Lesen? Gefällt mir! - Spannende Pferdegeschichten - Carola Wimmer - E-Book
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Lesen? Gefällt mir! - Spannende Pferdegeschichten E-Book

Carola Wimmer

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Beschreibung

Meine Bücher, meine Welt ...

Als Eiskunstläuferin Leonie sich den Knöchel bricht und ihr Sportinternat verlassen muss, bedeutet das das Ende ihrer Zukunftsträume. Zufällig gerät sie in dieser schweren Zeit ausgerechnet auf einen Pferdehof – und verliebt sich auf den ersten Blick in die Trakenerstute Hope. Doch auch das Pferd hat keine leichte Vergangenheit, und so verbieten ihr die Besitzer den Umgang mit dem Tier.
Als wäre das nicht genug, findet Leonie heraus, dass der Hof große Geldsorgen hat. Dass ein privater Fernsehsender eine Doku-Soap mit ihr und den Pferden im Mittelpunkt drehen will, könnte den Betrieb retten – aber wäre das wirklich die richtige Entscheidung?

Enthält die Geschichten „Hope – Sprung ins Glück“ und „Hope – Traumpferd gefunden“ von Carola Wimmer.

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Seitenzahl: 302

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CAROLA WIMMER

Spannende

Pferdegeschichten

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1. Auflage 2021

Erstmals als cbt Taschenbuch-Sammelband

Dieser Sammelband besteht aus den Einzelbänden:

»Hope – Sprung ins Glück« von Carola Wimmer

© 2015 cbj Kinder- und Jugendbuchverlag

und »Hope – Traumpferd gefunden« von Carola Wimmer

© 2016 cbj Kinder- und Jugendbuchverlag

Alle Rechte dieser Ausgabe vorbehalten durch

cbj Kinder- und Jugendbuchverlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Grafikagentur Kathrin Schüler

unter Verwendung von Bildmaterial von © Shutterstock.com

(richardwibi, Artishok, Karen Givens , Sloth Astronaut, Crazy nook)

ah · Herstellung: LW

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN 978-3-641-28173-1V001

www.cbj-verlag.de

Hope – Sprung ins Glück

Prolog

Das harte Licht der Trainingslampen tauchte die Eisfläche in ein unwirkliches Blau. Leo fröstelte. Die Halle war trotz Februarkälte kaum beheizt. Aber es war Wettkampfzeit, das hieß: Einzeltraining noch vor der ersten Schulstunde, auch wenn ein plötzlicher Blizzard die Erde einfrosten sollte.

Leo glitt in die Mitte des Eises und probierte eine kleine Pirouette. Ihre Beine fühlten sich an, als hätte sie Bleigewichte an den Füßen. Vielleicht lag es an der Grippe in der letzten Woche? Leo versuchte, ihre Schwäche zu ignorieren. Sie stieß sich mit den Kufen hart ab, wechselte die Richtung und glitt im weiten Bogen Richtung Bande.

Hier, ganz am äußeren Rand der Eisfläche, hielt sie für einen Augenblick inne, dann nahm sie mit kraftvollen Schritten Anlauf für den schwierigsten Sprung ihrer Kür, den doppelten Axel. Sie hatte ihn schon mehrere Hundert Male gesprungen, zuletzt so gut, dass sie sich für die Junior-Meisterschaften qualifiziert hatte.

Doch heute war alles anders. Kaum in der Luft, verlor Leo das Gleichgewicht. Im letzten Moment gelang es ihr, halbwegs sicher zu landen. Doch sie musste sich mit den Händen abfangen, um nicht vornüber auf das harte Eis zu schlagen.

»Leonie! Wir sind hier doch nicht bei den Anfängern!«, erschallte eine scharfe Stimme. Sie gehörte einer zierlichen Frau mit dicker Brille, die hinter der Bande stand. »Mit dieser Einstellung brauchst du gar nicht erst anzutreten! Reiß dich zusammen, es gibt genügend andere Mädchen, die liebend gern deinen Platz hätten!« Ihr Atem verwandelte sich in der Kälte in eine schnaubende Dampfwolke.

Leo musste nicht hinsehen. Sie wusste, dass ihre Trainerin, Frau Dr. Fleischhauer, die Stirn in kratertiefe Falten zog.

Leo richtete sich auf. In ihren Schläfen pochte das Blut. Mit einem kurzen Nicken zeigte sie, dass sie verstanden hatte. Sie atmete tief durch, glitt zurück zur Bande und lief erneut an, diesmal schneller, energischer. Mit weit ausgestreckten Armen holte sie sich zusätzlich Energie. Der Sprung trug sie weit nach oben – in die erste Drehung, in die zweite …

Doch dann wurde Leo für eine Sekunde schwarz vor Augen. Sie verlor die Kontrolle, konnte den Schwung nicht mehr lenken und schlug mit dem Knie voran auf das unnachgiebige Eis. Leo fühlte einen spitzen Schmerz, als habe man ihr ein Messer ins Knie gerammt. Instinktiv versuchte sie, sich aufzusetzen. Doch der Schmerz war zu groß. Sie sank zurück und blieb mit geschlossenen Augen liegen.

1. Kapitel

Auf Krücken humpelte Leo zu ihrem Internatszimmer. Als sie die Tür öffnete, kam ihr der Raum mit den zwei Betten, den zwei Schränken und Tischen sonderbar fremd vor. Als hätte sie hier die letzten zwei Jahre gar nicht gewohnt.

Aber vielleicht lag es auch an ihr. Vielleicht war mit dem Zimmer alles in Ordnung – nur sie war mit ihrem Gips, der bis hinauf zum Oberschenkel reichte, und den Krücken zu einem Fremdkörper im Sportinternat geworden.

