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Obwohl - oder weil - die Bedeutung der Antike für Dichten und Denken Giacomo Leopardis offensichtlich zu sein scheint, wird die Frage nach der Beschaffenheit dieser ,Antike' nur selten explizit gestellt. Ausgehend von der Annahme, dass jeder retrospektive Rekurs auf die Antike immer schon deren Transformation einschließt, geht der Band den vielfältigen und nicht selten widersprüchlichen Bezugnahmen Leopardis auf die Antike nach. Das Spektrum der Beiträge reicht von seiner Beschäftigung mit Ursprungsmythen und politischer Theorie über Themen wie antike und moderne Philosophie oder Heroismus bis hin zur Praxis der Übersetzung und zu Einzellektüren antiker Autoren wie Plinius, Properz und Vergil. ,Antike' bei Leopardi erweist sich damit nicht als statisch und monumental, sondern als dynamische Ressource eines ,pensiero poetante' (Antonio Prete), die immer neue und überraschende Denkbewegungen freisetzt.
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Seitenzahl: 798
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Barbara Kuhn / Paul Strohmaier (Hrsg.)
Leopardis Lesarten der Antike
Letture leopardiane dell’antichità
Umschlagabbildung: Trier, Kaiserthermen. Kupferstich nach Jacques Martin Silvestre Bence um 1800.
DOI: https://doi.org/10.24053/9783381118724
Gedruckt mit Unterstützung des Forschungskollegs Dialogkulturen an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt.
© 2025 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KGDischingerweg 5 • D-72070 Tübingen
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Internet: www.narr.deeMail: [email protected]
ISSN 1436-2260
ISBN 978-3-381-11871-7 (Print)
ISBN 978-3-381-11873-1 (ePub)
Einführende Überlegungen
i libri per necessità sono come quelle persone che stando cogli altri, parlano sempre esse, e non ascoltano mai. Per tanto è di bisogno che il libro dica molto buone e belle cose, e dicale molto bene; acciochè dai lettori gli sia perdonato quel parlar sempre. Altrimenti è forza che così venga in odio qualunque libro, come ogni parlator insaziabile.
LEOPARDI, DETTI MEMORABILI DI FILIPPO OTTONIERI
dieses schlimme hat doch die Schrift, […] und ist darin ganz eigentlich der Malerei ähnlich; denn auch diese stellt ihre Ausgeburten hin als lebend; wenn man sie aber etwas fragt, so schweigen sie gar ehrwürdig still. Ebenso auch die Schriften.
PLATON, PHAIDROS
Eine der Denkwürdigkeiten, eines der «detti memorabili» des Filippo Ottonieri in der ihm gewidmeten Operetta morale lautet, wie im Titel dieser einführenden Überlegungen im italienischen Original zitiert: «Das Lesen ist ein Gespräch, das man mit demjenigen führt, der geschrieben hat.»1 Auch ohne Leopardi auf die von ihm geschaffene Figur oder diese Figur auf eine bloße Widerspiegelung ihres Autors zu reduzieren, mag wohl unbestritten gelten, daß zeit seines Lebens Leopardi lesend in unaufhörlichem Gespräch mit den Schreibenden ist: daß er von frühester Jugend an und bis zum frühen Ende dieses Lebens ein Leser war, der nicht nur unvorstellbare Lektüremengen, unvorstellbar viele Bücher ‹verschlungen› hat, der nicht einfach ‹passiv› rezipierte oder gar ‹konsumierte›, sondern stets im ‹aktiven›, im ‹schreibenden› Austausch mit den Texten blieb – auch wenn dieser Austausch sich im Laufe seines Lebens, wie dies bei einem so reflektierten und reflektierenden Leser kaum anders vorstellbar scheint, ebenso unaufhörlich veränderte. Als sprechendes Beispiel hierfür mag der, ungeachtet der in Teilen gemeinsamen Lektürebasis, ‹himmelweite› Unterschied zwischen der spätestens 1813 fertiggestellten, umfangreichen Storia dell’astronomia und dem späten, 1827 entstandenen, aber erst in die 1845 postum erschienene dritte Ausgabe der Operette morali eingegangenen Copernico. Dialogo2 gelten – ein Beispiel, dem sich zweifelsohne zahlreiche weitere Werke Leopardis hinzugesellen ließen. Schon allein der Zibaldone, in dem Leopardi auf manche Lektüren immer wieder und oft mit verändertem Blick zurückkommt, belegt – in diesem Fall für die Jahre von 1817 bis 1832 – die Lebhaftigkeit und Unabgeschlossenheit seines Lesens als «conversare […] con chi scrisse».
Doch keineswegs nur der Zibaldone als ein solches Selbstgespräch über die eigenen Lektüren – im Sinne des «conversare […] con chi scrisse»3 –, keineswegs nur die nahezu endlosen Elenchi di letture aus Leopardis Feder4 oder die diversen Disegni letterari wie der «Romanzo istorico sul gusto della Ciropedia» oder die «Dialoghi Satirici alla maniera di Luciano»5 und auch nicht nur die als ein «scriverti. Non per altra cagione eccetto di conversare più lungamente con te»6 verstandenen Briefe, in denen wiederum das Lesen und das Gelesene oder zu lesen Gewünschte immer wieder eine herausragende Rolle spielen, zeugen von Andauern, Vielfalt und Intensität des lebenslangen Lesens und insbesondere des Lesens antiker Werke. Ebenso sind es, zusammen mit den im Umfeld entstandenen Texten,7 die Canti – von denen einige wie Bruto minore, der Ultimo canto di Saffo oder Alla Primavera, o delle Favole antiche schon im Titel auf den nie abreißenden Dialog mit der Antike, mit antiken Texten hindeuten – und die Operette morali – unter deren Personal sich wiederum sowohl, wie im Dialogo di Plotino e di Porfirio, historische Figuren der Antike als auch mythologische, etwa Ercole, Atlante oder Prometeo, finden –, die deutlich machen, daß Leopardis Werk mit Kategorien wie ‹produktiver Rezeption› oder ‹rezeptiver Produktion› auch nicht annähernd angemessen charakterisiert ist.
In diesem Sinn ist der vorliegende Band mit Lesarten und Letture überschrieben, ohne damit die ihrerseits umfangreich und teilweise heftig geführte Debatte um den Begriff der Lektüre entweder als Gegenbegriff oder als komplementär zu jenem der Interpretation oder aber als weitgehend identisch mit letzterem noch einmal aufgreifen zu wollen. Daß sich die ‹Lesarten› hier nicht auf ihre vor allem editionsphilologische Bedeutung reduzieren und auch ‹letture› nicht nur auf positivistisch auszumachende Bezugnahmen oder Quellen beschränkt bleiben, sondern ihrerseits an ein weites Verständnis von ‹Lektüren› anknüpfen, dürfte sich aus dem Titel als Ganzem unmittelbar erschließen. Vielmehr gilt es, dem breiten Spektrum an Formen des Dialogs mit der Antike im Werk Leopardis nachzuspüren, wie das seinerseits breite Spektrum der im Band versammelten Beiträge illustriert. Dieser Dialog, der immer wieder, insbesondere im frühen Discorso di un italiano intorno alla poesia romantica, an die Entgegensetzung von «antico» und «moderno» anknüpft, diese aber im Lauf der Jahre auch merklich verschiebt,8 schließt neben den bereits erwähnten Texten und Schaffensbereichen eine weitere große und wichtige Domäne im Werk Leopardis ein: die der Übersetzungen antiker Texte, der zahlreichen, wiederum während nahezu der gesamten Schaffenszeit entstehenden ‹volgarizzamenti› in Versen und in Prosa, zu denen all die Passagen in Briefen und im Zibaldone, die sich mit Übersetzungen und Übersetzungsfragen beschäftigen, auch in diesem Bereich noch hinzukommen.
