Leon Bruckner - Werner Ennen - E-Book

Leon Bruckner E-Book

Werner Ennen

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Beschreibung

Leon und Hanna kennen sich von Kindheit an, sind Nachbarn und gehen in die gleiche Schulklasse. Plötzlich werden die Ammhauser Teenager mit der kalten Realität konfrontiert: Hanna wacht eines Tages in ihrem Zimmer auf und erinnert sich an nichts, während Leon die Nachricht bekommt, sein Vater habe Krebs. Dabei erlebt der 16- Jährige gerade seine erste große Liebe. Mit quälenden Erinnerungslücken versucht Hanna ihre K.-o.-Tropfen Erfahrung zu verarbeiten und Leon will sie dabei unterstützen. Er begreift, dass er gegen die Krankheit seines Vaters nicht viel ausrichten kann, aber gerade jetzt für seine Familie da sein sollte. Während Leon sich den Herausforderungen stellt - ist eines klar: Hannas Täter läuft noch frei herum, geht zu weit ... und denkt gar nicht daran, mit seiner an vielen Opfern bewährten Methode aufzuhören!

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Seitenzahl: 164

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Ähnliche


INHALT

Vorwort

Leon und die Schmetterlinge

Willenlos

Lebenslust

Mächtig

Hör gut zu

Junitage

Abgrundtief

Wenn Worte fehlen

Morgengrauen

Wer ist Nick?

Wenn nur die Chemie stimmt

Fragen an das Leben

Friede, Freude und dann auch noch das Evangelium

Sonntägliches Warten

Stand aller Dinge

Beziehungsweise

Sonntags in der Kirche

Leon folgt

Stark sein

Reif für die Bühne

Für Lora

Monate später (Epilog)

Nachruf

Zum Autor

VORWORT

Dein aufbauendes Bachelorstudium für ein sicheres Land«, so stand es in glänzenden Großbuchstaben auf dem Werbeflyer der Polizeiakademie.

Er schob seine Unterlagen in den frankierten Briefumschlag und verschloss diesen sorgfältig.

Dabei blickte er zwischenzeitlich durch sein Zimmerfenster nach draußen und beobachtete seine kleine Schwester beim Spielen. Fröhlich sprang sie durch ihre mit Straßenkreide aufgemalten Kreise und Quadrate über die neu gepflasterte Auffahrt, sie wirkte äußerst munter. Ihr Lachen erinnerte ihn dabei an seine Großmutter, sehr sogar.

Wie oft hatte er sich damals als Polizist verkleidet und seine Oma Grete spielerisch verhaftet, abgeführt und zwischen ihren großen Ohrensesseln eingeschlossen. Laut und lange hatten sie danach immer gelacht, obwohl sie wieder beim Aufstehen seine Hilfe brauchte, es war eine tolle Zeit.

»Du wirst ein ganz guter Polizist, das glaub ich ganz bestimmt«, hatte sie häufig zu ihm gesagt.

Aber da waren auch ihre liebevollen Umarmungen gewesen, immer dann, wenn Angst und Kummer ihn damals drückte.

»Du musst dem Leben immer mutig und lachend ins Gesicht schauen, dann kann es dir nichts anhaben«, waren oft ihre aufmunternden Worte, an die er sich ebenfalls nur zu gern erinnerte.

Doch rauben uns manche Blicke in das Leben nicht eher den letzten Mut und jegliche Hoffnung?

Wie groß ist die Enttäuschung, wenn unsere Erwartungen nicht erfüllt werden oder sich hinter einem Gesicht etwas völlig anderes verbirgt, als wir bislang angenommen haben?

Kosten diese Wunden uns nicht das letzte Vertrauen in das Leben überhaupt?

Aber seine Oma wird Recht behalten, denn nur wer dem alltäglichen Treiben aufrichtig ins Gesicht sehen kann, wird dabei auch auf mutige, hilfsbereite und irgendwann liebevolle Mitmenschen stoßen können.

Diese machen das Leben doch erst lebenswert, denn es gibt sie, die Menschen, die zuhören, die mit einem gemeinsam lachen und auch weinen können.

Wegschauen kam für Leon jedenfalls gar nicht in Frage, er vertraute den Worten seiner Großmutter.

Nochmals fiel sein Blick auf seine Schwester, sie winkte ihm freundlich zu.