Leo humpelte zum Kleiderschrank, zerrte den großen Koffer herunter und warf ihn aufs Bett. Um sie herum war alles still. Nur vom nahen Sportplatz kamen vereinzelte Rufe und Pfiffe. Leo war froh, jetzt allein zu sein. Das Abschiednehmen fiel ihr schwer – obwohl sie seit vielen Tagen auch Enttäuschung verspürte. In den ersten vier Wochen nach dem Unfall hatten die Mädchen aus ihrer Klasse noch regelmäßig Grüße und Genesungswünsche geschickt und sie im Krankenhaus besucht. Aber mit der Zeit war der Kontakt immer spärlicher geworden. Sogar ihre engsten Freundinnen schienen sie vergessen zu haben. Leo hatte lange gebraucht, bis sie begriffen hatte, dass das Wesentliche, das sie und ihre Freundinnen in den gemeinsamen Jahren verbunden hatte, das Schlittschuhlaufen gewesen war. Und das war nun vorbei.

Seufzend öffnete Leo den Schrank und nahm ihre Hosen, T-Shirts und Pullover heraus, die sie Schicht um Schicht im Koffer verstaute.

Plötzlich wurde die Tür aufgerissen. Trixie, Leos Zimmergenossin, stürmte herein. Als sie Leo sah, blieb sie einen Moment erschrocken stehen. Doch schnell hatte sie sich wieder gefasst. »Puh, mit dir habe ich gar nicht gerechnet. Du bist raus aus dem Krankenhaus!«, sagte sie lächelnd.

Leo war ebenfalls erschrocken. Doch auch sie wollte es nicht zeigen. »Wurde mir da allmählich zu langweilig«, erwiderte sie und grinste schief.

Trixie umarmte Leo unbeholfen und setzte sich dann auf ihr Bett. Ihr Blick wanderte zu Leos Koffer. »Frau Fleischhauer hat gemeint, du gehst«, sagte sie. »Du verlässt die Schule?«

Leo schluckte und drehte sich rasch in Richtung Schrank. Trixies unverblümte Frage trieb ihr die Tränen in die Augen.

»Die Ärzte glauben, dass ich nie wieder richtigen Sport machen kann«, antwortete Leo und griff nach einem Stapel Unterhemden im Wäschefach. »Und für Nicht-Sportler ist auf einem Sportinternat kein Platz. Du weißt schon: lange Warteliste und so.«

»Und was machst du jetzt?«, fragte Trixie.

Leo zuckte mit den Schultern. Ihr Blick wanderte zum Fußboden. Für einen Augenblick schwiegen die Mädchen.

»Ich muss gleich los zum Training«, sagte Trixie schließlich und ging zu ihrer Tasche, die gepackt neben ihrem Schreibtisch stand. Sie druckste einen Moment herum, bevor sie weitersprach. »Ich bin aufgerückt für die Meisterschaften. Jetzt, wo du wegfällst …«

»Ah, ja klar«, erwiderte Leo und fühlte sich plötzlich schwer wie ein Stein. »Herzlichen Glückwunsch!«

Trixie sah verlegen zu Boden. Es war offensichtlich, wie unangenehm ihr die Situation war. »Soll ich dir noch mit dem Koffer helfen?«, fragte sie.

»Nein, lass mal. Meine Mutter kommt gleich, sie ist unten und spricht noch mit dem Direx und Frau Fleischhauer.«

»Okay, dann geh ich mal!« Trixie öffnete die Tür. »Ich ruf dich an, bestimmt!«

»Ja, mach das«, sagte Leo lahm. Im nächsten Moment war Trixie auch schon verschwunden, die Tür knallte hinter ihr zu.

Plötzlich wollte Leo nur noch weg. Hastig riss sie den Rest ihrer Sachen aus dem Schrank und stopfte sie in den Koffer. Zum Schluss schmiss sie ihre Schlittschuhe auf die Klamotten. Dann klappte sie den Deckel zu und zerrte am Reißverschluss. Doch sosehr sie sich auch bemühte, sie kriegte den Koffer nicht zu. Wütend riss Leo ihn wieder auf, nahm die Schlittschuhe und warf sie in den Papierkorb. Als sie das Zimmer verließ, drehte sie sich nicht einmal mehr um.

2. Kapitel

»Warte! Ich wäre doch gekommen«, rief Leos Mutter, Eva Pollinger, als sie sah, wie ihre Tochter sich mit dem schweren Koffer auf der Treppe abmühte. Rasch eilte sie Leo entgegen und nahm das Gepäck, um es die letzten Stufen hinunterzutragen. »Warum musst du immer so ein Dickkopf sein?«

»Du hast so lange gebraucht«, antwortete Leo nur und fasste ihre Krücken fester, um durch die Eingangshalle Richtung Ausgang zu humpeln.

»Ich habe noch mit deinem Direktor gesprochen«, sagte Leos Mutter. »Herr Friedrichsen war so nett!«

»Der wollte bestimmt nur mit dir flirten«, antwortete Leo genervt. »Alle Männer wollen mit dir flirten.«

Leos Mutter schüttelte belustigt den Kopf. Aber Leo wusste, dass sie recht hatte. Eva Pollinger war eine außergewöhnlich hübsche Frau. Die meisten Männer schienen nicht anders zu können, als auf peinliche Weise um sie herumzuzwitschern.

»Leonie, erzähl nicht immer so einen Quatsch«, widersprach Leos Mutter. »Frau Dr. Fleischhauer war auch sehr, sehr nett. Sie hat gesagt, dass sie dich richtig gerne mochte. Du glaubst nicht, wie sie dich in den höchsten Tönen gelobt hat. Dass du es weit hättest bringen können …«

»Ja, hätte«, unterbrach Leo ihre Mutter. Musste sie denn noch weiter Salz in ihre Wunde streuen? »Können wir jetzt über etwas anderes reden?«

Leos Mutter blieb stehen und schüttelte verständnislos den Kopf. Aber Leo bemerkte es nicht. Sie war schon weiter Richtung Parkplatz gehumpelt. Sie konnte es nicht erwarten, von hier wegzukommen. Ungeduldig öffnete sie die Beifahrertür und quetschte sich mit den Krücken auf den Sitz. Doch ihre Mutter stieg noch nicht ein, sondern sah sich wehmütig um. Hinter ihnen lag das Gelände mit dem Sportplatz, weiter hinten die Eishalle mit dem langen, flachen Dach. Leos Mutter seufzte. »Ich glaube, das ist der traurigste Tag in meinem Leben«, sagte sie schließlich und sah Leo an.

