Leonhard Mondsturm: Das Herz des Waldes - Noah Horlacher - E-Book

Leonhard Mondsturm: Das Herz des Waldes E-Book

Noah Horlacher

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Beschreibung

Leonhard Mondsturm, ein junger Schmied, begibt sich in den verbotenen Wald, in dem nichts ist, wie es scheint. Zusammen mit seiner Langhaarratte Flitz und seiner besten Freundin Sarah muss er sich mehreren philosophischen Herausforderungen stellen, um sein Dorf zu retten.

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Veröffentlichungsjahr: 2024

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1: Eichenthaler Schmiedekunst

Kapitel 2: Ein Winterspaziergang durch Eichenthal

Kapitel 3: Der Hügel Eichenblick

Kapitel 4: Das Wunschbrennen

Kapitel 5: Der Eichwald

Kapitel 6: Das Blatt im Wind

Kapitel 7: Das Haus im Wald

Kapitel 8: Adalbert, der Alchemist

Kapitel 9: Das Waldhuhn

Kapitel 10: Flitz

Kapitel 11: Das Rätsel der flüsternden Blätter

Kapitel 12: Das Schwert der tausend Fragen

Kapitel 13: Die Symphonie des Waldes

Kapitel 14: Das Herz des Waldes

Kapitel 15: Der Zeitsprung

Kapitel 16: Gefangen

Kapitel 17: Vogel

Kapitel 18: Die Chaoskammer

Kapitel 19: Mehr als Mut

Kapitel 20: Adalbert

Kapitel 21: Die Heimkehr

Kapitel 22: Ein Neubeginn

Leonhard Mondsturm

Das Herz des Waldes

Von Noah Horlacher

Copyright © 2024 Noah Horlacher Alle Rechte vorbehalten

Kapitel 1: Eichenthaler Schmiedekunst

Der Ursprung der Eichenthaler Schmiedekunst liegt in einer Mischung aus Notwendigkeit und künstlerischem Ausdrucksbedarf. Als die ersten Siedlungen von West-Lyranthia inmitten des Eichwaldes aufsprangen, die Häuser das Waldmeer zu verdrängen begonnen und die Einwohnerzahlen stiegen, entstanden hier die ersten spezialisierten Berufe: Jäger, Köche, Schürfer, Waldwächter, Sturmsänger und Erntehelfer. Das Volk wurde mit der Zeit ein gehobenes, mit Ansprüchen auf geistige Entwicklung, spirituelle Erfüllung und dramatische Unterhaltung. So entstand die Nachfrage nach Malern, Narren, Alchemisten, Schaustellern und Sternenstarrern, die alle in Lichtenhain verweilten. Und dann war da noch die Schmiedekunst. Die Kunstschmiede waren zuerst auf seltene Materialien fixiert, um höchste Qualität zu erreichen: Mondmetall, Schattenstahl, Feuererz, Flussschiefer, Eichenblech, grüner Tropenquarz, Elfenholz, Wiesensteine. Aber auch die rarsten wurden verwendet: Aetheriumglanz, Blutmond-Onyx und Windhaucheisen. Doch ein Paradigmenwechsel geschah und die Kunstschmiede begonnen, ihre Werke mit intrikaten Ornamenten zu verzieren und stets neue Methoden zu entwickeln, um sich gegenseitig zu übertreffen.

Es entstanden Schulen, die nur auf das Schmieden spezialisiert war. Da war zum Beispiel die Schule der Geduld, dessen Meister Igor Klopf die Flussmetallverschmelzung erfand. Diese Methode nutzte die natürlichen Flussläufe, um Metall zu härten und gleichzeitig mit einem magischen Flussmuster zu versehen. Die Schmiede tauchten das glühende Metall in speziell errichtete, schattige Flussbecken, die mit Kräuteressenzen angereichert waren, was zu einzigartigen, gewundenen Mustern auf der Oberfläche führte. Die ältesten Überlieferungen sprechen von geheimen Rezepten für die Kräutermischungen, die nur an die talentiertesten Lehrlinge weitergegeben wurden. Ein berühmtes Beispiel ist die Drachenschwanzklinge, deren Flussmuster an die Schuppen eines Drachen erinnert und die als unzerstörbar galt.

Dann war da auch noch die Schule des Lichts: Rino Klööp, der Meister dieser Schule, war bekannt für die Technik des Sonnenfeuerbrennens. Hierbei wurde das Metall in speziellen Spiegelkammern erhitzt, die das Licht der Sonne bündelten und es zu einem intensiven, konzentrierten Strahl formten.

Zuletzt sei die Schule der Eiche erwähnt: Damian von Schluchzingen brachte den Schülern unter anderem die Eichenherz-Einschmelzung näher, bei der kleine Mengen von bearbeitetem Eichenholz in den Schmelzprozess eingebracht wurden. Dieses Holz, das als heilig galt, wurde durch geheime alchemistische Tinkturen in ein Material verwandelt, das dem Metall besondere Stärke und eine leicht grünliche Tönung verlieh, die in der gesamten Region als Zeichen höchster Handwerkskunst angesehen wurde.

Diese und viele andere Techniken machten die Lichtenhainer Schmiedekunst berühmt und begehrt, nicht nur wegen ihrer praktischen Anwendbarkeit, sondern auch wegen ihrer ästhetischen und kulturellen Bedeutung. Leider waren die Kunstschmiede in der wirtschaftlichen Realität trotzdem den grössten Teil des Werktages mit der Herstellung von Hufen, Türangeln und Nägeln beschäftigt. Dies führte zum ersten Mal zum allzu bekannten Dilemma, das auftritt, wenn man seine Passion als Karriere verfolgen möchte: artistischen Selbstausdruck mit Kommerz zu balancieren. Der tägliche Kampf zwischen den profanen Aufgaben und dem Drang, Kunst zu schaffen, brachte viele Schmiede an den Rand des Wahnsinns. Das, und die Gier danach, sich und die anderen ständig zu übertreffen, führte zu einem regelrechten Wahn, gar einer Epidemie, bei der nicht wenige verrückt wurden, und die allgemein als die Ära des Schmiedfiebers bekannt ist. So erging es zum Beispiel dem grossen Meister Jakob Moorstelz, der bei der Entwicklung seiner Mondschmiede die Angewohnheit entwickelte, bei jedem Hammerschlag einen Vers aus alten Schmiedeliedern zu rezitieren, was seine Effizienz um ein Vielfaches verminderte und somit ein ausreichendes Einkommen unmöglich machte.