»Es ist ihr Lachen, da bin ich mir ganz sicher.«

Das Bild seiner Oma wird er für immer in seinem Herzen behalten.

»Du gehst niemals ganz«, hatte sie auch einmal gesagt und manchmal spürte er sogar ihre Nähe.

»Danke, Oma Grete, ich gebe den Brief morgen in die Post.«

1

LEON UND DIE SCHMETTERLINGE

So, Großer, jetzt aber endlich raus mit dir, deine Schule ruft«, tönte es laut kreischend in sein Zimmer hinein.

Ein kalter Luftzug durchzog unaufhaltsam den Raum, die Ruhe war in Bruchteilen von wenigen Sekunden völlig dahin.

Leon hasste es, früh am Morgen mit diesem Aufruf von seiner Mum geweckt zu werden, aber diesmal war es seine Schwester.

Und Lena ließ es sich dann auch nicht nehmen, seinen Radiowecker auf voll laut zu stellen, obendrein ließ sie dazu auch noch die Tür zum Schlafzimmer weit geöffnet. Schlaftrunken zupfte er den Stecker des Weckers aus der Steckdose und zog sich die Bettdecke weit über den Kopf.

Für ihre zehn Jahre war sie schon wirklich sehr keck und genoss es nur zu sehr, ihren um sechs Jahre älteren großen Bruder richtig zu ärgern.

Dieser drehte sich allerdings noch einmal um und versuchte erneut, in seinen Traum zurückzukehren. Er hatte von Andrea geträumt, wie sie mit zu ihm nach Hause gekommen war, sich mit nur noch einem langen T-Shirt bekleidet zu ihm gelegt hatte, um sich dann zärtlich an ihn heranzuschmiegen.

Aber dieser heiße Traum bot leider keine Rückfahrkarte, dafür hatte seine Schwester gesorgt.

Er knickte sein Kopfkissen und nahm dieses fest in den Arm, so als wäre es seine Herzdame. Dabei stellte er sich vor, wie er sie liebevoll streichelte und seinen ersten Sex mit ihr erlebte. Zum Glück konnte ja keiner in seinen Kopf hineinschauen, das wäre ihm schon sehr peinlich gewesen.

Die Andrea war schon süß, mittelgroß mit einer wirklich tollen Figur und blauen Augen. Ihre schwarzen Haare trug sie meist schulterlang, ein ständiges sanftes Lächeln zierte ihr freundliches Gesicht. Sie trug gern weiße Sneaker und meist enge verwaschene Jeans. Keine Marken, das brauchte sie nicht, um gut auszusehen. Seitdem sie in Leons Klasse der Ammhauser Oberschule gewechselt war, kreisten die Gedanken des Sechzehnjährigen nur noch um dieses eine Mädchen. Sie brachte seine Hormone buchstäblich zum Tanzen.

Aber ihm war schon klar, dass die Funken noch nicht von ihrer Seite rübergeflogen waren.

Es ärgerte ihn sehr, dass sie meist neben dem Noel saß und auch ständig mit ihm herumalberte.

»Was kann ich nur tun, dass sie auch mich endlich beachtet und mag?«, fragte er sich immer wieder.

Er rüttelte sein Kissen wieder in die Urform zurück und beobachtete, wie sein Smartphone auf der Fensterbank laut vibrierte, das Display hellte auf.

Für ihn ein Grund, seinen Traum zu beenden und aufzustehen, es könnte ja vielleicht auch mal die Andrea sein. Aber ihr Chat blieb weiterhin leer.

Erst am Küchentisch durchstöberte er seine weiteren Whats-App-Eingänge und öffnete auch die Sprachnachricht von Benjamin, dem immer noch besten Freund und Mitschüler für ihn:

»Mann, Pheik, Alter, wo warst du gestern bloß? Wir gehen heute nach der Schule wieder in Mary’s Country, Noel auch, sei dabei«, brachte sein Phone hervor.

Benjamin nannte ihn Pheik, wie einige seiner Mitschüler auch. Sie hielten ihn für einen Träumer, weil er vor ein paar Jahren ständig von dieser Engelsgeschichte, dem Wind und einer geheimnisvollen Kiste mit der Inschrift Pheikher darauf erzählt hatte.

Doch das war ihm mittlerweile egal, damals wurde er von einigen Schülern sehr gemobbt. Aber das Thema war für ihn schon lange durch und die seelischen Wunden schienen sehr gut verheilt.