Leo war noch immer gereizt. »In deinem Leben?«, erwiderte sie stirnrunzelnd.

Leos Mutter schüttelte den Kopf. »Nein, das stimmt nicht«, korrigierte sie sich selbst. »Der Tag, als dein Vater uns verlassen hat, war der traurigste.«

Leo biss sich auf die Lippen und schwieg. Sie wartete, bis ihre Mutter eingestiegen war und den Wagen gestartet hatte. Erst als sie das Schulgelände hinter sich gelassen hatten, konnte Leo sich etwas entspannen und sank tiefer in den Sitz. Aus den Augenwinkeln beobachtete sie, wie ihre Mutter mit einer steilen Sorgenfalte auf der Stirn den Wagen Richtung Autobahn lenkte. Plötzlich hatte Leo den Impuls, ihre Mutter zu trösten. Leo wusste, wie viel es ihr bedeutet hatte, dass sie das Internat besuchte. Nachdem Leos Vater verschwunden war, hatte sie ihre ganze Freizeit in Leo investiert. Bevor Leo die Aufnahmeprüfung für das Sportinternat Glasstein geschafft hatte, hatte ihre Mutter sie permanent herumgefahren, vom Training in der nahen Eishalle zum Leistungszentrum, vom Ballett zu Wettbewerben. Sie hatte ihr Kostüme genäht und ihre letzten Cent dafür gegeben, damit Leo mit dem Eiskunstlaufen Erfolg hatte.

Und jetzt war, durch Leos Schuld, alles vorbei.

Vorsichtig streckte Leo ihre Hand aus und streichelte sanft über den Arm ihrer Mutter.

»Alles wird gut«, sagte Leo.

Eva Pollinger nickte. »Das Wichtigste ist jetzt, dass du positiv denkst und dich nicht hängen lässt. Es ist alles schon schwer genug!«

Leos Laune verdüsterte sich bei den Worten ihrer Mutter sofort wieder. Aber sie sagte nichts.

»Und versuche, auf der neuen Schule bald Freunde zu finden«, fuhr Leos Mutter mit ihren Ratschlägen fort.

Leo schnaufte kaum hörbar und starrte angestrengt nach vorn. »Wird gemacht«, sagte sie.

3. Kapitel

Das fremde Klassenzimmer war noch leer, als Leo eintrat. Sie suchte sich einen Platz in der letzten Reihe und beobachtete, wie nach und nach ihre neuen Mitschüler eintrudelten. In die ersten zwei Reihen setzte sich eine Gruppe nahezu gleich gekleideter Mädchen. Sie unterhielten sich aufgeregt, unterbrachen aber sofort ihr Gespräch, als ein hochgewachsenes Mädchen in den Klassenraum trat. Es hatte langes rotes Haar, das sich in Hunderten Löckchen kräuselte. Sie sah toll aus, fand Leo. Die Mädchen machten der Rothaarigen sofort Platz, sodass sie augenblicklich der Mittelpunkt der Gruppe war.

»Entschuldige, da sitze ich eigentlich«, sagte plötzlich eine helle Stimme neben Leo. Überrascht sah Leo auf und griff nach ihren Krücken.

Als das Mädchen Leos Gipsbein bemerkte, rief sie abwehrend: »Nein! Kein Problem! Ich setz mich einfach einen Platz weiter, da sitzt niemand, kein Problem!«

Leo musterte aus den Augenwinkeln das Mädchen, das nun umständlich neben ihr Platz nahm. Es hatte eine kindliche Schultasche auf dem Rücken, und auf seinem Pullover prangte ein Pony aus Glitzersteinchen. Als es seine Hefte und Bücher auf dem Tisch platzierte, sah Leo, dass jeder Gegenstand mit einem Pferdemotiv bedruckt war. Sogar auf dem Radiergummi, den sie sich neben ihrer Federmappe zusammen mit Lineal und Bleistift bereitlegte, sprang ein Einhorn über einen Regenbogen. Also kein richtiges Pferd, aber trotzdem.

Pünktlich mit dem Klingeln kam der Klassenlehrer herein und warf krachend einen Stapel Bücher vorne auf das Lehrerpult. Als er seinen Blick der Klasse zuwandte, entdeckte er Leo.

»Ah, da haben wir ja unsere Eisprinzessin!«, rief er und gab ihr ein Zeichen, nach vorne zu kommen. Im selben Moment bemerkte er seinen Fehler und schüttelte belustigt den Kopf. »Nein, schon gut!«, rief er und blätterte in seinem Notizbuch.

Leo hatte das Gefühl, dunkelrot anzulaufen.

»Leonie Pollinger«, las er ihren Namen aus seinem Büchlein vor, während er zu ihrem Tisch kam. »Willkommen bei uns – so mitten im Schuljahr.«

Leo wusste nicht, was sie darauf sagen sollte. Aber offensichtlich erwartete er von ihr auch keine Antwort.

»Du kommst also vom Sportinternat, Disziplin Eiskunstlauf«, fasste der Lehrer zusammen. »Ich hoffe, dass es dir bei uns nicht zu langweilig wird. Wir konzentrieren unseren Ehrgeiz hier mehr auf Kopfarbeit … Also, alle bitte die Bücher aufschlagen, Seite 54.« Mit diesen Worten überreichte er Leo das Mathematikbuch und ging zurück zur Tafel.

Einige Schüler, auch die Mädchen aus den ersten Reihen, starrten Leo unverblümt an. Erst nach und nach richteten sie ihre Blicke wieder nach vorne. Nur Leos Sitznachbarin starrte weiter. Als Leo sich ihr fragend zuwandte, grinste sie breit. »Ich bin Bea«, flüsterte sie. »Und ich bin Leo«, flüsterte Leo zurück. Das Mädchen nickte übertrieben heftig, um zu zeigen, dass es verstanden hatte. »Okay!«, flüsterte es noch einmal.