Interessant im Kontext von Leopardis Lesarten der Antike sind dabei nicht allein die jeweils ausgewählten Texte und die jeweils getroffenen Entscheidungen für oder gegen eine ‹Lesart›, sondern, wo vorhanden, insbesondere auch Leopardis einleitende ‹avvertimenti›, ‹preamboli› und vergleichbare Paratexte, geben diese doch Aufschluß nicht allein über das, was die Leserinnen und Leser erwartet – etwa über die ‹praktische Philosophie› oder ‹philosophische Praxis› im Manuale d’Epitteto, die «pratica filosofica che qui s’insegna»,9 oder über einen Text und dessen Umfeld, wie etwa beim Martirio de’ Santi Padri, wo Leopardi auf die im selben Kodex enthaltenen weiteren Heiligenlegenden hinweist10 –, sondern häufig auch über das Verständnis von Übersetzung generell, «dei volgarizzamenti in universale»,11 oder über die Gründe, eben diesen oder jenen Text zu übersetzen: beispielsweise «per la purità e la candidezza della lingua, […] per la qualità delle cose narrate, […] in fine lo stile schietto, sano, insigne per naturalezza e semplicità».12
Aus mehreren Gründen im vorliegenden Kontext besonders aufschlußreich scheinen dabei die Operette morali d’Isocrate samt ihrem vorangestellten ‹Vorwort des Übersetzers›. So hebt Leopardi in diesem «Preambolo del volgarizzatore» unter Berufung auf Isokrates erneut die große Bedeutung des Stils hervor, da es schon in den antiken Werken selbst, mithin für die damaligen Leser, in der Regel nicht um neue Konzepte, nicht um gänzlich Unerwartetes oder Unglaubliches gehe, sondern darum, wer Gegenstand und Konzepte am besten ausdrücke und vermittle,1 und desto mehr gelte dies für die Übersetzungen: Anders als bei der Übersetzung moderner Texte aus fremden Sprachen genügten bloße Treue und Klarheit nicht, um antike Klassiker zu übersetzen; als ‹wirklich übersetzt›, «veramente volgarizzate», könnten diese nur bezeichnet werden, wenn die Übersetzungskunst auch der Exzellenz des Stils die höchste Sorgfalt habe angedeihen lassen und diese Exzellenz an jeder Stelle erstrahle.2 Allein solche Übersetzungen bereiteten Freude bei der Lektüre, deren ausgezeichnetem Stil es zu verdanken sei, daß sie eher als Originale denn als Übersetzungen wahrgenommen würden.3
In diesem Sinn dürfte es alles andere als ein Zufall sein, daß Leopardi über die für eine Übersetzung ausgewählten vier der sieben Reden des Isokrates, die in einem der in der Bibliothek im Hause Leopardi vorhandenen Exemplare enthalten sind, den Titel Operette morali stellt, anders als zunächst geplant; schafft er doch auf diese Weise eine Nähe, die zunächst überrascht.4 Hatte Leopardi ursprünglich ein umfangreicheres Konvolut von «moralisti greci» übersetzen wollen, ließen sich letztlich nur einzelne Texte realisieren, insbesondere Epiktets Manuale sowie die genannten vier Reden des Isokrates. In einem Brief an den Verleger Stella schreibt Leopardi am 4. Februar 1826, er müsse wegen der zu großen Schwierigkeiten, die Bücher in entsprechend guten Ausgaben zu beschaffen, auf das «progetto della Scelta dei Moralisti» verzichten, plane jedoch, «in separate edizioncelle le operette che io voleva riunire in un sol corpo» zu veröffentlichen.5
Eine unmittelbare Verbindung zwischen diesen übersetzten operette morali des Isokrates und den kurz zuvor entstandenen, aber zu diesem Zeitpunkt ebenfalls noch nicht publizierten Operette morali Leopardis stellt wenige Monate später der Verleger selbst her, wenn er in einem an Leopardi gerichteten Brief vom 19. Juli 1826 formuliert: «Circa alle Operette morali, cominceremo dunque prima dalle originali, e poi si metterà mano alle tradotte.»6 Sowohl diese Reaktion von Antonio Fortunato Stella als auch der zitierte Brief Leopardis an Stella von Oktober 1825 machen deutlich, daß Leopardis eigene Operette morali, deren überwiegende Zahl bekanntlich bereits im Jahr 1824 entstanden war, schon vorlagen, als offenbar der Gedanke aufkam, unter demselben Titel auch Übersetzungen zu veröffentlichen. Zudem entstanden die Übersetzungen der erst postum veröffentlichten, aber heute tatsächlich, wie auf dem Autograph7 vermerkt, unter dem Titel Operette morali d’Isocrate firmierenden Reden zwischen Ende 1824 und den ersten Monaten des Jahres 1825,8 doch scheint Leopardi, wenn er seinem Verleger diesen selben Titel vorschlägt, durchaus Parallelen oder andere Bezüge zwischen den gelesenen und übersetzten antiken Texten und den im «conversare […] con chi scrisse» entstandenen eigenen wahrzunehmen.
Lesen und Schreiben, Übersetzen und Über-Setzen – im Sinne einer schöpferischen Auseinandersetzung mit dem Vorgefundenen, dem Gelesenen und immer wieder neu und anders Lesbaren, das in grundlegend anderer Gestalt und in neuen Gefilden weiterlebt – sind demnach verschiedene Lesarten der Antike, verschiedene «letture leopardiane dell’antichità»: Sie gehen im Werk Leopardis – und nicht nur dank der ‹Hand› des Verlegers – buchstäblich Hand in Hand; dies führen geradezu paradigmatisch die ‹originalen› und die ‹übersetzten› Operette morali vor Augen, die beide, wenngleich in unterschiedlichem Sinn, eine ironische Komponente aufweisen, wie Franco D’Intino darlegt, und so auf einer anderen Ebene in einen Dialog miteinander treten:
Se con una mano […] Leopardi scrive un libro immoralista per molti aspetti sottilmente antiplatonico (e decisamente avverso al platonismo cattolico dell’epoca), cui dà il titolo di Operette morali, con l’altra mano, subito dopo, tornando, per così dire, indietro rispetto a quell’orizzonte speculativo e metafisico, tradurrà l’antagonista di Platone, il mezzo filosofo Isocrate, maestro di retorica e di stile, maestro non già di verità assolute e razionali, ma di mezze verità e di illusioni patriottiche. E alle traduzioni darà esattamente lo stesso titolo, ironico, di Operette morali. Isocrate, tornando a un orizzonte pre-platonico, gli mostra la via di una ‹concordia› tra natura e ragione, tra poesia e filosofia […].9
Gemeinsam können die beiden unterschiedlichen Operette morali Leopardis, die von ihm verfaßten und die von ihm übersetzten, folglich für jenen facettenreichen Dialog mit der Antike stehen, der wie oben angedeutet, das Gesamtwerk des Autors prägt: seien es, wie hier, zwei verschiedene Werke, die auf zwei parallelen «cantieri» oder ‹Baustellen› entstehen,10 seien es Texte, die selbst schon explizit den Dialog sowohl inszenieren als auch zu ihrem Thema machen, wie dies, wiederum exemplarisch, etwa der Dialogo di un lettore di umanità e di Sallustio und die Novella Senofonte e Niccolò Machiavello unternehmen.
Auch wenn diesen beiden Texten ein unterschiedlicher Status zukommt und sie nicht in gleicher Weise einfach als «appendice» zu den Operette morali gezählt werden können, verbindet beide doch die Gemeinsamkeit, daß jeweils eine antike Figur, Senofonte und Sallustio, mit einer neuzeitlichen oder ‹modernen›, dem Literaturlehrer oder ‹Lettore di umanità› hier und Machiavello dort, ins Gespräch kommt1 und somit gleichsam Antike und Moderne auf einer Bühne interagieren.
Doch dieses verbindende Moment soll ebensowenig wie der in einigen heutigen Ausgaben beiden Texten gemeinsame Publikationsort – eben im Appendice der Operette morali – die Divergenzen verschleiern, die sich nicht in der Tatsache erschöpfen, daß im einen Fall auch formal die Gattung Dialog vorliegt, im anderen, wie schon die Überschrift Novella unterstreicht, ein narrativer Text: eine Divergenz, die ja auch die heterogenen Operette morali charakterisiert und insofern im Sinne der Paradigmatik gerade passend scheint. Ungleich wichtiger ist, sich beim Nebeneinanderstellen der beiden Texte präsent zu halten, daß sie nicht nur zu verschiedenen Zeiten entstanden, sondern dementsprechend, lange vor ihrer vereinheitlichenden Unterbringung in den diversen Operette morali, Prose, Opere oder sonstigen Werkausgaben, auch eine völlig unterschiedliche Publikationsgeschichte aufweisen. So arbeitete Leopardi an der Novella Senofonte e Niccolò Machiavello, die nicht in einer endgültigen Fassung, sondern lediglich in drei Fragmenten existiert,2 ab etwa 1820 bis zum Juni 1822, wie unter dem letzten und als einzigem datierten Fragment vermerkt, mithin in jenen Jahren, in denen er sich, wie im erwähnten Brief an Giordani formuliert, «quasi per vendicarmi del mondo», verschiedenen «prosette satiriche»3 widmete.
