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Beschreibung

Lesson Study ist das erste Handbuch im deutschsprachigen Raum, das theoretisch sowie praktisch in die kollaborative Unterrichtsentwicklung und Lernforschung einführt. Die Methode der Lesson Study stammt ursprünglich aus Japan, wo sie seit dem frühen 19. Jahrhundert erfolgreich in allen Bildungsbereichen praktiziert wird. Seit mehreren Jahrzehnten wird Lesson Study weltweit und auch in Europa zunehmend aktiv zur Gestaltung von Lernprozessen eingesetzt. Das Handbuch Lesson Study präsentiert handlungsorientierte und praktische Anleitungen zur Durchführung von Lesson Studies sowie eine Sammlung von beispielhaften Studien aus vielen Fach- und Bildungsbereichen. Somit stellt das Werk einen wertvollen Beitrag zur Verknüpfung von gelebter Theorie und professioneller Praxisforschung dar. Zielgruppe der Publikation sind Lehrkräfte, Forscher/innen und Studierende aus allen Bildungsbereichen.

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Claudia Mewald | Erwin Rauscher (Hrsg.)

Lesson Study

Das Handbuch für kollaborativeUnterrichtsentwicklungund Lernforschung

 

 

 

 

 

© 2019 by Studienverlag Ges.m.b.H., Erlerstraße 10, A-6020 Innsbruck

E-Mail: [email protected]

Internet: www.studienverlag.at

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, Mikrofilm oder in einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-7065-5979-9

Buchgestaltung nach Entwürfen von himmel. Studio für Design und Kommunikation,Innsbruck / Scheffau – www.himmel.co.atSatz: Studienverlag / Maria Strobl – www.gestro.atUmschlag: Kurt TutschekRedaktion: Claudia Mewald, Erwin RauscherLektorat: Carmen Sippl

Dieses Buch erhalten Sie auch in gedruckter Form mit hochwertiger Ausstattung in Ihrer Buchhandlung oder direkt unter www.studienverlag.at

Inhalt

John Elliott: Zum Geleit

Claudia Mewald & Erwin Rauscher: Einleitung

Kapitel 1: Wie? Lesson Study, praktisch

Claudia Mewald: Lesson Study – Definitionen und Grundlagen

Claudia Mewald: Die Beobachtung in der Lesson Study

Roland Knoblauch: Beobachtung und Dokumentation von Lernaktivitäten in der Lesson Study

Claudia Mewald: Das Interview in der Lesson Study

Claudia Mewald: Variationstheorie

Kapitel 2: Warum? Lesson Study, theoretisch

Daniela Rzejak: Zur Wirksamkeit von Lesson Study: Ein systematisches Review empirischer Studien

Kurt Allabauer & Monika Prenner: Lesson Study im Kontext unterschiedlicher didaktischer Modelle zum forschenden Lernen

Hubert Gruber: Einsichten zu Lehren und Lernen durch Bachelorarbeiten mit Lesson Study

Susanne Roßnagl: Lesson Study und Learning Study in der professionellen Unterrichtsentwicklung

Kapitel 3: Was? Lesson Study, konkret

3.1 Studien aus der Primar- und Sekundarstufe

Stefanie Svoboda: PrimarWebQuests im Englischunterricht

Martina Neumüller-Reuscher & Josef Buchner: Parkouring im Bewegungs- und Sportunterricht der Sekundarstufe 1

Sabine Wallner: Turn Taking: Dialogisches Sprechen im Englischunterricht

3.2 Studien aus dem tertiären Bereich

Hubert Gruber: Lesson Study – innovative Wege dialogischer Praxisforschung in Fort- und Weiterbildung

Hubert Gruber: Lesson Study im Schulpraxis-Modell des Studienschwerpunkts „Kulturpädagogik“

Claudia Mewald: Prozesshaftes Schreiben und Peer-Editing im akademischen Schreiben

Anhang (Claudia Mewald)

Planung

Beobachtung

Interview

Bericht

Die Autorinnen und Autoren

Glossar

John Elliott

Zum Geleit

Es kann keine Pädagogik geben, ohne das Lehren als experimentelle Wissenschaft zu betrachten, in der pädagogische Theorien laufend angepasst, überprüft und als Quelle pädagogischer Grundlagen weiterentwickelt werden. Daher ist die Pädagogik eine Wissenschaft des Lehrens und Lernens, in der Lehrkräfte aktiv an der Konstruktion von Wissen teilhaben.

In Verbindung mit einer expliziten Lerntheorie stellt Lesson Study eine solide Grundlage für die Entwicklung einer Wissenschaft des Lehrens und Lernens auf der Basis einer aktiven Praktikerforschung dar. Wenn Lehrkräfte ihren Unterricht und das Lernen ihrer Schüler/innen kollaborativ und aktiv erforschen, sollte dies immer durch die Einbeziehung einer expliziten pädagogischen Theorie geschehen. Theorien bieten der Praktikerforschung nicht nur einen Rahmen, auf dessen Basis pädagogisches Wissen überprüft werden kann, sie stellen auch die Grundlagen für die Weiterentwicklung ihrer pädagogischen Konstrukte durch Lesson Study dar.

Meine Sichtweise von Lesson und Learning Studies unterstützt die Annahme, dass die Einbeziehung expliziter pädagogischer Theorien in die aktive Aktionsforschung von Lehrkräften in ihren Schulklassen „pädagogische Alltagstheorien“ (Bruner, 2007) ablösen und eine systematische und kumulative Entwicklung pädagogischen Wissens (Stenhouse, 1975) fördern kann. Theoriegeleitete Lesson Study schafft Bedingungen, welche Lehrkräfte dabei unterstützen, eine selbstkritische Haltung einzunehmen, das eigene professionelle Wirken dem forschenden Einblick anderer zu öffnen und unter Verwendung eines gemeinsamen Wortschatzes für Konzepte und einer gemeinsamen Syntax für Theorien neue Einsichten über das Lernen und Lernen zu benennen und zu teilen (Stenhouse, 1975). Die Entwicklung solcher Fähigkeiten stellt das Herzstück des pädagogischen Pragmatismus nach John Dewey (1974) dar, welcher professionelle Entwicklung als aktive und reflexive Auseinandersetzung mit konkreten Erlebnissen sieht.

In einer aktiven und reflexiven Auseinandersetzung mit dem Lehren und Lernen erkennt eine kulturell orientierte Entwicklungspsychologie nach Bruner (2007) vier Modelle, welche das Lernen theoretisch durchdringen und dadurch die „pädagogischen Alltagstheorien“ hinterfragen. Diese Modelle können sich sowohl auf das Lernen von Kindern als auch auf jenes von Erwachsenen beziehen, wenngleich sie über die Lernerfahrungen ersterer definiert werden. (1) Im ersten Modell werden Lernende als Imitatoren von Prozessen gesehen, wodurch der Erwerb praktischer Fertigkeiten durch ein „Lehrlingsmodell“ erklärt wird: Novizinnen und Novizen lernen durch die Nachahmung der Praxis erfahrener Expertinnen und Experten. (2) Das zweite Modell schlägt vor, dass Lernen durch didaktische Auseinandersetzung mit grundlegendem Wissen, mit Fakten, Prinzipien und Verhaltensregeln entsteht. Werden diese internalisiert und angewendet, können klare Spezifikationen des erwarteten Wissenserwerbs definiert und der Lernerfolg sowie dessen Überprüfung standardisiert werden. Beide Annahmen sieht Bruner als kritisch und fragwürdig. (3) Das dritte Modell betrachtet die Lernenden als denkende Individuen, die durch einen intersubjektiven Austausch mit ihren Lehrenden und Mitlernenden lernen. Betrachtet man das Lehren in diesem Modell, so ist es unerlässlich, die Perspektive der Lernenden sowie deren vorhandenes Wissen und Denken im Fachbereich, und wie sie dieses erworben haben, zu verstehen und in den Lernprozess miteinzubeziehen. (4) Im vierten Modell werden die Lernenden als Wissende betrachtet, deren „objektives“ Wissen zu organisieren ist. Dieses Modell zielt darauf ab, den Lernenden durch pädagogische Maßnahmen dabei behilflich zu sein, ihr vorhandenes Wissen als Ressource in ihrer eigenen, individuellen Entwicklung durch kreatives Denken einzusetzen.