Leo war froh, dass Bea das Gespräch nicht im Unterricht fortsetzen wollte. Aber an der Art, wie sie aufgeregt neben ihr auf dem Stuhl herumrutschte, ahnte Leo, dass sie vor Neugier platzte. Kaum klingelte es zur ersten Pause, klappte Bea auch schon ihr Buch zu und wandte sich mit weit aufgerissenen Augen an Leo.

»Und du bist wirklich Eiskunstläuferin?«, fragte sie begeistert.

»Leider ist mir was dazwischengekommen«, antwortete Leo und deutete auf ihr Bein. »Gebrochene Kniescheibe«, schob sie erklärend nach.

Bea wurde blass. Leo fürchtete, sie könnte jeden Augenblick vom Stuhl kippen. »Aua, das will ich mir gar nicht vorstellen!«, rief sie, und ihre Augen wanderten hektisch durch den Klassenraum, als würde sie den Notausgang suchen. »Das tut mir so leid!«, meinte sie schließlich und fasste sich mit beiden Händen ans Knie, als hätte sie selbst Schmerzen.

»Was tut dir leid?« Das Mädchen mit den roten Haaren und zwei seiner Freundinnen waren vor Leos Tisch getreten. Verächtlich betrachteten die drei Leos Sitznachbarin. »Tut es dir leid, dass du schon wieder so einen hässlichen Pullover trägst?«

Die Mädchen kicherten. Leo klappte die Kinnlade runter. So etwas Gemeines hatte sie noch nie erlebt! Doch Bea blieb still und senkte nur verlegen den Kopf. Noch bevor Leo etwas sagen konnte, wandte sich das Mädchen an sie. »Echt blöd, dass du hier hinten sitzen musst. Willst du in der großen Pause mit uns in die Cafeteria gehen?«, fragte sie überfreundlich.

Leo klappte die Kinnlade noch ein Stück tiefer. Dann fasste sie sich endlich. »Nein danke!«, erwiderte sie knapp.

Das Lächeln im Gesicht des Mädchens gefror. Offenbar hatte es in seinem Leben noch nicht viele Absagen erhalten.

»Dann halt nicht«, sagte es schließlich schnippisch und wie auf Kommando drehten sich alle drei gleichzeitig um und kehrten zu ihren Plätzen zurück.

Leo sah den Mädchen kopfschüttelnd nach. »Wer ist das denn?«

»Charlene Schönbrunn«, flüsterte Bea.

»Kann es sein, dass sie ziemlich daneben ist?«, fragte Leo.

»Ja, schon. Aber ich wünschte, ich wäre wie sie«, erwiderte Bea mit verträumtem Blick.

Leo sah Bea entgeistert an. »Wieso das denn? Arrogante Ziegen gibt es doch schon genug!«

»Nein, ich mein das anders«, verbesserte sich Bea erschrocken. »Charlene kann reiten! Ihre Freundinnen, Tessa und Bibi, können auch reiten, aber Charlene kann richtig gut reiten.«

Leo war verwirrt. »Kannst du denn reiten?«, fragte sie, obwohl sie die Antwort bereits ahnte.

Bea senkte den Kopf. »Nein, leider nicht.«

4. Kapitel

Der Schultag war nach Leos Geschmack viel zu kurz. Zu Hause wartete niemand auf sie, nur ein vorgekochtes Mittagessen, das sie lustlos in sich hineinschaufelte. Danach wusste sie nicht, was sie tun sollte. Die Wohnung und die Stadt waren Leo fremd. Sie kannte sie nur von Besuchen in den Ferien. Ihre Mutter war erst hierhergezogen, als Leo auf das Internat gewechselt war.

Leo dachte einen Augenblick an Bea. Sie hatte Leo angeboten, ihr die Mitschriften der letzten Wochen vorbeizubringen. Aber Leo hatte abgelehnt. Sie wollte keine Umstände machen.

Die Aussicht auf einen langweiligen Nachmittag verdüsterte ihre Laune allerdings immer mehr. Früher hatte sie jeden Tag vier Stunden auf dem Eis gestanden und trainiert. Jetzt wusste sie nichts mit sich anzufangen. Kaum etwas interessierte sie wirklich.

Leo spülte das Geschirr ab und ging in ihr Zimmer. Ihr Blick wanderte zu dem Regal neben ihrem Bett, auf dem ihre Mutter Pokale und Medaillen ordentlich aufgereiht hatte. Als Leo sie betrachtete, füllten sich ihre Augen mit Tränen. So hart das Training auch gewesen war: Auf dem Eis hatte sie sich gut gefühlt. Es hatte kein Gestern und kein Morgen gegeben, nur diesen Moment auf dem Eis, ein glücklicher Schwebezustand. Jetzt empfand Leo genau das Gegenteil. Statt zu schweben, stakste sie linkisch wie ein flugunfähiger Vogel durch die Gegend. Traurig sah Leo auf ihr Handy. Aber sie hatte keine Nachrichten bekommen. Und sie hatte keine Lust, welche zu schreiben.

Leo nahm ihre Krücken und verließ die Wohnung. Vielleicht konnte sie sich die Unterlagen bei Bea selbst abholen. Da Bea kein Handy hatte, konnte Leo nicht einfach anrufen. Aber Bea wohnte nur zwei Häuser weiter. Wenn Leo Glück hatte, war sie jetzt zu Hause.

Als Leo klingelte, öffnete Bea freudestrahlend die Tür, als hätte sie auf Leo gewartet. Sie führte Leo in ihr Zimmer. Dort hatte sie bereits alle Hefte zusammengesucht. Leo sah sich um. Neben einem hölzernen Hochbett nahmen ein Schrank und ein Schreibtisch die meiste Fläche des winzigen Zimmers ein. Bea hatte jede freie Stelle an den Wänden mit selbst gezeichneten Pferdebildern beklebt. Am schönsten fand Leo das Bild eines Schimmels im Galopp. Die Zeichnung war wirklich gelungen. Alle Proportionen stimmten perfekt, Schweif und Mähne flatterten im Wind, das Pferd wirkte geradezu lebendig.