Wenngleich folglich auch der frühere Text nach der berühmten «mutazione totale in me» und dem «passaggio dallo stato antico al moderno»4 des Jahres 1819 entsteht, sind doch «prosette» und Operette, wie D’Intino unterstreicht, in einem anderen ‹Geist›, aus einer je anderen Perspektive verfaßt, selbst wenn manche Elemente und Aspekte der Novella sich später in veränderter Weise in den Operette morali wiederfinden5 und vor allem sowohl «prosette» als auch Operette zahlreiche Charakteristika der menippeischen Satire aufweisen, für die paradigmatisch auch der in den Disegni letterari genannte Lukian stehen kann.6 Insofern ist der Dialogo, der im Zuge der ersten Phase der Operette im Jahr 1824 entstand und auch in den ersten beiden Druckausgaben (Milano 1827 und Firenze 1834) enthalten war, während Leopardi ihn, ohne weitere Gründe als die «volontà dell’autore» zu nennen, in der Ausgabe Napoli 1835 gestrichen hatte,7 dennoch eher den Operette als den früheren «prosette» zuzurechnen. Gleichwohl bleibt selbstredend die für die gemeinsame Betrachtung hier den Ausschlag gebende Gemeinsamkeit, die Gegenüberstellung eines uomo antico und eines uomo moderno, davon unberührt.
Ein weiterer, möglicherweise überraschender Unterschied zwischen «prosetta» und operetta liegt in der Intensität, mit der die Forschung sich diesen beiden Texten zuwandte: Entgegen der Erwartung, daß im Fokus eher der spätere, der vollendete und der zu Lebzeiten des Autors gleich zweimal gedruckte stehen könnte, stoßen die drei Fragmente der Novella seit Jahrzehnten auf größtes Interesse,8 bedingt sicher nicht zuletzt durch den Umstand, daß Leopardi zwar die Erzählung nie zu Ende schrieb, sich aber mit Machiavelli (wie mit Xenophon) weiter auseinandersetzte. Insbesondere sein Konzept des «Machiavellismo di società», unter dem er im Indice del mio Zibaldone eine Vielzahl von Stellen rubriziert und das auch in den Pensieri erneut eine gewichtige Rolle spielt, findet sich bereits in den Fragmenten der Novella angelegt und wird hier in raffinierter Weise eingeführt, wie sich weiter unten zeigen soll.
Demgegenüber wagten sich – wohl in Anbetracht der Entscheidung Leopardis und besagter «volontà dell’autore» – nur ausgesprochen wenige Forscher9 daran, sich dem von seinem Autor offenkundig ‹verworfenen› Dialog zuzuwenden: als habe der Text, wie Camarotto schreibt, nicht zehn Jahre lang, von 1824 bis 1834, ohne jede Infragestellung neben den anderen existiert.10 Auch für Leopardi war er demnach durchaus der Veröffentlichung und mithin der Lektüre im Rahmen seines ‹liebsten Buches›, seiner «predilette mie Operette morali»,11 würdig, selbst wenn er 1835 diesen Dialog daraus entfernt und statt dessen andere Texte aufnimmt: «in quel ms. consiste, si può dire, il frutto della mia vita finora passata, e io l’ho più caro de’ miei occhi»,12 schreibt er am 12. März 1826 an den Verleger Stella. Welchen Stellenwert das Buch – einschließlich des Dialogo di un lettore di umanità e di Sallustio – für ihn haben sollte und bereits das Manuskript hatte, wird deutlich, als der Verleger, der Probleme mit der Zensur befürchtet, eine Vorab-Publikation der Einzeltexte in einer Zeitschrift in Erwägung zieht und Leopardi sehr entschieden reagiert:
Se a far passare costì le Operette morali non v’è altro mezzo che stamparle nel Raccoglitore, assolutamente e istantemente la prego ad aver la bontà di rimandarmi il manoscritto al più presto possibile. O potrò pubblicarle altrove, o preferisco il tenerle sempre inedite al dispiacer di vedere un’opera che mi costa fatiche infinite, pubblicata a brani in un Giornale, come le opere di un momento e fatte per durarne altrettanto.13
Wenn demnach sogar der Autor selbst, unabhängig von der späteren Entscheidung, den Dialogo zu diesen seinen Operette morali zählt, die nicht zerstückelt werden sollen, mag es – selbst in diesem Sinn, auch wenn eine solche ‹Legitimation› kaum erforderlich wäre – durchaus angemessen sein, trotz besagter Divergenzen in der Gattung, im Grad der Vollendung und in der Publikationsgeschichte, in Anbetracht der hier ausschlaggebenden Verbindung zwischen dem Dialogo di un lettore di umanità e di Sallustio und der Novella Senofonte e Niccolò Machiavello, des zumindest vom Personal her unbestreitbaren Dialogs mit der Antike, beide Texte, freilich ohne dabei wesentliche Unterschiede außer acht zu lassen, weniger vergleichend als gemeinsam zu betrachten.14
Wie erwähnt, sind es zunächst die Figuren, die hier den Dialog zwischen Antike und Moderne erzeugen oder fingieren, und in beiden Fällen übt die neuzeitliche Figur Kritik an einem von ihr gelesenen Text der antiken, so daß es sich jeweils im doppelten Sinn um leopardische Lesarten der Antike handelt. Anders als in der Novella jedoch kommt das Gespräch im Fall des Dialogo zum großen Erstaunen des Lettore zustande, der sich eigentlich gerade an seine Schüler gewandt hatte, als schon bei diesem Incipit Sallustio den verblüfften Lehrer unterbricht und dabei zudem sogleich deutlich macht, daß der andere ungefähr 1.900 Jahre nach seiner eigenen Lebenszeit im 1. Jahrhundert v. Chr. spricht:
LETTORE
Figliuoli, questo luogo del testo non mi contenta; e ve ne ammonisco
acciocchè l’autorità di Sallustio non v’induca in errore.
SALLUSTIO
Che si va mormorando dei fatti miei? Se avessi saputo che l’invidia non
muore in mille novecent’anni, io toglieva d’essere invidioso piuttosto che eccellente.
LETTORE
Chi sei tu?
SALLUSTIO
L’autore che tu hai nelle mani.
LETTORE
Tu vuoi dire l’autor del libro che ho nelle mani, ma per amore di brevità non
hai rispetti a darmiti in pugno personalmente. Or come sei tu qui? Ma comunque ci sii, non rileva. Io vorrei che tu mi sciogliessi una difficoltà che mi nasce in un passo qui dell’aringa che tu fai sotto nome di Catilina […]. (Prose, 233).
[LESER: Kinder, mit dieser Passage des Textes bin ich nicht zufrieden, und ich weise euch darauf hin, damit euch nicht die Autorität Sallusts in die Irre führt. | SALLUST: Was wird hier an meinen Dingen herumgemäkelt? Hätte ich gewußt, daß der Neid auch in 1.900 Jahren nicht stirbt, hätte ich es vorgezogen, neidisch statt herausragend zu sein. | LESER: Wer bist du? | SALLUST: Der Autor, den du in Händen hältst. | LESER: Du meinst, der Autor des Buches, das ich in Händen halte, aber aus Liebe zur brevitas scheust du dich nicht, dich mir persönlich in die Hand zu geben. Wie kommst du denn hierher? Aber wie dem auch sei, es spielt keine Rolle. Ich hätte gern, daß du mir eine Schwierigkeit auflöst, die mir an einer Stelle hier in der Rede entsteht, die du unter dem Namen Catilinas hältst […].]
Während Sallustio hier einerseits durch seine empörte Frage das mit der Apostrophe an die «Figliuoli» lediglich angedeutete Lehrer-Schüler-Gespräch abrupt beendet und statt dessen das den gesamten Dialogo umfassende Zwiegespräch mit dem «Lettore di umanità» eröffnet, als verstehe sich von selbst, daß er so unvermittelt in den Dialog eingreifen kann, zeigt sich der Lettore des Textes verblüfft über dessen plötzliches Auftauchen und kann die Stimme zunächst nicht zuordnen. Doch als diese sich, frei nach (oder genauer: frei vor) Pirandello, Tabucchi und anderen, als Verfasser jenes Buches in seinen Händen, über das er gerade spricht, zu erkennen gibt, hält er sich bei seiner Verwunderung nicht mehr lange auf, um vielmehr die Gelegenheit zu nutzen, nun den Autor selbst zu dem befragen zu können, wovor er möglicherweise seine Schüler gerade hatte warnen wollen.