Die vier Modelle können nach Bruner in den folgenden Dimensionen theoretisch erfasst und begründet werden: (1) Die internalistisch-externalistische Dimension beschreibt das Kontinuum zwischen der älteren externalistischen und der moderneren internalistischen Dimension. Während die externalistische Dimension davon ausgeht, dass Lehrende das Wissen von Lernenden von außen und ohne direkten Bezug auf deren Wissensstand beeinflussen können, nimmt die internalistische Dimension bewusst auf deren Lernintentionen im Lernprozess Rücksicht. Dabei wird bedacht, was die Lernenden ihrer Einschätzung nach bereits können und was sie tatsächlich machen, um zu lernen. (2) In der zweiten, der intersubjektiven-objektivistischen Dimension, wird das erforderliche Ausmaß des „gemeinsamen Verständnisses“ erfasst, welches zwischen pädagogischen Theoretikern und Anwendern vorhanden sein muss, um lernförderliche Voraussetzungen zu schaffen.

Während objektivistische Theorien nicht davon ausgehen, dass Anwender sich auf Augenhöhe mit den Theoretikern positionieren sollten, geht modernes pädagogisches Denken laut Bruner davon aus, dass intersubjektive Aspekte beim Lernen unabdingbar sind.

Modernes pädagogisches Denken sieht die Aufgaben von pädagogischen Theoretikern und Lehrkräften gleichermaßen bedeutsam in der Hilfestellung für Lernende. Diese sollen dabei angeleitet werden, durch metakognitive Kenntnisse ebenso bewusst an ihr Lernen und Denken heranzugehen wie an die Fachinhalte, die sie verstehen wollen.

Betrachtet man Lesson Study, welche das Lernen durch kollaborative Forschung auf der Basis einer Lerntheorie entwickeln will, im Blickwinkel der nach Bruner dominanten „pädagogischen Alltagstheorien“, so bemerkt man, dass zwar alle angesprochen werden, die Lernenden als denkende Individuen jedoch besonders in den Mittelpunkt gestellt werden. Lesson Study tendiert zur internalistischen und intersubjektiven Dimension, ohne jedoch die externalistischen und objektivistischen Aspekte der Pädagogik zu vernachlässigen. Insbesondere kann die fortschrittliche Entwicklung der Variationstheorie (Marton, 2015) als verbindende Abbildung dessen gesehen werden, was Bruner als großes Universum einer pädagogischen Theorie betrachtet.

Persönlich sehe ich die Verknüpfung der lernförderlichen und metakognitiven Theorien von Vygotsky (Vygotsky, 1978) und Bruner mit der Theorie der Variation in einem breit aufgestellten Rahmenmodell als Möglichkeit, die Entwicklung von pädagogischem Wissen auf unterschiedlichen Ebenen der Bildungswelt zu fördern, dieses Wissen zu überprüfen und durch Lesson Study auf einer globalen Ebene weiterzuentwickeln.

Will man längerfristige und nachhaltige Verbesserungen der pädagogischen Praxis erzielen, müssen theoriegeleitete Lesson Studies die Bausteine einer systematisch organisierten pädagogischen Wissensbildung werden.

Bibliografie

Bruner, J. (2007). Folk pedagogies. In B. Moon & J. Leach (eds.), Learners and Pedagogy (pp.4–20). London: Paul Chapman Publishing.

Dewey, J. (1974). Relation of theory to practice in education. In R. Archambault (ed.), John Dewey on Education: Selected Writings (pp.313–338). Chicago, IL and London: University of Chicago Press.

Marton, F. (2015). Necessary Conditions of Learning. New York: Routledge.

Stenhouse, L. (1975). An Introduction to Curriculum Research and Development. London: Heinemann Educational Books.

Vygotsky, L. (1978). Mind in Society. The Development of Higher Psychological Processes. Cambridge, M. A: Harvard University Press.

John Elliott ist Professor Emeritus der University of East Anglia, Norwich, Gründungsmitglied des international anerkannten Centre for Applied Research in Education (CARE) und gefragter Spezialist für Aktionsforschung, Lesson und Learning Study.

Claudia Mewald & Erwin Rauscher

Einleitung

Ein Handbuch, das keines ist

Einst war ein Handbuch ein έγχειρίδιον, ein Buch also, das man in der Hand hält. Geht man heute in die Lesesäle wissenschaftlicher Bibliotheken, so findet man zahllose Handbücher an Größe und Umfang, die man nicht einmal in beiden Händen längere Zeit halten kann. Dafür beanspruchen sie zumeist eine chronologische oder systematische Gliederung. Eine solche findet sich hier nicht. Dafür aber tritt diese Sammlung von Ideen und Hilfen in den Dialog mit der Praxis, den Dialog von pädagogischer Forschung und Klassenzimmer. Und wendet sich an jene, die dort verantwortlich Schule leben und erlebbar machen. Denn Professionalisierung ist nichts Anderes als Praxisweg. Und dieser ist nichts weniger als Gewöhnung und Rezeption, vielmehr tägliches Neuland, permanente Weiterentwicklung, Aktionsforschen am eigenen Tun, kooperierende Reflexion und reflektierende Kooperation, gemeinsames Arbeiten, Kollaboration.

Karl Rahner, einer der ganz Großen der Theologie, hat das Wort vom anonymen Christentum geprägt. Es subsummiert jene Menschen, die außerhalb von Konfession und Institution den Heilswillen Gottes leben, in Nachfolge der Bergpredigt und des Liebesgebots, ohne diese zu kennen. So gibt es auch in den Klassenzimmern und an deren Schulbänken nichts Neues unter der Sonne: Denn seit je her haben am Standort engagierte Lehrpersonen (und selbst solche, die das nicht immer sind) nicht nur punktuell, sondern auch über längere Zeiträume Fachwissen ausgetauscht, sich wechselseitig unterstützt und gemeinsam, in Gruppen oder auch allein ihren Unterricht reflektiert an den realen Erlebnissen, sind von Bedürfnissen ihrer Schüler/innen ausgegangen, wollten optimierte Lerngelegenheiten für diese schaffen, haben Mitverantwortung übernommen und den Blick gezielt auf das Schülerlernen gerichtet.

Forschen ist das Atmen von Bildung. Bildungsluft ein- und auszuatmen, weiterzugeben, mit Sauerstoff anzureichern war und ist bis heute dennoch maßgeblich ein Einsamkeitsszenario, das Team ergibt sich a posteriori, nicht zuletzt häufig an Fragestellungen, die alleine nicht (so leicht) gelöst werden können. Lesson Studies, mit ihren hundertjährigen japanischen Wurzeln, setzen das kleine Team a priori ein, wählen ein allen wichtig (und in vielen Fällen schwierig) erscheinendes Thema aus, bereiten Unterrichtsstunden (die nicht selten Forschungsstunden benannt werden) gemeinsam vor und nach, sammeln Daten zumeist mit den Mitteln der Aktionsforschung, mit Interviews, wechselseitigen Unterrichtsbesuchen, durch Beobachtungen und mitunter auch Tests; sie analysieren und verbessern (etwa durch Wechsel der Lehrperson zum selben Thema) – zyklisch, systematisch, diskursiv, kollaborativ.

Dieser Lernbehelf will darüber berichten, dazu anleiten und darin begleiten: theoriefundiert, praxisbewährt, forschungsorientiert, unterrichtsnah, beispielgebend, anstiftend. Er will ein Handbuch sein, das keines ist, zum gemeinsamen Tragen und dennoch leichter als jedes seiner berühmten Vorgänger.

Warum ein Ziel die Mittel braucht

Ziel des Handbuchs ist es zu zeigen, wie Lesson Study als Methode der kollaborativen Unterrichtsentwicklung und Unterrichtsforschung für Lehrkräfte in allen Phasen ihrer professionellen Entwicklung wirksam werden kann. Des Weiteren soll dargestellt werden, dass die Arbeit mit Lesson Study ebenso als Werkzeug der Schulentwicklung und bei der Gestaltung von bildungsrelevanten Innovationen eingesetzt werden kann.

Die Beiträge in diesem Buch beziehen sich auf beispielhafte Studien, die Ausgangspunkte und Wegweiser für die praktischen, theoretischen und philosophischen Ausführungen zur Lesson Study darstellen. Sie erzählen vom Einsatz der Lesson Study als wissenschaftliche Methode der Entwicklung von Bachelor- und Masterarbeiten sowie über die Wirksamkeit der Methode in der schulpraktischen und berufsfeldbezogenen Aus-, Fort- und Weiterbildung. Außerdem wird berichtet, wie Lesson Study in doppelter Funktion als Maßnahme der Qualitätssicherung bei der Erstellung von Lernmaterialien sowie als Grundlage für die Implementierung kompetenzorientierten Lehrens und Lernens konzipiert wurde und wie konzeptionelle Entwicklungsvorhaben und Konzepte auf der Basis von Lesson Study effektiv in die Praxis umgesetzt werden sollen.

