und Nächte lang um das Leben rang, das mehr als einmal zu verlöschen drohte. Aber was half all sein Wissen, seine langjährige Erfahrung, wenn die rechte Medizin nicht zur Stelle war.

Und diese Medizin hieß Detlef Trutzger.

Sorgenvoll schaute der Arzt auf den Kranken, der jetzt wieder so regungslos dalag, als wäre kein Leben mehr in ihm – und auf die schlafende Rosita, die der Vater zärtlich »Wilde Rose« nannte.

Doch dann horchte der wachsame Hüter auf. Narrte ihn sein geschärftes Ohr, oder klang wirklich die Hupe eines Autos durch den tosenden Sturm?

Leise erhob der Mann sich, warf einen forschenden Blick auf den Kranken und seine fest schlafende Tochter, dann ging er vorsichtig aus dem Zimmer.

Und siehe da, sein Gehör hatte ihn nicht getäuscht. Denn als er die weite Halle des Schlosses betrat, eilte ihm von der Portaltür her der Heißersehnte entgegen. In seinen blitzblauen Augen flackerte Unruhe, das harte, rassige Antlitz zuckte vor Erregung, die sonore Stimme vibrierte:

»Wie geht es meinem Onkel, Herr Doktor? Komme ich am Ende schon zu spät? »

»Nein, Herr Graf, noch lebt er«, kam die Antwort beruhigend. »Ich verspreche mir viel, sogar alles von Ihrem Kommen.«

»Gott sei Dank! Darf ich zu ihm?«

»Noch nicht, erst möchte ich mit Ihnen sprechen.«

»Also doch Lebensgefahr?«

»Nicht mehr unbedingt.«

»Wo ist Rosita?«

»Schläft augenblicklich den Schlaf tiefster Erschöpfung.«

»Was haben Sie mir zu sagen?«

»Was Sie wissen müssen, bevor Sie zu dem Kranken treten. Wollen Sie mich anhören?«

»Bitte.«

Seine Unruhe unterdrückend betrat der eben Angekommene das nächstliegende Gemach, das in seiner unpersönlichen, steifen Pracht das Besuchszimmer kennzeichnete. Dort ließ er sich, nachdem der Arzt sich gesetzt, ihm gegenüber in den Sessel sinken und fragte: »Wie konnte mein Onkel, der sich stets bester Gesundheit erfreute, zu dieser lebensgefährlichen Erkrankung kommen, Herr Doktor?«

»Durch einen durchaus nicht sensationellen Unfall, Herr Graf. Er erstieg in der Bibliothek die Leiter, glitt ab, fiel mit dem Kopf auf die scharfe Kante des Bücherbordes und schlug sich eine tiefe Wunde, direkt neben der Schläfe. Zehn Tage lang schwebte der Verletzte zwischen Leben und Tod, so daß ich zuerst mit seinem Scheiden rechnen mußte. Aus seinen Fieberphantasien konnte ich heraushören, wie unsagbar er sich mit der Zukunft seines Kindes abquälte.

Nun, ich brauche Ihnen ja nichts weiter zu erklären, Herr Graf. Brandungen ist Majorat. Sie sind der nächste Agnat, der Erbe, vor drei Jahren von dem jetzigen Majoratsherrn in Groll geschieden…«

Der Arzt hielt vielsagend inne, sah sein Gegenüber forschend an, der ungeduldig abwinkte.

»Ich verstehe, Herr Doktor. Die Sorge meines Onkels gilt Rosita und deren Zukunft.«

»Ganz recht, Herr Graf. Mit dem Moment, wo der Vater die Augen schließt, hätte die Tochter jeden Anspruch auf Brandungen verwirkt, wäre heimatlos.«

Wieder schwieg der Mann, weil er mit seiner Mission eigentlich zu Ende war. Die Kombination mußte er dem anderen überlassen, und der kombinierte überraschend schnell.

»Demnach verlangt der Onkel meine Verbindung mit seiner Tochter, um sie für alle Zeit auf Brandungen sicher aufgehoben zu wissen; stimmt’s, Herr Doktor?«

»Genau, Herr Graf.«

»Und Rosita?«

»Ist ein verzogenes Kind mit einem zärtlichen, ungestümen Herzchen. Es würde sich das, natürlich bildlich genommen, unbedenklich aus der Brust reißen, wenn es den geliebten Papa damit gesundmachen könnte.«

Da sprang Detlef auf, trat an das Fenster und schaute auf die tobende See hinunter. Hinter seiner Stirn jagten die Gedanken in wildem Chaos durcheinander, bis sie sich endlich ordneten und in die Vergangenheit tauchten.