Und so wurde die meiste Schmiedekunst in den wenigen freien Stunden der überarbeiteten Schmiede ausgeführt. Dazu kommt auch die grosse wirtschaftliche Regression, in der sich Lichtenhain und Eichenthal später befand. Die Händler und Gelehrten rannten förmlich davon, auf zu attraktiveren und moderneren Städten und Regionen. Lediglich ein paar alte Schmiede verblieben, die der Geschichte vergessen gingen. Somit gingen die meisten Techniken verloren und Lichtenhain blieb nur noch eine alte Geisterstadt. Man munkelt, dass die Geheimnisse dieser Kunst noch immer im Herzen der Ruine schlummern.

Aber all das gehört zum Eichenthaler Grundschulstoff, den ihr sicherlich vollständig im Kopf behalten habt. Ich kann mich noch erinnern, wie fasziniert ich als Kind von diesen Geschichten war. Schon damals wusste ich, dass ich eines Tages ein Teil dieser stolzen Tradition sein wollte. Aber jetzt, wo ich nun tatsächlich ein Lehrling der Schmiedekunst bin, frage ich mich oft, ob ich wirklich dafür bestimmt bin. Ich war gerade mit dem Schmieden eines wunderschönen und anspruchsvollen Dolches beschäftigt, im Auftrag von Bruno Plapper, dem Bruder des Bürgermeisters. Der Griff war bis ins kleinste Detail gespickt mit Mikro-Ornamenten. Eine Technik, die ich von meinem Lehrmeister, Ludwig Hammerstein, über Jahre hinweg erlernen durfte. Winzige Menschen schienen, rund um den Elfenholzgriff verteilt, die Klinge anzubeten. Sie strecken sich aus Flammen aus Feuererz, hinauf in den Himmel aus seltenem, grünschimmerndem Tropenquarz. In die Klinge würde noch der Name “Bruno der Grosse” eingestanzt werden. Die Eichenblechklinge hatte ich unter höchster Konzentration genau 643-Mal gefaltet – das Optimum für dieses Material.

Ich starrte auf die glühende Klinge vor mir, fasziniert von den tanzenden Schatten, die sie auf den Amboss warf. Diese Momente der Ruhe und Konzentration waren es, die ich am meisten an der Arbeit liebte. Die Gluthitze prickelte auf meiner Haut, während ich rhythmisch die Klinge formte. Ich konnte Ludwigs steinerne Stimme in meinen Gedanken hören, wie man mit Geduld und Präzision solche Kunstwerke erschuf. Ludwig war seit seiner Jugend ein begabter Schmied. Es ist zwar noch kein Meister vom Himmel gefallen, aber er war wirklich sehr nah dran. Ich befürchtete, er wollte mir die Schmiede überlassen, wenn er dann mal genug vom Schmieden hatte. Ich war mir nicht sicher, ob ich das wirklich wollte, aber ich glaubte auch nicht, dass er jemals genug vom Schmieden haben wird.

In der Schmiede hing ein schwacher Hauch von Kiefernharz in der Luft und es erinnerte mich an die Bibliothek von Adalbert Brecht-Cabana, die ich in der Schule oft aufsuchte, um mehr über Eichenthal und die Lichtenhainer Schmiede zu lernen. Ich liess den Rohling für einen Moment auf dem Amboss ruhen und wischte mir den Schweiss von der Stirn. In diesem Moment bemerkte ich, wie stickig es geworden war und öffnete die Fenster, eins nach dem anderen. Ich spürte, wie die Schmiede die eiskalte Dorfluft einsog. Sie roch nach Kühen, Markt und Wald, und war trocken und staubig. Ich schmeckte den scharfen metallischen Geruch des heissen Dolches auf meiner Zunge, als ob die frische Luft mich erwachen und die Schmiedeluft neu erfahren liess. Vom Fenster traten auch neue Geräusche ein: Knarzende Wagenräder, vereinzeltes Pferdewiehern, eine Diskussion vom alten Nachbar am Gartenzaun. Die Mischung aus Russ und Schweiss trocknete an meinen Armen fest und wurde zu einer zweiten Haut. Ich lehnte mich aus dem Fenster um mich abzukühlen. Mein Atem dampfte. Ich blickte auf die Dorfgasse. Die klare Winterluft kühlte mein erhitztes Gesicht. Ich beobachtete einen Moment lang die Dorfbewohner, die in Vorbereitung des Wunschbrennens, einer alten Dorftradition, geschäftig hin und her eilten, während die Spätwintersonne alles in ein warmes, goldenes Licht tauchte. Eine Vorfrühlingsmelancholie überkam mich. Der Frühling war noch nicht zu sehen, doch die Tage wurden wieder länger. Bald würden die ersten kleinen Blümchen sprossen. Von hier aus konnte ich auch den schneebedeckten, gefährlichen Eichwald und knapp noch den Gipfel vom Hügel Eichenblick sehen. In der ferne trumpfte das Schloss Schluchzingen. In der Nacht konnte ich von meinem Bett aus manchmal das schaurige Echo vom Windespfeifen hören, das sich anhört wie ein bitteres Geheul. Irgendetwas an dieser Szenerie versetzte mich in eine nachdenkliche Stimmung. Etwas Ungewisses lag in der Luft. Vielleicht lag es an den langen Schatten, die über das holprige Kopfsteinpflaster wirbelten, oder an der allgemeinen Schwermut, der mit der Winterabenddämmerung hier in Eichenthal immer Einzug hielt. Jedenfalls überkam mich plötzlich eine tiefe Sehnsucht.

Dann flog die Tür auf und Ludwig betrat die Schmiede. Seine Gestalt füllte den Raum aus, breitschultrig und kräftig wie ein Bär.

“Na Junge, immer noch am Feinschliff?”, brummte er und klopfte mir auf die Schulter.

“Äh, ja Meister”, murmelte ich verunsichert. “Ich wollte gerade eine Pause machen.” Ludwig nickte.

“Gut. Du hast hart gearbeitet heute. Aber jetzt ist Feierabend. Die anderen brauchen meine Hilfe bei den Vorbereitungen fürs Wunschbrennen morgen Abend.” Ich seufzte und wischte mir die Hände an der Schürze ab.