Allen Beiträgen in diesem Handbuch ist gemeinsam, dass sie verbesserte Lernleistungen als Ziel jener Aktivitäten sehen, welche durch kollaborative Planung, Durchführung und Beobachtung von Lernereignissen das Lernen in konkreten Bereichen stets weiterentwickeln wollen. Der Fokus aller Beobachtungen liegt dabei auf den Lernenden und ihren Lernerfahrungen.

Die Autorinnen und Autoren teilen in diesem Buch die Erfahrungen aus ihren Lesson-Study-Projekten. Auf diese Weise will dieses Buch einen Eindruck vermitteln, wie die Prozesse der gemeinschaftlichen Lehrerfahrung und der individuellen Lernentwicklung während der Studien abliefen, und daraus ableiten, wie Lehrkräfte, Schulleiter/innen und Bildungsexpertinnen und -experten ihre Arbeit mit Lesson Study gestalten können. Praktische Vorschläge und Materialien zur Implementierung sollen dabei unterstützend wirksam werden. Theoretische und philosophische Ausführungen sowie forschungsrelevante Befunde zu den Grundlagen der beispielhaften Studien und zu den vorgestellten praktischen Maßnahmen und Materialien wollen den sehr konkreten und praktischen Teil dieses Buches in einen wissenschaftlichen Kontext stellen.

Die Beiträge als summierte Erfahrungen

Dieses Handbuch für kollaborative Unterrichtsentwicklung und Lernforschung sucht Antworten auf die wesentlichen Fragen des forschenden Lernens, indem es die Leser/innen in den Prozess der Lesson Study über drei Fragestellungen einführt:

• Wie kann Lesson Study gelingen?

• Warum gelingt Lesson Study?

• Was kann uns Lesson Study über das Lernen lehren?

Das Handbuch fokussiert dabei gleichzeitig die Gewinnung von interessanten Erkenntnissen in den Phasen der Entwicklung von Forschungsinteressen und Forschungsergebnissen (Was?), die Wahl und Ausführung der Forschungsdesigns (Wie?) sowie die Entwicklung begründeter Entscheidungsprozesse in kollaborativer Zusammenarbeit mit einem Team, welches theoriegeleitete und reflektierte Grundlagen für die Gestaltung von Lehr- und Lernprozessen sucht (Warum?).

Im ersten Kapitel, das sich mit dem Wie? beschäftigt, gibt Claudia Mewald einen Überblick über die Definitionen, Grundlagen und Methoden zum Forschungsansatz. Der erste Beitrag beschäftigt sich mit Forschungsstunden, Lernzielen, Wissenspartnern, Reflexionsgesprächen und mit der Stimme der Lernenden, welche Lesson Study nahe an das Unterrichtsgeschehen heranführen und jede Lesson Study intensiv und direkt am Unterrichtsergebnis, dem Lernen der Schüler/innen, anlegen. Der Aufsatz fokussiert die Leser/innen auf die wesentliche Bedeutung des Lernens in der Lesson Study, was sie zur Forschung für das Lernen sowie zum natürlichen Bestandteil einer förderlichen Lernumgebung macht.

Im zweiten Beitrag steht die Beobachtung in der Lesson Study im Mittelpunkt. Gemeinsam mit dem Aufsatz von Roland Knoblauch stellt Claudia Mewald die große Bedeutung dieser Methode der Datensammlung bei der Generation von Wissen über das Lernen durch Lesson Study dar. Ein weiterer Beitrag in diesem Kapitel beschäftigt sich mit dem Interview und bildet damit die dritte Datenquelle im Prozess einer Lesson Study ab: die Stimme der Lernenden. In Triangulation mit den Erkenntnissen aus Beobachtungen bilden Interviews und Reflexionsgespräche wesentliche Entscheidungsgrundlagen für Unterrichts- und Schulentwicklung mit den Lernenden und deren Lernen, welche Ausgangspunkt und Ziel dieses Forschungsansatzes sind.

Beobachtung und Dokumentation von Lernaktivitäten in der Lesson Study stehen im Mittelpunkt des Beitrags von Roland Knoblauch. Er beschreibt den Charme von Lesson Study mit dem Perspektivenwechsel in der Reflexion und im professionellen Dialog über Unterricht von der Lehrperson und deren Weiterentwicklung hin zur Wirksamkeit des Lehrens und auf das Lernen. Diese Fokusverschiebung vom Lehrenden zum Lernenden bzw. von der Choreographie des Unterrichts zur Wirksamkeit des Lehrens auf das Lernen ist für Roland Knoblauch eine faszinierende Perspektivenänderung, welche neue Erkenntnisse eröffnet.

Der Beitrag stellt theoretisch und praktisch dar, wie mithilfe von Beobachtungen das Lernen der Schüler/innen besser verstanden und wie Handlungsoptionen für die Weiterentwicklung des Lehrens und Lernens im professionellen Dialog entwickelt werden können. Mit einem Plädoyer für die Offenheit in der qualitativen Forschung stellt Roland Knoblauch die Beobachtbarkeit komplexer Systeme in den Mittelpunkt seiner Ausführungen und einen spannenden Kontrapunkt zu den Grenzen kriteriengeleiteter Beobachtungsformate her. Er schlägt vor, das Potenzial narrativer Formen der Beobachtung zu nutzen und die offene pädagogische Beobachtung als reflexives Verfahren, welches das Verstehen des Beobachteten und das Selbstverstehen des Beobachtenden miteinander verbindet, sowie systematische Distanzierung einzusetzen. Ein ausführliches Anwendungsbeispiel macht diesen Beitrag besonders wertvoll. Es öffnet den Blick auf die Lerner/innen und die Wirksamkeit des Lehrens. Roland Knoblauch schließt mit der Feststellung, dass die Beobachtung der Lerner/innen helfen kann, ihr Lernen besser zu verstehen, um Möglichkeiten der Förderung des Lernens und der Weiterentwicklung des Lehrens zu erschließen.

Mit ihren Ausführungen zur Variationstheorie stellt Claudia Mewald im vierten Beitrag dieses Kapitels kurz jene Lerntheorie vor, die der Entwicklung der Learning Study zugrunde liegt, aber auch in der Lesson Study zum Einsatz kommen kann. Ausgehend von der Phänomenographie, welche zur Erfassung von Lernerperspektiven im Kontext didaktischer Fragestellungen in den 1970er-Jahren entwickelt wurde, erklärt der Beitrag sowohl den Hintergrund als auch einige praktische Anwendungsformen dieser Lerntheorie.

Das zweite Kapitel stellt das Warum? in den Mittelpunkt. Es führt zuerst in die Metaanalyse, welche der Beitrag von Daniela Rzejak fokussiert. Ihr systematisches Review beschäftigt sich mit Merkmalen von Lehrpersonen, deren Unterricht und professionelle Kompetenz. Ausgehend von der Annahme, dass die Professionalisierung von Lehrpersonen eine wichtige Steuergröße der Bildungsqualität darstellt, wird die in neun ausgewählten Studien beschriebene Wirksamkeit von Lesson Study auf der Basis eines Modells aus der Evaluationsforschung evaluiert. In der empiriebasierten Diskussion über Lesson Study als Professionalisierungskonzept werden Befunde zur Wirksamkeit von Lesson Study sowie deren Grenzen und Limitationen dargestellt. Daniela Rzejak schließt mit der Feststellung, dass für die empirische Befundlage zur Wirksamkeit und Nachhaltigkeit von Lesson Study zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Bandes noch vergleichbare Daten fehlen. Sie schlägt vor, diese über die Stärkung der forschungsmethodischen Expertise von angehenden Lehrpersonen und eine intensive Zusammenarbeit von Schulen und Forschungsinstitutionen zu generieren. Zusätzlich wären ergänzende Interventionsstudien notwendig, um die Wirksamkeit von Lesson Study mit belastbarem Design darstellen zu können.

Im zweiten Beitrag dieses Kapitels stellen Kurt Allabauer und Monika Prenner theoretische Zugänge zum forschenden Lernen dar. Damit leiten sie die Diskussion zur theoriegeleiteten Lesson Study ein.

