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Leni Behrendt nimmt längst den Rang eines Klassikers der Gegenwart ein. Mit großem Einfühlungsvermögen charakterisiert sie Land und Leute. Über allem steht die Liebe. Leni Behrendt entwickelt Frauenschicksale, wie sie eindrucksvoller nicht gestaltet werden können. Silvester war's, der letzte Tag im Jahr. Die meisten Bewohner der großen Stadt hatten am Abend etwas vor, wozu sie noch mancherlei besorgen mußten. So herrschte denn in den Straßen Hochbetrieb. Auf den Bürgersteigen hasteten die Menschen oder drängten ungeduldig aus den überfüllten Bussen, als dürften sie keine Minute versäumen. Daß man sich dabei gegenseitig auf die Füße trat, war ebenso unausbleiblich wie das Geschimpfe. Ein stämmiger Bursche gab dem vor ihm stehenden Mädchen einen Stoß, so daß es beim Aussteigen stolperte und längelang hingeschlagen wäre, hätte ein Mann es nicht aufgefangen. »Na, so ein Flegel!« schimpfte er dem feixenden Jungen nach. »Dem fehlt gehörig eins zwischen die Löffel! Haben Sie sich weh getan, Fräuleinchen?« »Nein, davor hat mich Ihr rasches Zupacken bewahrt. Danke schön.« »Bitte sehr, gern geschehen«, schaute der Mann schmunzelnd in das Mädchengesicht, das da so frischfröhlich aus der Kapuze des Wettermantels lugte. »So was Goldiges drückt man auch noch als Opa gern ans Herz. Guten Rutsch ins Neue Jahr.« »Gleichfalls«, wünschte sie, und dann ging jeder seiner Wege. Der Mann zu seiner Familie, das Mädchen zu seiner Bleibe, die aus einem möblierten Zimmer bestand. »Endlich sind Sie da, Fräulein von Hollgan.
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Seitenzahl: 204
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Silvester war’s, der letzte Tag im Jahr. Die meisten Bewohner der großen Stadt hatten am Abend etwas vor, wozu sie noch mancherlei besorgen mußten.
So herrschte denn in den Straßen Hochbetrieb. Auf den Bürgersteigen hasteten die Menschen oder drängten ungeduldig aus den überfüllten Bussen, als dürften sie keine Minute versäumen. Daß man sich dabei gegenseitig auf die Füße trat, war ebenso unausbleiblich wie das Geschimpfe. Ein stämmiger Bursche gab dem vor ihm stehenden Mädchen einen Stoß, so daß es beim Aussteigen stolperte und längelang hingeschlagen wäre, hätte ein Mann es nicht aufgefangen.
»Na, so ein Flegel!« schimpfte er dem feixenden Jungen nach. »Dem fehlt gehörig eins zwischen die Löffel! Haben Sie sich weh getan, Fräuleinchen?«
»Nein, davor hat mich Ihr rasches Zupacken bewahrt. Danke schön.«
»Bitte sehr, gern geschehen«, schaute der Mann schmunzelnd in das Mädchengesicht, das da so frischfröhlich aus der Kapuze des Wettermantels lugte. »So was Goldiges drückt man auch noch als Opa gern ans Herz. Guten Rutsch ins Neue Jahr.«
»Gleichfalls«, wünschte sie, und dann ging jeder seiner Wege. Der Mann zu seiner Familie, das Mädchen zu seiner Bleibe, die aus einem möblierten Zimmer bestand. Im Korridor wurde sie von der Wirtin aufgeregt empfangen:
»Endlich sind Sie da, Fräulein von Hollgan. Es kam ein Anruf für Sie, und zwar ein dringender.«
»Für mich?« fragte das Mädchen ungläubig, da es weder Freunde noch nähere Angehörige hatte. »Haben Sie sich da auch nicht verhört, Frau Ricks?«
»Bestimmt nicht«, kam es mit Entschiedenheit zurück. »Ein Herr wünschte Fräulein Armgard von Hollgan zu sprechen, er betonte das klar und deutlich.«
»Seinen Namen hat er nicht genannt?«
»Nein. Sie möchten diese Nummer anrufen«, die Wirtin reichte ihr einen Zettel, auf dem sie Ort und Zahl vermerkt hatte. »Ist Ihnen das ein Begriff?«
»Nein. Also werde ich nicht anrufen.«
In dem Moment schlug der Fernsprecher an, der sich im Korridor befand. Frau Bicks hob ab, meldete sich und sagte gleich darauf:
»Ja, Fräulein von Hollgan ist jetzt da.«
Sie gab den Hörer an Armgard weiter und verzog sich in die Küche, deren Tür sie spaltbreit offenließ.