»Das sieht richtig gut aus!«, rief Leo und trat einen Schritt näher.

»Danke«, erwiderte Bea verlegen.

»Ich habe überhaupt keine Ahnung von Pferden«, bekannte Leo, während sie das Bild betrachtete. »Was ist so toll an ihnen?«

»Dass sie so freundlich sind«, kam es wie aus der Pistole geschossen. »Manche Pferde sind auch zickig, aber die allermeisten sind freundlich!«

Leo sah sich das nächste Bild an. Es zeigte ein Pferd, das auf einer Wiese graste.

»Was ich nicht verstehe: Wenn du Pferde so magst, warum reitest du dann nicht selbst?«, fragte Leo.

»Meine Stiefmutter erlaubt es nicht«, erklärte Bea. »Sie erlaubt mir nicht mal, in die Nähe von Pferden zu gehen. Sie glaubt, Pferde sind gefährlich.«

Leo schüttelte belustigt den Kopf. »Und was sagt deine richtige Mutter dazu?«

Bea senkte den Kopf. »Meine Mutter ist vor langer Zeit gestorben«, sagte sie.

»Oh, das tut mir wahnsinnig leid!«, rief Leo.

Aber Bea schüttelte den Kopf und bemühte sich um ein Lächeln. »Meine Stiefmutter hat für ihre Sorgen jedenfalls auch einen Grund«, erklärte sie. »Da ist nämlich mal was Blödes passiert.«

»Wirklich?«

»Das war vor zwei Jahren«, sagte Bea. »Auf der Hochzeit meines Vaters und meiner Stiefmutter. Sie feierten auf einer großen Wiese mit ganz vielen Gästen. Sie hatten eine dreistöckige Torte …«

»Und dann hat das Pferd die Hochzeitstorte gefressen?«, fragte Leo und grinste.

»Nein, viel blöder. Das Pferd war auch eher ein Pony. Und es war total vernarrt in die Rüschen und Blüten am Hochzeitskleid. Es wollte die ganze Zeit daran knabbern. Irgendwann hat es sich regelrecht auf meine Stiefmutter gestürzt und sie über die ganze Wiese verfolgt. Meine Stiefmutter ist vor Schreck erst über einen Stuhl, dann gegen die Hochzeitstafel und am Ende in die Hochzeitstorte gefallen. Seitdem hasst sie Pferde«, schloss Bea ihren Bericht.

»Oh Mann!« Leo lachte. »Das Pferd hat ihr aber ordentlich die Feier verdorben!«

Auch Bea lachte, aber nur kurz. Ihre Augen wurden traurig. »Dabei würde ich so gerne ein Pferd einfach nur ansehen und streicheln!«

»Dann mach das doch!«, schlug Leo vor. »Deine Stiefmutter braucht das ja nicht zu wissen!«

»Daran habe ich auch schon gedacht«, gestand Bea und senkte ihre Stimme zum Flüsterton. »Ich weiß auch, wo Pferde sind. Aber alleine traue ich mich nicht.«

»Hm. Ich würde ja mitgehen …«, sagte Leo.

»Wirklich?«, unterbrach Bea sie. »Das würdest du machen?«

»Ja, schon …«, sagte Leo. Aber sie konnte ihren Satz wieder nicht beenden, denn Bea fiel ihr stürmisch um den Hals.

»Das ist so super von dir!«, jubelte sie.

»Halt, halt! Lass mich doch ausreden«, rief Leo und deutete auf ihr Bein. »Ich kann nicht! Mit meinen Krücken komme ich nicht weit.«

Auf Beas Gesicht legte sich ein Ausdruck riesiger Enttäuschung.

»Ja, verstehe«, murmelte sie.

5. Kapitel

Zu Hause sah sich Leo Beas Unterlagen an. Erfreut stellte sie fest, dass sie in fast allen Fächern auf dem gleichen Stand war. Nur in Geschichte hinkte sie dem Stoff hinterher. Doch schon nach dem ersten Blick ins Geschichtsbuch warf Leo sich lustlos aufs Bett und starrte an die Decke. Plötzlich klingelte es an der Tür. Leo raffte sich auf und sah aus dem Fenster. Unten stand Bea. Sie winkte zu ihr hinauf. Und sie hatte etwas mitgebracht.

»Ist das Ding etwa ein Rollstuhl?«, fragte Leo verdattert.

»Der gehört meinem Opa!«, rief Bea.

»Und den kannst du dir einfach so ausleihen?«, fragte Leo.

»Mein Opa lebt nicht mehr. Und im Himmel braucht er ihn nicht!«, rief Bea nach oben.

»Oh!« Leo war für einen Moment erschrocken.

»Komm runter!«, rief Bea unbekümmert. »Wir müssen los!«

Erst jetzt begriff Leo, was Bea vorhatte. Sie schnappte sich ihre Jacke und ihre Krücken und humpelte nach unten und auf die Straße.

»Und du willst mich den ganzen Weg schieben?«, fragte sie, als sie sich in den Rollstuhl plumpsen ließ.

»Kein Problem«, sagte Bea. Mit erstaunlichen Kräften schob sie Leo die Straße bergan.

Leo lachte. »Wow, das ist super bequem!«

»Geht so!«, kicherte Bea. Die Straße wurde steiler. Es ging immer langsamer voran. Obwohl Bea sich gegen den Rollstuhl stemmte, konnte sie ihn schließlich kaum noch bewegen. »Puh, so wird das nichts«, ächzte sie.

»Warte, ich hab eine Idee«, sagte Leo. Sie nahm ihre Krücken und stieß sich wie beim Skilanglauf auf beiden Seiten ab. Es sah zum Schreien aus, aber es funktionierte!

»Hey, das ist ja wie beim Nordic Walking!«, prustete Bea.

»Eher Nordic Rollstuhl«, rief Leo und kam vor lauter Lachen aus der Puste.