Zuvor allerdings gibt er sich mit der Redefigur einer Art correctio, durch die er sein Gegenüber besserwisserisch auf dessen unpräzise, metonymische Ausdrucksweise hinweist, und durch die sogleich nachgeschobene Erläuterung, mit der er seine Kenntnis des antiken Autors unter Beweis stellt, nicht nur als ausgesprochen pedantischer pedante zu erkennen, sondern zugleich als genauer Kenner der Rhetorik, wenn er nicht nur das Stilideal der Kürze oder brevitas erwähnt, das der antike Autor präferiere, sondern außerdem zu Beginn seine Schüler auf einen «luogo del testo» und damit auf die Topik bzw. die inventio der Rede hinweist, so wie in der Folge mit der für den Text zentralen Diskussion über die «gradazione» oder Klimax, die Sallustio verwendet habe, und über die angemessene Reihenfolge auch dispositio und elocutio ins Spiel kommen, bevor am Ende schließlich die angestrebte Wirkung, die persuasio, im Zentrum der Aufmerksamkeit steht. Diese droht allerdings so groß zu sein, daß es nötig werden könnte, eine ganz neue Rede zu verfassen, wie der Lettore befürchtet. Damit stellt er in eins diese Macht der Sprache an seiner eigenen Person unter Beweis, denn er scheint so sehr ins Gespräch mit dem wiedererstandenen Sallustio vertieft, der als Autor seiner Figur Catilina die Rede in den Mund legte, wie der Lettore mit der Wendung «che tu fai sotto nome di Catilina» zu Beginn selbst erinnert hatte, daß er metaleptisch die nunmehr im gemeinsamen Gespräch geänderte Rede unmittelbar auf die von Sallustio mit seiner Figur evozierte Schlachtsituation bezieht, als lägen nicht die vom Autor ebenfalls zu Beginn evozierten 1.900 Jahre und gleich mehrere Fiktionsebenen zwischen ihm und dem Text in seiner Hand:
Così mi piace e sta bene. Salvo che i cinque ultimi capi hanno tanto di persuasivo, che io comincio a temere del successo della battaglia, se Antonio o Petreio non fanno alle loro genti un’altra orazione su questa corda. (Prose, 253)
[So gefällt es mir und ist es gut. Außer daß die fünf letzten Punkte solche Überzeugungskraft haben, daß ich beginne, für den Erfolg der Schlacht zu fürchten, wenn Antonio oder Petreio ihren Leuten nicht eine andere Rede über dieses Thema halten.]
Wird aus dieser Orientierung des Textes an rhetorischen Kategorien nicht zuletzt deutlich, daß der «lettore di umanità» im Titel ursprünglich, wie aus dem Manuskript zu ersehen, ein Rhetoriklehrer oder «Maestro di Rettorica»1 gewesen war, unterstreicht der Dialogo zwischen Lettore und Sallustio doch vor allem die große Rolle, die der Sprache sowohl auf Seiten des Redners als auch auf Seiten der Adressaten der Rede zukommt – und desto mehr auf der Seite des Schreibenden wie auf der der einen geschriebenen Text jeweils Lesenden, wie hier stellvertretend der im Dialogo inszenierte Lettore illustriert.
Ausgehend von einer weniger lukianisch als beinahe sokratisch-maieutisch anmutenden Hinführung seines Gegenübers zur offensichtlich von diesem verwendeten Figur der Gradation und deren Definition, bei der Sallustio ihm jeweils nur ebenso pflichtschuldig wie ein Dialogpartner des Sokrates zustimmen kann – «Maestro sì, quella», «Oh verissimo» (Prose, 231–232) –, holt der Lettore zu einer ausgedehnten Beweisführung und Widerlegung der von Sallustio referierten Worte Catilinas an das Heer der Verschwörer aus, die er zuvor in lateinischer Sprache2 zitiert hatte. Die Klimax der Werte, derer die Kämpfenden vor Beginn der Schlacht gedenken sollen, beginnt mit dem Reichtum und führt über Ehre, Ruhm und Freiheit schließlich zum an höchster Stelle stehenden Vaterland. De facto jedoch sei es gerade umgekehrt: Allein für den Reichtum lohne es, jede Gefahr, jede Mühe und Anstrengung auf sich zu nehmen; der Ehre werde zwar auch Wert beigemessen, doch nicht so sehr, daß sie nicht bei Bedarf auch gleich wieder geopfert werde; der Ruhm finde durchaus bei vielen Gefallen, wenn er mühelos zu erringen sei; da dies aber nicht der Fall sei, verzichteten sie auch gern auf ihn.
La quarta è la libertà, della quale non si ha da far conto. L’ultima è la patria, e questa non si troverebbe più al mondo, se non fosse nel vocabolario. Insomma la cosa che tu metti per ultima, non solo non è maggiore di tutte l’altre, ma già da un gran pezzo non è più cosa; l’altre importano ciascheduna più della susseguente; e la prima è tale che gli uomini per ottenerla sono pronti a dare in occasione la patria, la libertà, la gloria, l’onore […]. Veramente se Catilina adoperò questa figura al rovescio come tu la reciti, io non mi maraviglio che ei non movesse gli uditori, e ben gli stette che si portarono male e perdettero la giornata. (Prose, 232)
[Die vierte [Sache] ist die Freiheit, auf die man nicht zu bauen braucht. Die letzte ist das Vaterland, und diese würde man überhaupt nicht mehr auf der Welt finden, wenn sie nicht im Wörterbuch stünde. Kurz, die Sache, die du an die letzte Stelle setzt, ist nicht nur nicht größer als all die anderen, sondern schon seit geraumer Zeit ist sie überhaupt keine Sache mehr; die übrigen haben alle größere Bedeutung als die jeweils folgende; und die erste ist so beschaffen, daß die Menschen, um sie zu erlangen, bereit sind, das Vaterland, die Freiheit, den Ruhm, die Ehre dranzugeben […]. Wirklich, wenn Catilina diese Figur so auf den Kopf gestellt einsetzte, wie du sie wiedergibst, wundere ich mich nicht, daß er die Zuhörer nicht entflammte, und es geschah ihm recht, daß sie schlecht kämpften und die Schlacht verloren.]
Die Überzeugungskraft des Lettore hingegen ist so groß, daß Sallustio nach diesen Worten nur noch einen schwachen Rechtfertigungsversuch mit Blick auf die gewandelten Zeiten nachschiebt, aber sogleich einlenkt:
Forse io potrei rispondere che dal mio tempo a cotesto ci corre qualche divario d’opinioni e di costumi circa quel che tu dici. Ma in ogni modo il tuo discorso mi capacita, e però scancella questo passo e tornalo a scrivere così come io ti detto. (Prose, 232)
[Vielleicht könnte ich antworten, daß von meiner Zeit bis zur heutigen ein gewisser Unterschied in den Meinungen und Sitten hinsichtlich dessen, was du sagst, besteht. Aber jedenfalls überzeugt mich deine Rede, und deshalb streiche diesen Passus und schreib ihn so um, wie ich es dir diktiere.]
Gemäß der neuen Klimax, die der antike Autor dem modernen Leser wiederum in lateinischer Sprache in die Feder diktiert, steht nun an erster Stelle der Ruhm, gefolgt von Ehre und Reichtum: Freiheit und Vaterland als «cose che non son [più] cose»3 sind gänzlich entfallen, doch auf den Reichtum folgen noch Schauspiel, Bankette, Prostituierte und schließlich das eigene Leben – eben jene fünf oben erwähnten Dinge, deren Überzeugungskraft bei den Soldaten der Leser so hoch einschätzt, daß er bei einer so umgeschriebenen Rede nun allerdings erst recht am erfolgreichen Ausgang der Schlacht zweifelt (cf. Prose, 233).
Mittels der nicht nur thematisierten und inszenierten, sondern auch praktizierten Macht der Sprache gelingt Leopardi mit dieser Lesart der Antike durch einen Vertreter des Ottocento eine raffinierte Modellierung der Zeit, insofern der lesende und lehrende Lettore im Grunde in zwei Zeiten gleichzeitig lebt: in seiner Gegenwart ungefähr 1.900 Jahre nach Sallustio und in der Gegenwart der damaligen Redesituation, wie sie der antike Geschichtsschreiber zu evozieren weiß. Denn dank der verlebendigenden und überzeugenden Sprache identifiziert er sich einerseits mit den fiktiven – oder auch historischen – Adressaten vor beinahe 2.000 Jahren, als spreche der Catilina Sallustios direkt zu ihm; andererseits und gleichzeitig blickt er von seiner Warte und seiner Zeit aus kritisch auf die Zeit, in der die Rede entstanden war, deren Positionen längst überholt seien, so daß er, wie dem Incipit des Dialogs zu entnehmen, meint, seine möglicherweise autoritätshörigen Schüler vor solchem Irrglauben bewahren zu müssen.