Und ihre Neugierde war verzeihlich, da ihre Untermieterin angegeben hatte, daß sie nach der Mutter Tod allein dastünde. Sie war auch in dem Vierteljahr, seit sie hier das Zimmer bewohnte, nie ausgegangen, hatte weder Post noch einen Anruf bekommen.
»Ja, hier spricht Armgard von Hollgan«, hörte die Lauschende das Mädchen sagen, das nun auf die Stimme am anderen Ende horchte und dann unwillig antwortete:
»Wenn das ein Silvesterscherz sein soll, finde ich ihn geschmacklos. Mein Großvater ist nämlich tot und nun Schluß...«
»Halt, legen Sie nicht auf!« gebot die Männerstimme scharf. »Ihr Großvater ist nicht tot, liegt jedoch schwer krank danieder. Das sage ich Ihnen als sein Hausarzt und bitte Sie dringend, hierher zu Ihrem Großvater zu kommen, der flehend nach seiner Enkeltochter verlangt. Wenn Sie der Bitte eines vielleicht Sterbenden nicht nachgeben wollen, handeln Sie einfach gewissenlos, Fräulein von Hollgan.«
»Das alles kommt mir recht merkwürdig vor«, entgegnete diese skeptisch. »Zwar bin ich keine Millionenerbin, noch habe ich etwas auf dem Kerbholz, daß es sich lohnen würde, mir eine Falle zu stellen, aber truu de Düwel dem Ap’theker. Wo befindet sich denn mein Großvater?«
»In seinem Haus an der Ostsee. Ist Ihnen das wenigstens ein Begriff?«
»Nein! Wie gelange ich dorthin?«
»Mit der Bahn. Ich nenne Ihnen die Verbindungen, bitte notieren Sie.«
Sie griff nach Block und Stift, das beides neben dem Telefon lag, und schrieb auf, was langsam und deutlich diktiert wurde. Dann sagte sie:
»Demnach wäre ich erst gegen zehn Uhr auf der Bahnstation Klein-Dünen, von dem ich keine Ahnung habe, wo das liegt. Das gefällt mir nicht, kommt mir irgendwie mulmig vor.«
»Fräulein von Hollgan –«, vernahm ihr Ohr jetzt einen langen Seufzer. »Ich verstehe, daß Sie mißtrauisch sind, zumal Sie annehmen, daß Ihr Großvater tot ist. Mir unbegreiflich, wie es zu diesem Mißverständnis kommen konnte, aber es fehlt jetzt die Zeit, das aufzuklären. Rufen Sie Doktor Wiebe an, ich gebe Ihnen die Telefonnummer.«
»Nicht nötig, ich kenne sie. Habe ihn angerufen, als meine Wirtin krank war.«
»Um so besser«, hörte sie ein erleichtertes Aufatmen. »Erkundigen Sie sich bei ihm nach mir, er kennt mich gut.«
»Na schön. Wenn alles in Ordnung geht, fahre ich morgen mit dem Frühzug ab.«
»Das könnte vielleicht zu spät sein. Herr von der Gylt ist schwer krank und verlangt flehend nach Ihnen.«
»Gut, ich komme heute noch. Ich werde doch abgeholt?«
»Selbstverständlich.«
»Danke.«
Sie legte auf, wählte die Nummer des Arztes, und die Auskunft, die dieser vertrauenswürdige Herr ihr gab, nahm ihr das Mißtrauen, das der immerhin merkwürdige Anruf in ihr geweckt hatte. Ihr Großvater lebte tatsächlich, und sein Arzt war nach Aussage seines Kollegen eine seriöse Persönlichkeit, also mußte sie seinem dringenden Ruf folgen.
