Lettera - Das letzte Wort - Raphaela Nießen - E-Book

Lettera - Das letzte Wort E-Book

Raphaela Nießen

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Beschreibung

Stell Dir vor, in Deiner Welt gäbe es über Nacht keine Buchstaben mehr. Deine Bücher, Poster, Kalender, einfach alles wäre wortlos. Genauso ergeht es der 10jährigen Kaya, die seit dem mysteriösen Verschwinden ihres Vaters Blauauge, am Rande der Stadt wohnt. Das Einzige, was von den unzähligen Sätzen übrig bleibt, ist ein kleiner Tintensklecks, der sich zu einem Wort formt und Kaya um Hilfe bittet. Lettera, das Land der Buchstaben, Worte und Geschichten, wird durch eine dunkle Königin bedroht. Ihre Wortfresser saugen auch dem letzten Wort die Tinte aus. Kaya steht nun vor der großen Aufgabe, den Hüter des Wortschatzes zu finden und mit seiner Hilfe die Königin zu besiegen.

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Seitenzahl: 295

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Raphaela Nießen lebt voll und ganz in der Realität, liebt es aber Ausflüge in die Phantasie zu machen.

Bei einem ihrer Ausflüge entdeckte sie Lettera, einen magischen Ort, in dem Geschichten sprichwörtlich an einem Baum wachsen. Seither ist sie gut mit den Völkern dieses wunderbaren Landes befreundet, die ihr Leben dem Schöpfen immer neuer Buchstaben, Wörter und Texte gewidmet haben und sie der Autorin gerne zu Verfügung stellen.

Inhaltsverzeichnis

Kaya

Der Leser

Die Magie des Lesens

Der Baum des Lebens

Die dunkle Königin

Die letzte Hoffnung

Lettera

Die Stadt der Wortlosen

Silentio

Die Samin

Die erste Geschichte

Papierschnee

Grimuld

Der Papierberg

Das Schneefangen

Der Verräter

Abschied

Feuerbart

Das Gedächtnis von Lettera

Die Flut

Dragans Entscheidung

Opa Max‘ Geheimnis

Blauauge

Die Macht der Tinte

Die Schlacht der Worte

Das letzte Blatt

Das erste Kapitel

Für meine kleine Tochter Ronja Kaya. Sie lehrte mich auf dem Kopf zu tanzen und trotzdem geradeaus zu gehen.

Kaya

Es begann mit einem leisen Knacken.

Das Knacken wurde lauter, ging über in ein Ächzen und Rauschen.

Kaya blinzelte verschlafen. Was war das? Träumte sie noch?

Doch diese Geräusche passten so überhaupt nicht zu ihrem Traum. Etwas brach endgültig entzwei und fiel mit einem lauten Aufprall zu Boden, ein letztes Rascheln, dann Totenstille.

Kaya setzte sich in ihrem Bett auf. Das war kein Traum, das Geräusch war real. Und sie kannte es. Schon oft hatte sie die Abfolge dieser Geräuschkette gehört, wenn sie mit Mama im kleinen Park hinter dem Hochhaus, in dem sie lebte, spazieren ging.

So klang es, wenn ein Baum gefällt wurde.

Aber um diese Uhrzeit? Es war noch dunkel draußen und als Kaya auf ihren Wecker sah, zeigte die Digitaluhr rot leuchtend 5.20 Uhr an.

Außerdem war es so nahe gewesen, fast, als wäre in ihrem Zimmer ein Baum zu Boden gesunken.

Sie wollte gerade die Bettdecke zurückschlagen und im nachtdunklen Zimmer zum Fenster gehen, um zu überprüfen, ob tatsächlich niemand dort draußen einen Baum fällte, als sie ein leises Wimmern hörte.

Der Klagelaut kam nicht von draußen, der traurige Ton hatte seinen Ursprung neben ihrem Bett. Kaya tastete nach dem Schalter ihrer Nachttischlampe und warf beinahe die kleine Schneekugel um, die dort stand. Sie war ein letztes Geschenk ihres Vaters und daher sehr wertvoll für sie.

Als der Lichtkegel das Zimmer erhellte, sah sie, dass die Schneeflocken im Glas der Schneekugel aufgeregt tanzten.

Zum Glück war die Kugel unversehrt. Dann fiel ihr Blick direkt auf das aufgeschlagene Buch, das neben der Schneekugel auf ihrem Nachttisch lag und in dem sie gestern Abend noch gelesen hatte. Mal wieder viel zu lange, würde Mama sagen, schließlich war am nächsten Tag Schule und sie sollte ausgeschlafen sein und nicht die halbe Nacht ihre Nase in Bücher stecken.

