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Leni Behrendt nimmt längst den Rang eines Klassikers der Gegenwart ein. Mit großem Einfühlungsvermögen charakterisiert sie Land und Leute. Über allem steht die Liebe. Leni Behrendt entwickelt Frauenschicksale, wie sie eindrucksvoller nicht gestaltet werden können. Frühlingsstürme durchbrausten das Land. Rücksichtslos fegte der übermütige Gesell alles hinweg, was sein erbitterter Gegner, der rauhe Winter, zurückgelassen hatte. Huuuuiiii –! – orgelte und pfiff es in den Lüften wie Hohngelächter, so daß es den Menschen, die sich draußen aufhielten, angst und bange wurde. So auch denen, die einer Toten das letzte Geleit gegeben hatten. Eilig strebten sie von dem Grabe fort, mit scheuem Blick das junge Mädchen streifend, das an der Seite eines älteren Herrn stand und sich von der trostlosen Stätte nicht trennen zu können schien. In dem blassen Gesicht zuckte verhaltener Schmerz, die vom Weinen geschwollenen Augen schauten hilfesuchend den Mann an, der voll Erbarmen den Arm um die Schulter des blutjungen Menschenkindes legte. »Komm, mein Kind«, sagte er gütig. »Du kannst dich ja kaum auf den Beinen halten bei dem tobenden Sturm. Du mußt dich damit trösten, daß die Tote ein so hohes Alter erreichte.« »Ach, Onkel Alfred«, winkte sie müde ab. »Ob alt oder jung – es ist der gleiche Schmerz, wenn ein geliebter Mensch dahingeht wie meine Großtante Cordula. Dazu so plötzlich und ungeahnt, daß es mir nicht einmal vergönnt war, Abschied von ihr zu nehmen. Nun sage nur noch, daß sie einen schönen Tod hatte.« »Tu ich auch«, entgegnete er mit nachsichtigem Lächeln. »Und du wirst mir recht geben, sofern der erste wütende Schmerz vorüber ist. Ich würde dir raten, jetzt nicht in das leere Lindenhaus zurückzukehren, sondern nach Föhrengrund zu fahren, eine Schlaftablette zu nehmen und somit erst einmal hinwegschlummern über Trübsal und Pein.«
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Seitenzahl: 197
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Wo die dunklen Föhren stehen, wo die schmucken Herden gehn, da bin ich zu Haus …
Frühlingsstürme durchbrausten das Land. Rücksichtslos fegte der übermütige Gesell alles hinweg, was sein erbitterter Gegner, der rauhe Winter, zurückgelassen hatte.
Huuuuiiii –!– orgelte und pfiff es in den Lüften wie Hohngelächter, so daß es den Menschen, die sich draußen aufhielten, angst und bange wurde. So auch denen, die einer Toten das letzte Geleit gegeben hatten. Eilig strebten sie von dem Grabe fort, mit scheuem Blick das junge Mädchen streifend, das an der Seite eines älteren Herrn stand und sich von der trostlosen Stätte nicht trennen zu können schien. In dem blassen Gesicht zuckte verhaltener Schmerz, die vom Weinen geschwollenen Augen schauten hilfesuchend den Mann an, der voll Erbarmen den Arm um die Schulter des blutjungen Menschenkindes legte.
»Komm, mein Kind«, sagte er gütig. »Du kannst dich ja kaum auf den Beinen halten bei dem tobenden Sturm. Du mußt dich damit trösten, daß die Tote ein so hohes Alter erreichte.«
»Ach, Onkel Alfred«, winkte sie müde ab. »Ob alt oder jung – es ist der gleiche Schmerz, wenn ein geliebter Mensch dahingeht wie meine Großtante Cordula. Dazu so plötzlich und ungeahnt, daß es mir nicht einmal vergönnt war, Abschied von ihr zu nehmen. Nun sage nur noch, daß sie einen schönen Tod hatte.«
»Tu ich auch«, entgegnete er mit nachsichtigem Lächeln. »Und du wirst mir recht geben, sofern der erste wütende Schmerz vorüber ist. Ich würde dir raten, jetzt nicht in das leere Lindenhaus zurückzukehren, sondern nach Föhrengrund zu fahren, eine Schlaftablette zu nehmen und somit erst einmal hinwegschlummern über Trübsal und Pein.«
»Das werde ich auch. Denn offen gestanden habe ich ein wahres Grauen davor, die Räume aufzusuchen, wo vor einigen Tagen noch Tante Cordula lebte.«
Sie schluckte an den aufsteigenden Tränen und hastete zu dem Auto hin, dessen Schlag der Chauffeur öffnete. Als sie Platz genommen hatte, streckte sie durch das geöffnete Fenster dem zurückbleibenden Begleiter die Hand hin. »Auf Wiedersehen, Onkel Alfred.«
»Auf Wiedersehen, mein Kind. Wird es dir möglich sein, morgen schon bei mir zu erscheinen?«
»Wegen des Testaments?« fragte sie schmerzlich berührt dagegen.