“Schon wieder das Wunschbrennen”, murmelte ich. “Jedes Jahr dasselbe.” Ludwig hob eine buschige Augenbraue.

“Was ist los mit dir, Junge? Das Wunschbrennen ist eine jahrhundertealte Tradition. Es verbindet uns mit unseren Vorfahren und der Magie des Waldes.” Ich zuckte nur mit den Schultern

“Ich weiss, Meister Hammerstein. Aber irgendwie… fühle ich mich jedes Mal so deplatziert dabei. Als würde ich nicht wirklich dazugehören.” Ludwig legte mir die Pranke auf die Schulter und sah mich mit einem strengen, aber auch mitfühlenden Blick an.

“Leon, ich verstehe deine Zweifel. Auch ich hatte als junger Mann Mühe, mich dem Dorf zu fügen.” Er seufzte tief, seine Stirn runzelte und sein Blick wurde nachdenklich. “Aber glaube mir, Junge, dieses Gefühl der Entfremdung ist ganz normal in deinem Alter. Es ist Teil des Erwachsenwerdens, seine Rolle in der Gemeinschaft zu finden.” Ich nickte zögernd. In Ludwigs tiefer, rauer Stimme schwang die Weisheit und Gelassenheit eines langen Lebens, aber meine Zweifel blieben. Als er mir auf den Rücken klopfte und sich zum Gehen wandte, hielt ich ihn mit einer Frage auf, die mich schon lange quälte.

“Aber Meister Hammerstein, was ist, wenn mein Weg woanders liegt? Jenseits von Eichenthal, jenseits dieser uralten Traditionen?” Ich zögerte, fast zu ängstlich, um solch eine Ketzerei laut auszusprechen. Was würde Ludwig denken? Würde er mich verstehen, oder würde er mich als undankbar ansehen? Diese Gedanken quälen mich schon seit Jahren, und ich wusste nicht, wie ich damit umgehen sollte. Ludwig hielt inne, seine Augenbrauen zogen sich zusammen. Als er sich wieder umdrehte, waren seine Augen dunkel vor Besorgnis.

“Leon, ich kann nicht behaupten, dein Schicksal zu kennen”, brummte er. “Aber sei vorsichtig. Eichenthaler Traditionen existieren aus einem Grund, auch wenn du ihn noch nicht sehen kannst.” Er deutete aus dem Fenster, wo die Dorfbewohner im schwindenden Dämmerlicht hin und her eilten. “Wir alle haben hier eine Rolle zu spielen, einen Zweck.” Nach einigen Sekunden Stillem Nachdenken sprach Ludwig: “Ich muss dann mal los. Fang dir kein Schmiedfieber ein.“ Mit diesen Worten verliess er die Schmiede und liess mich zurück.

Ich wollte mich gerade wieder an die Arbeit machen, als die Türe wieder aufschwang. Ein nervös stapfender Eilschritt näherte sich mir. Es war Bruno Plapper. Bruno war schon immer ein Wirbelwind in menschlicher Form. Wo auch immer er war, er hinterliess stets ein Chaos. Seine Miene war in eine nervenberaubende Mischung aus Schmollen und Zorn verdreht. Bruno war ein korpulenter Mann mit einem buschigen, roten Bart und stechenden Augen, die einem direkt in die Seele schauten. Mit jedem Schritt schien sich sein Gesichtsausdruck zu verschlimmern. Er war unter uns Schmieden bekannt für seine Ungeduld und unrealistischen Erwartungen. Das reine Gegenteil eines fleissigen Arbeiters.

“Nun, wie steht es mit meinem Dolch?”, bellte Bruno. “Ich warte schon eine Woche.” Könnt ihr, höchstgeschätzte Freunde, euch vorstellen, was es einen hochbeschäftigen, spezialisierten Schmied in solchen Momenten an Nerven kostet, ruhig zu bleiben? Von einem Laien die Erledigungsfrist diktiert zu kriegen. Das kennt jeder Künstler. Sich so zu beherrschen, dass beim Gespräch keine Frechheit, nicht einmal eine sarkastische Bemerkung, rausrutscht, das ist wieder eine Kunst für sich. Sozusagen eine Kunst hinter der Kunst. Jedenfalls war ich genug geübt darin.

Ich antwortete nach Schritt 4a des Moorstelzschen Lächeln-und-Nicken-Protokolls: “Guten Tag, Herr Plapper. Es tut mir leid, aber ich hatte in letzter Zeit viel zu tun. Ich werde mich sofort um ihren Dolch kümmern.”

“In Ordnung. Sieh zu, dass er bis morgen fertig ist. Ich möchte mich ohne ihn nicht am Wunschbrennen blicken lassen.”, sagte Bruno.

“Ach, Herr Plapper”, begann ich mit geduldiger Stimme, “Sie wissen doch, dass jedes unserer Werke mit grösster Sorgfalt und Hingabe geschmiedet wird. Es ist mir eine Ehre, ihnen ein Stück zu schaffen, das ihren hohen Ansprüchen gerecht wird. Ich garantiere ihnen die baldige Fertigstellung.”

“Hohe Ansprüche? Ich habe nach einem Dolch gefragt, nicht nach einer Träne der Riesenlanguste. Sicherlich ist das keine zu grosse Herausforderung für dich? Ansonsten werde ich ein Wort mit Ludwig wechseln müssen.” Brunos Kopf wurde rot. Es war von vorneherein schon klar, dass er dieses autoritative Getue nur aufsetzte. Nichts weiter als eine Masche. Tief im Innern war er unsicher, das konnte man im Beben seiner Stimme hören. “Richte Ludwig einen Gruss von mir aus. Ich erwarte euch am Wunschbrennen.” Ich seufzte schwer, als Bruno wieder davonstürmte. Seine Worte hatten mich getroffen, auch wenn ich versuchte, nach Protokoll zu reagieren.

“Schritt 5b des Moorstelzschen Lächeln-und-Nicken-Protokolls: Einfach weitermachen.”, sagte ich leise zu mir.