Hinzu kam noch, dass ihn diese Lebenserfahrung viel stärker hatte werden lassen.

»Okay, vielleicht bin ich dabei«, schrieb er Benjamin nur kurz zurück.

Beim Mary’s Country handelte es sich um ein neues, modernes Fastfoodlokal. Es war im Westernstyle gestaltet und befand sich am alten Ammhauser Markt.

Die Burger-Auswahl dieser Lokalität lockte viele und auch ständig neue Leute aus dem gesamten Umfeld an und hatte sich bereits zum festen Treffpunkt für die Ammhauser Jugend entwickelt.

Und weil der Noel auch mit hinkommen wollte, standen die Chancen für Leon äußerst gut, dort dann auch Andrea wieder anzutreffen.

Von seiner Nachbarin Hanna war an diesem Morgen noch keine Nachricht eingegangen. Augenblicklich sahen sie sich auch nur noch in der Schule, aber sie waren immer noch sehr gut miteinander befreundet.

Wenn Leon mit den Hausaufgaben nicht klarkam, wandte er sich mittlerweile meist an Benjamin und brauchte auch hier die Hilfe seiner Nachbarin nicht mehr.

Hinzu kam, dass Hanna viel und gern mit ihren Freundinnen unterwegs war.

Hanna und Leon kannten sich aber schon von klein auf.

Damals waren keine weiteren gleichaltrigen Kinder in ihrer Straße gewesen, sie spielten viel und hatten sich dadurch nie wirklich einsam gefühlt.

Sonja und Jakob, Leons Eltern, hatten das Haus an diesem Tag bereits sehr früh verlassen. Sie wollten eine gute Bekannte in Euchingen besuchen, die regelmäßig ihre Ferienwohnung nutzte. Seine Mum pflegte die Beziehungen zu ihren Feriengästen sehr und gab sich viel Mühe, dass sie sich wirklich wohl fühlten. Es war damals eine kluge Entscheidung gewesen, den Anbau des Hauses nach dem Tod seiner Oma an Urlaubsgäste und manchmal auch an Monteure zu vermieten.

Lena schubste die Cornflakesdose zu ihm rüber und kippte sich selber ordentlich Fruchtjoghurt auf ihre Flakes.

An ihrer Wange klebte noch etwas Zahnpasta, auf ihrer Hand hatte sie sich mit einem grünen Filzstift einen lachenden Smiley gezeichnet.

»Willst du so etwa zur Schule?«, fragte er seine Schwester und starrte dabei auf ihre schwarze Leggings.

Darüber trug sie dann wieder den kurzen grauen Stoffrock und ihr weißes T-Shirt, welches mit einem auffällig großen Tigerkopf bedruckt war.

»Wenn du heute nicht hingehst, bleib ich auch gerne zu Hause«, antwortete sie ihm und füllte nochmals Joghurt in ihren Teller nach.

Leon verstand seine Schwester nicht, vor allem nicht ihre Liebe zu allem Möglichen, was in welcher Form auch immer mit diesen Tigern zu tun hatte.

Aber er liebte seine Schwester sehr und sie hatten keine wirklichen Geheimnisse voreinander.

Von seinen Gefühlen zu Andrea wusste sie allerdings noch nicht, er überlegte aber schon, wie er es ihr wohl erklären könnte.

Er selbst zog sich wieder sein grünes Kapuzenshirt über die längeren dunkelblonden Haare und begab sich zwitschernd ins Bad. Hier konnte er dann endlich den medizinischen Ohrstecker herausnehmen und den silbernen Anhänger mit Krokodilmotiv wieder anhängen. Ein sehr filigranes Teil, beim Einknöpfen spürte er seine Ungeduld. Er atmete tief ein, dann klick.

Es war nicht einfach gewesen, die Eltern von diesem für ihn schon wichtigen Modeschritt zu überzeugen, sich ein Ohrloch stechen zu lassen.

Mit Sportschuhen bekleidet und frisch deodoriert ergriff er dann seinen schwarzen Rucksack und stellte die Fahrräder nach draußen. So lief es morgens in aller Regel ab, Lena brauchte meist länger, da sie ihre Schultasche erst auf den letzten Drücker hinpackte.

Die Sonne strahlte warm und die Schmetterlinge tanzten.

Mit Helmen geschützt, radelten die beiden Kids der Bruckners dann Richtung Ammhauser Gesamtschule.