Doch etwas irritierte sie an dem Buch. Etwas war anders als gestern Abend.

Sie betrachtete die blau- türkis schimmernden Schuppen des Drachens und seine rotglühenden Augen auf dem Umschlag des Buches. Opa Max hatte sie in seiner kleinen Druckerei selbst gedruckt, gebunden und den Umschlag so herrlich mit dem Drachen verziert, dass man fast meinen konnte, er sei lebendig.

Sie liebte Drachengeschichten und sofort erinnerte sie sich an die letzten Zeilen, die sie gestern gelesen hatte, bevor Mama das Licht ausgeknipst hatte und sie noch lange im Dunklen mit offenen Augen von dem blauen Drachen träumte.

Worte!

Das war es, was fehlte.

Weder der Titel des Buches, noch der Name des Autors noch sein Verlag standen dort geschrieben. Nur der zu einem großen S geschwungene Drache war abgebildet. Seine Augen bestanden aus zwei dunkelrot glitzernden Glassteinen, die in den Buchdeckel eingelassen waren. Sie drehte das Buch um, doch auch hier fehlte die Inhaltsangabe auf dem Buchrücken.

Verwirrt schlug sie das Buch auf.

Nichts, kein Buchstabe, keine Seitenzahl, kein Inhaltsverzeichnis, die Seiten waren völlig leer.

Dem Buch fehlten sprichwörtlich die Worte Als ihr Blick auf ihr Lieblingsposter fiel, zuckte sie zusammen.

Auch hier war kein Buchstabe mehr zu lesen.

Es war ein Werbeplakat für den neuen Drachenfilm im Kino, das normalerweise die Namen der Schauspieler, sowie der Filmtitel zierte, doch anstelle der geschwungenen Buchstaben sah man nun lediglich einen Filmausschnitt und den dunkelblauen Hintergrund des Posters. Auch ihr Kalender, der an der Wand hing und in den sie ihre Hobbies, Geburtstage von Freunden und Verwandten oder Verabredungen eintrug, war wortlos.

Kaya wollte das Drachenbuch wieder auf den Nachttisch legen, als ihr ein schimmernder, schwarzer Fleck auf dem hellen Holz des Tisches auffiel.

Vorsichtig tunkte sie die Spitze ihres Zeigefingers ein.

Tinte oder flüssige Druckerschwärze!

Sie kannte diesen Geruch nur zu gut!

Genauso duftetet es immer in Opas Druckerei!

Waren dies die Überreste der Sätze aus ihrem Buch?

Was sonst?

Ihren Füller hatte sie schließlich in ihrem Mäppchen aufbewahrt, das sich wiederum im Schulranzen befand. Es konnte also kein Tintenklecks aus ihrem Füller sein.

Kaya verspürte den Impuls das Buch zu schütteln und tatsächlich, ein letztes tintenschwarzes Wort purzelte aus den weißen Seiten und plumpste auf ihre Bettdecke.

Die Buchstaben formten ein Aua Und Kaya musste lachen.

So seltsam die ganze Szene anmutete, so unwirklich, so lebendig wirkte das Wort.

Wie ein kleines Haustier, dass gerade neu in seiner Umgebung ankam und sich verwirrt umblickte, schnupperte und voran tastete.

Na hoffentlich macht es kein Pipi, dachte Kaya und musste schmunzeln.

Ihre Meerschweinchen mussten ständig Pipi und Mama schimpfte jedes Mal, wenn sie vergaß die „Pipidecke“ unterzulegen und den Tieren ein kleines Missgeschick passierte. „Und ich bin wieder diejenige, die alles waschen muss!“, maulte Mama dann.

Doch das Aua lag so hilflos auf ihrer Bettdecke, dass sie es behutsam auf ihre Handfläche nahm und beruhigend über das große A streichelte.

„Hab keine Angst!“, flüsterte sie dem Aua zu.

„Alles wird gut!“

Das Aua fing an zu schnurren wie eine kleine Katze und schmiegte sich an Kayas großen Daumen. Es verwandelte seine Buchstaben und wurde zu Gut.

„Was ist mit all den Buchstaben passiert?“, fragte Kaya das Gut.

Gefressen buchstabierte sich das Gut neu.

„Gefressen? Aber wer sollte denn in unser Haus eindringen um alle Buchstaben zu fressen? Die schmecken doch gar nicht, oder?“, wunderte sich Kaya.

Das Wort formte sich zu einem großen ?