Ich war jetzt nicht nur aus dem Arbeitsfluss gerissen worden, sondern ich fühlte mich auch ziemlich deprimiert. Diese Art von Kundengespräch schoss mir immer das Blut in den Kopf, brachte meine Hände zum Zittern und pumpe mich mit Adrenalin voll, doch meine Kehle schnürte sich von selbst zu. Nichts Unhöfliches konnte zu Arbeitszeiten je aus meinem Mund kommen. Wenn es etwas gibt, das mich am Schmieden stört, dann ist es das. Lieber würde ich mit verbundenen Augen eintausendmal alle Feilen und Raspeln nach Grobheit sortieren — und das jeden Tag. Auch das stundenlange Schärfen stumpfer Schwerter, bis meine Arme abfielen, wäre mir lieber. Oder die schweisstreibende Arbeit, alle glühend heissen Schmiedewerkzeuge von Hand zu reinigen und zu polieren, bevor ich mich erneut einem solchen Kundengespräch aussetzen müsste. So beschloss ich dann, es für heute gut sein zu lassen. Für einen Eichenthaler Schmied bedeutet das, alle verwendeten Werkzeuge wieder an den richtigen Ort zu legen, den Ascheeimer zu entleeren, das Schmiedefeuer zu löschen und die Materialbestände zu kontrollieren. Ich begann mit dem Werkzeug: Die Setzhämmer legte ich in den Setzhammerkasten, das Herdeisen steckte ich in den Herdeisenköcher neben dem Feuer, den Abschrecktrog stellte ich in den Abschrecktrogschrank, Kugel- und Kreuzschlaghammer hing ich an die Wand, an die Kugel- und Kreuzschlaghammerwandhaken. Dann hob ich den Ascheeimer auf und trug ihn auf der Schulter durch den Raum zur Hintertür, während Brunos Worte hämisch in meinem Kopf widerhallten: ”Einen einfachen Dolch! Einen einfachen Dolch! Einen einfachen Dolch!” Es traf mich wie ein Schlag mit dem Schmiedehammer. Es war mehr als ein einfacher Dolch. Es steckte schliesslich mein Herzblut darin. Dann leerte ich die Asche in ein Fass. Die Asche wurde wöchentlich von den Bauern geholt. Dann kontrollierte ich die Materialbestände: Eisen, Bronze, Zinn, Kupfer, Messing: Alles da. Mondmetall, das nur bei Vollmond geschürft werden kann und magische Eigenschaften besitzt: Da. Schattenstahl, aus den dunklen, tiefen, gefährlichen Finstergrotten, aus dem Jakob Moorstelz ein Schwarzschwert erschuf, das in der Nacht unsichtbar war: Etwas knapp. Feuererz, aus Vulkankratern gefischt, aus dem Waffen gemacht werden konnten, die extremer Hitze standhalten sollten: Ist aus. Eichenblech, ein besonders flexibles Eichenthaler Spezialitätsmetall, das durch einen alchemistischen Geheimprozess von Holz in Metall verwandelt wird: Genügend vorhanden. Elfenholz, Flussschiefer, seltener grüner Tropenquarz, Wiesensteine, Nimmerperlen: Alles da. Dann legte ich meine Schürze ab und wusch meine Arme, Hände und mein Gesicht an der Spüle. Ich konnte es nun kaum mehr erwarten, die Schmiede hinter mir zu lassen. Ich hatte mit meiner besten Freundin, Sarah Tausendstern, eine Wanderung auf den mächtigen Hügel Eichenblick geplant. Der Hügel zählte seit dem Untergang von Lichtenhain als eine der letzten verbliebenen Sehenswürdigkeiten von Eichenthal. Wir wollten uns den Sonnenuntergang anschauen und die wunderschöne, natürliche Szenerie von oben anschauen. Es heisst, man könnte von dort aus den alten Stadtumriss sehen. Ich wechselte noch kurz die Kleider, ging durch die Tür und verschloss sie hinter mir. Die frische Luft fühlte sich befreiend an, als ob sie meine Zweifel und Sorgen wegwehen könnte.

Sarah wird sicher einen klaren Kopf haben, dachte ich. Vielleicht kann sie mir helfen, meine Gedanken zu ordnen.

Kapitel 2: Ein Winterspaziergang durch Eichenthal

Die Eichenthaler Winterabende hatten schon immer etwas Besonderes. Oh, wie viele meiner Erinnerungen daran haften. Eine meiner frühesten ist das Schlitteln mit Freunden. Die Freude, das Lachen, die Spannung. Nach der Schule trafen wir uns, um stundenlang Schanzen zu bauen und unsere Schlitten den Hügel Eichenblick hochzuziehen, um dann runterzurasen. Einmal bauten wir eine besonders grosse Schanze, gossen sogar Wasser darüber, um es zu vereisen. Einer meiner Freunde borgte sich eine Schneeschaufel, damit wir schneller daran arbeiten konnten. Mehrere Tage am Stück trafen wir uns nach der Schule, um die Schanze zu vergrössern. Als sie fertiggestellt war, machten wir unter uns aus, wer das waghalsige Kunststück zuerst versuchen sollte. Mein Freund Finn Feuerherz zog den Kürzeren und nach einem kurzen Protest brachten wir ihn dazu, sich auf seinen Schlitten zu setzen. Dann raste er los. Seine Kufen waren frisch gewachst, und es zeigte sich: Finn flog in einem hohen Bogen, viel höher als erwartet, mitten in einen Bach. Er brach sich den linken Arm und sein Vater musste ihn holen kommen. Seit diesem Unfall durfte er nicht mehr mit uns spielen.

Oder die warmen Abende am Kamin. Mein Vater erfand und erzählte mir dann täglich Gutenachtgeschichtchen, jede mit einer noblen Moral, und liess mich ausnahmsweise in der warmen Stube schlafen. Viele davon spielten ausserhalb von Eichenthal: In Dunkelbach, Rosentann und Windlingen. Im Schloss Schluchzingen, bei der Ruine Lichtenhain, an der Küste Tausendstern. In Buchtheim am Ewigstrand, beim Weltenzipfel, beim Nimmersee und in der verborgenen Weite. Als ich älter wurde zog einmal ein brutaler, langanhaltender Schneesturm über Eichenthal. Er blockierte alle Zu- und Ausgänge im Dorf, was zu Zwangsaufenthalten im eigenen Zuhause führte. Damals, mit den tosenden Schneeflocken und bitterkalten Winden, die gegen die Fenster schlugen, erzählte er mir über mehrere Abende hinweg eine stundenlange Geschichte über einen Mann im Eichwald.