»Ja. Du müßtest allerdings deinen Vormund mitbringen.«
»Gut, wir kommen. Hab herzlichen Dank für deine gütige Unterstützung während der letzten aufregenden Tage, lieber Onkel Alfred.«
»Das war nur selbstverständlich, Gundis. Du weißt ja, wie sehr ich meine alte Freundin Cordula verehrte. Ihr plötzlicher Tod macht mir viel Kummer. Also bis morgen denn, mein Kleines. Laß das Köpfchen nicht gar zu sehr hängen.«
Ein warmer Händedruck wurde getauscht, dann fuhr das Auto an. Und während es rasch dahinglitt, gab Gundis Haiden sich ihren Gedanken hin, die sich von der trostlosen Gegenwart lösten und in die Vergangenheit zurückschweiften.
Da war zuerst einmal ihre Mutter, eine geborene Freiin von Suderwang. Deren Vater, ein aktiver Offizier, war schon nicht mehr jung, als er heiratete. Sechs Jahre dauerte die Ehe, dann starb die Gattin, ein fünfjähriges Töchterchen zurücklassend. Wiederum zwei Jahre später verliebte sich der Witwer rettungslos in die schöne Baroneß Diederlitz, und da sie bettelarm war, nahm die Zwanzigjährige den Fünfundfünfzigjährigen, nur um standesgemäß versorgt zu sein. Trotzdem wurde die Ehe gut, die jedoch nur vier Jahre währte, weil der Oberst von dem Höchsten abgerufen wurde.
Somit war die elfjährige Tessa von Suderwang ganz verwaist und ihrer jungen Stiefmutter auf Gnade und Ungnade ausgeliefert. Allein, die schöne Beatrice behandelte das Kind nicht schlecht, brachte es sogar in die Ehe mit, die sie nach Ablauf des Trauerjahres mit dem Grafen Hagelungen auf Föhrengrund schloß. Und dieses Bündnis war eine ausgesprochene Liebesheirat von beiden Seiten.
Daher hätten die Glücklichen es wohl verstehen müssen, als ihre Stieftochter Tessa mit zweiundzwanzig Jahren den Mann zu heiraten wünschte, den sie von ganzem Herzen liebte. Aber er war Administrator einer Domäne, dazu bürgerlicher Herkunft – und das genügte dem gräflichen Paar für ihre Stieftochter nicht. Doch dieser genügte es vollkommen. Mit einer bewundernswerten Beharrlichkeit setzte sie sich über alle Proteste hinweg, ehelichte den Mann ihrer Wahl und wurde unsagbar glücklich.
Die kleine Gundis, die nach einem knappen Jahr auf der Bildfläche erschien, beglückte nicht nur das Elternpaar, sondern auch die Verwandten, mit denen man herzlichen Umgang pflegte. Dazu gehörte der ältere Bruder des strahlenden jungen Vaters, Oberförster Haiden nebst Gattin, deren Ehe leider kinderlos blieb, ferner Tante Cordula, eine Schwester von Tessas Vater. Dieses alte Fräulein besaß unweit der Domäne ein ländliches Anwesen, worauf die resolute Dame segensreich wirkte.