Kaya war erschüttert. Sie liebte das Lesen mehr als alles andere.

Bücher waren nicht nur staubige, vergilbte Blätter zusammengeleimt zwischen einem Pappdeckel, sondern Flucht, Trost und beste Freunde.

Keiner ihrer Klassenkameraden kam auf so grandiose Ideen, wie ihre Bücher, keiner vermochte sie so sehr zum Lachen zu bringen.

Niemand, nicht einmal Mama, konnte so gut trösten wie ein Buch.

Wie sollte sie ohne Bücher den nächsten verregneten Sonntag verbringen?

Und Mama?

Sie lebte von und für die Worte. Zwar mehr schlecht als Recht, doch ihre halbe Stelle als Redakteurin in der kleinen Lokalredaktion der örtlichen Zeitung ermöglichte ihnen ein einfaches, aber gutes Leben, seit Papa verschwunden war.

Papa!

Wie sehr sie ihn vermisste.

Oft wachte sie auf und ertappte sich dabei, dass sie von der alten Zeit geträumt hatte. Der Zeit, in der sie, Mama und Papa gemeinsam reisten.

Papa war Zauberer, Clown, Jongleur und Akrobat in einer Person. Er konnte die Menschen gleichzeitig zum Lachen und Weinen bringen.

Und irgendetwas sagte Kaya, dass er keine Tricks beim Zaubern anwendete, sondern wirklich über magische Kräfte verfügte.

Oder war es etwa normal, wenn er, allerdings nur heimlich und ohne Publikum, 26 Bälle auf einmal jonglierte?

Mama nähte alle ihre Kostüme und tanzte auf dem Drahtseil, während Kaya dazu sang oder als kleiner Clown verkleidet Ziehharmonika spielte.

Außerdem schrieb sie alte Bücher per Hand ab, illustrierte sie und band sie wunderschön in buntes Papier ein. Dieses Talent hatte sie eindeutig von Opa Max geerbt. Diese Bücher verschenkte sie an allen Orten, an denen sie Rast machten.

„Geschichten gehören allen Menschen“, sagte sie immer.

„Man darf sie nicht gegen Geld verkaufen, man muss sie aus ganzem Herzen demjenigen schenken, der sie gerade braucht.“

Kaya wunderte sich immer über Mama. Sie konnte selbst so tolle Geschichten erzählen, doch ihre eigenen wollte sie nicht verschenken. Dabei wusste Kaya, dass sie diese heimlich aufschrieb. Aber nicht mal ihrer eigenen Tochter schenkte Mama diese Bücher. „Ach, das ist nur ein Zeitvertreib“, redete sie sich jedes Mal heraus, wenn Kaya sie darum bat eines lesen zu dürfen.

„Wirklich schreiben kann nur die Phantasie und die darf man nicht verkaufen. Außerdem sind die Texte viel zu schlecht und nichts für ein Kind“, damit beendete sie jedes Betteln und Nachbohren. So gab Kaya sich damit zufrieden, die abgeschriebenen Bücher und ihre Bilder zu bestaunen und die ersten Worte zu entziffern.

Papa brachte ihr bei auf einer großen, blauen Kugel zu laufen und Einrad zu fahren. Er zeigte ihr die Tricks der Fakire, wie man über Glasscherben lief oder sich auf ein Nagelbrett setzte, wie man mit dem Feuer spielte, ohne sich zu verbrennen und sogar, wie man Feuer spuckte. Er war für jeden Spaß zu haben.

Sie reisten mit Erna, einem alten, blau-roten Zirkuswagen durch ganz Europa und hätten am liebsten auch den Rest der Welt mit ihrem kleinen Familienzirkus beglückt. Diese Zeit, die alte Zeit, roch besonders. Sie roch nach Ernas Holz und Farbe, duftete nach Lagerfeuer und Holzofen, schmeckte nach Stockbrot mit Würstchen und wärmte sie durch Mamas und Papas Anwesenheit.

Nie, nie wollte sie, dass diese Zeit endete.

Wenn es nach Kaya gegangen wäre, hätten sie ewig so weiterreisen können.

Doch als Kaya sieben Jahre alt wurde, beschlossen Mama und Papa wieder sesshaft zu werden, damit Kaya in die Schule gehen konnte.

Um Rechnen und Schreiben zu lernen, mit anderen Kindern zu spielen und Freundschaften zu schließen, sagten sie.