Doch zuerst rief sie nach Frau Ricks, die flugs zur Stelle war und ängstlich sagte:
»Mein Gott, Fräulein Armgard, werden Sie wirklich so auf den blauen Dunst verreisen?«
»Es geht nicht anders. Ich muß zu meinem schwerkranken Großvater, den ich irrtümlich für tot hielt.«
»Aber meinjeh, Kindchen, wenn das nun eine Falle ist? Es passiert heutzutage doch so viel…«
»Keine Angst«, warf das Mädchen beruhigend ein. »Ich habe mich bei Doktor Wiebe nach dem Anrufer erkundigt und die beste Auskunft bekommen.«
»Das stimmt denn auch«, atmete die besorgte Frau auf. »Als langjährige Patientin kenne ich den Doktor gut, er ist ein Ehrenmann. Wann fährt der Zug?«
»In einer Stunde.«
»Aber das schaffen Sie doch nicht…«
»Ich muß!« winkte Armgard ab und verschwand in ihrem Zimmer, das wohl einfach, aber wohnlich war. Leider mußte sie es im Februar räumen, da eine Freundin von Frau Ricks zu ihr ziehen wollte.
Armgard nahm den Koffer vom Schrank und begann zu packen. Rock und warme Bluse, ein gleichfalls warmes Kleid, Strickjacke, Morgenrock, Bademantel, Regenmantel, Wäsche, Strümpfe, Schuhe, Toilettensachen.
So, das genügte. Rock und Pullover, die sie trug, konnte sie anbehalten, die festen Schuhe auch.
Halt, das Regencape nicht vergessen, damit sie es, falls es regnen sollte, über den Mantel tun konnte. Da es griffbereit sein mußte, tat sie es nebst Schirm in die große Ledertasche, gleichfalls die Handtasche, der sie vorher einige Scheine entnahm und auf den Tisch legte. Daneben die Delikatessen, die sie besorgt hatte, um ins Neue Jahr hineinzuschlemmen. Jetzt konnte sich das gute Muttchen Ricks daran laben, die aß so was auch gern.
So, jetzt war es Zeit, sich auf den Weg zu machen. Sie zog gerade den Mantel an, als die Wirtin mit einem Tablett eintrat.
»Ich habe Kaffee gekocht und einige Schnitten als Proviant eingepackt«, erklärte sie eifrig. »Eine Tasse Kaffee müssen Sie unbedingt noch trinken, der Rest kommt in die Thermosflasche.«
»Lieb von Ihnen«, streichelte Armgard die pralle Wange der fürsorglichen Frau. »Ich hätte daran bestimmt nicht gedacht.«
Während des Ankleidens trank sie den heißen, starken Kaffee, der sie erquickte. Indes tat Frau Ricks den Beutel mit Schnitten und die Thermosflasche in die große Tasche und zog den Reißverschluß zu.
»Immer geschlossen halten«, mahnte sie. »Sonst klaut Ihnen ein Spitzbube im Gedränge die Handtasche. Haben Sie überhaupt genügend Geld für die Reise?«
»Ich bin so reichlich damit versehen, daß ich sogar noch die Miete für Januar bezahlen kann«, sie zeigte auf die Scheine. »Ich weiß ja nicht, wann ich zurückkomme.«
»Aber doch noch vor dem ersten Februar?«
»Das ganz bestimmt. Diese Delikatessen hier, die für den Abend bestimmt waren, lassen Sie sich gut schmecken. Und nun muß ich machen, daß ich wegkomme.«
»Wollen Sie denn zu Fuß zur Bahn?«
»Allerdings.«
»Vielleicht versuchen wir eine Taxe aufzutreiben.«
»Bei dem Verkehr heute aussichtslos«, winkte das Mädchen ab. »Außerdem würde sich das für die kurze Strecke gar nicht lohnen.«
Sie griff nach dem Gepäck und drückte der gerührten Frau einen Kuß auf die Wange.