Die Geschichte begann mit dem einsamen Holzfäller Jorgen Berger, der in einer kleinen Hütte im Eichwald lebte. Eines Nachts weckte ihn ein leises Flüstern im Wald. Trotz des unguten Bauchgefühls nahm er sich nur seine Axt und eine Laterne und folgte dem Flüstern in die tiefsten Teile des Waldes.

Auf seiner Reise stiess Jorgen auf leuchtende Pilze, die ihm den Weg wiesen. Die Pilze flüsterten in einer fremden Sprache, und Jorgen folgte ihnen tiefer in den Wald, bis er auf eine Lichtung mit einem silbernen Brunnen stiess, der im Mondlicht glitzerte.

Jorgen sah in den Brunnen und entdeckte flüssiges Silber. Er tauchte seine Axt hinein, und sie verwandelte sich in eine Waffe von unglaublicher Schönheit und Macht. Doch eine alte Eule warnte ihn: „Die Welt ist voller Wunder und Gefahren. Sei weise, denn nicht alles, was glänzt, ist Silber.“

Zurück im Dorf versuchte Jorgen, die Dorfbewohner von den Gefahren und Wundern zu überzeugen, die er entdeckt hatte, aber niemand glaubte ihm. Schliesslich entschied er sich, Eichenthal zu verlassen und die Welt zu erkunden. Mit seiner silbernen Axt und der Weisheit der Eule im Herzen, verschwand er im Nebel des Morgens.

Mein Vater endete die Geschichte mit der Lektion, dass Mut und Neugierde wichtig sind, aber man immer die Konsequenzen seiner Taten bedenken sollte. Das war die letzte Gutenachtgeschichte, an die ich mich erinnern kann.

Nebst den Geschichten und dem Schlitten sind da natürlich auch noch die funkelnden Wintermärkte, bei denen alles nach gebrannten Mandeln, Glühwein und Fackelrauch riecht. Bei denen alles von warmem Licht überflutet und mit kleinen Schnitzereien in der Form von Waldwesen geschmückt war: Rotfüchse, Damhirsche, Ringeltauben, ekelhafte Dunkelspinnen, sagenumwobene Waldhühner, gemeine Eichfliegen. Wir zelebrierten den Wald bis tief in die Nacht. Ja, der Winter war definitiv meine Lieblingsjahreszeit, und es gab keinen besseren Ort in ganz Lyranthia als Eichenthal um ihn mit Schlitteln, Wintermärkten und Kaminen zu verbringen. Ich ging nun zwischen den Verkaufsständen durch. Bei einem Stand wurden Magenbrot, Eichbeerentee, karamellisierte Froschzungen und andere Köstlichkeiten angeboten. Bei einem anderen gab es gehäkelte Kleidungsstücke mit witzigen Mustern: ein Paar Handschuhe mit einem Mops mit Schal drauf, ein Paar Socken mit lachenden Schneemännern, oder ein Schal mit einer Kröte drauf, deren Zunge sich vom einen zum andern Ende streckt, um eine Schneeflocke zu fangen. Die Marktstände waren jedes Jahr das gleiche, jedoch zieht es uns tief im Innern immer wieder an. Ich fragte mich, warum das so sei und schlenderte weiter.

Ursprünglich wollte ich eigentlich schnurstracks zu Sarah gehen, doch ich wurde von dem Trubel der Vorbereitungen des Wunschbrennens auf den Marktplatz gespült. Die Menschen trieben alle aneinander vorbei, es sah aus wie ein gigantischer Malstrom aus Fleisch und Haar. Und fast jeder der Bewohner und Arbeiter hatte etwas im Gepäck: Geschenke für die Familie, einen saftigen Stiervogelbraten, Teile von Festzelten, Musikinstrumente, Brennholz. An mir zog ein Ochsenkarren vorbei, beladen mit diversen Fässern. Kinder liefen lachend zwischen den Beinen der Erwachsenen umher, während Verkäufer laut ihre Waren anpriesen. Der Duft von frisch gebackenem Brot und gebratenem Fleisch hing in der Luft, vermischt mit dem harzigen Geruch von kürzlich geschlagenem Holz. Ein Huhn erschien urplötzlich vor meinen Beinen und brachte mich zum Stolpern. Es flatterte gluckernd davon. Dann zog mich ein lauthalsiger Narr am Ärmel auf seine Bühne. Er tanzte einen ulkigen Tanz um mich herum, während er mit Eiern jonglierte, die am Ende seines Tanzes, eines nach dem anderen, auf seinem Kopf zerbrach. Lachend liess er das Dotter sein Gesicht runterlaufen und die Leute klatschten wie verrückt. Verwirrt stieg ich von der Bühne. Die Leute stiessen mich hin und her, ich kam mir vor wie ein Fischerboot in stürmischem Wellengang. Dann bildete sich inmitten des bunten Treibens ein Kreis an Glotzern.

Da, mittendrin, sass ein Junge auf dem Rand des Dorfbrunnens und Adalbert, der Alchemist, Bibliothekar und Berater des Bürgermeisters Otto Plapper, verband den Arm des Jungen.

“Pass nächstes mal etwas besser auf, Kleiner.”, meinte Adalbert. Die Mutter des Jungen kam herbeigeeilt und nahm den Jungen an der Hand, dann löste sich die Traube an Gaffern auf. Adalbert wusch sich seine Hände im eiskalten Brunnenwasser, dann kam er auf mich zu.

“Herr Mondsturm, was für eine Überraschung. Was machen sie hier? Waren sie schon bei den Ständen?”, fragte er mich.

“Guten Tag, Herr Cabana. Ich bin auf dem Weg. Und ja, ich hab’ die Stände gesehen. Sehr schön hergerichtet, aber es sind halt doch jedes Jahr die gleichen Stände.”, antwortete ich.

“Und? Dann weiss man wenigstens, was man kriegt.”, lachte Adalbert. “Sieht man sich morgen beim Wunschbrennen?” Adalbert richtete seine Robe.

“Ich muss es mir überlegen. Sie wissen ja, dass ich nicht gerne unter so vielen Menschen bin. Ausserdem weiss ich nicht, was ich mir wünschen sollte.”, sagte ich. Meine Stimme zitterte leicht, während ich sprach. Die Unsicherheit nagte an mir.