Durch die gütliche Einigung mit dem zur riscrittura bereiten Autor scheint ihm dies zu gelingen, und er ist zufrieden: «Così mi piace e sta bene.» Allerdings ist diese oben in Gänze zitierte letzte Replik des kurzen Dialogs zwischen Sallustio und Lettore gewissermaßen nicht das letzte Wort von Leopardis Dialogo di un lettore di umanità e di Sallustio, der vielmehr im vielsagenden Vergessen der Schüler oder Verschweigen der gegenwärtigen Situation endet. Hatte der Lettore zu Beginn seine Schüler vor der schwierigen Stelle warnen wollen, an der von «libertà» und «patria» die Rede ist, sind diese leer gewordenen Wörter, die ‹Dinge, die keine Dinge mehr sind›, nun in der ‹korrigierten› Version zwar entfallen, so daß der ‹neue alte Text› der Wirklichkeit, wie er sie sieht, eher entsprechen dürfte. Doch weil er selbst ganz der Überzeugungskraft dieser neuen Klimax erliegt, sich ganz in die Welt der Soldaten Catilinas und der zu kämpfenden Schlacht begibt, verliert er seine anfangs apostrophierten «Figliuoli» aus dem Blick, die sich nun wohl ihrerseits von der Autorität der korrigierten Textversion werden überzeugen lassen, ebenso wie die Leserinnen und Leser des Dialogo, die Zeitgenossen und -genossinnen des Lettore di umanità. Folglich werden nicht nur für die Soldaten Catilinas ‹Reichtum, Schauspiele, Bankette, Prostituierte und das eigene Leben› als höchste Werte gelten, zu Ungunsten von Ruhm und Ehre und auf Kosten der untergegangenen Freiheit und des belanglos gewordenen Vaterlands, sondern entwirft der Dialogo durch dieses korrigierte, nicht mehr ‹idealistische› Antike-Bild ein ‹realistisches› Selbstporträt der eigenen Zeit.
Neben dem Zusammentreffen des antiken und des modernen Personals im Text verbindet Dialogo und Novella auch die für beide zentrale Rolle der Sprache zum einen, die der sich wandelnden Zeiten zum anderen. Und wie bereits erwähnt, basieren zudem beide Texte im Rahmen ihrer jeweiligen Fiktion auf der Lektüre eines antiken Textes: So wie der Lettore Sallustios Coniuratio Catiliniae sorgfältig studiert hat, kennt Machiavello auch Senofontes Ciropedia und begründet mit dem Unterschied zwischen dem antiken Text und seinem Principe, warum dieser ersterem vorzuziehen sei.
Daß die beiden Autoren der mit etwa zwei Jahrtausenden Abstand entstandenen Fürstenspiegel aus dem 4. Jahrhundert vor und dem 16. nach Chr. einander überhaupt begegnen können, liegt nicht, wie im Dialogo, daran, daß das Lesen des antiken Textes dessen Autor so präsent sein läßt, daß er sich für den Lettore gleichsam materialisiert und als direkter Gesprächspartner fungiert. Die Novella spielt vielmehr in der Unterwelt, im «inferno» (Prose, 259), denn Ausgangspunkt des erzählten Geschehens ist die Tatsache, daß für den Sohn von Plutone und Proserpina ein Erzieher gesucht werden soll und sich hierfür die beiden Autoren der Ciropedia und des Principe bewerben, da sie bekanntlich «tutti due maestri e scrittori in vita dell’arte di regnare» waren (Prose, 259), ‹beide zu Lebzeiten Lehrer und Schriftsteller der Kunst des Regierens›, und sich somit für den zu besetzenden Posten für geeignet halten. Das erste der drei Fragmente skizziert diesen Handlungsrahmen, ohne ihn allerdings in allen Punkten auszuführen.
So werden etwa nach der einleitenden Erzählung die beiden Bewerbungsreden in diesem ersten Fragment nur genannt und, abgesehen von einem Satz aus Machiavellos Rede, nicht zitiert, wie auch zuvor schon stellenweise nur eine Art Erinnerungsstützen für das noch im einzelnen Auszugestaltende festgehalten sind: «Concorso. Descrizione burlesca e immaginosa del trono, corte, assistenti ec. di Plutone, del suo figliuolino colle corna nascenti ec. Orazione di Senofonte. Orazione di Machiavello. […] Prevale Machiavello».1 Während das zweite Fragment unter der Überschrift «Alla Novella Senofonte e Machiavello» nur eine Notiz von wenigen Zeilen umfaßt (Prose, 260), ist das mit Abstand längste das dritte, «Per la Novella Senofonte e Machiavello» überschriebene Fragment (Prose, 261–265). Dieser dritte Teil kann als quasi vollständig ausgeführt gelten; zumindest enthält er keine erst noch zu gestaltenden Elemente, sondern – möglicherweise – die vollendete «Orazione di Machiavello». Allerdings ist diese nur mit den Worten «Dirà Machiavello» (Prose, 261) eingeführte Rede, wie oben bereits angedeutet, nicht mehr an den Auftraggeber Plutone gerichtet, sondern von Anfang bis Ende an den Rivalen Senofonte, so daß hier eher ein Teil eines Wortgefechts zwischen den beiden «maestri e scrittori» und ihren Schriften vorzuliegen scheint.2
Bevor jedoch der Wortführer Machiavello auch im hier vorliegenden Text detaillierter zu Wort kommt, sei wie oben beim Dialogo noch ein Blick auf das völlig andere, aber gleichermaßen gewitzt-witzige und zudem programmatische Incipit des Textes geworfen. Denn wo im Dialogo der antike Text dem Lettore zum Ärgernis, mithin dessen Lektüre zum Auslöser des gesamten Dialogs wird, der letztlich in ein Umschreiben dieses antiken Textes mündet, setzt die Novella, gemessen an vertrauten Mustern, noch unverfrorener ein:
Non si legge negli antichi che Plutone e Proserpina avessero mai figli. Ultimamente si sa che ne è nato uno, del quale si è fatto gran chiasso per tutta casa del diavolo. E siccome tutti i demoni chi più chi meno s’intendono dell’arte d’indovinare, si sparse voce che quel diavoletto, essendo figlio di re, e perciò dovendo regnare, e non potendo nell’inferno, perchè il padre non avrebbe lasciato mai voto il trono, avrebbe regnato in terra sotto figura umana, non si sa dove nè quando, e sarebbe stato gran principe, e avrebbe portato alla sua corte molti altri diavoli sotta la stessa forma. Si disse ancora che altri figli di Plutone in diversi tempi avessero regnato nello stesso modo, creduti uomini ec. e così vadano per le storie ec. In somma, il fatto sta che volendo dargli un istitutore, concorsero Senofonte e Machiavello, tutti due maestri e scrittori in vita dell’arte di regnare. (Prose, 259)
[Es steht bei den Alten nicht zu lesen, daß Pluto und Proserpina je Kinder gehabt hätten. Jüngst hört man, daß eines geboren wurde, um das im ganzen Hause des Teufels viel Lärm gemacht wurde. Und da sich alle Dämonen, der eine mehr, der andere weniger, auf die Wahrsagekunst verstehen, verbreitete sich das Gerücht, daß jener Teufel, da er ein Königssohn war und daher würde herrschen müssen, es in der Hölle aber nicht könne, weil der Vater niemals den Thron räumen würde, in Menschengestalt auf der Erde herrschen würde – wann und wo, ist nicht bekannt – und daß er ein großer Fürst sein und an seinen Hof viele weitere Teufel in ebensolcher Gestalt bringen würde. Es hieß ferner, daß weitere Söhne Plutos zu verschiedenen Zeiten auf dieselbe Weise, als vermeintliche Menschen usw., geherrscht hätten und als solche in den Geschichtsbüchern usw. dargestellt sind. Kurz, Tatsache ist, daß sich, als man ihm einen Erzieher an die Seite stellen wollte, Xenophon und Machiavelli bewarben, beide zu Lebzeiten Lehrer und Verfasser der Kunst des Regierens.]
Es versteht sich von selbst, daß für eine solch apodiktische These über das, was in antiken Texten nicht zu lesen ist, die vorhandenen antiken Texte gelesen worden sein müssen; andernfalls wäre der Schluß so nicht glaubhaft. Oder aber die Referenz ist eine vertrauenswürdige ‹Quelle›, deren Verfasser bereits ‹erforscht› hat, was zum betreffenden Thema in antiken Quellen zu finden ist, und eben diesen Weg scheint der Erzähler der Novella eingeschlagen zu haben, indem er sich an einem seinerseits nach-antiken Text inspiriert, der sich ebenfalls mit der Hölle und ihren Beziehungen zur Erde gut auskennt, aber der, anders als der hier vorliegende, trotz seiner Unorthodoxie, immerhin in vertrauter und gänzlich orthodoxer Manier beginnt:
Leggesi nell’antiche memorie delle Fiorentine cose, come già s’intese per relazione d’alcuno santissimo uomo, la cui vita appresso qualunque in quelli tempi viveva era celebrata, che standosi astratto nelle sue orazioni vide, mediante quelle, come andando infinite anime di quelli miseri mortali, che nella disgrazia di Dio morivano, allo Inferno, tutte o la maggior parte si dolevono, non per altro che per aver tolta moglie, essersi a tanta infelicità condotte.3
[Man liest in den Denkwürdigkeiten von Florenz folgenden Bericht, den ein heiliger Mann, dessen Lebenswandel in jener Zeit vielfältig gelobt wurde, von einem Gesicht gibt, das er einst, in seine Andachtsübungen vertieft, gehabt hatte. Von den zahllosen Seelen der armen Sterblichen, die, in göttlicher Ungnade sterbend, zur Hölle fuhren, beklagten sich alle oder doch die meisten, die Ursache ihres unglückseligen Geschickes sei allein, daß sie geheiratet hätten.]