»Auf Wiedersehen, liebe Frau Ricks. Haben Sie Dank für alles Liebe.«
»Das ist doch gern geschehen, Sie gutes Kind. Kommen Sie recht bald wieder. Werden Sie anrufen, wenn Sie am Ziel sind?«
»Ob es heute sein wird, kann ich nicht versprechen, aber für morgen ganz bestimmt. Kommen Sie gut ins Neue Jahr!«
»Sie auch, Kindchen, Sie auch!« rief Mutter Ricks der Enteilenden nach.
»Gott schütze Sie!«
*
In zehn Minuten hatte Armgard von Hollgan den Bahnhof erreicht. Ihr wurde schwül, als sie die Menschen sah, die vor den Fahrkartenschaltern schon Schlange standen. Doch die Abfertigung erfolgte rasch, und so bekam sie den Zug gerade noch mit knapper Not. Denn kaum, daß sie eingestiegen war, setzte er sich auch schon in Bewegung.
Da ein Fensterplatz frei war, nahm sie ihn ein, drückte sich in die Ecke und gab sich den Gedanken hin, die in die Vergangenheit schweiften.
Die ersten zehn Jahre ihres Lebens hatte sie als wohlbehütetes Kind fröhlich dahingelebt, weil sie alles hatte, was ein Kinderherz nur begehren kann. Vor allen Dingen einen Vater, an dem sie mit abgöttischer Liebe hing. Mehr als an der Mutter, obgleich diese das reizende Töchterchen über Gebühr verwöhnte, wie auch die Großmutter es tat.
Was Armgard über die Familie mütterlicherseits wußte, hatte ihr der Vater erzählt, dabei jedoch die Wahrheit umgangen.
Und diese war, daß es Frau von der Gylt gar nicht paßte, als ihre Tochter Freda einen Generalstabsoffizier heiratete, der wohl blendend aussah und aus bester Familie stammte, aber mit Gütern nicht gesegnet war. Doch da der verhätschelte Liebling den Mann durchaus haben wollte, gab die Mutter nach, und der Vater wurde erst gar nicht gefragt. Er war auch selten zu Hause, da er für das Handelshaus die notwendigen Reisen unternehmen mußte.
Das Mädchen, das er mit dreiundzwanzig Jahren heiratete, hatte ihm der Vater ausgesucht. Es hatte einen vornehmen Namen, hatte viel Geld und paßte daher in die vornehme Senatorenfamilie von der Gylt vortrefflich hinein.
Die Ehe war auch ganz glücklich, da der Ehemann sich in den ersten Jahren seiner Frau viel widmen konnte. Den Dr. jur. hatte er in der Tasche; und im Handelshaus war er eigentlich nur Staffage, da der Vater und sein ältester Sohn den Betrieb straff am Zügel hielten.
Allein das änderte sich; als der alte Senator starb und die beiden Söhne gleichwertige Besitzer des Handelshauses wurden. Mit dem Moment hatten sie auch die gleichen Pflichten.
So kamen die Brüder denn überein, daß der ältere Bruder Jonathan dem Handelshaus vorstehen sollte, während der jüngere Frederik den Kundendienst übernahm. Das brachte wohl Geld ein, aber auch eine Zerrüttung der Ehe.
Denn Frau Adele, die sehr eifersüchtig war, tobte jedesmal, sofern der Gatte eine Reise antreten mußte, und machte ihm Szenen, wenn er zurückkehrte. Dichtete ihm ein Dutzend Geliebte an, war überhaupt so zänkisch, daß der Mann mehr und mehr seinem Heim entfloh.
Und in dieser trostlosen Atmosphäre wuchs die einzige Tochter Freda auf, die nach einjähriger Ehe geboren wurde. In den ersten Jahren, als der Vater viel zu Hause war, hing sie an ihm. Doch als er die Geschäftsreisen antreten mußte, unterlag sie mehr und mehr den gehässigen Einflüsterungen ihrer Mutter und wich dem Vater scheu aus, wenn er nach Hause kam.