Gemeinsam schafften sie den Weg hinauf bis zum Waldrand. Von da ging es ein Stück bergab über Stock und Stein. Leo wurde ordentlich durchgeschüttelt. Bald entdeckten sie auf dem Waldweg die ersten Hufspuren, und vereinzelte Pferdeäpfel verrieten, dass hier vor kurzer Zeit Pferde vorbeigekommen sein mussten.

Wenig später begegnete ihnen auch schon eine Reitgruppe. Bea blieb andächtig stehen. Auch Leo war beeindruckt. Aus ihrer Rollstuhlperspektive wirkten die Pferde, die schnaubend an ihr vorbeizogen, noch größer und Respekt einflößender als erwartet. Die meisten Reiter nahmen von den Mädchen keine Notiz, sie schauten selbstbewusst nach vorn. Einige aber sahen mit unverkennbarem Stolz auf Leo und Bea herab.

»Sind sie nicht wunderschön?«, hauchte Bea.

Nachdem sie das Wäldchen durchquert hatten, wurde der Weg etwas besser. Links und rechts war er nun durch hölzerne Weidezäune begrenzt. Vor ihnen erstreckten sich weite Wiesen, auf denen Kühe grasten. Bea rannte zum Zaun, stellte sich auf die unterste Sprosse und spähte in die Ferne.

»Da hinten! Wir haben es fast geschafft«, rief sie, vor Begeisterung ganz außer Atem. Sie rannte zu Leo zurück und schob sie mit neuem Elan weiter über den Schotterweg. Leo unterstützte sie nach Kräften mit ihren Krücken. Endlich kamen sie zu einem Tor. Es war nur mit einem Haken verschlossen. Leo und Bea sahen sich fragend an. Sollten sie es einfach so öffnen?

»Komm, jetzt sind wir schließlich hier«, sagte Leo. »Jetzt müssen wir da auch rein.«

Bea nickte. Aber Leo konnte sehen, wie nervös sie war. »Das ist bestimmt illegal«, flüsterte Bea. Trotzdem legte sie den Haken um und öffnete das Tor. Rasch schob sie Leo auf das Gelände.

Offenbar befanden sie sich im hinteren Teil eines Reiterhofs. Es sah allerdings eher aus wie auf einem Schrottplatz. Überall lagen alte Autoreifen und rostige Rohre herum. Als sie sich einem verfallenen Schuppen näherten, kam ihnen eine Frau entgegen. Sie war ungefähr Mitte zwanzig, trug Jeans und einen Anorak.

»Seid ihr Reitschülerinnen auf Mooraue?«, fragte sie streng.

Leo spürte, wie Bea neben ihr vor Schreck erstarrte. »Wir wollten nur mal gucken!«, rief sie schnell.

»Dazu hättet ihr aber den Vordereingang benutzen und euch anmelden müssen«, sagte die Frau und runzelte missbilligend die Stirn.

»Ja, das stimmt«, entschuldigte sich Leo. »Könnten Sie für uns vielleicht eine Ausnahme machen?«

Bea hatte ihre Fassung zurückgewonnen. »Bitte!«, rief sie flehend.

Die Frau sah die Mädchen prüfend an. Ihr Blick blieb erst auf Leos Gipsbein, dann auf Beas Pullover mit dem Ponymotiv hängen. Leo war klar, dass sie wohl ein ziemlich komisches Bild abgaben. Die Frau konnte sich ein kurzes Lächeln nicht verkneifen. Dann wurde sie wieder ernst. »Okay. Aber die Pferde bitte nicht füttern!«

Bea juchzte vor Freude. Die Frau hob die Hand. »Wisst ihr auch, warum ihr die Pferde nicht füttern sollt?«, fragte sie.

»Falsches Futter kann zu einer Kolik führen, und die ist lebensgefährlich!«, rief Bea wie aus der Pistole geschossen.

Die Frau nickte anerkennend. »Okay, ich sehe, du hast dich schon etwas mit Pferden beschäftigt«, sagte sie. »Was Pferde fressen, ist Sache ihrer Besitzer«, fügte sie erklärend hinzu. »Die wissen, was gut für ihre Tiere ist und was nicht.«

Bea strahlte über das ganze Gesicht. Sie sah aus, als wolle sie der Frau am liebsten um den Hals fallen.

»Wenn euch jemand fragt, dann sagt, ich hätte es erlaubt«, sagte sie. »Ich heiße Angelika und bin hier Trainerin.«

»Danke!«, jubelte Bea. Freudestrahlend schob sie Leo weiter.

Hinter dem Schuppen erreichten sie einen großen viereckigen Platz, der mit Kopfstein gepflastert war. An der Stirnseite führte eine Treppe zu einem Gutshaus, das schon bessere Tage gesehen hatte. Von dem ehemals beeindruckenden Gebäude platzte der Putz in großen Stücken ab. Links entdeckte Leo den Stall, ein langes, aber niedriges Gebäude, dessen Fassade ebenfalls einen neuen Anstrich hätte vertragen können. Weiter hinten konnte Leo eine Scheune und eine große Halle erkennen. Daneben lag ein Reitplatz, auf dem verschiedene Hindernisse aufgebaut waren. Rundherum erstreckten sich unterschiedlich große Koppeln.

Beas Augen glänzten. Wie hypnotisiert lief sie Richtung Stall. Leo erhob sich aus dem Rollstuhl, griff nach ihren Krücken und folgte ihr.

Gemeinsam mit Bea blickte sie durch das geöffnete Tor in die Stallgasse. Sie hörte vereinzeltes Wiehern und das Stampfen von Pferdehufen. Hinter hölzernen Türen mit Gitterstäben bewegten sich die Pferde in ihren Boxen wie Schatten.

Zögernd blieben die Mädchen am Eingang stehen. Bea trat nervös von einem Fuß auf den anderen. »Ich trau mich nicht!«, gestand sie.

Leo sah sich um. Ihr Blick fiel auf eine kleine Koppel hinter dem Reitplatz, auf der einige Pferde grasten. Sie wusste nicht, warum, aber sie fühlte sich von diesem Ort auf seltsame Art angezogen. Langsam humpelte sie der Koppel entgegen. Bea folgte ihr.