Daß Leopardi sich mit seiner Novella Senofonte e Niccolò Machiavello auf Machiavellis bekannte, meist unter dem Titel Favola oder auch Belfagor publizierte Novelle bezieht, in der gleichfalls «Plutone […], per celeste disposizione e fatale sorte al tutto irrevocabile [possiede] questo regno»,4 ist in den zahlreichen Forschungsbeiträgen zu diesem fragmentarischen Text Konsens. Während dort aber die (beinahe) übliche Autoritätsberufung auf die «antiche memorie» (1), ironischerweise zusätzlich gestützt durch irgendeinen überaus frommen Mann (2), dessen Lebenswandel in illo tempore von vielen (3) gepriesen worden war und der davon berichtet (4), daß ihm in und dank der Entrückung des Gebets (5) Visionen (6) zuteilwurden, auf denen die nunmehr folgende und, der Serie von Beglaubigungen zufolge, offenbar unumstößlich wahre Erzählung beruht, während dort also die (beinahe) übliche Autoritätsberufung aufgerufen, jedoch durch die Serialisierung zugleich ironisiert und so ausgehöhlt wird, greift Leopardis Erzähler auf eine Formel zurück, die nahezu gegensätzlich operiert, aber dank solcher Gegensätzlichkeit doch die Wiedererkennbarkeit garantiert: An die Stelle des «Leggesi nell’antiche memorie», der nicht in Frage zu stellenden Überlieferung, tritt hier im «Non si legge negli antichi» das dezidert nicht von alters her Überlieferte, das nirgends Gelesene; statt eines «santissimo uomo» aus alter Zeit bürgt hier eine anonyme und nirgends gründende Neuigkeit: «Ultimamente si sa». An die Stelle des Berichts, der «relazione», tritt das bloße Gerücht, das sich verbreitet: «si sparse voce»; statt des Zeugnisses all jener, die zu der Zeit lebten, über das Erlebte üben sich hier alle Dämonen nicht in Gebet, Entrückung und Vision, sondern in besser oder schlechter gelingender Wahrsagerei über das, was nach der Geburt des Pluto-Söhnchens geschehen werde; und während Machiavellis Erzähler sich auf die «memorie delle Fiorentine cose» beruft, wissen die Dämonen noch nicht, wann und wo dieser neugeborene Teufel auf der Erde herrschen wird, so wie auch der Erzähler seine Leserinnen und Leser auf die Zukunft vertröstet, weil er zum gegenwärtigen Zeitpunkt – hier blendet sich kurz vor Ende des ersten Fragments die Autor-Instanz ein und verweist ihrerseits auf ein Später – noch nicht sagen kann, wer diese brandaktuellen Neuigkeiten überbracht habe:
E siccome queste sono notizie recentissime arrivate dall’inferno per mezzo (di quello che immaginerò a suo tempo), così staremo a vedere quello che succederà, e se nel mondo ci sarà niente di nuovo, che non credo ancorchè s’avverasse quello che i diavoli indovini hanno pronosticato. (Prose, 260)
[Und weil es sich hier um erst kürzlich von (demjenigen, den ich mir zu gegebener Zeit noch ausdenken werde,) überbrachte Neuigkeiten aus der Hölle handelt, werden wir erst noch sehen, was geschieht und ob auf der Welt etwas Neues5 zu beobachten sein wird, was ich nicht glaube, auch wenn sich bewahrheiten sollte, was die Teufel prognostiziert haben.]
Hatte folglich schon Machiavellis Novelle mit der Autoritätsberufung und den Beglaubigungsformeln gespielt und ihnen so entscheidend mitgespielt, höhlt die Ironie in Leopardis Novella die stereotype Berufung auf ‹die Alten›, auf das andernorts und längst Gelesene zur Untermauerung des nur scheinbar Neuen, desto stärker aus, indem sie mit dem raffinierten Verweis auf das Machiavellische Incipit, mit dem «Non si legge negli antichi» gerade das Nicht-Gelesene als – nunmehr explizit leere – Begründungsfigur einsetzt und damit, weil die Formel scheinbar trotzdem funktioniert, in ihrer Absurdität die Leere und Beliebigkeit auch all der anderen Berufungs- und Beglaubigungsfloskeln bewußt macht.
Doch die beiden Texte Leopardis, Dialogo und Novella, verbindet nicht allein diese ironische Infragestellung der Antike als Referenz, sei es durch Kritik einer ausgewiesenen Autorität und in eins der Autoritätsgläubigkeit, sei es durch die Demontage der Autoritätsberufung durch ihre – folgenlose – Negation. Wie im Dialogo greift auch in der Novella die vom Text inszenierte moderne Figur die antike an und fordert aus der gegenwärtigen Sicht die Korrektur der überlieferten und überholten ein. Erneut spielen dabei die Überblendung der weit voneinander entfernten Zeiten und, damit verknüpft, die Thematisierung der Sprache und ihres Gebrauchs die Hauptrolle, wobei Senofonte, wie oben angedeutet, im Unterschied zu Sallustio nicht selbst zu Wort kommt, sondern nur als entweder vom Erzähler wie von Machiavello besprochene Figur oder als direkter Adressat der Rede Machiavellos auftritt, so daß ihm, anders als Sallustio, auch kein Einspruch und kein verbales Zurückschlagen auf die Anwürfe des anderen6 möglich sind.
Ohne in diesen einführenden Überlegungen auf die vielfältigen von der Novella aufgeworfenen Fragen eingehen zu können, seien nach dem Incipit im folgenden nur wenige Aspekte aufgegriffen, die die erwähnten Bezugspunkte zwischen den beiden ‹Lesarten der Antike› durch einen modernen Leser-Autor desto mehr hervortreiben. So ist in der Novella wiederum nicht zuletzt der Dialog verschiedener Zeiten interessant, begnügt sich der Text doch nicht damit, die Zeiten der beiden im Titel genannten «maestri e scrittori […] dell’arte di regnare» einander gegenüberzustellen, wie im Dialogo die Zeit Sallustios und das Ottocento. Wird im ersten Fragment zunächst noch der ebenfalls in der Hölle untergekommene Castiglione mit seinem zu reformierenden Cortegiano einbezogen,7 bleibt der Text mithin beim Cinquecento als Gegenpol zur Zeit Senofontes, gilt als Vorbild für dessen anstehende Korrekturen sogleich Alfieris Panegirico di Plinio a Trajano, so daß schon hier deutlich wird, daß nicht nur ein Damals und ein Heute einander gegenüberstehen. Noch weiter fächert im dritten Fragment Machiavello in seiner Rede das Spektrum der Zeiten auf, wenn er Senofontes Text nicht nur mit Fénelons 1699 erstmals erschienenem Télémaque in eine Reihe stellt, sondern auch mit Knigges Über den Umgang mit Menschen von 1788, jenem Text, der «ultimamente» (Prose, 263) entstanden sei und seither von den Deutschen hoch gepriesen werde. Auch hier also kommt, insbesondere wenn auch die Werke Alfieris und Knigges vom Ende des 18. Jahrhunderts einschließlich ihrer Rezeption, wie hier im Fall des letzteren, vom höllischen Machiavello einbezogen werden, die in der Novella erzählte Welt ungefähr in der Zeit Leopardis an.
Dank der im Jenseits herrschenden Zeitlosigkeit, der Ewigkeit der Hölle, sind alle je entstandenen Texte gleich-zeitig oder gleich präsent: conditio sine qua non dafür, daß auch ein Machiavello post mortem über alle Zeiten und alle in ihnen jeweils verfaßten Texte verfügen kann, mit anderen Worten, daß auf der Bühne der Erzählung ein dichter Dialog vieler Zeiten und Texte inszeniert werden kann. Dennoch impliziert dieses Nebeneinanderstellen nicht, daß Unterschiede zwischen den Zeiten gänzlich außer acht gelassen würden, im Gegenteil: Machiavello nimmt in seiner an Senofonte gerichteten Rede gerade an, daß, wenn er über «la vera natura della società e de’ tempi miei» [‹die wahre Natur der Gesellschaft und meiner Epoche›] spricht, diese sich von jenen zur Zeit Senofontes ‹unterschieden haben dürften›: «saranno stati diversi dai vostri» (Prose, 264). Gerade diese wiederum raffinierte Spielart eines téléscopage, das hier nicht nur das Ineinanderschieben unterschiedlicher Zeiten, sondern – paradoxerweise zugleich – das Nebeneinander von Zeit und Zeitlosigkeit impliziert, schafft die spezifische Textwelt, in der Antike und Moderne, Mythos und Überlieferung, Geschichte und Gegenwart in einem dichten Dialog interagieren.