Freda wurde überhaupt ganz das Geschöpf ihrer Mutter, wurde genauso vergnügungssüchtig wie sie. Bis sie mit neunzehn Jahren den Oberleutnant Gerwin von Hollgan kennenlernte und sich Hals über Kopf in ihn verliebte. Und da sie hübsch war, fand auch der Mann so großen Gefallen an ihr, daß er sich um sie bewarb und sie auch bekam. Dafür sorgte schon Freda, die daran gewöhnt war, ihren Willen durchzusetzen. Sie liebte den Mann und mußte ihn haben, basta!
Lange würde diese Ehe bestimmt nicht vorhalten, sagten die Menschen, die das wetterwendische Persönchen kannten. Bald würde es der Ehe überdrüssig sein. Aber die Ehe blieb bestehen, weil der Ehemann seine Frau nicht daran hinderte, den gesellschaftlichen Trubel nach wie vor mitzumachen. Er selbst konnte ihr allerdings nicht dazu verhelfen, da er auf sein Gehalt angewiesen war. Doch da Freda eine reiche Mitgift erhielt, auf die der Gatte keinen Anspruch erhob, hatte sie Geld genug, um sich leisten zu können, was das Herz begehrte. Dazu hatte sie einen lieben, stets nachsichtigen Mann und ein herziges Töchterchen, somit hatte sie allen Grund, zufrieden zu sein.
Bis dann das Unglück geschah und aus dem schneidigen kerngesunden Mann einen siechen machte, als er das durchgehende Pferd eines Soldaten aufhielt. Dem Mann geschah nichts, doch sein Retter wurde arg zugerichtet. Fast ein halbes Jahr dauerte es, bis man ihn aus dem Krankenhaus entlassen konnte, und es verging kein Tag, wo seine damals zehnjährige Tochter ihn nicht besuchte. Seine Frau erschien in der ersten Zeit öfter, doch dann wurden die Besuche seltener und blieben zuletzt ganz aus.
»Das arme Kind kann die Krankenhausluft nicht vertragen«, erklärte die Schwiegermutter dem Kranken. »Es wird ihr immer übel, oft muß sie sich sogar erbrechen, und das hält ihr zarter Körper nicht aus. Außerdem kehrst du ja bald nach Haus zurück.«
Wohl tat er das, aber nicht völlig geheilt, wie man angenommen hatte. Ein Hüftleiden blieb zurück, so daß er sich nur mühsam am Stock vorwärtsbewegen konnte.
Und nun war es wiederum der Anblick des Krüppels, den die ach so zarte und sensible Frau nicht ertrug. Doch das verbitterte den Mann nicht. Er hatte ja die Tochter, die nicht nur äußerlich sein Ebenbild war, sondern auch seinen vornehmen Charakter und seinen Frohsinn geerbt hatte. Schule, sowie die Schularbeiten, die sie erledigte, wenn der Vater seinen Mittagsschlaf hielt, das mußte ja sein, aber sonst war sie nicht von der Seite des Paps zu kriegen.
Am liebsten hockte sie auf einem Stühlchen zu seinen Füßen, lauschte seinen Erzählungen und stellte Fragen, die der Mann alle beantwortete und damit eine gute Saat in das Herz seines Kindes senkte. Als es einmal ungehalten fragte, warum die Mutter ständig unterwegs sei, antwortete er in seiner gütigen Art:
»Schau mal, mein Kind, deine Mama gehört zu denen, die ohne Tamtam nicht leben können. Die immer Menschen um sich haben müssen, je mehr, desto besser. Sie tut damit nichts Böses.«
»Ja, wenn du damit zufrieden bist, dann will ich es auch sein«, meinte die Kleine altklug. »Aber laß nur, dafür hast du mich immer um dich.«
»Viel zuviel, mein Kleines«, strich er zärtlich über das Köpfchen, auf dem es sich in bernsteinheller Pracht wellte und lockte. »Du müßtest viel mehr unter deinesgleichen sein.«
»Das bin ich schon in der Schule genug. Bei dir fühle ich mich am allerwohlsten.«
So wurde die Zusammengehörigkeit zwischen Vater und Tochter immer inniger, und es war ein grausamer Schlag für die damals Vierzehnjährige, als sie ihren so sehr geliebten Paps im Lehnstuhl fand, tot.