Und in dem Lindenhaus, das so genannt wurde, weil uralte prächtige Linden es wie treue Wächter umstanden, lernte Tessa von Suderwang auch den Liebsten, Felix Haiden, kennen, der die Bewohnerin des Lindenhauses außerordentlich schätzte und sich öfter einmal zu einem gemütlichen Plausch in der harmonischen Häuslichkeit einfand. Auch die alte Dame war dem Administrator zugetan und konnte es sehr wohl verstehen, daß das Herz ihres Bruderkindes Tessa dem herzensguten Mann sofort zuflog.
Und Tante Cordula war es auch, die der Nichte das Rückgrat steifte, als dieser von den Stiefeltern Schwierigkeiten gemacht wurden.
»Laß dich nur nicht irremachen, mein Kind«, sagte die alte Dame grimmig, als Tessa sie ins Vertrauen zog. »Wenn du deinen Felix liebst, dann heirate ihn, selbst den hochnäsigen Herrschaften zum Trotz. Damit es dir nicht so geht wie mir, die ich nicht stark genug war, die Hindernisse aus dem Wege zu räumen, die die liebe Verwandtschaft zwischen mir und dem Mann meines Herzens errichtete, nur weil er kein von vor seinem Namen aufweisen konnte und auch kein Krösus war. Und da ich keinen andern mochte, so wurde ich eine alte Jungfer.«
So weit kam Gundis Haiden mit ihren Gedanken, als das Auto vor dem Portal des Föhrengrunder Schlosses hielt, das zu einer Zeit erbaut war, als man nüchterne Sachlichkeit noch nicht kannte. Wo es noch keine Rekordarbeit gab, sondern in Ruhe Stein zu Stein gefügt wurde, und wirklich kunstverständige Menschen ihr Bestes hergaben, um etwas Schönes, Erhabenes zu schaffen.
Auf das junge Schloßfräulein machte der feudale Bau, der auch innen viel Wertvolles und Kostbares barg, allerdings keinen erschütternden Eindruck mehr, weil es an die Pracht gewöhnt war. Es hatte keinen Blick für die prunkvolle Halle, huschte achtlos über die schwellenden Läufer der breiten gewundenen Treppe und betrat oben ein trauliches Wohngemach, dem sich ein allerliebstes Schlafzimmer anschloß. Dorthin lenkte Gundis ihre Schritte, schluckte eine Tablette, kleidete sich hastig aus und schlüpfte unter die hellseidene Daunendecke. Schmiegte sich in das weiche spitzenumsäumte Kissen und fühlte sich unter dem duftigen Betthimmel so geborgen wie nirgends sonst.
Nur schlafen – nichts mehr denken müssen – auch nicht mehr weinen. Und während die Tablette sie langsam einlullte, zog ihr Leben kaleidoskopartig bunt und schillernd durch ihre schon leicht benebelten Gedanken. Sie sah sich als Kind, gehätschelt und geliebt von den Eltern, von Tante Gerta, Onkel Fritz, Großtante Cordula und dem besten Freund des Vaters, Justizrat Eiwer nebst seiner sanften Gattin, die alle einen Platz in ihrem zärtlichen Kinderherzchen einnahmen. Sie sah sich durch das große Gutshaus tollen, durch das gemütliche Forsthaus, das traute Lindenhaus, ein herziger kleiner Kobold, ausgelassen und voll Drollerie. Nur wenn sie einige Male im Jahr an der Hand der Mutter ins Föhrengrunder Schloß ging, war sie von einer musterhaften Artigkeit. Aber nur, weil die ganze Umgebung sie bedrückte, die drei Bewohner ihr eine unüberwindliche Scheu einflößten. Selbst der Sohn des Hauses, der doch nur zehn Jahre mehr zählte als sie. Artig gratulierte sie zu den Geburtstagen oder wünschte frohes Fest zu Weihnachten, Neujahr, Ostern und Pfingsten. Dann saß sie in dem Sessel wie angewachsen und antwortete schüchtern, wenn sie gefragt wurde.
Und diese sieben Besuche im Jahr, die unbedingt sein mußten, wie die Mutter immer wieder ernst betonte, waren die einzigen Schatten, die auf ihr Kinderleben fielen. Sonst ging es dahin, gleich einem sonnigen, glücksdurchwehten Traum.