Detlef Trutzger, der Waisenknabe, konnte sich kaum noch auf seine leiblichen Eltern, die so füh dahinschieden, besinnen. Sein Vater war immer nur der Majoratsherr von Brandungen gewesen, dieser Onkel dritten Grades, in dessen treuer Hut er seit seinem vierten Lebensjahr heranwuchs. Dreißig Jahre zählte der Majoratsherr damals, als er den verwaisten Neffen liebevoll an sein Herz nahm. Er war immer noch unbeweibt, und seine Ehescheu ließ daraus schließen, daß er es auch bleiben würde. Erwuchs ihm doch in Detlef, der so ganz nach seinem Herzen war, der Erbe des Majorats, da es nähere Agnaten dafür nicht gab. Warum da eine liebeleere Ehe schließen, denn sein Herz hatte bisher immer noch nicht gesprochen.

Es tat das erst, als er die Vierzig erreicht hatte, und zwar so eindringlich, daß er das Mädchen seiner Wahl ohne Besinnen heimführte, obwohl es von sehr zarter Gesundheit war. Und als die Gattin ihm gar nach Jahresfrist ein Töchterlein schenkte, hielt er sich für den Glücklichsten aller Sterblichen.

Sie war sanft und gut, seine Hilda, ein engelhaftes Wesen, das er förmlich vergötterte. Leider kränkelte sie nach der Geburt des Kindes, konnte sich nach ihr nicht mehr recht erholen. Daher konnte sie sich um die kleine Rosita nicht so kümmern, wie sie es gern gewollt, und konnte es nicht verhindern, daß diese wie ein kleiner Wildling heranwuchs.

So ging es sechs Jahre, dann starb die Mutter des Kindes. Wie ein mattes Licht verlöschte sie, still, müde, wie sie in den letzten Jahren gelebt. Der Schmerz des Gatten war tief, lange konnte er über den Tod der geliebten Frau nicht hinwegkommen. Rosita wurde sein Abgott, aber er vergaß darüber auch Detlef nicht, der ihm wie ein Sohn ans Herz gewachsen war. Der Mann lebte nur noch für seine Kinder, bis – ja, bis eine Frau auftauchte, die Onkel und Neffen zugleich verführerisch umgarnte. Bei ersterem interessierte die mondäne Schöne der Geldbeutel, bei letzterem der Mann. Ihrer Ansicht nach ließ sich beides wunderbar miteinander vereinen, man mußte es nur geschickt anfangen.

Allein, da hatte diese abenteuerliche, mit allen Wassern der mondänen Welt gewaschene Frau die Rechnung ohne die beiden Ehrenmänner gemacht. Für sie gab es nur ein Entweder-Oder. Und als der Jüngere bemerkte, daß dem Älteren mehr Chancen geboten wurden, da räumte er ohne jeden Kommentar das Feld. Verließ die Stätte, die ihm Heimat war, verließ die beiden Menschen, an denen sein Herz zutiefst hing. Das andere hatte mit seinem Herzen nichts zu tun, war nur eine Verirrung gewesen. Dessen wurde er sich gleich bewußt, sobald er den Verführungskünsten der raffinierten Kokotte entrückt war. Der Onkel tat ihm leid, der sich auch in ihren Netzen so gründlich verfangen hatte. Er würde seine späte Liebe bitter bereuen müssen.

Allein, das Schicksal hatte ein Einsehen, öffnete dem Verblendeten die Augen noch vor Toresschluß, und die skrupellose Schöne wurde auch diesen Ehekandidaten los. Nun, sie machte sich nicht viel daraus.

Um so mehr litten die beiden Männer darunter, der eine hier, der andere dort. Es schien keine Brücke mehr zu geben, die sie wieder zusammenführte. Der Onkel verwaltete weiter seinen Besitz, der Neffe trieb sich irgendwo in der Weltgeschichte herum. Er konnte es unbesorgt tun, da er über das elterliche Vermögen verfügte, welches von dem fürsorglichen Vormund sicher angelegt worden war.