Einfach tot, das sollte sie nun begreifen. Wie ein wundes Tier verkroch sie sich, wollte nichts hören und niemand sehen, lehnte jede Nahrung ab.
Aber wenn man ein so kerngesunder junger Mensch ist, dann kann man nicht in Lethargie versinken. Der erste heiße Schmerz linderte sich, die Verzweiflung ließ nach. Und wenn dann noch ein Mensch zur Stelle ist, der wohltuend auf ein wundes Gemüt wirkt, der Trost und Hilfe spendet.
Und dieser Mensch war der Oberst von Liebisch. Ein gemütlicher Dicker, der so verschmitzt lachen und mit den Augen zwinkern konnte.
Armgard kannte ihn von jeher als Freund ihres Vaters, der sich auch nach dessen Unfall jeden Sonnabend einfand, um mit ihm Schach zu spielen. Armgard mochte ihn sehr gern, den guten Onkel Viktor, und sah ihm auch jetzt erfreut entgegen, als er ins Zimmer trat.
»Wie lieb, daß du zu mir kommst, Onkel Viktor, der Paps…«
Er setzte sich auf den Bettrand und nahm das bitterlich schluchzende Menschenkind in seine Arme. Er sprach kein Wort, streichelte nur das zuckende Köpfchen, bis es sich von seiner Schulter hob.
»Nun ist’s aber genug, meine kleine Plinskarline«, sagte er zärtlich. »Dem Paps würde es weh tun, wenn er sein Herzenskind so verzweifelt sähe. Gönne ihm seine Ruhe, er hat zuletzt viel Schmerzen erleiden müssen.«
»Schmerzen?« fragte sie erschrocken. »Davon habe ich ja gar nichts gewußt.«
»Solltest du auch nicht, und die andern auch nicht. Wer darum wußte, das waren ich und der ihn behandelnde Arzt, der ihm Linderung verschaffte, soviel er nur konnte. Denn dein Paps hatte nicht nur die äußeren, sondern auch innere Verletzungen, die vorzügliche Ärzte wohl eindämmen, aber nicht heilen konnten.«
»Hat er das gewußt?«
»Ja.«
»O Gott, Onkel Viktor, mein armer Paps.«
»War ein tapferer Mann, mein Kind. Und da du so ganz seine Tochter bist, mußt du auch tapfer sein. Was jetzt noch so weh tut, wird die Zeit lindern, aber auch nur, wenn du mit dazu beiträgst.
Schau mal, mein Herzchen, jeder Mensch muß mal, wenn er nicht jung stirbt, seinen Vater hergeben, das ist nun mal der Lauf der Welt. Und nun wollen wir beraten, was aus dir werden soll, denn dein lieber Paps hat mich zu deinem Vormund bestimmt.«
»Oh, Onkel Viktor, einen besseren hätte er ja gar nicht bestimmen können.«
»Na, siehst du. Wie wär’s, wenn du vorerst von hier gingest, wo alles dich an deinen Paps erinnert?«
»Das möchte ich schon, aber wohin?«
»Vielleicht in ein Internat?«
»Das wird die Mama nicht wollen.«
»Doch, sie hat mir sogar den Vorschlag gemacht, weil sie mit den Nerven so herunter ist, daß sie, na ja, daß sie wahrscheinlich in ein Sanatorium muß. Da wärest du in einem Internat am besten aufgehoben.«
»Das kostet aber viel Geld.«
»Das ist da, mein Kind. Erstens mal von der hohen Versicherung, die dein fürsorglicher Paps zu deinen Gunsten abschloß, dann von der Unfallversicherung und von seinen Ersparnissen, die alle auf dein Konto gingen. Jedenfalls reicht das Geld nicht nur für einen Internatsaufenthalt, sondern auch für eine Ausbildung. Soll ich mich mal nach einem guten Internat umsehen?«
»Wenn du es für richtig hältst, Onkel Victor, denn alles, was von dir kommt, ist gut.«
*
So kam denn Armgard von Hollgan in ein erstklassiges Internat, wo sie sich rasch eingewöhnte. Sie blieb auch dort während der Ferien, weil der gute Onkel Viktor, mit dem sie im regen Briefwechsel stand, ihr riet, das Zuhause lieber noch zu meiden, es wäre das alte ohnehin nicht mehr.