Kurt Allabauer und Monika Prenner gehen in ihrem Beitrag davon aus, dass in Lerngemeinschaften zum forschenden Lernen im Bereich der schulpraktischen Studien oft Lernsequenzen bzw. Lernarrangements simuliert und anschließend interpretiert und ausgewertet werden. Auf der Basis von Feedback und Analysen sollen Strategien weiterentwickelt und in neuen Interventionszyklen untersucht werden. Der Fokus der Reflexion liegt dabei auf der Entwicklung des praktischen Wissens und der Erprobung von geeigneten didaktischen Mitteln zur Gestaltung möglichst effektiver Lernumgebungen. Im Beitrag werden theoretische Zugänge zum forschenden Lernen exemplarisch dargestellt. Ausgehend von der subjektwissenschaftlichen Lerntheorie, der Selbstbestimmungstheorie sowie der Theorie der Mathetik werden Methoden des forschenden Lernens wie z. B. Lernlabore, Inquiry Learning oder der Verstehensweg vorgestellt. Kurt Allabauer und Monika Prenner schlagen abschließend vor, dass diese Methoden aus subjektwissenschaftlicher Perspektive im Rahmen der Durchführung von Lesson Studies sinnvoll eingesetzt werden können.

Hubert Gruber stellt in seinem Beitrag Einsichten zum Lehren und Lernen durch Bachelorarbeiten mit Lesson Study vor. Er beschäftigt sich mit den Erkenntnisprozessen in Lesson-Study-Gruppen, in denen die Entwicklung von wissenschaftlichen Arbeiten im Mittelpunkt des Interesses steht. Dabei zeigt er auf, dass die Zahl von zwei bis drei Personen ausreichend und sinnvoll ist, um mit Lesson Study Keim- und Kernzellen für effektive Praxisforschungsgruppen zu bilden. Der Beitrag legt klar, wie die Kernzelle als kooperativ agierende Gruppe die für eine Lesson Study wesentlichen und notwendigen Handlungen setzt und als Keimzelle intendierte Unterrichts- und Schulentwicklung im Laufe der zyklischen Prozesse sowie im Fluss der sich immer wieder ändernden Lernprozesse wachsen lässt. Hubert Gruber beschreibt, wie Prozesse des Lernens und Lehrens mit Lesson Study in seinen Teilen und als Ganzes erfasst und verstanden werden. Dabei stellt er schulische und universitäre Lernorte vor, in denen Üben, Lernen, Schärfen und Vertiefen in einer differenzierten Art und Weise kollaborativ gelingen können. Dabei ist eine Zusammenschau in der Wahrnehmung des Ganzen und seiner Teile wesentlich, um in der Arbeit mit den Lernenden, ähnlich wie bei jener mit Musikern und Musikerinnen eines Orchesters, Freude am gemeinsamen Tun im Voneinander-Lernen sowie erfolgreiche und befriedigende Konzert- oder Lernerlebnisse und Ergebnisse zu erreichen.

Susanne Roßnagl fokussiert abschließend in ihrem Beitrag historische sowie theoretische Aspekte von Lesson Study und Learning Study in der professionellen Unterrichtsentwicklung. Dabei werden die kollegiale Hospitation, professionelle Lerngemeinschaften sowie die Evaluation von Unterricht umrissen und mit der Professionalisierung von Lehrkräften über das pädagogische Professionalisierungskonzept EPIK (Entwicklung von Professionalität im internationalen Kontext) in Zusammenhang gebracht.

Das dritte und letzte Kapitel führt die Leser/innen zur Frage nach dem Was? und damit in die konkrete Welt der Lesson Study. Es stellt anhand von exemplarischen Beispielen dar, was uns Lesson Study über das Lernen lehren kann.

Stefanie Svoboda präsentiert eine Lesson Study, die über den Einsatz einer PrimarWebQuests im Englischunterricht berichtet. Sie zeigt die Lernerfolge von Schülern und Schülerinnen einer vierten Klasse der Primarstufe durch autonomes, kooperatives und kognitives Lernen mit dieser computergestützten Methode.

Martina Neumüller-Reuscher und Josef Buchner zeigen durch ihre Lesson Study, wie das Zeitmanagement im Parkouring den Lernerfolg koordinativer Fähigkeiten und differenzierterer Bewegungsstationen beeinflusst und wie koordinative Fähigkeiten und die Motivation durch gezielte Unterrichtsmaßnahmen und Lernvideos gefördert werden können.

Sabine Wallner stellt in einer Lesson Study dar, wie Lernprozesse im Englischunterricht der Sekundarstufe 1 sichtbar gemacht werden können. Zyklischen Wiederholungen von unterschiedlichen Turn-Taking-Phasen und verschiedene Variationsformen des Sprecherwechsels führen in der gemeinsamen Reflexion über die beobachteten Lernprozesse zur Erkenntnis, dass das Ende einer Lesson Study gleichzeitig den Beginn neuer Impulse für weiteres Lehren und Lernen darstellt.

Huber Gruber zeigt innovative Wege dialogischer Praxisforschung in Fort- und Weiterbildung. In seinem Beitrag stellt er dar, wie Lesson Study als neue Form der Fort- und Weiterbildung in einem größeren Team funktioniert und wie die Förderung professioneller Lerngemeinschaften in Schulen nachhaltig initiiert und vorangetrieben werden kann. Die Bedeutung dialogischer Prozesse stehen dabei ebenso im Blickfeld wie das vielschichtige Wechselspiel zwischen der Beziehungs- und der Inhaltsebene in professionellen Lerngemeinschaften.

Huber Gruber berichtet zudem über eine Lesson Study im Schulpraxismodell des Studienschwerpunkts „Kulturpädagogik“, welches in Zusammenarbeit mit Heidelinde Balzarek entstanden ist. Neben der organisatorischen Entwicklung der Lesson Study zeigt der Beitrag auf, wie die kollaborative Zusammenarbeit der Studierenden mit ihren Mentoren und Mentorinnen die viel diskutierte Asymmetrie in Bezug auf Status, Macht und Erfahrung in tertiären Bildungsprozessen auflöst.

Claudia Mewald schließt den Band mit einer Lesson Study zum prozesshaften Schreiben in der Ausbildung von Lehrkräften der Sekundarstufe. Der Beitrag berichtet über die Auswirkungen des Peer-Editing auf das Lernen im Bereich der fachlichen Inhalte, der Sprachkompetenz und des pädagogischen Inhaltswissens in drei Kursen der Anglistik.

Baden, im Sommer 2018

Kapitel 1: Wie?Lesson Study, praktisch

Claudia Mewald

Lesson Study – Definitionen und Grundlagen

In diesem Abschnitt werden wichtige Begriffe aus dem Bereich der Lesson Study erklärt und Grundlagen für die Durchführung von Lesson Study erläutert. Wichtige Begriffe, die kursiv gedruckt sind, finden sich auch im Glossar. Weiterführende Literatur und nützliche Internetquellen: https://www.ph-noe.ac.at/lessonstudy/

1. Definitionen

Lesson Study ist eine Form der kollaborativen Unterrichtsforschung, deren Ursprung in japanischen Primarschulen zu finden ist, wo sie jugyō kenkyū genannt wird. Im Zentrum jeder Lesson Study steht das Lernen der Schüler/innen, welches durch die Zusammenarbeit eines Teams von Lehrkräften möglichst effektiv gefördert werden soll. Indem Lesson Study das Augenmerk auf das Lernen legt, wird sie zur Forschung für das Lernen und gleichzeitig zum natürlichen Bestandteil einer förderlichen Lernumgebung. Kein anderer Forschungsansatz ist so nahe am Unterrichtsgeschehen und so intensiv und direkt am Unterrichtsergebnis, dem Lernen der Schüler/innen, angelegt. Die Stimme der Lernenden ist aus diesem Grund in jeder Lesson Study ein feststehender Bestandteil des Entscheidungsfindungsprozesses, denn die Lernenden sind durch ihr Handeln beim Lernen und ihr Feedback über ihr Lernen aktiv am Forschungsprozess beteiligt. Dadurch wird möglich gemacht, dass sie vom Prozess profitieren und dass ihre Lernerfahrungen auf der Basis ihres Verhaltens sowie ihrer Berichte förderlich verändert werden können.