Aber Kaya lernte doch so viel! Jeden Tag! Sie sprach bereits drei Sprachen, kannte die Bräuche und Feste der verschiedenen Länder, die sie bereist hatten, konnte selbst kochen und hatte sich schon ein wenig das Lesen selbst beigebracht. Was konnte die Schule ihr in einem geschlossenen Raum, mit zubetoniertem, tristen Schulhof denn noch beibringen? Sie würde sich eher wie ein Zootier im Käfig fühlen!

Und Freunde? Sie hatte doch jede Menge Freunde, alte und junge, hübsche und hässlich, schlaue und dumme! Ihre beiden Meerschweinchen zum Beispiel, die immer mit auf Reisen waren und die sie in einem kleinen Käfig in ihrem Zirkuswagen hielt oder, wenn sie irgendwo länger Rast machten auf der Wiese laufen ließ, natürlich eingezäunt. Oder all die Kinder, die sie an den verschiedensten Orten trafen und an die sie immer wieder zurückkehrten, um die Menschen zu unterhalten und später mit ihnen ihre Wiedersehen zu feiern.

Freunde gab es doch überall!

Nicht nur in der Schule!

Dort konnte man sich nicht aussuchen, mit wem man in eine Klasse kam und was man gerade lernen wollte, weil es einen so brennend interessierte.

„Aber Bildung ist wichtig“, erklärte Mama und Papa nickte.

„Lesen, Schreiben, Rechnen.“

„Aber das könnt ihr mir doch alles beibringen! Erna ist schließlich voller Bücher“, beharrte Kaya.

„Und diese Bildung, was auch immer das ist, könnt ihr mir doch auch zeigen. Das kann doch nicht so schwer sein!“

„Es gibt in unserem Land eine Schulpflicht und wenn wir dieser nicht nachkommen wird es sehr schwierig für uns“, hatte Mama traurig geantwortet.

„Dann ziehen wir eben in ein anderes Land, ein Land in dem es keine Schulpflicht gibt!“, hatte Kaya trotzig geantwortet.

„Das ist leider nicht so einfach“, antwortete Mama traurig.

„In ein paar Jahren ist alles vorbei, dann bist du frei und kannst tun, was immer du willst“, versuchte Papa sie aufzumuntern, aber Kaya glaubte ihm nicht so ganz. Trotz all der Zweifel zogen sie zurück in Mamas Heimatstadt, in eine günstige Wohnung in einem alten Haus mit vielen Stockwerken.

Das komische war, dass die Wohnungen hier Schuhkartons mit mehreren Zimmern glichen, die man übereinandergestapelt hatte. In ihrem Haus hatte man zehn Kartons gestapelt und in dem obersten davon, lebten sie. Nun ja, eigentlich waren es 11 Stockwerke, denn über dem zehnten Schuhkarton gab es noch ein kleines Dachgeschoss, mit einem kleinen Zimmer, dass sie mit nutzen durften. Zum Glück gab es einen Aufzug, der sie, wie ein schnaufendes und ächzendes Ungetüm hoch und runter fuhr.

Das einzig Gute war der Park hinter dem Haus und natürlich, dass Opa Max ganz in der Nähe wohnte, doch ansonsten vermisste sie, nein, vermissten alle, das Vagabundenleben.

Irgendwie fand hier alles immer in Räumen statt.

Das Leben, die Schule, die Verabredungen.

Selbst der Park war umsäumt von einer Mauer. Als könne man Bäume und Büsche einsperren oder dem Leben verbieten seine eigenen Wege zu gehen. Kein Lagerfeuer mehr abends mit Freunden, kein Schlafen unter dem sommerlichen Sternenhimmel. Das war wirklich kein freies Leben mehr. Nur ganz manchmal, wenn sie den Park besuchten und unter der alten Eiche picknickten, hatte sie das Gefühl, dass die alte Zeit ganz kurz vorbeischaute, dass es nach Ernas Holz roch, nach Stockbrot und Würstchen. Dass die Zeit und ihr Leben ganz ihr gehörten und nicht den Vorstellungen und Stundenplänen eines anderen.

Kaya hatte das Gefühl, dass es damals anfing.

Alles veränderte sich, Papa wurde immer unglücklicher und trauriger, weil er nicht mehr reisen konnte und nur noch wenige Auftritte als Jongleur in der Umgebung hatte. Aber etwas anderes konnte er einfach nicht. Und Papa in einem tristen Büro im Anzug, das konnte sich selbst Mama nicht vorstellen.

Mama hatte ganz aufgehört mit der Artistik.

Sie schrieb nun für die Zeitung und war oft auch spät abends und am Wochenende auf Terminen, über die sie berichten sollte.