“Warum denn das?”, hakte Adalbert nach. Ich musste nachdenken, um die Worte zu finden.

“Ich denke ich fühle, dass sich etwas ändern muss, aber ich weiss nicht wirklich, was es ist, das ich brauche. Zum Beispiel was ich nach der Lehrzeit aus mir machen soll. Ob ich, na, sie wissen schon, weg von hier sollte.”, sagte ich.

“Ach, die Jugend.”, merkte Adalbert an. Sein Blick schweifte zum Horizont. “Ich erinnere mich an meine eigene Jugend. Ich war genauso unsicher wie sie. Ich stand an einem Scheideweg und wusste nicht, welche Richtung ich einschlagen sollte. Doch dann erkannte ich, dass der Wind der Veränderung oft dort hin weht, wo wir es am wenigsten erwarten.“ Einige Sekunden lang war Stille, als wäre der Markt für einen kurzen Moment vom Erdboden verschluckt worden. Die Geräusche des Treibens wurden gedämpft, und es schien, als würden die Sterne über uns heller leuchten. Adalbert hob die Hand verabschiedend. “Lass dich vom Winde treiben, Leon. Manchmal führt uns das Schicksal auf Pfade, die wir uns nicht einmal vorstellen können.“ Ich nickte nachdenklich, als er sich umdrehte und im Gewühl verschwand. Seine Worte hallten in meinem Kopf nach. Während ich weiter durch die Stände schlenderte, fragte ich mich, ob es wirklich so einfach war, sich dem Wind anzuvertrauen und wohin er mich führen könnte.

Ich drehte mich um und machte mich wieder auf den Weg. Sarah wohnte nicht weit weg vom Markt. Unterwegs wurden die Menschenströme dünner und dünner und Ruhe kehrte wieder ein. Die Sonne stand immer noch über dem Horizont und ich dachte über meinen Tag nach. Ehe ich mich versah, war ich vor dem Haus meiner besten Freundin angekommen. Ich tat ein paar Schritte, die Treppe vor der Haustür hinauf, und hob den Türklopfer an. Der Türklopfer war ein massives Stück geschmiedetes Messing in der Form eines langköpfigen Hundes, der einen Ring in der Schnauze hielt. Ludwig hat es in seiner Jugend angefertigt. Ein wahres Prachtstück, das von seinem überdurchschnittlichen Talent zeugt. Dann klopfte ich drei Mal. Schritte begannen die Treppen hinter der Tür herunterzupoltern. Dann öffnete sich die schwere Tür.

“Du siehst ja scheisse aus.”, sagte Sie. Ich musste schmunzeln. “Spass. Wie hat’s dich heute, alter Flötenschleifer? Du wirkst etwas müde. Sicher, dass du nicht umkehren willst? Oder bist du hier, um deine Tagesration an Sarah abzukriegen?”

“Hallo Sarah. Es ist schön, dich zu sehen. Ich muss es mir nicht zweimal überlegen. Bist du bereit für die Wanderung?”, fragte ich.

Sarah hob eine Hand und zeigte zum zweiten Stockwerk. “Ich hol noch kurz meine Tasche und zieh mir meine Schuhe an, dann bin ich bereit. Komm doch noch kurz rein und wärm dich nochmal auf.”

Zusammen stiegen wir die enge, steile Holztreppe hinauf zu ihrer Wohnung. Ich setzte mich auf einen einfachen Hocker und begann, die Bilder an ihrer Wand zu mustern. Eines davon fing mein Auge besonders ein: Eine Frau hängt Kleidungsstücke von einer Wäscheleine ab und legt sie in ihren überfüllten Wäschekorb. Ein kleiner Junge steht neben ihr und zieht an ihrem Kleid. Er scheint etwas sagen zu wollen. Er zeigt in eine Richtung, auf etwas ausserhalb des Bildes. Nun stand ich auf und beugte mich vornüber, um mehr Details auszumachen. Bei genauerer Betrachtung versetzte ich mich in die Szene hinein. Ich begann ein aufziehendes Unwetter zu vernehmen. Ich spürte den starken Wind. Das Bild sog mich ein. Nun fühlte ich mich, als ob ich wirklich dort wäre. Die Frau schien sich zu beeilen. Der Junge war ihr Sohn, der sie darauf hinwies, die Fenster zu schliessen. All das war für das physische Auge nicht wahrnehmbar. Egal wie fest ich das Gefühl des aufziehenden Sturms, der kalten Eisnadeln der Regenwolken und des Ziehen des Jungen wegdenken wollte, ich konnte es nicht. Ich nahm von dieser Observation mit, dass es schwierig ist, nicht tiefer in eine Person oder einen Sachverhalt hineinzuschauen. Als lebender, atmender Mensch kann man nun mal Dinge kaum nur beim Nennwert sehen. Dann kamen wieder Schritte auf mich zu.

“Warm?”, fragte Sarah. Ich nickte. Sie gab mir eine Tasche. Ich vermutete, sie war mit etwas Proviant und Zunder für ein Lagerfeuer gefüllt. “Dann los.” Gemeinsam stiegen wir die Treppe hinunter und öffneten die Türe. Die kalte Winterluft schlug gegen unsere Gesichter und wir machten uns auf den Weg zum Wanderpfad.

Kapitel 3: Der Hügel Eichenblick

Auf dem Weg zum Beginn des Wanderpfads Eichenblick erzählte ich Sarah von Bruno Plapper und sie brachte mich auf den neuesten Stand über ihr Ziel, Sportunterricht in der Schule einzuführen. Genau, ihr habt richtig gelesen, liebe Leser. Sportunterricht war damals noch kein Thema. Eichenthal war schliesslich nur ein einfaches Bauerndorf. Wenn überhaupt, hatten die Leute zu viel Bewegung, jedoch nicht unbedingt von der Gesunden Art. Sarah war eine Vorreiterin. Sie kämpfte jahrelang dafür, eine Anhörung bei Otto Plapper zu kriegen, um ihm die Idee gesunder Ernährung und aktiver Bewegung näherzubringen. Doch Adalbert, der Berater des Bürgermeisters, verschob den Termin ständig. Er schien sich nicht gross dafür zu interessieren.