*
Am nächsten Morgen erschien Gundis mit zehn Minuten Verspätung am Frühstückstisch, was ihr eine Rüge der Hausherrin eintrug. Es klang recht mißbilligend, als diese sagte:
»Ich bitte mir mehr Pünktlichkeit aus, mein Kind.«
»Verzeih, Tante Beatrice, es soll nicht wieder vorkommen.«
Damit war die Angelegenheit erledigt. Denn man liebte es in diesem Hause nicht, einem Menschen lange Vorhaltungen zu machen, geschweige denn, ihn wegen eines Vergehens gar zu schelten.
Gräfin Beatrice, die Seele vom Ganzen, gehörte zu den Menschen, die so vornehm wirken, daß man sich in ihrer Gegenwart einfach artig benehmen mußte. Jünger aussehend, als ihre fünfundfünfzig Jahre bedingten, war sie immer noch schön, wunderbar gepflegt und stets mit ausgesuchter Eleganz gekleidet. Gleichfalls Graf Konrad, der Senior der Familie, ein distinguierter Herr mit angegrauten Schläfen und jugendlich aufrechter Haltung.
Der junge Graf Argulf von hoher Gestalt, rassigem hartgeschnittenem Antlitz, blondhaarig und blauäugig, seine Gattin, eine hochblonde Schönheit, sehr mondän, sehr fesch, sehr von sich eingenommen. Und unter diesen vier Hagelungen saß die junge Gundis Haiden, die man mit bezaubernd bezeichnen konnte. Goldbraunes Haar umflirrte in zwanglosem Lockengewirr das überaus feine Gesichtchen, das zwei überraschend große leuchtendblaue Augen wundersam belebte. Der hochmütige Ausdruck störte nicht darin, sondern gab im Gegenteil dem grazilen Persönchen einen gewissen Charme.
Heute allerdings war das sonst so blühende Antlitz blaß, die Augen blickten trübe und matt. Das schwarze Kleid gab dem blutjungen Menschenkind etwas Rührendes, was jedoch unbemerkt blieb. Man wußte natürlich, warum Gundis das düstere Gewand trug, aber man erwähnte den Tod der achtundachtzigjährigen Cordula von Suderwang mit keinem Wort. Man war wohl der Ansicht, daß man einem so hochbetagten Menschen nicht nachzutrauern brauchte, wenn er endlich von hinnen schied.
»Ich möchte dich bitten, Onkel Konrad«, sagte Gundis jetzt leise, »mich heute zu Justizrat Eiwer zu begleiten. Er möchte das Testament meiner verstorbenen Großtante verlesen, wozu deine Gegenwart als mein Vormund erforderlich ist.«
»Muß das unbedingt heute sein?« fragte der Graf unangenehm berührt.
»Ja, der Notar bat darum.«
»Dann wollen wir gleich aufbrechen, weil ich um zwölf Uhr eine landwirtschaftliche Besprechung habe. Halte dich in zehn Minuten bereit.«
Gundis war pünktlich zur Stelle und nahm im Auto neben dem Vormund Platz. Er war verstimmt, wie sie an seinem ganzen Gebaren merkte und blieb es auch, nachdem der Notar das Testament verlesen hatte, das Gundis Haiden zur Besitzerin eines schuldenfreien Anwesens und zu einer annehmbaren Summe baren Geldes machte. Als alle Formalitäten erledigt waren, gratulierte der Notar der jungen Erbin, die mit tränenerstickter Stimme sagte: »Freuen kann ich mich darüber nicht, Onkel Alfred. Denn was nützt mir das alles ohne meine liebe Tante Cordula?«
»Nicht sentimental werden, Gundis«, verlangte der Graf. »Du weißt, das liebe ich nicht. Die Dame ist immerhin achtundachtzig Jahre alt geworden – und einmal muß der Mensch doch schließlich sterben. Sie hätte besser getan, ihre Hinterlassenschaft einem Menschen zugute kommen zu lassen, der ihrer nötiger bedarf als du, die du in Föhrengrund alles hast, was du zum Leben brauchst. Wollen wir uns verabschieden, meine Zeit ist knapp bemessen.«
»Der Mensch hat vielleicht ein Gemüt«, brummte Eiwer vor sich hin, als er allein war. »Wenn ich könnte wie ich wollte, dann würde ich dich aus dem feudalen Schloß herausholen, in dem du mit deinem zärtlichen Herzchen unter den kaltschnäuzigen Menschen frieren mußt, meine arme kleine Gundis. Daß deine prachtvollen Eltern so früh dahingehen mußten, ist einfach eine Niedertracht des Schicksals. Wozu das überhaupt?«
Ja – wozu? Das hatten auch andere Menschen gefragt, als vor fünf Jahren das Ehepaar Haiden auf so tragische Weise ums Leben kam. Und zwar durch die Schuld eines betrunkenen Kraftfahrers, der beim Überholen mit unheimlicher Geschwindigkeit seinen mit Ziegeln beladenen Laster in das Fuhrwerk hineinsteuerte, auf dem der Administrator Haiden mit seiner Gattin saß. Menschen und Pferde waren auf der Stelle tot.