Zum Beispiel beim Schützenverein des Ortes oder langweiligen Sitzungen der örtlichen Politik. Sie schrieb kaum noch alte Bücher ab und verzierte sie, nur ganz selten, spät abends, wenn sie nicht zu müde war. Doch Kaya wusste, dass sie immer noch heimlich schrieb. Oben im kleinen Dachzimmer, in dem ihr alter Schreibtisch stand, den Opa Max ihr zum Einzug gebracht hatte.

„Ich würde meine Worte auch gerne für etwas Anderes aufsparen, aber das Leben in der Stadt ist teuer, da muss ich vernünftig sein und einer geregelten Arbeit nachgehen“, sagte Mama nicht ganz überzeugend.

Hatte Mama nicht immer gesagt, man dürfe Geschichten nicht gegen Geld verkaufen? Dies sei gegen das Gesetz der Phantasie? Scheinbar waren die Zeitungstexte aber etwas Anderes, für sie durfte man Geld annehmen.

Seltsam.

Kaya vermisste es, jeden Tag so viel Zeit mit Mama und Papa zu verbringen, wie in der alten Zeit. Sie schienen sich immer mehr voneinander zu entfernen, ohne es zu merken. Ihre gemeinsame Zeit schmolz zu etwas Kostbarem zusammen.

War das etwa vernünftig?

Und so richtig gefiel es Kaya in der Schule eigentlich auch nicht.

Klar, man lernte schreiben und rechnen und raufen und spielen mit anderen, aber wenn sie die Wahl gehabt hätte, wäre sie lieber wieder mit ihren Eltern und Erna durch die Lande gezogen.

Außerdem neckten die anderen Kinder sie immer wegen ihrer Kleider. Mama, die wenig Geld, aber viele Ideen und Talente hatte, nähte immer noch alle Kleider selber. Bunte, schöne, lustige Kleider, aber eben ohne einen Zettel mit einer speziellen Marke darauf. Doch genau darauf achteten die Kinder in ihrer Klasse scheinbar mehr, als auf die tollen Knöpfe, die Mama geschenkt bekommen und gleich an Kayas Jacke genäht hatte.

Dabei sah die Jacke so toll aus!

Und erst der Rock aus alten, bunten Krawatten!

Keiner trug so etwas, alle sahen irgendwie gleich aus. Auf jedem der Zettel stand derselbe langweilige Name, alle Kleider hatten dieselben eintönigen Farben und Schnitte.

Und dann war Papa auf einmal verschwunden und nichts war mehr, wie zuvor. Das Lachen, der Zauber waren mit ihm gegangen.

Ja, verschwunden war das richtige Wort.

Kaya hatte lange darüber gerätselt, warum er wohl gegangen war und nicht wiederkam. Hatten Mama und er sich getrennt? Aber warum? Nie hatte sie ihre Eltern ernsthaft streiten sehen oder hatten sie das heimlich getan, damit sie nichts davon mitbekam?

Nein!

Sie mochten sich, bis zu dem Tag, an dem Papa einfach nicht mehr da war.

Er hatte ihr einen Brief hinterlassen in dem nur ein paar kurze Zeilen standen:

„Liebe Kaya,

Unsere Geschichte ist noch nicht zu Ende.

Sei nicht traurig.

Wir werden uns wiedersehen.

Dein Papa!“

Vielleicht war sie schuld?

Hatte sie etwas falsch gemacht?

Hätte sie sich in der Schule mehr anstrengen sollen?

Doch Mama wischte diese trüben Gedanken sofort aus ihrem Kopf.

Zum Glück!

Sie wollte doch nicht der Grund für Papas Verschwinden sein!

Manchmal glaubte sie sogar, Papa sei tragisch verunglückt, aber dann hätte man sie doch aus dem Krankenhaus aus angerufen und darüber informiert.

Oder er war entführt worden, so wie in einer ihrer Lieblingsdetektivgeschichten.

Doch warum hatten die Entführer sich dann nicht gemeldet und Lösegeld erpresst? Nun gut, diese Geschichte war eher unwahrscheinlich, weil bei ihnen ohnehin nichts zu holen war.

Seltsamerweise war Mama völlig ruhig geblieben.

Sie hatte nicht geweint, war nicht verzweifelt oder hatte die Polizei über Papas Verschwinden informiert.

„Papa kommt wieder, ich weiß es einfach“, sagte sie wieder und wieder zu Kaya, die gerade erst acht Jahre alt geworden war.