Was er damit meinte, sollte sie nicht mehr erfahren, weil er bald darauf einem Herzschlag erlag. Die Mutter, die ihr das schrieb, teilte gleichzeitig mit, daß man die Vormundschaft dem Rechtsanwalt und Notar Doktor Seger übertragen hätte.
Diese Nachricht traf Armgard hart. Nun war auch Onkel Viktor tot, der so treu für sie gesorgt und ihr so liebe Briefe geschrieben hatte, die ihr hauptsächlich in der ersten Zeit ihres Hierseins Trost brachten. Bitterlich weinend fand die Oberin sie vor, nahm sie mütterlich in die Arme und sagte tröstend:
»Auch der Schmerz wird vorübergehen, mein Kind.«
Und er ging vorüber, dafür sorgten schon die Umgebung und Armgards Frohnatur. Nach Hause mochte sie jetzt in den Ferien weniger denn je und brauchte sie dennoch nicht im Internat zu verbringen, weil sich immer jemand fand, der sie mitnahm, Mitschülerinnen, Lehrerinnen, einmal sogar die Oberin.
Wohl stand Armgard mit ihrer Mutter in Briefwechsel, doch die Briefe gefielen ihr nicht. Sie jammerte, klagte, schien sich im Leben nicht mehr zurechtzufinden.
Und einen Tag nach dem Abitur erhielt sie von der Mutter einen Brief, in dem diese den Tod ihrer Mutter anzeigte, den deren Gatte verursacht hatte. Denn als sie erfuhr, daß er mit einer anderen ausgerückt sei, brach ihr das Herz, das dann auch bald seinen letzten Schlag tat, und der Mann der durchgegangenen Frau erschoß sich aus Verzweiflung.
Das war eine Nachricht, die Armgard erschütterte. Aber noch mehr erschütterte sie das, was sie von dem Vormund erfuhr, der sie gleich darauf im Internat aufsuchte. Ein seriöser Herr, der ihr wohlbekannt, aber nicht vertraut war.
»Ja, meine liebe Armgard«, begann er, dabei umständlich die Brillengläser putzend. »Da Sie das Abitur haben, ist Ihre Schulausbildung hier abgeschlossen, und Sie müssen die Anstalt verlassen. Haben Sie Lust zu studieren?«
»Nicht direkt. Eine Ausbildung als Laborantin würde mir genügen. Das heißt, wenn noch so viel Geld zur Verfügung steht.«
»Das ist vorhanden. Ich werde Ihnen laut Bestimmung Ihres Vaters einen monatlichen Betrag zukommen lassen, mit dem Sie gut auskommen können.
Nun muß ich Ihnen leider noch sagen, daß Sie Ihr ehemaliges Zuhause nicht mehr vorfinden werden. Ihre Mutter hat bereits vor zwei Jahren die Villa in Bausch und Bogen verkauft. Hat nur so viel Sachen behalten, um damit eine Zweizimmerwohnung auszustatten, in der sie nun wohnt. Sie werden sich um sie kümmern müssen, da sie sich, nun, sagen wir mal, nicht gerade bester Gesundheit erfreut.«
Mitleidig sah er in das erblaßte Mädchengesicht und sprach dann rasch weiter:
»Da die Wohnung sich in einem Vorort Ihrer Vaterstadt befindet, können Sie sich dort in einem einschlägigen Institut, das ich für Sie aussuchen werde, zur Laborantin ausbilden lassen. Sind Sie damit einverstanden?«
»Ja«, würgte sie hervor. »Ich bin wie vor den Kopf geschlagen. Mein Zuhause finde ich nicht mehr vor, meine Mutter ist krank, das hat mir gerade noch gefehlt.«
»Wird so schlimm nicht werden«, tröstete er. »Man darf den Mut nicht verlieren.«
»Leicht gesagt«, entgegnete sie bitter. »Jedenfalls danke ich Ihnen, daß Sie hergekommen sind.«
»Das ist meine Pflicht als Vormund. Auch daß ich Ihnen mit Rat und Tat zur Seite stehe. Bisher brauchte ich es nicht, weil Sie hier bestens aufgehoben und behütet waren. Nun packen Sie Ihre Sachen, damit ich Sie in meinem Wagen mitnehmen kann.«
»Meine Sachen sind bereits gepackt.«
»Um so besser, dann können wir gleich aufbrechen.«
Zehn Minuten später saß sie neben ihm im Auto. Es war ihr bitter schwer gefallen, von den Menschen Abschied zu nehmen, unter denen sie fünf Jahre weilte. Es war ein sorgloses Leben gewesen, das nun aufhörte. Was würde ihrer warten? Sie hatte Angst.