Das Geld, das der Verkauf der hinterlassenen Habe, die Auszahlung der Lebens- und Haftpflichtversicherung einbrachte, wurde nebst dem kleinen Vermögen, das der Administrator ersparte, mündelsicher angelegt, und der Graf verpflichtete sich, für die Erziehung seines Mündels persönlich aufzukommen.
Das tat er auch in vorbildlicher Weise. Wie ein eigenes Kind wurde Gundis Haiden gehalten. Lyzeumsbildung bis zur mittleren Reife, ein Jahr Pensionat in Deutschland, eines in der Schweiz, elegante Kleidung, ein mehr als ausreichendes Taschengeld, so wuchs sie wie ein Kind vermögender Eltern auf.
Und Liebe, durch die sie sehr verwöhnt war, brauchte sie auch nicht zu missen. Zwar wurde ihr diese im Föhrengrunder Schloß nicht zuteil, umso mehr jedoch im Forsthaus, im Lindenhaus und in der Stadtwohnung des Justizrates Eiwer, wo sie sich aufhalten durfte, so viel sie wollte. Allein, als ihr Zuhause hatte sie Föhrengrund zu betrachten, das verlangte Graf Hagelungen nebst Gattin ohne jeden Kommentar. Und warum auch nicht?
Nachdem Gundis über den Schmerz, den ihr der Verlust der Eltern gebracht, hinweg war, brach ihr frohes Naturell wieder durch. Unbekümmert lebte sie dahin, bis der Tod ihres Onkels, des Oberförsters Haiden, wieder Herzweh schuf. Und nun noch der Tod der vielgeliebten Großtante Cordula, das war schon Leides genug für ein achtzehnjähriges Menschenkind.
Dazu gab es noch etwas, das das Leben der jungen Gundis, seit sie aus dem Pensionat nach Föhrengrund zurückgekehrt war, verbitterte. Doch darüber sprach sie zu niemand, trug es allein für sich.
Justizrat Eiwer sollte der erste sein, der davon erfuhr. Denn zwei Wochen nach der Testamentseröffnung platzte Gundis in das Amtszimmer des vielbeschäftigten Herrn, warf sich in den nächsten Sessel, drückte das Gesicht in die Seitenlehne und weinte. Zutiefst erschrocken sprang der Mann auf …
»Mädchen, was ist dir denn geschehen?!«
Keine Antwort, nur verzweifeltes Schluchzen, das dann langsam abebbte. Sie richtete sich hoch, wischte die letzten Tränen fort, schneuzte sich energisch und legte los: »Verzeih, Onkel Alfred, aber das mußte sein. Mir ist jetzt bedeutend wohler. Das sage ich dir, da mache ich nicht länger mit. Willst du mir helfen?«
»Wobei denn, Gundis?«
»Ach so, das mußt du allerdings erst wissen. Mein Leben kennst du ja, also brauche ich keine Einleitung zu geben. Mir ging es ja auch immer gut in dem exklusiven Kreis, in dem man mich nur aufnahm, weil ich doch nun einmal das Kind der Tessa von Suderwang bin, an dem man gutmachen will, was man der Mutter schuldig blieb. Zärtlichkeit gab man mir zwar nicht, aber alles andere in verschwenderischem Maße. Man schien mich sogar ganz gern zu haben – bis Graf Argulf vor einem halben Jahr heiratete. Ich hatte damals gerade mein zweites Pensionatsjahr hinter mir und kehrte für ständig nach Föhrengrund zurück. Was ich der jungen Gräfin angetan habe, entzieht sich meiner Kenntnis. Tatsache jedoch ist, daß sie mich vom ersten Augenblick unseres Kennenlernens mit ihrer Abneigung beehrte. Sie behandelte mich gehässig, suchte mich zu demütigen, wo sie nur konnte und warf mir immer wieder höhnisch meinen bürgerlichen Vater vor. Wohlweislich immer nur unter vier Augen, in Gegenwart anderer ließ sie mich in Ruhe. Daß sie hinter meinem Rücken ihren Mann und seine Eltern in ganz raffinierter Weise gegen mich aufhetzte, darauf kam ich allerdings nicht. Ich merkte nur, daß man so nach und nach Fehler an mir zu entdecken begann, die ich gar nicht besitze. Das heißt, nur das ältere gräfliche Paar tat es; denn Graf Argulf in seiner Arroganz hat mich von jeher als Luft betrachtet. Ich glaube, der nimmt mir meinen bürgerlichen Vater am meisten übel.