“Was ist, wenn du privat Kurse anbieten würdest? Oder beim Markt einen Stand organisierst und dort die Leute über die positiven Auswirkungen von gesunder Bewegung und Ergonomie informierst?”, riet ich. Sarah lachte.

“Jaja, das habe ich mir auch überlegt, doch auch für den Stand müsste ich erst eine Lizenz kriegen. Das würde auch wieder ewig dauern. Ich fürchte, ich muss mir was Anderes einfallen lassen.”

Als wir beim Wanderpfad ankamen, blieben wir kurz stehen: Der Pfad war steil und von einer dichten Schneeschicht bedeckt, aber die Vorfreude auf die gute Zeit mit Sarah hob meine Stimmung. Wir stapften durch den knirschenden Schnee, und die kalte Winterluft füllte meine Lungen. Eine Weile gingen wir schweigend nebeneinander her, jeder in seine eigenen Gedanken vertieft.

“Du weisst, Leon” begann Sarah schliesslich, “ich habe bemerkt, dass du in letzter Zeit noch nachdenklicher als sonst bist. Was geht dir durch den Kopf?”

Ich zögerte, bevor ich antwortete. “Ich fühle mich so oft als Aussenseiter, Sarah. Als ob ich nicht dazugehöre, egal wie sehr ich mich anstrenge, mir das Gegenteil zu beweisen. Ich halte diese Leere nicht aus.”

Sarah blieb stehen und drehte sich zu mir um. “Das erinnert mich an Adalbert. Er ist auch ein Aussenseiter, weisst du? Aber er hat seinen Platz gefunden und ist glücklich damit.”

“Adalbert ist anders,” erwiderte ich. “Er scheint sich in seiner Rolle wohlzufühlen. Ich weiss nicht, ob ich das je kann. Ob ich meine Rolle jemals finden werde.” Sarah legte eine Hand auf meine Schulter und lächelte aufmunternd.

“Du wirst deine Rolle noch finden. Es dauert bei jedem unterschiedlich lange. Vielleicht bist du schon in einer Rolle. Vielleicht bist du in tausenden Rollen gleichzeitig.”

Ich nickte und entschied, das Thema zu wechseln. Ich wollte Sarah nicht mit meiner Hoffnungslosigkeit runterziehen. Wir sprachen über ihre sieben Brüder, ihre drei Hunde und über ihre Eltern, als wir unsere Wanderung auf dem gewundenen Pfad fortsetzten.

Die Sonne begann, sich dem Horizont zu nähern. Das schräg einfallende Abendlicht wurde durch die kahlen Äste gefiltert und tauchte alles in ein goldenes Leuchten. Ein frischer Wind raschelte durch die skelettartigen Blätter, die noch an ihren Zweigen hingen.

Als wir den Gipfel des Hügels Eichenblick erreichten, öffnete sich der Ausblick vor uns - sanfte Hügel und schneebedeckte Bäume erstreckten sich, so weit das Auge reichte. Die Lichter flimmerten im Tal unter uns und ein einziger, kleiner Lichtfleck schwächelte im Wald. Rauchfäden stiegen aus den Schornsteinen auf.

“Es ist wunderschön hier oben”, sagte Sarah leise. “Danke, dass du mit mir hier heraufgekommen bist.” Ich nickte.

“Gerne. Es tut gut, mal rauszukommen und den Kopf frei zu bekommen.” Eine Zeit lang standen wir schweigend da und genossen den Ausblick. Sarah hatte recht - dieser Ort besass eine besondere Magie. Vielleicht hatte es doch etwas auf sich. Das Wunschbrennen. Die Zelebration dieser Magie.

Ich sah zu Sarah hinüber. Der kalte Wind zerzauste ihr schulterlanges, goldenes Haar. Oben auf dem Hügel, hoch über Eichenthal, fühlte ich mich seltsam frei von den Zweifeln und Sorgen des Alltags.

“Wie hast du diesen Platz gefunden?”, fragte ich. Sarahs Blick blieb an die Ferne geheftet.

“Weisst du, Leon,” sagte Sarah und blickte in die Ferne, “es braucht mehr als nur Mut, um solche besonderen Orte zu finden. Es braucht einen Freund.”

Ihre Worte berührten mich. Sie hatte Recht - alleine wäre ich niemals hier heraufgekommen. Und ohne ihr, wär dieser Ort nicht dasselbe. “Danke, Sarah”, sagte ich leise, lächelnd. Sie lächelte auch. Dann wanderte ihr Blick zum Himmel, der sich allmählich dunkel färbte.

Sarah und ich standen eine Weile schweigend auf dem Hügel und beobachteten, wie die untergehende Sonne den Himmel in ein Meer aus Orangetönen und Violett tauchte. Eine leichte Brise strich über die kahlen Äste der Bäume und liess die letzten vertrockneten Blätter rascheln. Vielleicht lag der Schlüssel tatsächlich darin, diese Momente des Staunens und der Schönheit mit anderen zu teilen, anstatt immer nur alleine in Gedanken versunken zu sein.

Dann begann ich etwas Feuerholz und trockenes Laub zu sammeln. Unter den Bäumen war es trocken. Sarah holte einen Topf, Wasser und Tee hervor. Ich entzündete ein stattliches Feuer, das uns zu wärmen begann. Sarah goss das Wasser in den Topf und hängte ihn über die Flammen, um Tee aufzubrühen. Die flackernden Flammen warfen wilde Schatten auf den verschneiten Boden, während wir eng beieinander hockten und darauf warteten, dass das Wasser kochte. Die Flammen knisterten leise und warfen einen warmen Schein auf unsere Gesichter. Dann sassen wir eng beieinander und schlürften den Tee aus Metallbechern.

“Meinst du, die Legenden über diesen Wald sind wahr?”, fragte ich und blickte auf die dunkle Baumgrenze, die das Verbotene Waldgebiet markierte. Alte Geschichten erzählten von seltsamen Kreaturen und magischen Geschehnissen tief in seinem schattigen Herzen.

Sarah überlegte einen Moment, bevor sie antwortete. “Ich weiss es nicht, aber ich glaube, dass es noch immer Geheimnisse in dieser Welt gibt, die unser Verständnis übersteigen.” Sie stocherte mit einem langen Stock im Feuer. “Vielleicht bewahrt der Wald seine Geheimnisse nicht, um Dunkelheit zu verbergen, sondern um etwas Kostbares und Wildes zu schützen - etwas, das wir in unseren gezähmten Leben verloren haben.”