Die Mädchen waren kaum an der Weide angekommen, da trabten schon zwei Pferde neugierig näher. Es waren aufgeweckte dunkelbraune Tiere mit breiten Rücken und kurzen, kräftigen Beinen. Bea blieb ehrfürchtig am Weidezaun stehen und betrachtete die Pferde mit verliebtem Blick. Dann streckte sie zaghaft ihre Hand aus. Die Pferde reckten ihre Hälse und schnupperten, ob sie etwas zu fressen bekämen. Mit ihren Mäulern tasteten sie sanft über Beas Hand. Bea strahlte. Sie wurde mutiger und streichelte den Pferden über die weichen Nüstern und die Stirn. »Oh Gott, sind die weich«, murmelte sie verzückt. »Davon habe ich immer geträumt. Ich kann gar nicht fassen, dass ich jetzt endlich hier bin!«

Leo beobachtete lächelnd die Szene. Sie freute sich. Bea sah so glücklich aus. Der Ausflug hatte sich wirklich gelohnt.

Plötzlich hatte Leo jedoch das unbestimmte Gefühl, dass sie beobachtet wurde. Irritiert sah sie sich um. Ihr Blick fiel auf ein hellbraunes Pferd, das nicht bis zum Zaun gekommen, sondern in der Mitte der Koppel stehen geblieben war und sie ruhig aus dunklen Augen ansah. Leo war sofort gebannt. Ohne es zu merken, trat sie einen Schritt näher. Das Pferd rührte sich nicht von der Stelle. Es betrachtete Leo mit wacher Aufmerksamkeit, seine Ohren nach vorne gerichtet. Leo ging noch einen Schritt vor, bis sie direkt am Zaun stand. Diesmal bewegte sich auch das Pferd auf sie zu. Leos Herz begann wild zu klopfen. Da war irgendetwas, ein unerklärliches Gefühl, eine geheimnisvolle Verbindung zwischen ihr und diesem Pferd. Als wären sie alte Bekannte. Oder bildete sie sich das nur ein?

Plötzlich riss eine Stimme Leo aus ihren Gedanken.

»Weiß denn deine Mutter, dass du hier bist, Bea?«

Leo fuhr erschrocken herum. Charlene und ihre Freundinnen Tessa und Bibi, alle drei im Reitdress, waren wie aus dem Nichts neben sie getreten. Bea war augenblicklich zu einer Salzsäule erstarrt. Da keine Antwort von ihr kam, wandte Charlene sich an Leo. »Und du? Willst du jetzt zur Reitprinzessin umschulen?«

Leo war völlig perplex. Es war, als müsste sie erst mühsam aus einer anderen Welt auftauchen. Bevor sie antworten konnte, geschah etwas Seltsames: Das Pferd trabte blitzschnell ans Gatter und schnaubte scharf. Charlene und ihre Freundinnen traten automatisch einen Schritt zurück und starrten überrascht auf das Pferd. Nur Leo war stehen geblieben. Unwillkürlich streckte sie ihre Hand aus. Doch das Pferd machte eine schnelle Wendung und trabte ans andere Ende der Koppel zurück.

»Ist das das Pferd vom Blankewitz?«, fragte Bibi.

»Glaube schon«, sagte Tessa.

Charlene lachte hochmütig. »Na, dann würde es super zu unserer lahmen Eisprinzessin passen!«

Leo war viel zu verwirrt, um wütend zu werden oder etwas zu erwidern. Charlene und ihre Freundinnen spazierten plappernd Richtung Stall. Sie hatten ihren Auftritt gehabt. Bea löste sich aus ihrer Erstarrung und zog Leo mit sich fort. Als Leo sich noch einmal umdrehte, sah sie, dass das Pferd ihr aus der Ferne nachschaute.

6. Kapitel

In der folgenden Nacht hatte Leo einen seltsamen Traum: Sie glitt auf ihren Schlittschuhen erst über eine scheinbar endlose Eisfläche, dann durch die Straßen der Stadt, hinaus aufs Land. Es war ein wunderbarer Schwebezustand, der sie bis in ferne Länder führte, nach Afrika, nach Indien, einmal um den ganzen Globus. Doch plötzlich geriet alles in eine fürchterliche Schieflage, und Leo schlitterte über das Eis einem Abgrund entgegen. Es gelang ihr, sich an einem Baum festzuhalten. Da tauchte Frau Dr. Fleischhauer auf. Leo ließ mit der einen Hand den Baum los und streckte sie ihrer ehemaligen Trainerin Hilfe suchend entgegen. Doch diese ging mit einem sonderbaren Lächeln an ihr vorbei und verschwand.

Leo wachte schweißgebadet auf. Dann erinnerte sie sich wieder an den gestrigen Tag. Der Albtraum verblasste. Sie dachte an den sonderbaren Einklang zwischen ihr und dem Pferd, den sie empfunden hatte. Mit geschlossenen Augen versuchte sie, dem Gefühl nachzuspüren. Aber sie bekam es nicht mehr zu fassen. War es doch nur Einbildung gewesen?

Um kurz nach sieben Uhr war sie mit Bea an der Bushaltestelle verabredet. Sie wollten gemeinsam zur Schule fahren.

Bea wartete bereits. Als sie Leo näher kommen sah, nestelte sie eine Zeichnung aus ihrer Tasche. »Für dich!«, sagte sie. Leo erkannte sofort, dass Bea das Pferd von der Koppel gezeichnet hatte. Da waren die schönen Augen, der kleine Punkt auf der Stirn und der Ausdruck ruhiger Kraft, den das Pferd ausstrahlte. Bea hatte alles genau getroffen.

»Habe ich gestern Abend noch für dich gemacht«, sagte Bea. »Als Dankeschön fürs Mitkommen!«

Leo umarmte Bea. Sie wollte sie gar nicht mehr loslassen. Selten hatte sie sich über ein Geschenk mehr gefreut. »Wir können das jederzeit wiederholen«, sagte Leo. Sie hatte nämlich auch schon daran gedacht, dem Hof einen erneuten Besuch abzustatten.