Man hat mich in Föhrengrund wohl nie als vollwertig betrachtet, ließ mich jedoch immerhin noch einigermaßen gelten. In letzter Zeit jedoch behandelte man mich als minderwertig. Meine Erzieher fanden plötzlich allerlei an mir auszusetzen, was natürlich meinen Trotz weckte, der mir von meiner Mutter her arg im Blut liegt. Ich zog mich immer mehr in mich selbst zurück, blieb selbst bei dem ungerechtfertigsten Tadel gleichgültig und unberührt. Mochten sie doch reden, was sie wollten, sie hatten ihre Freude daran, und mir tat es nicht weh.
Was sich aber gestern zutrug, das war denn doch der Gipfel aller Demütigungen, die ich bisher erfuhr. Und zwar durch die junge Gräfin Lolith. Wie schon vorhin erwähnt, duckte sie mich, wenn wir allein waren, wo und wie sie nur konnte. Sie durfte sich das ungestraft erlauben, weil sie genau wußte, daß ich, wenn ich mich bei ihren Angehörigen beklagen sollte, kein Gehör finden würde. Dazu hat diese scheinheilige Kanaille – entschuldige den krassen Ausdruck, Onkel Alfred, aber er stimmt – schon viel zu gut vorgearbeitet.
Gestern rückte nun wieder einmal Loliths Zofe aus, die dritte im halben Jahr. Und so stellte denn diese unverfrorene Person mir unter vier Augen das Ansinnen, Zofendienst bei ihr zu verrichten. Da ging mir denn doch sozusagen der Hut hoch, zumal mir noch höhnisch bedeutet wurde, daß ich im Schloß nichts weiter als ein ›Um-Gottes-willen-Kind‹ und sie die Herrin wäre.
Nun, auch ein Wurm krümmt sich, wenn man ihn tritt. Also wehrte auch ich mich. Blieb nicht still, hauptsächlich da nicht, als sie mir Größenwahn vorwarf, in den meine ›lumpige Erbschaft‹ mich versetzt hätte. Schließlich schlug sie mir in ihrer Wut so brutal ins Gesicht, daß mir das Blut aus der Nase strömte. So blutbesudelt wie ich war, eilte ich ins Wohnzimmer, wo das gräfliche Paar mit ihrem Sohn saß. Erzählte wahrheitsgetreu den skandalösen Vorfall – und siehe da, man glaubte mir nicht. Hielt das verlogene Märchen für wahr, das ihnen die hochgeborene junge Gräfin, die mir natürlich gefolgt war, unter Krokodilstränen auftischte.
Und dann bekam ich vom Senior der Familie mein Sündenregister aufgezogen. Was sollte ich bloß nicht alles sein: aufsässig, verlogen, verstockt, intrigant, niederträchtig, leichtfertig und gar mannstoll, wobei sich der vornehme Herr Graf allerdings gewählter ausdrückte. Es hätte nur noch gefehlt, daß ich stehle und morde, dann wäre das Bild aller menschlichen Schlechtigkeit vollkommen gewesen.