Sie stoppten noch kurz bei Eddies Trinkhalle, um zwei belegte Brötchen für die große Pause zu kaufen.

Der Kiosk hatte sich in all den Jahren nicht verändert, draußen die drei vergilbten Stehtische mit den blauen Aschenbechern darauf.

Am Eingang stand immer noch der gemütliche geflochtene Strandkorb, Hannas und Leons bewährter Lieblingsplatz.

Inhaber Eddie versuchte nach wie vor, seine Kunden mit einem guten Witz aufzumuntern und das Warensortiment war stets sehr breit aufgestellt. Er kannte seine Kunden mittlerweile so gut, dass er oft schon wusste, was sie kaufen wollten, ohne dass sie dabei ihren Mund noch öffnen mussten. Seine selbstgemachten Frikadellen waren seit Jahrzehnten nicht zu übertreffen.

Darüber hinaus hatte sich Ammhausen aber schon eher stark verändert. Viele Häuser waren neu hinzugekommen und etliche Altbauten wurden bereits abgerissen und durch größere und moderne Wohnanlagen ersetzt.

Vor allem hatte der Verkehr in den letzten Jahren stark zugenommen, auch vor Leons Haustür fuhren mittlerweile deutlich mehr Autos und leider immer schneller.

Aber zumindest den Tannwald hatten sie durch eine starke Bürgerinitiative vorm Abholzen bewahren können.

Er begleitete seine Schwester bis zu ihrem Klassenzimmer und überquerte dann den Schulhof bis zu seiner Klasse 10a der Oberschule.

Er hatte sich vorgenommen für seine Schwester da zu sein, sie im Auge zu behalten, Lena sollte niemals ein Opfer von Mobbing werden, so wie damals er.

Es war für ihn das letzte Jahr der Oberschule, sein Ziel war der erweiterte Realschulabschluss, denn damit konnte er dann die Polizeischule besuchen.

Die Noten standen schon größtenteils fest und er schrieb bereits Bewerbungen, wobei die Polizeiakademie in Mechingen ihn bereits fest einzuplanen schien.

Leon hatte sich vorgenommen, sich irgendwann beruflich für die Schwachen einzusetzen und sich mit gegen das Böse zu stellen.

Er freute sich auf die Akademie und einen Werdegang bei der Polizei und die Chancen dafür standen gut.

Er nahm wie jeden Morgen neben Benjamin in der dritten Reihe am Fenster Platz.

Von da aus fiel sein Blick meist als Allererstes nach rechts zur Mitte der zweiten Reihe hin, dort saß Andrea neben dem Noel.

»Ich glaub, der knallt die Andrea schon«, flüsterte Benjamin ihm ins Ohr und schubste ihn dabei leicht an, wie er es öfters tat.

Leon hatte es ihm am Vortag erzählt, dass er die Andrea schon toll fand. Aber den Gedanken wollte er auf gar keinen Fall zulassen, dass sie und Noel sich bereits nähergekommen sein konnten.

Er ließ sich nichts anmerken, auch wenn sein Herz heftig klopfte. Andrea war etwas Besonderes und für ein einmaliges Date viel zu schade.

»Toller Kroko da am Ohr«, fuhr Benjamin fort, er hatte wohl seinen neuen Ohrschmuck entdeckt. Als er dann noch hinzufügte, dass er der Andrea auch so eines schenken sollte, wies er ihn aber deutlich zurück und bat eingehend um Ruhe. Dennoch mochte Leon seine direkte Art und hatte sich noch nie wirklich mit ihm gestritten. Sie unternahmen viel zusammen und vermissten beide den Jannik, ihren weiteren gemeinsamen Freund. Er war erst kürzlich weggezogen.

Sie waren über die sozialen Medien verbunden und schrieben sich viel. Wenn Jannik dann mal wieder im Ort war, trafen sie sich umgehend bei Benjamin, um auf dem großzügigen Platz vor seinem Haus Basketball zu spielen.

Dann endlich betrat Herr Rebens den Klassenraum und begann mit dem Mathematikunterricht, als Thema hatte er die beschreibende Statistik auserkoren. Benjamin sortierte gelangweilt seine Stifte und streckte die Beine weit nach vorne.

»Wie lange geht das noch, was hat der denn noch alles mit uns vor?«, seufzte er leise.