Insofern ist zwar der Machiavello des Textes – auch – der Autor des Principe, so wie Senofonte als Autor der Ciropedia im Rahmen dieser Fiktion sein stummer Gesprächspartner ist, doch vermag der hier auftretende Machiavello zugleich, nicht nur in die Vergangenheit aus- und auf frühere Texte zurückzugreifen: Ebenso wie der Erzähler der Novella verfügt er gleichermaßen über alles, was zwischen dem historischen Machiavelli und der Zeit des historischen Leopardi erschienen und geschehen ist. Und bezieht man in diesen intertextuellen Dialog das spätere Werk Leopardis mit ein, ließe sich gar soweit gehen, daß der Machiavello des Textes gewissermaßen die Zukunft vorwegnimmt und in manchem die späten Zibaldone-Einträge zum oben erwähnten «Machiavellismo di società» und viele der Pensieri in seine vor allem im dritten Fragment zu lesende Rede integriert.8
Wenngleich dieses Thema eines ‹sozialen Machiavellismus› im Werk Leopardis ausführlich erforscht ist, gilt es doch auch hier, wo der Begriff noch nicht auftaucht, genauer hinzuschauen, da sich die Novella als eine Art Laboratorium entpuppt, eine Werkstätte, die in der Rede Machiavellos auf subtile Weise das, was von Machiavelli auch zuvor bekannt war, und das, was Leopardi mit seiner spezifischen Lesart und seinem späteren Konzept als ebenso relevant erachtet, ineinander verwebt.
Denn zu Beginn, als die beiden Prätendenten eingeführt werden, stellt der Erzähler sie, wie oben schon zitiert, als jene beiden ‹Lehrer und Schriftsteller›, «maestri e scrittori», vor, die für ihre Texte über «l’arte di regnare», über ‹die Kunst des Regierens›, berühmt waren (Prose, 259) und sich dadurch für das Amt eines Erziehers des Königssohns ausweisen. Doch die ‹Regierungskunst› erweitert sich im Laufe des Textes nach und nach um eine spezifische ‹Kunst des savoir vivre›.
Im ersten der drei Fragmente konzentriert sich Machiavello noch darauf, daß zwar ‹sein Werk von manchen Fürsten verboten› wurde, daß aber ‹alle es befolgten› und es ‹nie einen Fürsten wie jenen von Senofonte› beschriebenen gab, sondern alle wie der Machiavellische Fürst waren und sind.1 Der beste Beweis hierfür ist der von Senofonte als der ideale Herrscher beschriebene Ciro selbst, wie Machiavello am Ende dieses ersten Textteils in seiner an Pluto gerichteten Bewerbungsrede schließt:
E quel Ciro stesso ch’egli prese e descrisse come modello, tutti sanno che fu tutt’altro, e gran birbante, e tu, Plutone, lo sai meglio degli altri che come tale lo hai ricompensato e fatto tuo consigliere segreto. (Prose, 260)
[Und von jenem Kyros, den er als Modell ansah und beschrieb, wissen alle, daß er völlig anders war, und ein großer Schurke, und du, Pluto, weißt es besser als alle anderen, da du ihn eben dafür belohnt und zu deinem Geheimen Hofrat gemacht hast.]
Spricht auch das zweite Fragment2 ausschließlich vom Herrschen oder Regieren, erweitert Machiavello im dritten gleich zu Beginn seiner Rede die Regierungskunst zu einer Kunst, die auch in der Gesellschaft gelte:
Moltissimi e prima e dopo di me, antichi, come sei tu, Senofonte, e moderni, come son io, hanno o dato precetti espressamente, così di governare, e di viver sul trono e nelle corti ec. come di viver nella società e di governar se stesso rispettivamente agli altri uomini; ovvero hanno trattato in mille maniere di questa materia; senza prender l’assunto di ridurle ad arte (come abbiam fatto tu ed io): e ciò ne’ loro libri di morale, di politica, d’eloquenza, di poesia, di romanzi ec. Da per tutto si discorre principalmente d’ammaestrar gli uomini a saper vivere, chè qui alla fine consiste l’utilità delle lettere, della filosofia, e d’ogni sapere e disciplina. (Prose, 261)
[Vor und nach mir haben sehr viele, Alte, wie du, Xenophon, es bist, und Moderne, wie ich es bin, entweder ausdrücklich Vorschriften formuliert, sowohl über das Regieren und das Leben an den Höfen und auf dem Thron usw. als auch über das Leben in der Gesellschaft und das Sich-selbst-Regieren im Umgang mit den anderen Menschen; oder sie haben dieses Verhalten in tausenderlei Weisen behandelt, ohne daraus eine Kunst zu machen (wie du und ich es getan haben): nämlich in ihren Büchern über Moral, Politik, Rhetorik, in ihrer Dichtung, in ihren Romanen usw. Überall wird in erster Linie davon gehandelt, den Menschen beizubringen, wie sie leben können, denn letztlich besteht darin der Nutzen der Literatur, der Philosophie und allen Wissens und jeglicher Disziplin.]
Schon an dieser Stelle folgt dem Regieren auf dem Thron unmittelbar das Regieren seiner selbst; beide Themen werden nebeneinandergestellt, als sei es immer um ein und dasselbe Thema mit diesen beiden Seiten der Medaille gegangen, und dies keineswegs nur in Traktaten mit ausdrücklich politischem Inhalt, sondern ebenso in allen anderen, nicht zuletzt in Rhetorik und Philosophie, aber auch in der sogenannten Schönen Literatur. Kurz darauf geht das Leben dem Regieren sogar voran, auch wenn hier noch die ‹höfische› vor der ‹privaten› Lesart steht,3 während einige Zeilen später fast nur noch vom Leben und Überleben die Rede ist, der Thron an die zweite Stelle rückt und das Regieren nur mehr am Rande und wie beiläufig erwähnt wird:
È vero o non è vero che per vivere, per non essere la vittima di tutti, e calpestato e deriso e soverchiato sempre da tutti […], è assolutamente necessario d’esser birbo: che il giovane finchè non ha imparato ad esserlo, si trova sempre malmenato; e non cava un ragno da un buco in eterno: che l’arte di regolarsi nella società o sul trono, quella che s’usa, quella che è necessario d’usare, quella senza cui non si può nè vivere nè avanzarsi nè far nulla, e neanche difendersi dagli altri, quella che usano realmente i medesimi scrittori di morale, è nè più nè meno quella ch’ho insegnata io? Perchè dunque essendo questa (e non l’altra) l’arte del saper vivere, o del saper regnare (ch’è tutt’uno, poichè il fine dell’uomo in società è di regnare sugli altri in qualunque modo, e il più scaltro regna sempre), perchè, dico io, se n’ha da insegnare, e tutti i libri n’insegnano un’altra, e questa direttamente contraria alla vera? e tale ch’ell’è appunto il modo di non sapere e non potere nè vivere nè regnare? e tale che nessuno de’ più infiammati nello scriverla, vorrebb’esser quello che l’adoperasse, e nemmeno esser creduto un di quelli che l’adoprino? (cioè un minchione). (Prose, 261–262)
[Stimmt es oder stimmt es nicht, daß es, um zu leben, um nicht das Opfer aller zu sein und immer von allen mit Füßen getreten und verspottet und überwältigt zu werden […], absolut notwendig ist, ein Schurke zu sein: daß der Jüngling, solange er nicht gelernt hat, ein solcher zu sein, immer verprügelt werden wird und ewig nichts ausrichtet: daß die Kunst, sich in der Gesellschaft oder auf dem Thron zu verhalten, jene, die gebraucht wird, jene, die zu gebrauchen notwendig ist, jene, ohne die man weder leben noch vorankommen noch irgendetwas erreichen kann, nicht einmal, sich vor den anderen schützen, jene, die diese selben Moralschriftsteller gebrauchen, eben jene ist, die ich gelehrt habe, nicht mehr und nicht weniger? Warum also, wenn diese (und nicht die andere) die Kunst ist, zu leben und zu regieren zu verstehen (was schlicht dasselbe ist, da ja das Ziel des Menschen in Gesellschaft darin besteht, in jeglicher Art und Weise über die anderen zu herrschen, und es herrscht immer der Gerissenste); warum also, sage ich, soll man eine andere lehren, und lehren alle Bücher eine andere, und zwar jene, die der wahren gerade entgegengesetzt ist? und so, daß sie genau die Art und Weise ist, auf die man weder zu leben noch zu herrschen versteht und vermag? und so, daß keiner derjenigen, die beim Schreiben am stärksten für sie entbrannt sind, jener sein wollte, der sie anwendet, und nicht einmal für einen von jenen gehalten werden wollte, die sie anwenden? (also für einen Tölpel).]