»Wirklich?« Bea klang so ungläubig, als ginge es um eine Reise zum Mond.

Leo grinste. »Vielleicht heute Nachmittag, gleich nach der Schule?«

Bea war sofort einverstanden. Gemeinsam fieberten sie dem Nachmittag entgegen.

Doch als Leo nach Hause kam, zerschlugen sich ihre Pläne. Überraschenderweise wartete ihre Mutter dort auf sie.

»Warum bist du nicht arbeiten? Ist was passiert?«, fragte Leo.

»Nein, es ist nichts. Wir haben nur gleich einen Termin«, erklärte Eva Pollinger und zog sich ihre Jacke an.

»Wegen meinem Bein?«, fragte Leo.

Leos Mutter zögerte mit der Antwort. »Ja, im weitesten Sinne«, erwiderte sie dann.

»Aber ich bin verabredet.« Leo verschränkte die Arme.

»Das hier ist wichtiger«, erklärte ihre Mutter knapp.

Leo blieb nichts anderes übrig, als Bea abzusagen. Schlecht gelaunt stieg sie wenig später zu ihrer Mutter ins Auto, um in die Innenstadt zu fahren. Nachdem sie den Wagen abgestellt hatten, humpelte Leo ihrer Mutter widerwillig hinterher. Ihre Stimmung sank ins Bodenlose, als sie das Schild an der Haustür las, vor der Eva Pollinger stehen geblieben war. »Peter Hartmann, Psychologe« stand dort.

Leo wurde wütend. »Was soll das?«

Leos Mutter drückte auf den Klingelknopf. »Ich dachte, Herr Hartmann könnte dir vielleicht helfen!«

»Bei was genau?« Leo verstand die Welt nicht mehr.

»Du bist die ganze Zeit so bedrückt«, versuchte Eva Pollinger zu erklären. »Und auch Frau Dr. Fleischhauer hat gesagt, dass viele Sportler, die …« Leos Mutter suchte nach den richtigen Worten. »… dass Sportler, die plötzlich nicht mehr erfolgreich sind, Probleme bekommen …«

»Und du meinst, ich habe Probleme?«

»Na ja, um ehrlich zu sein: Du bist extrem muffelig. Und das schon seit geraumer Zeit!«

Leo verdrehte die Augen. »Aber ist das nicht total normal in meiner Situation? Ich kann nicht eislaufen, ich kann nicht mal normal laufen! Wie soll ich mich da gut fühlen?«

Der Türöffner summte. Leos Mutter hielt die Tür auf.

»Jetzt diskutier nicht lange und komm.«

Am Ende der Treppe wartete Herr Hartmann und hielt ihnen die Tür zur Praxis auf. Er war ein mittelalter Mann und fast zwei Meter groß. Eigentlich wirkte er sympathisch, musste Leo zugeben. Auch schien er nicht im Geringsten von Eva Pollinger beeindruckt zu sein, er behandelte sie ganz sachlich. Wenn er nicht Psychologe wäre, wäre er vielleicht sogar ganz nett, dachte Leo.

Er bat Leo und ihre Mutter in ein Zimmer, wo er beiden Platz auf einem Sofa anbot. Er selbst setzte sich auf einen Sessel gegenüber.

»Wir haben ja schon telefoniert«, sagte er zu Leos Mutter. »Ich bin also grob informiert, worum es geht.« Er wandte sich an Leo, die sich demonstrativ gelangweilt auf das Sofa lümmelte. »Erzähl doch am besten selbst etwas über dich.«

Leo verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich sage gar nichts«, verkündete sie.

Zu Leos Überraschung machte sich Herr Hartmann lediglich eine kurze Notiz. »Das ist dein gutes Recht«, sagte er. Dann wandte er sich wieder Leos Mutter zu. »Was erwarten Sie von unserem Gespräch?«, fragte er.

»Ich möchte, dass Leo wieder ein fröhliches Mädchen wird«, sagte Leos Mutter. »Am besten wäre es, wenn sie neue Ziele fände, vielleicht ein neues Hobby …«

Leo horchte auf. »Pferde«, entfuhr es ihr.

Herr Hartmann zog eine Augenbraue hoch. »Pferde also. Da haben wir doch schon was«, sagte er.

»Nein, nein!« Leos Mutter lachte, als hätten die beiden einen guten Witz gemacht. »Sport hat der Arzt verboten! Leo kann froh sein, wenn ihre Kniescheibe wieder ausheilt und sie normal laufen kann! Ich dachte eher an etwas Schulisches. Was mit Naturwissenschaften vielleicht, also etwas Sinnvolles …«

Herr Hartmann schüttelte den Kopf. »Ihre Tochter sagte nichts von Reiten – sondern sie sagte: Pferde. Was spricht Ihrer Meinung nach gegen Pferde?«, erkundigte er sich freundlich.

Leo rappelte sich auf dem Sofa auf. Sie war jetzt ganz Ohr.

»Also, ich weiß nicht …« Leos Mutter suchte angestrengt nach einer Antwort. Sie war vom Gesprächsverlauf offenbar überhaupt nicht begeistert. »Leonie hat überhaupt keine Ahnung von Pferden. Und überhaupt, Sie sehen doch: ihr Bein …«

Herr Hartmann hatte verständnisvoll nickend zugehört. »Frau Pollinger, wie gesagt, es geht ja gar nicht ums Reiten. Schon der Kontakt mit Pferden kann der Seele guttun, sodass es Leo leichterfällt, mit ihrer veränderten Lebenssituation, ihrem Frust und ihrer Enttäuschung umzugehen.«

»Ich könnte mich doch mal auf so einem Pferdehof umgucken, Mama«, schaltete Leo sich ein.

Eva Pollinger sah ratlos von einem zum anderen.

»Wichtig ist allein, dass Leo ihre eigenen Entscheidungen trifft«, erklärte Herr Hartmann. »Mit Ihrer Tochter ist alles in Ordnung.«

Leos Mutter sah aus, als hätte man ihr gerade den Termin für den Weltuntergang mitgeteilt. »Aber ich dachte … der Unfall, die Pubertät …«