Daß er einmal Brandungen übernehmen konnte, den Traum hielt Detlef Trützger für ausgeträumt. Er zweifelte nämlich keinen Augenblick daran, daß der Onkel die verräterische Frau geheiratet hatte. Und diese war noch jung genug, um Brandungen den Erben zu schenken.

Um so besser war der Onkel über den Neffen orientiert. Er wußte genau über dessen Leben und Treiben, über seinen Aufenthalt Bescheid.

Und so konnte es kommen, daß Detlef den Brief des Arztes erhielt. Das Schreiben hatte ihn, der sich gerade hoch oben in Norwegen aufhielt, auf Umwegen und mit beträchtlicher Verspätung erreicht. Und in dem Schreiben stand, daß sein Onkel Rasmus lebensgefährlich erkrankt sei und daß er das Kommen des Neffen ersehnte. –

Langsam wandte der junge Graf sich jetzt dem Arzt zu, der im Sessel saß und geduldig wartete, bis der Mann sich zu einem klaren Entscheid durchgerungen hatte.

»Ich möchte jetzt zu meinem Onkel, Herr Doktor«, klang die sonore Männerstimme fest durch das tiefe Schweigen. »Ich bin bereit, alles das zu tun, was er von mir verlangt, verlangen muß, da es um die Zukunft seines einzigen, so heißgeliebten Kindes geht.«

»Das freut mich, Herr Graf«, entgegnete der Arzt warm. »Ehrlich gesagt, habe ich mit diesem Entschluß gerechnet und erwarte für meinen Kranken viel von ihm. Möge der Herrgott dem Hause Trutzger gnädig sein.«

*

Leise trat der junge Graf an das Bett des Pflegevaters und beugte sich über ihn. In dem harten Männerantlitz zuckte es vor Erschütterung. Was war aus dem kerngesunden, immer so schneidigen Mann geworden, der, als er ihn vor Jahren verließ, die Vitalität eines jungen Mannes besaß? Ein menschliches Wrack.

Warm umschlossen die nervigen Männerhände die schlaffen, müden, und eine vibrierende Stimme sprach langsam und behutsam:

»Onkel Rasmus, ich bin bei dir. Onkel Rasmus, dein Junge ist da.«

Die Lider des Kranken zuckten, öffneten sich mühsam, und dann hob ein tiefer Atemzug die Brust.

»Endlich bist du da, mein Junge. Gott sei Lob und Dank! Weißt du auch, was mein heißester Wunsch ist? Rosita und du…«

Flehend hingen die Augen des Kranken an dem Gesicht über dem seinen, bettelten wie um Gnade.

»Junge, darf ich das überhaupt von dir verlangen?«

»Ja, Onkel Rasmus, das darfst du«, erfolgte die Antwort fest und bestimmt. »Kraft deines Vaterrechtes, das du an dem Waisenknaben erwarbst und der dir zur Dankbarkeit verpflichtet ist. Ich schwöre dir, deinen berechtigten Wunsch zu erfüllen.«

Da glitt ein Lächeln um den blutleeren Mund des Kranken. Der Bick wanderte wie suchend weiter und blieb dann an dem gleißenden Köpfchen hängen, das am Bettrand lehnte. Fest lagen die langen Wimpern über den Augen, die in den kummervollen Tagen und Nächten sich heiß und müde geweint hatten. Die kraftlose Hand des Kranken hob sich mühsam, legte sich wie segnend auf das Köpfchen seines Kindes, und dann fielen auch diese müden Augen zu.

»Um Gott, Herr Doktor!« fuhr Detlef angstgepeinigt zu dem Arzt herum, der dem Vorgang mit atemloser Spannung gefolgt war. Doch der flüsterte ihm beruhigend zu:

»Keine Angst, Herr Graf, unser Kranker schläft, und diesen Schlaf habe ich ersehnt. Ihr Erscheinen hat das Wunder bewirkt, das ich erhoffte. Doch nun müssen wir zusehen, daß wir das Komteßchen von seinem unbequemen Platz weglotsen. Das arme Kind ist ja zwölf Tage und Nächte lang nicht aus den Kleidern gekommen. Kein Wunder, daß der Schlaf es endlich überwältigte.«

Damit trat er zu der Schlafenden und schüttelte sie leicht.

»Heda, Komteßchen, ermuntern Sie sich«, sprach er gedämpft auf sie ein, die auch gleich hochfuhr und die schlaftrunkenen Augen erschrocken aufriß.