Im Rahmen einer Lesson Study arbeiten Lehrkräfte in kleinen Gruppen gemeinsam mit einem oder mehreren Wissenspartnern an einer Unterrichtseinheit oder einer ganzen Unterrichtssequenz, die Forschungsstunde genannt wird. Jede Forschungsstunde widmet sich zumindest einem konkreten Aspekt des Lernens. In der Gruppe werden Lernziele diskutiert, praktische Unterrichtsideen gesammelt und es wird eine gemeinsame Planung erstellt.

Abb. 1: Lehrkräfte und Wissenspartner planen Forschungsstunden kollaborativ

Die Gruppe legt im Rahmen der gemeinsamen Planung auch fest, wer den Unterricht durchführen wird und welche Personen das Lernen konkreter Schüler/innen beobachten werden. Nach dem Unterricht werden möglichst zeitnah kurze Interviews mit den beobachteten Schülerinnen und Schülern über ihre Lernerfahrungen durchgeführt.

Abb. 2: Eine Lehrkraft unterrichtet, andere beobachten und befragen ausgewählte Schüler/innen

Alle Beobachtungen und das Feedback der Schüler/innen fließen in ein Reflexionsgespräch ein, welches die Gruppe anschließend hält. In diesem Gespräch werden alle Beobachtungen, Informationen aus Interviews sowie die persönlichen Eindrücke der Lehrkräfte durch Triangulation in Verbindung gebracht. Außerdem werden Überlegungen angestellt, wie das Lernen zu unterstützen oder zu verändern wäre, um die geplanten Ziele zu erreichen.

Abb. 3: Reflexionsgespräch

Meistens folgen ein bis zwei weitere Zyklen (Forschungsstunden, Beobachtungen, Interviews und Reflexionsgespräche), bevor die Ergebnisse einer Lesson Study zusammengefasst und anderen Lehrkräften zugänglich gemacht werden. Das Teilen von Erkenntnissen und Entwicklungen durch Lesson Study kann im kleinen Rahmen in Form von Fachkonferenzen bis hin zu Publikationen oder öffentlichen Forschungsstunden erfolgen. Jede Form des Teilens spielt eine wichtige Rolle im Rahmen einer Studie, weil möglichst viele Lehrkräfte von den Erfahrungen ihrer Kolleginnen und Kollegen durch Lesson Study profitieren können sollten.

2. Organisation

Lesson Study kann in einzelnen Schulen, auf regionaler, nationaler oder internationaler Ebene organisiert werden. Je nach Organisationsform werden sich die Ziele der Lesson Study unterscheiden.

Abb. 4: Organisationsformen

Einzelne Schulen orientieren ihre Forschungsschwerpunkte meistens an spezifischen Inhalten, Fertigkeiten oder Kompetenzbereichen, die vermittelt und gefördert werden sollen. Größere Netzwerke haben hingegen generell weiter gefasste Ziele. Schwerpunkte können fachspezifisch angelegt werden, fächerübergreifend wirken oder im Bereich des überfachlichen Lernens liegen.

Beispiele für Schwerpunkte/Forschungsziele

fachspezifisch

fächerübergreifend

überfachlich

Zusammenhänge zwischen bestimmten mathematischen Operationen und dem täglichen Leben erkennen

Mathematische Prozesse und Ergebnisse in lebensweltlicher Sprache darstellen

Vorschläge für Lösungswege klar ausdrücken und begründen sowie die Ideen anderer akzeptieren und wertschätzen

Sachtexte verfassen und dabei definierte fachliche sowie sprachliche Lernzuwächse erzielen

In Projektarbeit verfasste Texte illustrieren und präsentieren

Mitschüler/innen zu Wort kommen lassen sowie Feedback höflich formulieren und annehmen können

Zusammenhänge zwischen Klima und Naturkatastrophen kennen

Konzepte zur Verbesserung des ökologischen Zustandes der eigenen Lebenswelt mündlich präsentieren

Ökologische Schulräume entwickeln

Tierkörper und Volumina wahrnehmen, grafische und plastische Gestaltungstechniken anwenden und Körper-Raum-Probleme lösen

Sinnliche Erfahrungen und intensive grafische und plastische Auseinandersetzung mit dem persönlichen Lieblingstier des Waldes in eine szenische oder narrative Darstellung übertragen

Gesprächs- und Reflexionsanlässe durch vergleichende Beschreibungen mit Kunstwerken (z. B. Alberto Giacomettis Bronzefiguren) wahrnehmen

Ein Werk der Kinder- oder Jugendliteratur sinnerfassend lesen und präsentieren

Ein Werk der Kinder- oder Jugendliteratur als Theaterstück adaptieren und aufführen

Aufgaben in einem Theaterprojekt wahrnehmen, ihre Bedeutung im Entstehen des Ganzen erkennen und kritisches sowie wertschätzendes Feedback geben und annehmen

Tab. 1: Schwerpunkte und Forschungsziele

Wollen Schulen an größeren Themenbereichen arbeiten, können mehrere Lesson Studies zu einem Forschungsschwerpunkt auf unterschiedlichen Schulstufen durchgeführt werden.

Eine beliebte Form des Teilens von Erkenntnissen und Entwicklungen durch Lesson Study sind offene Schul- und Klassentüren (Open Classrooms) und das Vorstellen von öffentlichen Forschungsstunden, die von zahlreichen Lehrkräften, oft aus einem oder mehreren Schulbezirken, besucht werden können. Dadurch werden Lesson Studies aus einzelnen Schulen zu Professionalisierungsangeboten für ganze Regionen.

In Japan wird Lesson Study auch auf nationaler Ebene von enthusiastischen und erfahrenen Lehrkräften durchgeführt. Deren Forschungsstunden werden meist im Rahmen großer Konferenzen gezeigt. Oft werden dabei aktuelle Entwicklungen oder neue Lehr- und Lernformen präsentiert.

Abb. 5: Open Classroom at Khookham Pittayasan School (Inprasitha, 2015)

Egal wie groß oder klein eine Lesson Study konzipiert ist, die beteiligten Lehrkräfte können jederzeit Fachkräfte zur kollaborativen Forschungsarbeit einladen. Diese Wissenspartner unterstützen die Lesson-Study-Teams bei ihren Planungen und gegebenenfalls auch bei der Durchführung von Unterricht sowie bei der Analyse von Beobachtungen und Interviews (Lesson Study Bericht: siehe Anhang und Website). Sie bringen immer dort ihr Fachwissen gezielt ein, wo es von den Lehrkräften für wichtig erachtet wird. Zusammen wird an einem gemeinsamen Verständnis zum Lerngegenstand gearbeitet, und theoretische Grundlagen für das Lernen werden kollaborativ erkundet. Jeder Lesson Study liegt daher ein gemeinsames Verständnis zu einer konkreten Lerntheorie zugrunde.

Abb. 6: Wissenspartner arbeiten mit Lehrkräften an Forschungsstunden

Manchmal kommen Wissenspartner aus der eigenen oder aus Partnerschulen, die an der Lesson Study beteiligt sind. So wird durch Lesson Study vorhandenes Wissen im Kollegium gezielt geteilt, lernförderlich weiterentwickelt und multipliziert. Gibt es keine internen Wissenspartner, die an der Lesson Study mitwirken wollen, können Schulleitungen über Institutionen der Lehrerbildung bei der Vermittlung von Wissenspartnern behilflich sein.

Eine Lesson Study umfasst, ähnlich der Aktionsforschung (Elliott, 2007; Elliott, 2012), meistens mehrere Zyklen (siehe Abb. 7).

Abb. 7: Lesson Study im Überblick

Wissenspartner können in jeder Phase des zyklischen Forschungsablaufs mitarbeiten und bringen vor allem bei der Planung der Forschungsstunden ihr fachspezifisches Wissen ein. Sie sorgen dafür, dass der Fokus auf das Lernen und die Lerntheorie nie verloren geht. Dabei kollaborieren sie mit den Lehrkräften, die den Wissensstand, die Lernvoraussetzungen und Bereitschaft der Schüler/innen kennen. Die Lehrkräfte legen gemeinsam mit den Wissenspartnern die Lernziele fest und entwickeln die Beschreibung der erwarteten Lernergebnisse (Deskriptoren), insbesondere in Hinblick auf die Fallschüler/innen, die beobachtet werden sollen. Sie dokumentieren ihr Lerndesign vor der Forschungsstunde und integrieren nach der Implementierung ihre Aufzeichnungen aus den Beobachtungen. Dies geschieht noch vor den Reflexionsgesprächen, in denen auf die Aufzeichnungen zurückgegriffen werden kann. Ebenso werden Informationen aus den Interviews mit den Fallschülern und Fallschülerinnen möglichst vor den gemeinsamen Gesprächen dokumentiert.