Ich nickte, wissend, dass Sarahs poetische Seele Schönheit sah, wo andere sie übersahen. Meine praktischen Augen erkannten nur Gefahr. Sorge und Zweifel keimten in meinem Blick auf, während ich in die dunklen Schatten zwischen den Bäumen starrte. “Ich weiss nicht…”, sagte ich leise. “Manchmal habe ich das Gefühl, dass dieser Wald nur Unheil bringt.”

Ich dachte an die alten Geschichten zurück, die mir meine Grossmutter als Kind erzählte- von Reisenden, die im Wald verloren gegangen waren, von seltsamen Lichtern und Stimmen, die in mondlosen Nächten zu hören waren, von Verrückten, die sich im Wald versteckten. Geschichten, vor denen mich meine Mutter immer gewarnt hatte.

Sarah legte ihre Hand auf meinen Arm. “Hab keine Angst, Leon. Solange wir zusammen sind, wird uns nichts geschehen.”

Sarahs Worte beruhigten mich, auch wenn meine Zweifel nicht völlig verflogen. Wir sassen noch eine Weile schweigend am Feuer, lauschten dem Knistern der Flammen und beobachteten, wie der Nachthimmel über uns immer dunkler wurde.

Irgendwann stand Sarah auf und klopfte sich den Schnee von der Hose. “Es wird Zeit, dass wir zurückgehen. Die anderen machen sich bestimmt schon Sorgen.”

Ich erhob mich ebenfalls und half ihr, die Reste unseres kleinen Lagerfeuers zu löschen. Dann machten wir uns auf den Abstieg vom Hügel, froh um die Fackeln, die uns den Weg durch die Dunkelheit leuchteten. Auf dem Weg beobachteten wir, wie Eichenthal näherkam, und sich die Natur veränderte. Von Bäumen zu Büschen und von Büschen zu Feldern. Dann kamen wir beim Marktplatz an. Die Stände waren längst geschlossen, die breiten Pflastersteinwege von Gaslampen beleuchtet. Unser Atem bildete kleine Wölkchen. Wir beide standen erwartungsvoll da, warteten darauf, dass jemand den Anfang des Abschieds machte.

“Gute Nacht, Leon. Bis bald. Du weisst, du kannst jederzeit zu mir kommen. Komm gut nach Hause.”, meinte Sarah.

“Danke. Du auch. Es war sehr schön. Bis bald.”, antwortete ich. Dann ging ich allein den dunklen Weg entlang nach Hause. Ich war sehr nachdenklich gestimmt. Ich blickte immer wieder hinauf in den sternenübersäten Nachthimmel, als ob ich dort Antworten finden würde, irgendwo hoch da oben. Doch die Sterne schwiegen. Sie funkelten einfach. Ich fragte mich, ob ich auch einfach mal funkeln würde.

Der Kies knirschte unter meinen Stiefeln, als ich die letzte Etappe meines Heimwegs durch leere Gassen ging. Nur vereinzelt brannte noch Licht in den kleinen Fachwerkhäusern mit ihren dunklen Schindeln. Ich fragte mich, was wohl hinter den alten, wettergegerbten Mauern vor sich ging. Gab es dort drinnen Familien, die zusammen am Tisch sassen, Geschichten erzählten und in den rauchgeschwängerten Stuben die Wärme des Feuers genossen? Oder einsame Seelen, die schweigend vor sich hinbrüteten?

Ein kalter, zügiger Wind wehte durch die Nacht und trug einige Blätterleichen und Schneeflöckchen mit sich. Sie segelten an mir vorbei, als wüssten sie, wohin es geht. Ich aber ging nur blind voran.

Dann bog ich endlich in die schmale Gasse ein, in der mein Elternhaus stand. Schon von Weitem sah ich, dass kein Licht mehr brannte. Meine Mutter hatte sich schon Schlafen gelegt. Leise schloss ich die Tür auf, zog die Stiefel aus und schlich auf Zehenspitzen die knarrende Holztreppe hinauf. In meinem Zimmer zündete ich mir dann eine kleine, zur Hälfte verbrauchte Bienenwachskerze an und setzte mich ans Fenster. Draussen lag das Dorf still und dunkel da vor mir, fast in griffweite, als könnte ich das Rathaus mit Daumen und Zeigefinger pflücken. Irgendwo bellte vereinzelt ein Hund, irgendwo antwortete einer. Ich holte vorsichtig den Verschluss einer Diele hoch und zog ein in Leder eingebundenes Buch hervor. Es war Sarahs Geschenk zu meinem letzten Geburtstag. Ein Buch voller Geschichten und Legenden über Eichenthal und die Ruine Lichtenhain. Ich legte mich ins Bett und begann zu lesen. Meine Augen verschlangen jedes Wort, wie ein ausgehungertes Tier. Mein Körper schmolz in die Umarmung meiner weichen Decken und Kissen. Mein Geist driftete ab in die ätherische Welt von Eichenthal. Und als der Schlaf mich schliesslich überkam, fühlte ich eine Welle der Gelassenheit und Erfüllung über mich hinwegspülen, wie eine warme und tröstende Umarmung, als Dank meines Körpers für die gesunde Bewegung, die ich ihm mit der langen Wanderung gegönnt hatte.

Kapitel 4: Das Wunschbrennen

Jedes Jahr bastelt sich jeder hier in Eichenthal eine eigene Laterne. Es hatte sich schon fast zu einem Wettbewerb entwickelt: Die älteren Leute bemalten sie mit Szenen der Eichenthaler Entstehungsgeschichte; friedliche Bewohner, die Hand in Hand eine Stadt im Alt-Lichtenhainer Stil erbauen, Karren voller bunten Blumen, gezogen von Eseln, Festmahle unter dem Sternenhimmel, der Wald. Die jungen Leute drückten ihren Geist auf den Laternen aus, indem sie sie mit persönlichen Gegenständen und Mustern beschmückten. So fand man auf den Laternen der Jünglinge kleine Tannzapfen, Laub, manchmal Anhänger oder kleine Münzen, bemalt mit zickzack, Wellen, Kräuselmustern oder auch wild getupft.

---ENDE DER LESEPROBE---