»Großer Gott, Paps, mein Paps!« flatterte das Stimmchen angstbebend – auf, doch schon legte sich die Hand des Arztes zärtlich auf die bebenden Lippen.

»Pst, er schläft, aber schauen Sie mal, wen wir hier haben.«

Sein Finger zeigte auf Detlef, die Mädchenaugen öffneten sich weit, dann hing dem Mann etwas Warmes, Weiches am Hals.

»Detlef, nun bist du endlich da, jetzt wird alles gut.«

Der zarte Körper wurde plötzlich schwer, sackte in sich zusammen – der Graf hielt eine Ohnmächtige im Arm. Rasch gefaßt hob er sie hoch, trug sie in das Nebenzimmer und legte sie auf den Diwan. Dann ging er dem Arzt zur Hand, und bald schlug Rosita die Augen auf.

»Nun, Komteßchen, das finde ich aber gar nicht hübsch von Ihnen«, polterte der Arzt, um seine Rührung zu verbergen. »Uns so zu erschrecken, ist einfach unerhört. Und dabei geht es dem Paps so gut, er schläft sich gesund.«

»Wirklich, Herr Doktor, brauche ich keine Angst mehr zu haben?«

»Na, erlauben Sie mal, kleine Dame, seit wann soll ich denn schwindeln? Und Angst haben nur Feiglinge, nicht wahr, Herr Graf?«

»Will ich meinen«, gab dieser lächelnd Antwort und setzte

sich auf den Diwan. Mit einem Gefühl der Rührung schaute er in das blasse, magere Gesichtchen, aus dem die Augen unnatürlich groß heraussahen.

»Bleibst du jetzt hier, Detlef?«

»Ja, Rosita.«

»Für immer?«

»Ja.«

»Wirst du mich auch heiraten, weil der Paps es so haben will?«

Er sowie die beiden anderen Menschen hatten Mühe, bei dieser kindlichen Frage ein Lächeln zu unterdrücken.

»Willst du mich denn auch, Rosita?«

»Ja, weil Paps das für richtig hält. Und du?«

»Gleichfalls.«

»Nun, dann ist ja alles gut, dann wird der Paps bestimmt gesund werden. Er konnte es ja bisher nicht, weil er sich so sehr um mich sorgte, aber jetzt bist du ja da.«

Die letzten Worte tropften nur noch schlaftrunken von den Lippen, dann fiel das gleißende Köpfchen zur Seite. Rosita schlief so tief und fest wie jemand, der sein Geschick in zuverlässigen Händen weiß.

Gerührt schauten die drei Menschen auf das schlummernde Mädchen, das trotz seiner neunzehn Jahre immer noch wie ein weltfremdes Kind war, ein verzogenes, wildes, aber liebreizendes Mädchen. Schmunzelnd meinte der Arzt:

»Die ist für mindestens vierundzwanzig Stunden wohlverwahrt und aufgehoben. Hat diesen Schlaf aber auch redlich verdient.«

*

Unberechenbar, wie der November nun einmal ist, brach er plötzlich sein Toben ab und ließ die verkrochene Sonne durch die zerrissenen Wolken lugen, bis in das Zimmer hinein, wo der gestern heimgekehrte junge Graf in seinem breiten Bett schlummerte. Die Augen öffneten sich, schauten zuerst noch schlaftrunken umher, ein kurzes Besinnen, dann sprang er mit beiden Beinen zugleich aus dem Bett, gähnte herzhaft, streckte die wundervoll gewachsenen Glieder und ging dann erst einmal unter die Brause des nebenan liegenden Badezimmers, wo er, genauso wie in seinen eleganten Räumen, alles vorfand, wie es ihm von jeher vertraut war und wie er es vor drei Jahren verließ. Das Heimatgefühl durchrieselte ihn wie eine heiße Welle der Freude, er war wieder zu Hause.

Rasch betrat er das Arbeitszimmer, wo inzwischen der treue Jan die von der Bahn geholten Koffer ausgepackt und die Sachen sorgfältig verstaut hatte.

Jan, ja, der gehörte auch zu Brandungen, wie Schloß und Wald und See. Man konnte ihn sich einfach nicht wegdenken, genausowenig wie seine gutherzige, allzeit frohgemute Frau Alma, die über dem ganzen Hauswesen das Zepter schwang.