„Er hat mir eine Nachricht hinterlassen, dass er eine alte Geschichte beenden muss und dann würde er wieder zu uns zurückkehren“, behauptete sie. Mehr war aus ihr nicht herauszubekommen.

Vielleicht wusste sie wirklich nicht mehr und vertraute Papa blind.

Doch seither - es waren bereits zwei Jahre vergangen - hatte Kaya nie wieder etwas von ihm gehört und gesehen.

Oder doch?

Manchmal schien es ihr, als sandte ihr Vater kleine Zeichen.

Eine bunte Murmel aus Glas, die sie im Sandkasten liegend fand und aus der sie plötzlich vertraute, himmelblaue Augen anblickten.

Genau wie die von Papa!

Sie hatte Papas Augen geerbt, sagte Mama immer.

Blauauge und seine Tochter, nannte sie Kaya und ihren Vater stolz.

Oder sie fand eine kleine weiße Feder blau gesprenkelt, die langsam in ihren Schoß segelte, als sie in Opa Max Garten unter dem großen Apfelbaum lag und träumte.

Weit und breit war kein Vogel in Sicht gewesen, der sie verloren haben konnte.

Lauter kleine Hinweise, die sie magisch darauf hinwiesen, nicht alleine zu sein und dass die Welt, in der sie lebte, die Welt ihres Kindergartens, ihrer Grundschule, der Eltern und Großeltern nicht die einzig existierende war und dass aus dieser anderen, dieser scheinbar unsichtbaren, auch immer eine Zuneigung ihr zu zwinkerte oder ihr im rechten Moment Schutz zuflog.

So geschah es immer wieder, dass sie selbst gefährlichste Situationen schadlos überstand, als wache eine unsichtbare Macht über sie.

Als sie zum Beispiel zum ersten Mal alleine zur Schule ging und unachtsam auf die Straße rannte, um einen kleinen Vogel zu retten, der aller Wahrscheinlichkeit nach aus einem Nest gefallen war, erfasste sie ein heftiger Windstoß, der sie zurück auf den Gehweg stieß und sie so vor einer Kollision mit einem großen LKW bewahrte.

Oder damals, als sie schon viel zu weit in Opa Max Apfelbaum geklettert war und die immer dünner werdenden Äste schon gefährlich knackten, flog eine riesenhafte Taube herbei, ergriff die Träger ihres Sommerkleides und setzte sie sanft wieder auf dem Boden ab.

Opa Max lachte laut und schüttelte den Kopf, als er diese Geschichte hörte.

„Du hast die blühende Phantasie Deiner Mutter geerbt.

Nur Flausen im Kopf!“, sagte er.

Doch Kaya beharrte noch Jahre später auf diese Geschichte und als sie am Abend nach ihrem Sturz vom Apfelbaum von Mama abgeholt wurde, belauschte sie ein Gespräch zwischen den beiden, das sie stutzig werden ließ.

„Er muss aufhören, sich in die Realität einzumischen.

Schreib ihm das!“, hatte Opa Max auf Mama eingeredet, die leise mit dem Kopf nickte und ihr ‚Das werde ich bestimmt nicht tun!‘ Gesicht aufsetzte.

Vielleicht waren diese Erlebnisse tatsächlich nur ihrer Phantasie entsprungen, vielleicht hatte sie dieselben verrückten Ideen wie ihre Mutter, aber sie fühlte sich dadurch getröstet.

Irgendwo dort war Papa und gab auf sie acht!

Jeden Abend nahm Kaya die kleine Schneekugel in die Hand, die Papa ihr geschenkt hatte. Er hatte sie selbst gebastelt. In der Kugel hatte er eine Miniatur Erna eingebaut und winzige winkende Figuren, die Mama, Kaya und ihn selbst darstellten.

„Eines Tages zaubere ich Erna wieder groß und dann reisen wir weiter!“, hatte er Kaya versprochen und sie fest an sich gedrückt.

Am nächsten Tag war er verschwunden und seither blieb Kaya nur die Schneekugel, die sie betrachtete und mit der sie all ihre Gedanken, Sorgen und Wünsche teilte, immer in der Hoffnung, Papa könne sie irgendwie hören und würde ihr ein Zeichen senden.

Nachts, wenn Mama schlief, schlich sich Kaya manchmal heimlich in das Dachzimmer und sie las dort, mitten in der Nacht in Mamas verbotenen Geschichten. Sie konnte sich immer noch nicht erklären, warum Mama diese Texte nicht verkaufte oder zumindest verschenkte.