Sollte ich mich verteidigen? Und wenn ich es mit tausend Zungen getan hätte, so wäre es doch ungeglaubt geblieben. Also ging ich stumm davon und schloß mich in meinem Zimmer ein. Man versuchte, mich mit allerlei Drohungen herauszubekommen, allein, ich blieb stur wie ein Steinbock. Heute gelang es mir nun, ungesehen zu entwischen, zu dir zu eilen – und jetzt mußt du mir helfen, Onkel Alfred.«
»Und wie ich dir helfen werde«, entgegnete Dr. Eiwer grimmig. »Und zwar sofort. Ich werde den Herrschaften schon beibringen, daß ich nicht ungeahndet das Kleinod meines Freundes Haiden und den Abgott meiner alten Freundin Cordula peinigen lasse. Mögen sie mit dieser abgezogenen Katze meinetwegen Götzendienst treiben – aber ohne dich. Wie bist du hergekommen?«
»Mit dem Milchwagen.«
»Also werden wir gleich in meinem Auto nach Föhrengrund fahren.«
Als sie es erreicht hatten, bat der Anwalt seine junge Begleiterin, nach ihrem Zimmer zu gehen und dort zu warten. Er selbst ließ sich durch den Diener bei dem Grafen melden, der ihn sofort im Beisein der Familie empfing. Nachdem der Notar Platz genommen hatte, begann er ohne Umschweife: »Ich komme in einer Angelegenheit, die Gundis Haiden betrifft. Sie war bei mir, um Hilfe zu ersuchen.«
»Wogegen denn, wenn ich wissen dürfte?«
»Gegen unwürdige Behandlung.«
Dem Hausherrn stieg die Zornesröte ins Gesicht, doch er beherrschte sich eisern. Als die Gattin sprechen wollte, gebot er kurz: »Bitte, Beatrice, halt dich aus der Debatte. Ihr auch, Lolith und Argulf. Und Sie bitte ich, Herr Doktor Eiwers, Ihre Beschuldigung zu motivieren.«
»Gewiß, Herr Graf. Ich kenne Gundis Haiden vom ersten Tag ihres Lebens an, da ich der beste Freund ihres Vaters war und in seinem Haus aus und ein ging. Er sowie seine Frau waren prächtige Menschen, die ihr Kind wie ein Kleinod hüteten und hegten. In einer Umgebung voll Sonne und Harmonie wuchs die Kleine auf, selbst wie ein lichter Sonnenstrahl voll bezaubernder Anmut und Süße. Es gab auch nicht einen Menschen, der im Hause des Administrators verkehrte, der nicht von seinem Töchterlein entzückt war. Und das machte nicht die Schönheit des Kindes allein, sondern auch sein liebenswerter Charakter.
Auch später, als die Eltern tot waren, sah ich Gundis Haiden oft genug, um mich von ihrer körperlichen sowie seelischen Entwicklung überzeugen zu können. Allein die beiden Jahre, da sie in Pensionaten weilte, verlor ich sie aus den Augen. Aber aus den Briefen, die sie mir schrieb, konnte ich ersehen, daß sie einen wertvollen Kern in sich trägt. Und daher bestreite ich ganz entschieden, daß sie aufsässig, verstockt, verlogen, intrigant, niederträchtig, leichtfertig oder gar hinter Männern her ist. Und wenn sie es zehnmal wäre, so hat keine Person das Recht, ein achtzehnjähriges Mädchen zu mißhandeln, daß Blut aus der Nase strömt, selbst dann nicht, wenn es nur ein ›Um-Gottes-willen-Kind‹ wäre.«
Nach diesen eisigen Worten war es zunächst einmal beklemmend still. Die Hausherrin schaute konsterniert drein, die Schwiegertochter höhnisch, der Sohn gelangweilt. Und dann die kurze, scharfe Frage des Seniors: »Wo wollen Sie hinaus, Herr Justizrat?«
»Ich möchte Ihnen einen Vorschlag machen, Herr Graf. Da die Herrschaften nun mal von der Schlechtigkeit Fräulein Haidens überzeugt sind, kann es Ihnen nicht zugemutet werden, ein so entartetes Geschöpf in Ihrem Kreis zu dulden.«
»Die Vormundschaft behalte ich!« peitschte nun die Stimme Konrad Hagelungens auf. »Zwar waren Sie der Freund des verstorbenen Herrn Haiden, meine Frau jedoch war die Stiefmutter dessen Gattin. Das scheinen Sie wohl vergessen zu haben, Herr Doktor Eiwers.«
Die Blicke der beiden Männer kreuzten sich wie scharfe Klingen, der Kampf begann, hart auf hart.