Aber auch Leon hatte in Sachen Mathe kaum noch Energie, es war sein schwerstes Fach. Dass er mittlerweile eine Drei in seinem Abschlusszeugnis erwartete, war schon ein kleines Wunder. Aber ohne die Unterstützung Benjamins wäre er mit diesem Stoff niemals klargekommen. Sehr viele Nachmittage hatte er bei seinem Freund verbracht und dieser hatte sich immer Zeit genommen, ein wahrer Freund.

Der Platz vor Leon war an diesem Morgen unbesetzt, es war der Platz von Hanna.

Er ahnte aber nicht im Geringsten, was seine Nachbarin in der letzten Nacht durchlitten hatte.

2

WILLENLOS

Ihr war immer noch fürchterlich kalt, als sie um neun Uhr in die Augen ihrer Mutter starrte, sie zitterte. Hanna taten sämtliche Muskeln und Knochen weh, die Zunge klebte trocken im Hals, ihr war übel und ein fieser, stechender Kopfschmerz hatte sich eingeschlichen. Das alles fühlte sich an, als hätte sie sich eine schwere Grippe oder sogar einen Coronavirus eingefangen. Es dauerte Minuten, bis sie realisierte, dass es ihr eigenes Schlafzimmer war, in dem sie sich augenblicklich befand.

Dann schwenkte sie ihre Augen kurz nach links und entdeckte verschwommen eine weitere, wesentlich größere Dame in ihrem Zimmer. Sie war völlig in Weiß gekleidet und schob irgendetwas Buntes in eine kleine Schachtel hinein.

»Was ist passiert, Mama, warum ist mir so schlecht?«, fragte Hanna aufgeregt, dabei stieg eine große Angst in ihr auf.

»Es wird alles gut, Hanna, wir sind hier, jemand muss dir gestern Abend im Musikpalast etwas in dein Getränk getan haben, du warst lange bewusstlos, Frau Heimeier ist Ärztin und hat dich nochmals untersucht. Sie war heute Nacht schon mal hier und hat dir etwas Blut abgenommen. Kannst du dich noch an irgendetwas erinnern, was gestern Abend passiert sein könnte?«

Fragend schaute sie dann in die Augen ihrer aufgewühlten Mutter, auch ihr war die Angst ins Gesicht geschrieben. Doch Hannas Kopf fühlte sich an wie ausgewaschen.

»Ich war doch mit Lora im Kino«, erinnerte sie sich nur unsicher, dann wurde sie von der Ärztin unterbrochen:

»Es ist gut, dass Sie sich erst einmal wieder so weit erinnern können, Ihr Erinnerungsvermögen wird sich in den nächsten Stunden und Tagen aber noch deutlich verbessern. Wir haben in Ihrem Blut Spuren von BtM nachweisen können, wie sie auch in sogenannten K.-o.-Tropfen vorkommen. Sie haben aber keinerlei Verletzungen und Sie wurden nicht vergewaltigt. Jedoch war Ihre Bluse ausgezogen und Ihr BH wurde vollständig aufgeknöpft. Ihre Freundin hat Sie so auf der Damentoilette vorgefunden, aber Sie wurden nicht Opfer einer Gewalttat, das ist ganz wichtig für Sie, verstehen Sie das?«

Hanna nickte kurz, Wut kam in ihr auf. Dann redete Frau Heimeier erleichtert weiter, dabei hielt sie zärtlich ihre kalte Hand.

»Bei Lora Weißhaupt haben wir ebenfalls geringe Spuren desselben Betäubungsmittels feststellen können, sie spricht augenblicklich mit der Polizei. Ich schreibe Ihnen etwas gegen die Übelkeit auf und bräuchte dann noch eine Urinprobe von Ihnen, Sie sollten jetzt aber viel trinken«, beendete die Ärztin ihre Ausführungen.

Sie hatte eine ruhige Stimme und blickte sie liebevoll durch ihre große, rahmenlose Brille an.

Das alles fühlte sich allerdings für Hanna an wie ein schlechter Alptraum, ihr Filmriss war noch zu groß und quälende Fragen stiegen weiter in ihr auf.

Dann sah sie Lora vor sich, wie sie lachend aus dem Kino kam, diese Tanzfläche, das grelle Licht, alles schien sich zu drehen und dann tauchte schlagartig dieser Typ auf, sie sah sein Grinsen, krampfartig versuchte sie sich an noch mehr zu erinnern, aber es funktionierte nicht.