Manche Forschungsfragen sind offen und das Lernverhalten der Schüler/innen kann weder auf kognitiver noch auf sozialer Ebene vorhergesagt werden. In solchen Fällen werden die Lerndesigns dennoch kollaborativ geplant, die Beobachtungen jedoch offen und ohne gezielten Fokus auf konkrete Performanzen belassen. Interviewfragen werden spontan oder nach kurzer Besprechung der Lehrkräfte und Wissenspartner formuliert.

Diese Triangulation von Daten aus unterschiedlichen Quellen und Perspektiven aus Beobachtungen und Interviews ist der Glaubwürdigkeit und Nachvollziehbarkeit der Forschungsergebnisse zuträglich.

3. Planung

Die Planung einer Forschungsstunde stützt sich auf zwei Orientierungspunkte: die curricularen Vorgaben und die spezifischen Lernbedürfnisse der Gruppe der Schüler/innen. Das große Ziel einer Lesson Study ist beiden Orientierungspunkten übergeordnet und unterstützt mit einem entsprechenden Weitblick dabei, die aufbauenden Lernziele auf die lebensweltlichen Aspekte des großen Ziels zu fokussieren. Lernziele werden als Meilensteine auf dem Weg zum großen Ziel betrachtet und als Kann-Beschreibungen formuliert. Ausgehend vom Kernziel, welches jenes Lernergebnis beschreibt, das von den meisten Lernenden erzielt werden soll und den curricularen Erwartungen entspricht, werden auch jene Ziele formuliert, die auf dem Weg zum Kernziel erreicht werden. Ebenso wird jenes Lernergebnis beschrieben, das eine Erfüllung über das Kernziel hinaus darstellen würde.

Diese Abstufung ist sinnvoll, weil eine klare Darstellung des antizipierten Lernprozesses bei der Detailplanung hilfreich ist. In Systemen, wo neben der verbalen Beschreibung zur Erfüllung von Lernergebnissen auch Aussagen in Form von Ziffernnoten gemacht werden sollen oder müssen, ist diese Abstufung außerdem bei der Beschreibung der Erfolgskriterien hilfreich.

Eine Planung könnte folgendermaßen beginnen:

Nachdem der Titel für die Lesson Study gewählt und das große Ziel grob umrissen wurden, können die Kompetenzen, die im privaten, schulischen oder beruflichen Leben der Lernenden bedeutsam sind oder sein werden, in Verbindung mit Funktionen, Fertigkeiten oder Strategien beschrieben werden. Zu Beginn der Planung stehen die Kernziele im Mittelpunkt.

Abb. 8: Entwicklung von Zielen in einer Lesson Study

Nach der Grobplanung werden unterschiedliche Erfüllungsgrade der Kernziele festgelegt. Mit dem Fokus auf drei bis vier Fallschüler/innen werden die abgestuften Ziele für eine Forschungsstunde in Hinblick auf die erwarteten Lernprozesse so ausformuliert, dass diese die Vorkenntnisse und die Lernvoraussetzungen der Lernenden berücksichtigen. Nachdem für Lesson Studies Lernende meistens dahingehend ausgewählt werden, dass sie typische Fälle aus unterschiedlichen Leistungsbereichen darstellen, geben die in Abb. 9 abgebildeten abgestuften Lernziele ein fiktives Beispiel für ein Kernziel, ein komplexeres und ein einfacheres Ziel.

Abb. 9: Abgestufte Ziele in einer Lesson Study

Ist die Zielkompetenz nicht ursprünglich handlungsorientiert, macht es Sinn, diese als Performanzbeschreibung auszuformulieren. So könnte die Kompetenz „in authentischen Texten durch Skimmen, Scannen oder selektives Zuhören interessante Inhalte erkennen und durch detailliertes Lesen oder zielgerichtetes Zuhören konkrete Informationen entnehmen können“ folgendermaßen als Performanz in der oben beschriebenen Fallstudie lauten: „Findet auf der Homepage des London Eye spezielle Angebote für Schulen, wählt ein interessantes Programm aus, notiert Preise sowie Zeiten für die Tour; kennt Details zur Anfahrt.“

Im Vergleich zur erreichten Performanz, die im Beobachtungsbogen dokumentiert wird, kann man den Lernprozess genau nachvollziehen. Allerdings ist neben der Dokumentation des erwarteten Verhaltens die Aufzeichnung unerwarteter Verhaltensweisen bedeutsam. Oft werden insbesondere aus den unerwarteten Beobachtungen wertvolle Informationen über das Lernen oder über Barrieren beim Lernen gewonnen.

Soll durch eine Lesson Study ein Lernbereich untersucht werden, der neu oder wenig bekannt ist, ist eine offene Herangehensweise zumindest in den ersten Zyklen erforderlich. Konkrete Ziele oder erwartete Performanzen können nicht vorab beschrieben werden. Vielmehr sollen sich Beobachtungsschwerpunkte aus dem Lernprozess entwickeln, was ein exploratives Vorgehen begründet.1

Sind erwartete Kompetenzen und Performanzen festgelegt, kann das Planungsteam den Ablauf der Forschungsstudie entwickeln. Methoden, Aktivitäten und Materialien werden gezielt ausgewählt, um die erwarteten Ziele möglich zu machen. Wie die Lernenden im Vergleich zur Erwartungshaltung agieren, stellt sich während der Beobachtung heraus. Anschließende Interviews geben zusätzlichen Einblick in die Lernerfahrungen der Schüler/innen.

4. Triangulation

Unter Triangulation wird in der qualitativen Forschung „die Kombination von Methodologien bei der Untersuchung desselben Phänomens“ (Denzin, 1978, S. 291, Übersetzung C. M.) bezeichnet. Diese Herangehensweise ist erforderlich, um eine glaubwürdige und sorgfältige Erfassung eines Forschungsgegenstandes zu ermöglichen. Durch die Kombination verschiedener Methoden soll es gelingen, „unterschiedliche Perspektiven zu verbinden und möglichst unterschiedliche Aspekte des untersuchten Gegenstandes zu thematisieren“ (Flick, 1995, S.433).

Der Triangulation liegt der Gedanke zugrunde, dass in der qualitativen Forschung jedes Problem aus so vielen Perspektiven wie möglich betrachtet werden muss, um verlässliche Einschätzungen vornehmen zu können. Dabei sind vier Methoden der Triangulation möglich:

a) Bei der Datentriangulation werden Daten unterschiedlicher Art gesammelt. Die Datensammlung kann eine zeitliche, örtliche oder personelle Variation vorsehen und dadurch bereits bei der Auswahl der Stichprobe die Variabilität sozialer Phänomene ins Kalkül ziehen. Bei der Lesson Study ist die zeitliche Datentriangulation durch die Durchführung mehrerer Zyklen gegeben. Die personelle und örtliche Variation ergibt sich durch die Durchführung der Forschungsstunde mit unterschiedlichen Schülergruppen. Wird eine Fortsetzung statt der Wiederholung einer Forschungsstunde gewählt, ergibt sich die personelle Variation durch den Wechsel der Fallschüler/innen.

b) Bei der Beobachtertriangulation sind verschiedene Beobachter/innen bei der Datenerhebung aktiv beteiligt, um eine Verzerrung der Ergebnisse durch einseitige Wahrnehmung zu verhindern. Gleichzeitig ist die Beobachtertriangulation bei der Lesson Study bedeutsam, um die unterschiedlichen Perspektiven in Hinblick auf das Lernen unterschiedlicher Fallschüler/innen erfassen zu können.

c) Bei der theoretischen Triangulation werden verschiedene Theorien herangezogen, um unterschiedliche Ansätze bei der Entwicklung eines theoretischen Rahmens zu verknüpfen und ein für das Problem möglichst sinnvolles Grundgerüst zu entwickeln, das für die Datenanalyse unerlässlich ist. In der Lesson Study ist der Bezug zu einer Lerntheorie, die dem Lernprozess zugrunde gelegt wird, von großer Wichtigkeit. Wissenspartner arbeiten mit dem Team von Lehrkräften intensiv an diesen theoretischen Modellen, um die gelebte Praxis mit dem theoretischen Fundament gut zu verbinden.

d) Bei der methodischen Triangulation werden nach Denzin (1978) innerhalb oder zwischen Methoden unterschiedliche Kombinationen der Datensammlung und -analyse verwendet. So können zum Beispiel qualitative und quantitative Methoden miteinander kombiniert oder innerhalb einer Methode unterschiedliche Methoden der Analyse verwendet werden. In den letzten Jahren ist die Kombination der Methoden als „Mixed-Methods-Ansatz“ (Creswell, 1999, 2008; Kuckartz, 2014) bekannt geworden. In der Lesson Study hat sich die Learning Study als solche durchgesetzt (Pang & Ling, 2011). Quantitative Daten werden in der Learning Study aus Pre- und Posttests gewonnen. Beobachtung und Interviews sind weiterhin qualitative Elemente in einer Learning Study.