»Ich habe nichts vergessen, Herr Graf Hagelungen – gar nichts. Am wenigsten die gestrige Begebenheit hier, die ich aus dem Mund eines mit Wort und Tat mißhandelten Menschenkindes erfuhr.«
»Gundis Haiden lügt –!«
Langsam erhob sich der Anwalt, und auch der Graf sprang auf. Wie zwei erbitterte Feinde standen sie sich gegenüber. Und dann klirrte die Stimme des Notars hart wie Eisen auf: »Beim Andenken meines Freundes Felix Haiden schwöre ich, daß ich beim Vormundschaftsgericht vorstellig werde, falls Sie nicht freiwillig nachgeben, Herr Graf.«
»Um Gottes willen, Konrad, so bleibe doch ruhig –!« zog Frau Beatrice den Gatten an den Händen zu sich, um so zu verhüten, daß er davon Gebrauch machte. »Gundis ist es ja gar nicht wert, daß ein so erbitterter Streit um sie ausbricht. Wir haben ihr die beste Erziehung zuteil werden lassen, haben über sie gewacht, wie über unser eigenes Kind. Das wird selbst der Herr Justizrat zugeben müssen. «
»Na schön.« Der Herr Graf ließ sich in seinen Sessel zurücksinken, und auch sein Gegenüber nahm wieder Platz. Ersterer rief durch ein Klingelzeichen den Diener herbei, der beordert wurde: »Das gnädige Fräulein soll unverzüglich hier erscheinen.«
Schon einige Minuten später stand Gundis Haiden da. Ehe sie eine Frage stellen konnte, tat es bereits der Vormund knapp und sachlich: »Du willst fort von hier?«
»Ja, Onkel Konrad.«
»Wenn du durchaus von uns fortstrebst, werden wir dich gewiß nicht halten. Also gehe ich auf den Vorschlag des Herrn Justizrates ein und erkläre folgendes: Du siedelst ins Lindenhaus über und nimmst als mütterlichen Schutz deine Tante, Frau Gerta Haiden, zu dir. Du wirst monatlich eine bestimmte Summe erhalten, die groß genug ist, deinen Lebensunterhalt davon bestreiten zu können. Einen Tag in der Woche jedoch mußt du dich stets in unserem Kreis hier aufhalten, das gebiete ich dir. Du bekommst ein kleines Auto, mit dem es dir möglich sein wird, die kurze Strecke vom Lindenhaus bis zum Föhrengrund zu jeder Zeit rasch zurückzulegen. Dein Vormund bleibe ich und werde nach wie vor über dich wachen. Bist du mit allem einverstanden?«
»Ja, Onkel Konrad. Welchen Tag der Woche bestimmst du für mein Hiersein?«
»Der Tag ist mir gleich. Und nun mach, daß du mir vorläufig aus den Augen kommst, du undankbares Geschöpf.«
*
Gundis Haiden drückte in einem großen Mietshaus den Knopf an der Etagentür, die sich gleich darauf öffnete und in ihrem Rahmen eine Dame mittleren Alters sichtbar werden ließ.
»Gundis – du –? Und gleich mit einem Koffer?«
»Wohl mir, daß dem so ist, Tante Gerta. Ich habe dir so manches zu erzählen.«
»Da bin ich aber neugierig. Komm rasch weiter.«
»Wo ist Petra?« fragte das Mädchen, als es in dem behaglichen Wohngemach Platz genommen hatte.
»Zum Geburtstagskaffee einer Schulfreundin. Und nun erzähle.«
Mit atemloser Spannung lauschte Frau Gerta dann auf der Nichte Bericht. Dann aber machte sie ihrer Empörung Luft.