Und gewiß nicht ohne Grund. Denn als sie die kleine Wohnung betrat, fand sie darin eine Unordnung, vor der ihr grauste. Die Mutter lag schlampig auf einem Diwan, und kaum, daß sie der Tochter ansichtig wurde, jammerte sie in den höchsten Tönen:
»Mein Kind, was muß deine arme Mutter nur alles erdulden. Alles hat er mir genommen, der Schuft.«
Hilflos sah das verstörte Mädchen sich nach dem Vormund um, doch der war gegangen, nachdem er die Koffer abgestellt hatte.
Mit Grauen dacht Armgard jetzt an die drei darauf folgenden Jahre. Die Mutter, die an einer unheilbaren Blutkrankheit litt, siechte langsam dahin und machte der Tochter das Leben unsagbar schwer.
Am schwersten waren die gehässigen Worte zu ertragen, mit denen sie ihren Vater beschimpfte. Selbst als sie der Tochter mitteilte, daß er gestorben war, schrie sie gehässig.
»Endlich ist er tot, der Lump!«
»Woher weißt du das, Mama? Du standest doch mit deinem Vater in keiner Verbindung.«
»Aus zuverlässiger Quelle erfuhr ich es. Hätte der Teufel bloß schon früher…«
»Mama!« schrie Armgard sie an. »Der Mann war dein Vater.«
Da fing die Frau an zu toben, und angewidert ging die Tochter hinaus. Wie sie bei dieser seelischen Belastung die schwere Prüfung als Laborantin bestehen konnte, mutete sie wie ein Wunder an.
Und gerade an dem Tag starb die Mutter, und heute rief der Großvater nach seiner Enkelin Armgard von Hollgan. Ihr Großvater, der doch schon fast drei Jahre tot war. Was würde sie in dem Haus, wohin der Arzt sie beordert hatte, erwarten?
Sie schreckte aus ihren Gedanken auf, als der Zug in den Bahnhof einfuhr, wo sie umsteigen mußte. Rasch zog sie den Mantel an, griff nach dem Gepäck und was sie draußen erwartete, war ein Schneesturm, und der Anschlußzug hatte Verspätung.
*
Fast eine Stunde mußten die frierenden, schimpfenden Passagiere warten, bis der Zug endlich einlief, der dann noch zweimal in den aufgewehten Schneeschanzen steckenblieb und ausgeschaufelt werden mußte, was die Reisenden immer mehr erboste. Man hatte ja schließlich die Reise unternommen, um im Verwandten- oder Freundeskreis fröhlich Silvester zu feiern. Es wurde gemurrt, geschimpft, gejammert, aber das nützte alles nichts, gegen höhere Gewalt kommt der Mensch nun einmal nicht an.
Armgard befand sich in einem Abteil, wo zwei junge Burschen und zwei ältere Paare die Flasche kreisen ließen. Armgard, die man aufforderte, mitzuhalten, trank zwei Schnäpse, für mehr dankte sie. Sie mußte klaren Kopf behalten, wer weiß, was ihr bevorstand.
Und das war ärger, als sie befürchtet hatte. Als sie den Zug verließ, kam sie in eine weiße Hölle hinein. Der Schneesturm tobte, und die Flocken waren so dicht, daß sie Armgard die Sicht nahmen; wie Schemen sah sie die Menschen an sich vorüberhuschen. Rasch warf sie das Cape über, machte die Kapuze fest und war so einigermaßen vor dem Naß geschützt.