Als alter Bestand existierte nun noch Mamsell Lottchen, die ihre gut zwei Zentner Lebendgewicht vergnügt, resolut und umsichtig durch Küche und Keller schob. Die andere Dienerschaft war teils länger, teils kürzer da.

Detlef zog den Reitdreß an, griff nach der Gerte und ging erst einmal nach dem Schlafzimmer des Onkels, öffnete die Tür und lugte durch den Spalt. Lächelnd winkte ihm die Pflegerin zu, er trat näher und fand den Kranken friedlich schlafend. Leise gingen sie ins Nebenzimmer, wo Detlef hastig fragte:

»So geht es meinem Onkel gut, Schwester Agathe?«

»Erfreulich gut, Herr Graf. Er hat die Nacht durchgeschlafen.«

»Gott sei Lob und Dank! Da wird der liebe Onkel Doktor schmunzeln, wenn er sein Sorgenkind in Augenschein nimmt.«

Damit ging er zu den Ställen hinüber, wo ihm der Pferdepfleger, der schon sein Pony betreute, lachend über das ganze faltige Gesicht entgegensah.

»Guten Morgen, Kilian. Immer noch in alter Frische?«

»Muß ja woll so sin. Aber daß der Herr Graf jetzt wieder hier sind, na ja.«

Hastig wandte er sich ab, ging in den Stall, wo er sich verstohlen über die Augen wischte und dann mit einem gesattelten Rappen erschien, bei dessen Anblick es in den Augen Detlefs aufleuchtete.

»Aber das ist ja mein guter alter Witold!«

Als er dann später das Frühstückszimmer betrat, war es nun wieder Jan, der seine geschulte Dienermiene heute so gar nicht in der Gewalt hatte. Die guten Augen leuchteten, das Gesicht zuckte.

»Daß der Herr Graf nun wieder zu Hause sind! Es war so gar kein Leben hier, so ohne unseren jungen Herrn. Jetzt wird der Herr Graf bestimmt gesund werden.«

»Gottlob, Alter. Aber wie ist es, muß ich allein frühstücken?«

»Sehr wohl, Herr Graf. Unser Komteßchen schläft noch.«

»Schön, laß ich es mir eben allein gut schmecken.«

Nachdem er mit gutem Appetit sein Frühstück verzehrt hatte, ging er wieder ins Krankenzimmer und fand diesmal den Onkel wach vor. Die Schwester war gerade dabei, ihren Pflegling zu füttern, der alles willig schluckte, was ihm gereicht wurde.

»Junge, da bist du ja«, klang die Stimme des Kranken dem Eintretenden entgegen. »Ich konnte es noch gar nicht fassen, glaubte geträumt zu haben, daß du nach Hause zurückgefunden hast. Wohl zwanzigmal mußte Schwester Agathe das beteuern. Komm, tritt näher. Wie geht es dir, mein Junge?«

»Das möchte ich in erster Linie dich fragen, Onkel Rasmus«, war die lachende Erwiderung. »Denn schließlich bist du ja der Kranke. Gut geschlafen?«

»Sehr gut sogar. Der lange Schlaf hat mich so erquickt, daß ich am liebsten aufstehen möchte.«

»Wollen und können dürfte immer noch zweierlei sein, Herr Graf«, meinte die Pflegerin trocken, während sie den Kranken bequem bettete. »Dazu wird noch manches erquickende Schläfchen nötig sein.«

»Na schön, Sie sollen recht behalten, Schwester Agathe. Laß ich mich eben von Ihnen tyrannisieren.«

In dem Moment öffnete sich die Tür, und ein goldbraunes Köpfchen lugte durch den Spalt. Dann schob sich das grazile Persönchen nach und stand vor dem Bett des Vaters.

»O Paps, ich bin ja so glücklich.«

Dabei kullerten die hellen Tränen über die Wangen, die in den Tagen der Angst und Not blaß und schmal geworden waren.

»Ist ja schon gut, mein Röslein«, beschwichtigte der Vater gütig. »Deine Äuglein dürfen nun wieder strahlen, die so viele heiße Tränen vergossen. War es schlimm, mein Kleines?«

»Es ging an, Paps«, kam die Antwort mit einer Sanftmut, die bei dem sonst so temperamentvollen Persönchen eigen anmutete. »Aber das ist ja gewesen. Du wirst ganz gesund werden, und Detlef ist wieder da.«

*

Es war zwei Wochen später. Der November schickte sich an, sein launisches Regiment aufzugeben und dem Dezember Platz zu machen. Schon lag es wie ein Ahnen des kommenden eisigen Zepters über der Natur. Blutrot versank die Sonne hinter der See und deutete damit klaren Frost an.