Stellt der Machiavello der Novella es hier wortreich und gekonnt so dar, als verstehe sich von selbst, daß sein Principe immer schon das Savoir-faire am Hof und das Savoir-vivre in der Gesellschaft umfaßte, räumt er wenig später doch ein, daß es zum gegenwärtigen Zeitpunkt, also nach Fénelon, Alfieri und Knigge, doch noch ‹ein Desideratum bleibt, zum Wohle der Menschheit seine nach Bedarf ergänzte Regierungskunst alle Menschen von Jugend an ebenso im privaten Bereich zu lehren›,4 weil erst diese Kunst des Savoir-vivre, anders als der von Knigge gelehrte Umgang mit Menschen, der wahre «Codice del saper vivere» sei, nämlich «una regola vera della condotta da tenersi in società,5 ben diversa da quella dettata ultimamente dal Knigge, e tanto celebrata dai tedeschi, nessuno de’ quali nè vive nè visse mai a quel modo» (Prose, 263 [‹ein Kodex des Savoir-vivre, eine wahre Regel über den Umgang mit Menschen, völlig verschieden von jener, die jüngst von Knigge verfaßt wurde und die von den Deutschen – von denen keiner auf diese Weise lebt noch je lebte – so hoch gepriesen wird›]).
Mit dieser Passage jedoch ist der Wechsel von der Regierungskunst zur Lebenskunst praktisch umgesetzt: Nach dem glissando, das letztere zunächst nahezu unmerklich in die Argumentation eindringen ließ, indem sie erst neben die andere Kunst gestellt und schließlich in der Wendung «l’arte del saper vivere o del saper regnare (ch’è tutt’uno […])» dieser gleichgesetzt wurde, und nach der Einräumung des Desideratums, die im Umkehrschluß bestätigt, daß für die Regierungskunst immer schon alle dem Modell des Machiavellischen Principe folgen, selbst wenn sie es nicht eingestehen, ist ab hier bis zum Ende des dritten und letzten Fragments fast ausschließlich von der Kunst des Savoir-vivre oder auch der Lebenskunst tout court die Rede.6 Nur an einer Stelle, als es um die Moral geht, fließt noch einmal die Regierungskunst mit ein:
volgendomi a scrivere e a filosofare, non diedi precetti di morale, ch’era già irreparabilmente abolita e distrutta quanto al fatto, sapendo bene (come ho detto) che il mondo non si può rinnovare; ma da vero filosofo insegnai quella regola di governare e di vivere ch’era sottentrata alla morale per sempre, che s’usava realmente, e che realmente e unicamente poteva giovare, e giovava a chi l’avesse imparata. (Prose, 264–265)
[Als ich mich dem Schreiben und Philosophieren zuwandte, gab ich keine Vorschriften in Sachen Moral, die in der Praxis längst unwiederbringlich abgeschafft und zerstört war, denn (wie gesagt) ich wußte wohl, daß sich die Welt nicht erneuern läßt; als wahrer Philosoph lehrte ich hingegen jene Norm des Regierens und des Lebens, die sich für immer an die Stelle der Moral gesetzt hatte, die wirklich angewandt wurde und die jedem, der sie gelernt haben würde, wirklich und einzig nützen konnte.]
Die Passage, die noch einmal die beiden Bereiche dank ihrer Unterschiedslosigkeit verknüpft, lenkt zugleich den Blick auf ein weiteres zentrales Thema der Novella, das an den Principe und mehr noch an dessen durch die Jahrhunderte hindurch und bis in die Gegenwart stereotyp wiederholte Kritik anknüpft. Wie dieser Fürstenspiegel, dem immer wieder vorgeworfen wird, er predige vor allem den Verzicht auf jegliche Moral zugunsten der Eigeninteressen, von sich selbst behauptet, nur die Realität, die gängige Praxis, wie sie durch lange Erfahrung und durch das beständige Studium der Alten7 zu erkennen waren, darzustellen, bekräftigt auch der Machiavello in der Hölle, daß die Moralpredigt gerade nicht in seinem Interesse liegt. Vielmehr erwiesen sich in dieser Hinsicht alle anderen Fürstenspiegel ebenso wie alle Verhaltenstraktate als falsch, geradezu als betrügerisch, weil sie, anders als er selbst, die Menschen unter dem ‹Versprechen, sie zu belehren, roher und dümmer als zuvor› machten und ‹ihnen Dinge beibrächten, die hinterher erst wieder verlernt werden müßten›.8
Wie im Dialogo, wo sich die Kritik des Lettore am Text des Sallustio ebenfalls daran festmacht, daß die Darstellungsweise dort mit ihrer aus moderner Sicht auf den Kopf gestellten Klimax nicht oder zumindest nicht mehr der Realität entspreche und folglich anders lauten müsse, wird auch hier die – mangelnde – Übereinstimmung mit der Wirklichkeit in Korrelation zum Sprachgebrauch gesetzt. So macht der Machiavello der Novella einen doppelten Irrtum aus, dem Bücher wie jenes von Senofonte, jenes von Fénelon oder alle anderen politischen Bücher erliegen und der zugleich der Grund dafür ist, dass sein Buch um so vieles erfolgreicher ist als jene. Während üblicherweise von denen, die die private oder die höfische Lebenskunst, die Kunst, sich oder andere zu beherrschen, vermitteln wollen, ‹Vorschriften gemäß der sogenannten Moral›, «precetti di quella che si chiama morale» (Prose, 261), formuliert werden, begnügt sich sein Buch damit, ohne Umschweife die ‹nackte Wahrheit› darzustellen, dabei jedoch dieses ‹Wahre, Einzige, Unfehlbare, Universale› mit geradezu religiösem Vokabular anzupreisen:
io dico nudamente quelle cose che son vere, che si fanno, che si faranno sempre, e che vanno fatte, e gli altri dicono tutto l’opposto, benchè sappiano e vedano anch’essi niente meno di me, che le cose stanno come le dico io. Sicchè i libri loro sono […] inutili alla vita, e al fine che si propongono, cioè d’istruirla; perchè composti di precetti o di sentenze scientemente e volutamente false, non praticate nè potute praticare da chi le scrive, dannosissime a chi le praticasse, ma realmente non praticate neppure da chi le legge, s’egli non è un giovane inesperto, o un dappoco. Laddove il mio libro è e sarà sempre il Codice del vero ed unico e infallibile e universal modo di vivere, e perciò sempre celebratissimo, più per l’ardire, o piuttosto per la coerenza da me usata nello scriverlo, che perchè ci volesse molto a pensare e dir quello che tutti sanno, tutti vedono, e tutti fanno. (Prose, 262–263)
[Ich sage unverhüllt jene Dinge, die wahr sind, die getan werden, die auch in Zukunft immer getan werden und die getan werden müssen, und die anderen sagen das genaue Gegenteil, obwohl auch sie nicht weniger als ich wissen und sehen, daß die Dinge so liegen, wie ich sie sage. Von daher sind ihre Bücher […] ohne Nutzen für das Leben und für den Zweck, dem sie sich verschreiben, nämlich, das Leben zu lehren; denn sie setzen sich aus Vorschriften und aus wissentlich und vorsätzlich falschen Sentenzen zusammen, die von dem, der sie niederschreibt, nicht umgesetzt werden und gar nicht umgesetzt werden können, die dem, der sie umsetzen wollte, zu größtem Schaden gereichen würden, aber die in Wirklichkeit nicht einmal von dem, der sie liest, umgesetzt werden, es sei denn, er ist ein unerfahrener Jüngling oder ein Nichtsnutz. Wohingegen mein Buch der Kodex der wahren und einzigen und unfehlbaren und universalen Lebensart ist und immer sein wird und daher stets über die Maßen gepriesen, mehr noch wegen seiner Kühnheit oder eher wegen der von mir beim Schreiben geübten Stringenz, als weil so anspruchsvoll gewesen wäre, das zu denken und zu sagen, was alle wissen, alle sehen und alle tun.]
Mit diesem Wahrheitsanspruch, mit dem Anspruch, die Dinge so zu beschreiben, wie sie waren, sind und sein werden, stellt er nicht nur über die Sprache die Verbindung zwischen dem vorbildlichen ‹Schurken› oder «birbante» Kyros und dem für ein gelingendes Leben absolut notwendigen «esser birbo» oder ‹Schurkisch-Sein› her, sondern legt er auch den grundlegenden Begriff der virtus ad acta, die nur mehr das ‹Erbe der Feiglinge› sei, «la virtù è il patrimonio dei coglioni» (Prose