Je öfter unterschiedliche Methoden in einer Lesson Study zum Einsatz kommen, sei es bei der Datensammlung oder bei der Analyse der Daten, umso verlässlicher und glaubwürdiger sind die Ergebnisse, die durch die Triangulation erschlossen werden. Dies unterstreicht die Bedeutung der gezielten Beobachtung durch mehrere Personen und über mehrere Zyklen hinweg sowie die Erfassung der „Stimme der Lernenden“ durch Interviews.

Ebenso bedeutsam ist die gemeinsame Reflexion und die Analyse in Zusammenhang mit Lerntheorien, die zumeist von Wissenspartnern eingebracht werden.

Bibliografie

Creswell, J. W. (1999). Mixed-Method Research. Handbook of Educational Policy, 455–472. doi:10.1016/b978-012174698-8/50045-x

Denzin, N. K. (2017). The Research Act: A Theoretical Introduction to Sociological Methods. London: Routledge.

Elliott, J. (2007). Reflecting Where the Action Is: The Selected Writings of John Elliott (World Library of Educationalists).London and New York: Routledge.

Elliott, J. (2012). Developing a science of teaching through lesson study. International Journal for Lesson and Learning Studies 1 (2), 108–125.

Flick, U. (1995). Handbuch Qualitative Sozialforschung: Grundlagen, Konzepte, Methoden und Anwendungen.Weinheim: Beltz.

Kuckartz, U. (2014). Die Entwicklung der Mixed-Methods-Forschung. Einleitung von John Creswell, University of Nebraska-Lincoln. Mixed Methods, 13–26. doi:10.1007/978-3-531-93267-5_1

Pang, M. F. & Ling, L. M. (2011). Learning study: Helping teachers to use theory, develop professionally, and produce new knowledge to be shared. Instructional Science 40 (3), 589–606. doi:10.1007/s11251-011-9191-4

 

1 Ein Beispiel für ein solches Design wird im Beitrag von Roland Knoblauch in diesem Band detailliert beschrieben.

Claudia Mewald

Die Beobachtung in der Lesson Study

Dieser Abschnitt beschäftigt sich mit der Beobachtung als Datenquelle in der Lesson Study und darüber hinaus mit deren Möglichkeiten als Instrument in der professionellen Ausund Weiterbildung von Lehrkräften. Ziel ist es, einen Überblick zu geben, welche Strategien beim Beobachten angewendet werden und zu welchen Arten von Daten die unterschiedlichen Beobachtungsstrategien führen können.

1. Einleitung

In der professionellen Entwicklung von Pädagoginnen und Pädagogen wird maßgeblich auf reflektiertes Handeln im Sinne von Schöns (1983) Reflective Practitioner aufgebaut. Lehrkräfte sind dem Modell der reflektierenden Praktiker/innen entsprechend in ihrem reflektierten Wirken ständig bestrebt, mehr über das eigene erzieherische Wirken zu erfahren, die Prozesshaftigkeit des Lehrens und Lernens besser kennenzulernen, professionelles Handeln bewusster zu erleben und sich selbst und andere besser zu verstehen (Elliott, 2007; Mewald, 1999, 2001; Schön, 1983).

Die Verbindung zwischen Lehren und Lernen ist komplex und faszinierend, und die meisten Lehrkräfte haben vermutlich schon das dichotome Erscheinungsbild der beiden Prozesse kennengelernt: Während sie lehren, werden sie selbst zu Lernenden. Dabei werden oft jene, die sie unterrichten, zu den Informationsträgern für den Lernprozess der Lehrenden; in manchen Fällen werden die Lernenden sogar selbst zu Lehrenden.

Teaching and learning are no longer exclusive roles; they become the provinces of both performances in the classroom: while the teacher instructs, the teacher learns about what must be done next, and while the learner learns, the student gives instruction about what information is lacking. (Zamel, 1981, S. 149)

Zamel beschreibt hier, was im Unterricht meist unbewusst geschieht und was erfahrene Lehrkräfte scheinbar mühelos bewerkstelligen. Soll dieses parallele Geschehen von Lehren und Lernen offengelegt werden, um durch Reflexion und Bewusstmachen professionelle Entwicklung zu fördern oder konkrete Informationen für die Entwicklung eines Forschungsinteresses zu liefern, muss es zielgerichtet beobachtet und beschrieben werden.

In der Lesson Study nehmen Beobachter/innen eine nicht-teilnehmende Rolle ein. Je nach Beobachtungsabsicht und Situation kann offen oder strukturiert beobachtet werden (offene oder strukturierte Beobachtung). Unabhängig von der Art der Durchführung beruhen Beobachtungen in einem wissenschaftlichen Kontext immer auf zielgerichteten, adäquaten und sorgfältig ausgewählten Methoden der Sammlung und Dokumentation jener Daten, die schließlich Grundlagen für Triangulationen, Analysen und Interpretationen werden (Bortz & Döhring, 2002). In den nächsten Abschnitten soll versucht werden, jene Grundlagen zu beschreiben, die gezielte Beobachtungen in der Lesson Study von alltäglichen, anekdotenhaften und tendenziell subjektiven Beobachtungen unterscheiden.

2. Die Rolle der Beobachter/innen

Am Anfang einer gezielten Beobachtung mit Forschungsabsicht sollten das Bewusstmachen der eigenen Rolle und der damit verbundene individuelle Einfluss auf den Prozess der Beobachtung stehen.

Beobachtungen können in vielen Fällen ein zweckmäßiges Hilfsmittel bei der Reflexion von Situationen, Ereignissen und Entwicklungen darstellen. Sie ermöglichen Datensammlung an authentischen Orten und im jeweiligen Moment des Geschehens. Durch Beobachtungen erhalten Forscher/innen die Möglichkeit zu sehen und zu hören, was in situ passiert, sie müssen sich nicht (nur) auf Berichte aus zweiter Hand verlassen (Becker, 1986; Patton, 1990), die oft schwer verstehen lassen, was außerhalb der bewussten Auffassungswelt von Gesprächspartnern (z. B. Meinungen in Interviews) oder Autoren/Autorinnen passiert. Durch Beobachtungen gewinnen Forscher/innen aber nicht nur Eindrücke davon, was sie beobachten. Sie erlangen auch persönliche Erkenntnisse und greifen auf individuelles Wissen bei der Dokumentation der Beobachtungen zurück. Das macht den Beobachtungsprozess zu einem sehr subjektiven und vielschichtigen Ereignis, dessen inhärenter Dynamik man sich bewusst sein muss, um Eindrücke richtig zu bewerten.

Dabei werden Rollenverhältnisse (wie werden die Beobachter/innen von den zu Beobachtenden gesehen?) und Rollenbewertungen (wie sehen sich die Beobachter/innen selbst?) ebenso zu Variablen möglicher Beeinflussungen des Beobachtungsergebnisses wie die Tatsache, dass der Akt der Beobachtung selbst die Situation und somit das Ergebnis beeinflusst (Hawthorne-Effekt). Schon bei der Auswahl der Themen, der Beobachtungsschwerpunkte und der Beobachtungsmethode stehen persönliche Entscheidungen an, die sich je nach Forschungsinteresse, aber auch der individuellen Dispositionen der Beobachter/innen, deren Persönlichkeit, Erfahrungen, Präferenzen etc. entsprechend unterscheiden. Sich die eigene Befangenheit und Erwartungshaltung bewusst zu machen, diese im Team zu besprechen und kollaborative Beschlüsse möglichst genau in einem Gesprächsprotokoll und persönliche Gedanken in einem Forschungstagebuch zu dokumentieren, macht die Analysen der Beobachtung nicht nur valider, es trägt auch zur Güte der inhärenten Genauigkeit und Nachdrücklichkeit bei, die in der Lesson Study sowie in jeder qualitativen Forschung erwartet wird.