Die letzten, schon müden Strahlen huschten durch das trauliche Gemach, in dem Onkel und Neffe am prasselnden Kaminfeuer saßen. Ersterer war immer noch ein wenig schwach, obwohl er das nicht zugeben wollte. Die gefährliche Wunde, die ihm fast das Leben gekostet hatte, war schon vernarbt, aber immer noch empfindlich. Quer darüber klebte ein breites Pflaster.

»Reich mir mal bitte die Zigarrenkiste, Detlef«, klang die Stimme des Älteren durch das behagliche Schweigen. »Zwei der beliebten Dinger sind vom Doktor erlaubt.«

Einige hastige Züge aus der Zigarre, dann die verlegene Frage:

»Du weißt doch hoffentlich, worum es sich handelt?«

»Keine Ahnung, Onkel Rasmus.«

»Junge, seit wann bist du denn so begriffsstutzig? Sitz nicht da wie die personifizierte Gelassenheit? Wenn ein anderer sich mit etwas herumplagt, was ausgesprochen werden muß.«

Da lachte der andere auf, tief und klangvoll schwang dieses sonore Lachen durch den Raum.

»Warum quälst du dich mit Dingen herum, die schon längst entschieden sind, Onkel Rasmus?«

»Weil das nun hinfällig geworden ist, was du einem Todkranken versprachst. Und die sind allemal egoistisch, Detlef. Die denken nur daran, alles das, was ihnen lieb und wert ist, in treuen Händen zurückzulassen. Daher mein quälendes Verlangen, Rosita in deiner Hut zu wissen. Aber jetzt bin ich wieder gesund – oder beinahe.«

»Und dieses Verlangen besteht nicht mehr, Onkel Rasmus?«

»Doch, Detlef, nach wie vor. Mein ungeahnter, eigentlich lächerlicher Unfall hat mir nämlich bewiesen, wie leicht sterblich der Mensch ist, wie er im Augenblick dahin sein kann. Man muß eben sein Haus bestellt haben, verstehst du mich?«

»Ja. Daher werde ich mein Wort einlösen und Rosita heiraten. Nun hast du es klipp und klar ausgesprochen. Was noch mehr?«

»Junge, deine Gelassenheit möchte ich haben! Es handelt sich doch hier um dein Lebensglück, um deine Zukunft. Rosita wäre dir doch nur eine aufgezwungene Frau.«

»Seit wann gibst du dich mit Phrasen ab, Onkel Rasmus?« fragte der Neffe ruhig. »Wenn ich Rosita heirate, geschieht es von meiner Seite aus aus freiem Willen. Wollen wir nicht lieber zu ergründen suchen, wie sie selbst darüber denkt?«

»Sie liebt dich, Detlef.«

»Was weiß dieses Kind von Liebe. Die ist ihr, wenigstens jetzt noch, ein unbekannter Begriff. Du hast Rosita eben zu weltfremd erzogen, das macht sich jetzt bemerkbar. Denn ein neunzehnjähriges Mädchen dürfte eigentlich nicht mehr so unbekümmert in den Tag hinein leben, müßte reifer, nicht mehr so kindlich sein.«

»Na gut, ich stecke mir deinen Vorwurf als berechtigt ein, mein Sohn. Doch glaube mir, ich kenne mein Kind am besten. Es liebt dich, wenn auch vorläufig unbewußt.«

»Somit wäre ja alles in schönster Ordnung.«

Und dann trat Rosita ein. Wirr hingen die kastanienbraunen Locken über Gesicht und Nacken bis zur Schulter hinab, die Augen blitzten gleich kostbaren Saphiren.

Die Hand, die nach einer Zigarette griff, ließ an Sauberkeit zu wünschen übrig, von einer Maniküre ganz zu schweigen. Der flauschige Pullover, den sie über der Bluse trug, zeigte ein Loch, die Hose war befleckt, die Reitstiefelchen bespritzt.

Doch all das schien die kleine Amazone, die sozusagen auf dem Pferd zur Welt gekommen war, nicht zu stören.

*