Es waren eindeutig Mamas eigenen Worte und sie waren gut! Wovor fürchtete sich Mama also? Sie sagte immer, Geschichten seien eigenständige Wesen, die sich finden lassen wollten. Sie waren wie Kinder, die in einem wuchsen und denen man den Raum geben musste sich zu entwickeln und zu wachsen. Man konnte die Worte nicht zwingen und die Buchstaben suchten sich ihren eigenen Weg.

Obwohl sie auch einen Computer besaß, schrieb Mama lieber fein säuberlich mit der Hand auf Papier.

In ihren Heften und Kladden gab sie diesen Kindern einen Ort, an dem sie gediehen, aber warum durften sie dann nie hinaus zum ‚Spielen‘, sondern mussten versteckt zwischen den Seiten der bunten Notizbücher ihr Dasein fristen?

„Oh Gott!“, entfuhr es Kaya. Sie schlüpfte unter ihrer Bettdecke hervor, bemüht das kleine Wort nicht fallen zu lassen und schlich so schnell wie möglich die knarzende Stiege zum Dachzimmer empor.

Das Fenster in dem kleinen Raum stand seltsamerweise offen, Kaya schloss es, denn der Wind hatte Asche aus dem leeren Kamin auf dem Boden verteilt.

Obwohl die Wohnungen in ihrem Haus sehr günstig waren, hatten doch alle Zimmer eine elektrische Heizung.

Nur das kleine Dachzimmer wirkte wie aus der Zeit gefallen und war mit einem Kamin ausgestattet. „Wahrscheinlich war das früher ein Angestellten Zimmer oder für sehr arme Leute gedacht“, hatte Mama erklärt, als sie einzogen.

Das Kaminzimmerchen diente Mama als Büro. Der Vormieter hatte es mit einem dunkelroten Seidenstoff tapeziert, der dem kleinen Raum beinahe etwas Majestätisches verlieh.

„Hier schreibt und denkt die Königin“, hatte Mama scherzhaft angemerkt, als sie ihren Schreibtisch in das Zimmer hoben, denn der seltsame Wandbelag hatte tatsächlich Ähnlichkeit mit den Stofftapeten in alten Schlössern.

Kaya öffnete erst die Seiten eines Buches, dann die eines anderen und dann immer panischer und nervöser alle Hefte, Kladden und Bücher, die ihre Mutter mit ihrer sauberen Handschrift gefüllt hatte.

Leer! Alle leer!

Kaya kämpfte gegen die Tränen an.

Das würde ihrer Mutter das Herz brechen. Verzweifelt blickte sie das schwarze ? in ihrer Hand an.

Mamas ganze Familie hatte von den Worten gelebt, schon immer.

Opa arbeitete als Buchdrucker .

Ihr Urgroßvater war Setzer bei einer großen Zeitung gewesen.

Mama scherzte immer und meinte, sie sei schon mit schwarzen Fingerspitzen auf die Welt gekommen, sosehr klebte die Tinte an ihrer Familie.

Insgeheim hoffte Mama wohl, dass Kaya eines Tages in ihre Fußstapfen trat und vielleicht in Opa Max Druckerei arbeitete.

Aber eigentlich spürte Kaya jetzt schon, dass sie selbst schreiben wollte.

Nicht von den Worten anderer leben, sondern von den eigenen.

Doch im Moment waren alle Worte auf rätselhafte Weise verschwunden.

Das kleine ? verbog sich zu einem Hilfe.

„Hilfe? Aber wie und wer?“, Kaya runzelte die Stirn.

Du, bat das Wort.

Kaya zuckte zurück und hätte beinahe ihre Hand zu stark zugedrückt und das Du zerquetscht.

„Aber ich weiß gar nicht wie?“, stammelte sie.

Trinken formte das Wort.

„Trinken? Ich verstehe nicht? Was soll ich trinken?“

Mich antwortete das Wort.

Die Druckerschwärze trinken?

Kaya erinnerte sich, als sie mit Großvater Max in seiner kleinen Druckerei saß.

In den Räumen duftete es eigentümlich nach Papier und Farbe.

Opa hatte sie immer ermahnt, sich die Hände zu waschen, wenn sie mit ihrem kleinen Druckerkasten Buchstaben auf blütenweißes Papier gedruckt hatte.

Und nun sollte sie ein ganzes Wort trinken?

Aber hatte sie eine Wahl?

Das Wort hatte sie ausdrücklich um Hilfe gebeten und sie musste doch irgendetwas tun, um die leeren Seiten der Hefte und Bücher wieder zu füllen, allein schon wegen Mama.

Sie betrachtete das hilflose, kleine Mich in ihrer Hand.