Schweißperlen rollten von ihrer Stirn, dennoch raffte sie sich hoch, nahm den Testbecher und bewegte sich damit zur Toilette. Das alles erschien ihr, als würde sie schwerelos um einen Planeten schweben. Als sie die Probe fertig hatte, begann sie langsam damit, sich selbst abzutasten, ob sie nicht doch irgendwo eine Verletzung fand. Beim Anblick im Spiegel erschrak sie, als sie ihre blasse Gesichtsfarbe wahrnahm. Sie rieb ihre Augen und schlug sich ordentlich kaltes Wasser um den Kopf, sie atmete dann etliche Male kräftig durch und verließ das WC wieder. Es stellte sich zumindest kurzfristig ein kleines Erleichterungsgefühl bei ihr ein, wohl tatsächlich kein Opfer einer Vergewaltigung geworden zu sein, aber wie würde es Lora jetzt gehen?

Frau Heimeier nahm ihr die Probe ab und streichelte dabei zart über ihre Schulter, dabei schaute sie auf ihre kleine, zierliche Armbanduhr.

»Ich muss dann auch weiter«, flüsterte sie nur kurz.

Ihre Mama Eva stellte ihr eine Flasche Wasser neben das Bett und die Ärztin verabschiedete sich nur leise, indem sie mit den Augen zwinkerte.

Während Hanna dann den Durst stillte, erzählte Eva, dass ihr Portemonnaie leider fehlte und sie vorsichtshalber ihre Bankkarte bei der Bank hatte sperren lassen. Ihr Smartphone hätte man in der Toilette des Musikpalastes gefunden und es funktionierte nicht mehr. In Hanna stieg wieder diese unbeschreibliche Wut auf, wer hatte ihr das nur angetan?

Dass ihr Vater dann plötzlich in der Zimmertür stand, bekam sie nicht mehr mit, obwohl Dackel Linus kräftig bellte. Hanna war leise wieder eingeschlafen, dabei liefen die Bilder in ihrem Kopf aber weiter. Ihre Eltern hatten sie warm zugedeckt, Hund Linus hatte es sich vor ihrem Bett bequem gemacht und behielt sie mit seinen runden Knopfaugen ununterbrochen im Blick.

Ihr Vater Kai war auf einer Fortbildung für die Volksbank gewesen. Als ihn dann diese Schreckensnachricht in der Nacht erreicht hatte, war er direkt losgefahren, um bald wieder bei seiner Familie sein zu können. Eva und Kai arbeiteten beide in der Ammhauser Volksbank. Er war mittlerweile zum stellvertretenden Vorstandsvorsitzenden aufgestiegen und verdiente sehr gut, sodass Eva dann nur noch halbtags arbeitete.

Sie machte sich heftige Vorwürfe, dass sie es ihrer Tochter erlaubt hatte, nach dem Kino noch in dieses Lokal zu gehen.

Ammhausen hatte nur ein kleines Kino am Einkaufszentrum.

Von da aus waren es zwar keine einhundert Meter bis zum Alten Markt und dem Musikpalast, aber sie hätte das niemals zulassen dürfen, dass die beiden sechzehnjährigen Mädchen dort zu Fuß im Halbdunkeln unterwegs gewesen waren.

Sie hatte die Freundinnen mit ihrem Auto zum Kino gefahren und deutlich gesagt, dass sie bitte kurz nach Filmende anrufen sollten. Dann wären die Teenager sicher wieder zu Hause angekommen. Aber sie war letztlich auf Hannas Bitte eingegangen, sie dann später vom Lokal abzuholen.

Zum Glück machte Kai ihr keine Vorwürfe, vielmehr versuchte er, seine Frau zu beruhigen. Eva war schon klar geworden, was für ein Glück im Unglück ihre Tochter gehabt hatte.

Sie beschlossen, Hanna erst mal ausschlafen zu lassen, um dann mit ihr nach dem Mittagessen zur Polizei zu fahren.

Allerdings hatte sie auch dann noch keinen richtigen Appetit und ließ sogar ihren Lieblingsjoghurt stehen. Sie starrte ängstlich und nachdenklich durchs Küchenfenster. Was hatte man ihr an dem Abend nur eingeflößt, was werden die weiteren gesundheitlichen Folgen sein? Sie konnte ihre Tränen nicht mehr halten.