3. Befangenheit und Erwartungshaltungen

Simultan zur Beobachtung und der damit verbundenen Datensammlung haben es die Forscher/innen mit individuellen Denkprozessen zu tun, die entweder sofort als Daten in Form von Memos mit erfasst – was die Beobachtungsaufgabe zusätzlich komplex macht – oder bewusst auf einen späteren Zeitpunkt verschoben werden müssen. Diese Gegebenheit stellt die Forscher/innen als Teil des forschenden Geschehens in den Mittelpunkt und hat zur Folge, dass bei der Planung, Sammlung und Analyse von Daten aus Beobachtungen sorgfältig mit Phänomenen der geringen Planbarkeit des Beobachtungsverlaufs umgegangen werden muss. Dazu gehören: die Befangenheit der Beobachter/innen, deren Subjektivität von Wahrnehmungen sowie die Konstruktion von individuellen Wahrheiten durch die Forscher/innen.

There is not a real world ‘out there‘ and the subjective world ’in here’. The world is not constructed by the learner, nor is it imposed upon her; it is constituted as an internal relation between them. There is only one world, but it is a world that we experience, a world in which we live, a world that is ours. (Marton & Booth, 1997, S. 13)

Beobachter/innen müssen sich deshalb ihrer Rolle und ihres „Anteils“ an den gesammelten Daten bewusst sein und sich selbst als aktiven, gestaltenden Teil im Prozess der Wissensgewinnung durch ihre Forschung sehen. Dabei müssen sie in Betracht ziehen, dass die Produkte ihrer forschenden Tätigkeit keine genauen Beschreibungen von absoluten Wirklichkeiten sein können, sondern vielmehr Produkte übergreifender Abstraktionen sind. Grundsätzlich kann angenommen werden, dass mit dem Grad der Offenheit einer Beobachtung der Abstraktionsgrad und der interpretative Charakter der gesammelten Daten steigen. Dies hat zur Folge, dass Triangulationen der Daten aus Beobachtungen mit anderen an Bedeutung und Wichtigkeit gewinnen, sollen verlässliche Ergebnisse erzielt werden.

Das Bewusstsein, dass die (End-)Produkte letztlich immer Abstraktionen von Zeit, Ort, Geschehen und Akteuren darstellen, kann die Beobachter/innen aber auch von der Zwanghaftigkeit befreien, absolut akkurate Beschreibungen des Geschehens liefern zu wollen oder einen Objektivierungsanspruch zu verfolgen, der durch die natürliche Individualität menschlichen Verhaltens (der Beobachter/innen sowie auch der Beobachteten) kaum zu verwirklichen wäre.

Um Problemen wie zum Beispiel der Subjektivität von Wahrnehmungen entgegenzuwirken, verlassen sich qualitative Forscher/innen daher nie auf nur eine Methode oder Quelle der Datenerhebung alleine, sondern begründen ihre Analysen und Erkenntnisse immer auf mehrere (Daten-)Quellen und Sichtweisen mehrerer Personen, welche im Verlauf der Triangulation durch ständiges Vergleichen als Kategorien und Themen gruppiert und durch ständiges Zurückkehren ins sowie durch Überprüfen im Feld bestätigt, vertieft, modifiziert oder verworfen werden.

Im Vorfeld einer Lesson Study werden sich Beobachter/innen daher ihre Erwartungshaltungen und möglichen Vorurteile in kollaborativen Planungsmeetings bewusstmachen und diese durch Aufzeichnungen im Forschungstagebuch und/oder Lesson-Study-Bericht festhalten. Informationen über die individuelle Sicht des Beobachtungsinhalts, aber auch die zyklische Entwicklung der Beobachtungsstrategien in einem eigenen dynamischen Prozess werden so zu Daten, die mit weiteren Aufzeichnungen über die subjektiven Veränderungen in Wahrnehmung, Auffassung und Bewertung sowie mit Daten aus anderen Quellen (z. B. Interviewdaten) trianguliert werden. Wenngleich in der Darstellung der Daten möglichst zwischen Beobachtung und persönlichen Notizen getrennt wird, darf in der Interpretation und in einer möglichen Theoriebildung auf alle Daten zurückgegriffen werden, weil das Ziel ja nicht die akkurate Beschreibung einer absoluten Wirklichkeit ist (weil diese per se nicht existiert), sondern weil in der Lesson Study das Verstehen und die Konzeptualisierung eines (Lern-)Problems im Vordergrund stehen:

‘All is data’ is a well known Glaser dictum. What does it mean? It means exactly what is going on in the research scene is the data, whatever the source, whether interview, observations, documents, in whatever combination. It is not only what is being told, how it is being told and the conditions of its being told, but also all the data surrounding what is being told. It means what is going on must be figured out exactly what it is to be used for, that is conceptualization, not for accurate description. Data is always as good as far as it goes, and there is always more data to keep correcting the categories with more relevant properties. (Glaser, 2001, S. 145)

Glasers Zitat ist aus der Perspektive der Theoriebildung in der Grounded Theory (Glaser & Strauss, 1967) zu verstehen. Im Kontext der Lesson oder Learning Study sind Generalisierungen und Theoriebildungen oft auch das Ergebnis phänomenografischer Analysemodelle (Akerlind, 2005). Gerade weil qualitative Beobachtung das ganzheitliche Erfassen unter Einbeziehung vieler Details aus unterschiedlichen Datenquellen in den Mittelpunkt stellt und nicht den Anspruch einer genauen Beschreibung der Wirklichkeit („accurate description“) erhebt, ist jedoch das Bemühen um Validität und Reliabilität ein wichtiger Aspekt des forschenden Denkens und Handelns. In der qualitativen Forschung steht dieses Bemühen mit den Begriffen der Glaubwürdigkeit und Genauigkeit in direktem Zusammenhang.

4. Glaubwürdigkeit und Genauigkeit in der Lesson Study

Der traditionellen Begriffswelt folgend hat empirische Forschung valid und reliabel zu sein (Bortz-Döring, 2002, S. 195 ff). Beobachtungen wären dann als valid zu beschreiben, wenn die Art der Beobachtung möglichst effektiv und verlässlich jene Daten zum Vorschein bringt, die sie zu beobachten plant.

So wäre zum Beispiel valid, die aktive, selbst initiierte Mitarbeit von einigen wenigen Schülerinnen und Schülern im Unterricht strukturiert zu beobachten und zu dokumentieren (z. B. ein konkretes sichtbares und messbares Verhaltensmuster zu zählen), um danach Aussagen zu machen, wie oft ein/e Schüler/in von sich aus aktiv zum Unterrichtsgeschehen beigetragen hat.

Die Ergebnisse einer solchen strukturierten Beobachtung wären außerdem als reliabel zu bezeichnen, wenn unter (möglichst) gleichen Voraussetzungen annähernd gleiche Beobachtungsergebnisse erzielt würden. Beobachtet zum Beispiel eine zweite Person dieselben Lerner/innen in derselben Situation und nach denselben Kriterien, so müssten möglichst gleiche Ergebnisse zutage kommen. Solche Daten wären dann reliabel, und nach weiteren Überprüfungen in verschiedenen Situationen könnte sogar behauptet werden, dass das Beobachtungsinstrument bei vergleichbarer Datenlage innerhalb eines kleinen Differenzrahmens verlässlich wäre.

Dieselbe Beobachtungsaufgabe auf eine ganze Klasse umgelegt wäre jedoch für wenige Beobachter/innen ziemlich wahrscheinlich technisch undurchführbar und deshalb wenig valid und reliabel, weil durch die Menge der zu leistenden Aufzeichnungen Beobachtungsfehler entstehen würden.

Validität und Reliabilität könnten jedoch auch in diesem Fall wiederhergestellt werden, wenn man zu einem zusätzlichen Beobachtungsverfahren greift. Man könnte zum Beispiel durch Videoaufzeichnungen eine gesamte Klasse dokumentieren und durch wiederholtes Beobachten die Situation vollinhaltlich erfassen. Bei diesem Verfahren ist jedoch dem Vorteil der Wiederholbarkeit die Tatsache gegenüberzustellen, dass durch die Aufzeichnung die Gesamtsituation meist stark beeinflusst wird, worunter wiederum die Validität leiden kann, weil die normale Unterrichtssituation relativ stark verändert wird.