Es hüpfte noch einmal und zerfloss dann zu einem kleinen schwarzen Klecks, der schimmernd in ihrer Hand schwamm.

Kaya zögerte, dann schloss sie die Augen hob ihre Hand und schlürfte die kleine, schwarze Pfütze aus ihrer Hand.

Das Wort schmeckte bitter auf ihrer Zunge.

Beißend wand sich der Tropfen durch ihre Kehle und löste eine leichte Übelkeit aus. Hoffentlich musste sie das Wort nicht wieder ausspucken, weil die Tinte so abscheulich schmeckte.

Sie war sich sicher, dass ihre Zunge die ganze Woche schwarz sein würde.

Jeder würde wissen wollen warum. Vielleicht sollte sie einfach sagen, sie sei heiser und könne nicht sprechen.

Aber ausspucken ging nicht, sie wollte dem Wort doch helfen!

Ein Kribbeln suchte sich seinen Weg von Kayas Zehen bis hinauf zur Nasenspitze.

Ihr wurde schwindelig und das Zimmer mit Mamas vollgestopftem Schreibtisch verschwamm vor ihren Augen.

Dann geschah das Unglaubliche:

Zuerst zerflossen ihre Füße, dann die Beine und schließlich ihr ganzer Körper zu schwarzer Farbe. Daraus formte sich ein einsames, pechschwarzes Wort: Kaya.

Magisch wurde das Wort in eines der leeren Bücher gesogen.

Der Leser

Jemand rief ihren Namen.

Nein, eigentlich sprach er ihn.

So bedächtig, so wohlklingend, dass es schien als lese er ihren Namen vor wie ein unbekanntes, neues Wort.

Sie spürte abermals dieses lähmende Kribbeln in sich.

Kaya hob instinktiv ihre Hände vor ihr Gesicht.

Gott sei Dank, sie sah ihre Hand klar vor Augen.

Sie musste geträumt haben.

Einen Alptraum, in dem sie sich zu einem Wort verwandelte, wenn es auch ihr eigener Name war. Doch nun war sie offensichtlich erwacht und mit Sicherheit ein menschliches Wesen aus Fleisch und Blut. Für alle Fälle kniff sie sich selbst in die andere Hand und als das wohlbekannte Gefühl des Schmerzes sie durchzuckte, war sie sich ganz sicher ein Mensch und keine Ansammlung aus Buchstaben zu sein.

Aber wo war sie?

Sie befand sich in einem gänzlich leeren, weißen Raum.

Kein Drachenposter, kein Bett, kein Nachttisch.

Nicht ein Gegenstand befand sich in dieser weißen Leere.

Kaya rieb sich ungläubig die Augen.

Das war definitiv nicht mehr ihr zu Hause.

Sie stand auf und tastete sich vorsichtig an der weißen Wand entlang.

Diese schien aber nicht stabil zu sein.

Sie war so dünn, dass sie raschelnd über ihr zusammenschlug.

Schützend hob Kaya ihre Arme über den Kopf und legte sich instinktiv auf den Boden.

Doch die Wand brach nicht über ihr zusammen.

Im Gegenteil, sie gab nach, und wölbte sich über sie.

Wie ein weißes, schützendes Dach.

Vorsichtig berührte sie die Decke.

Sie war hauchdünn und raschelte.

Fast – nein - genau wie Papier!

Als sie mit dem Finger sanft über das Papier strich, bemerkte sie seine feine Maserung.

Das war nicht irgendein Papier.

Es war zu grob und zu gelblich, um Zeichenpapier zu sein aber zu fein und zu hell für Zeitungspapier. All das hatte sie bei Opa Max gelernt.

Das war ganz eindeutig das Papier eines Buches!

War sie etwa in den leeren Seiten eines Buches erwacht?

Kaum hatte sich der erste Schreck gelegt, begann der Boden unter ihr zu vibrieren. Dann hob sich die Seite schwungvoll an.

„Oh nein!“, entfuhr es Kaya.

Jemand blätterte um.

Sie begann zu rutschen.

Schnell legte sie sich auf den Bauch und suchte Halt am papiernen Untergrund, doch vergebens.

Unaufhaltsam schlitterte sie dem Seitenende entgegen.

Der Leser schüttelte fassungslos den Kopf.

Leer, alle Seiten waren leer, kein einziger Buchstabe war übriggeblieben.

Das Buch der Geschichten war ausgelöscht.

„Hat sie es also doch geschafft“, seufzte er.

„Kein Wort mehr übrig.“

Müde stützte er das Gesicht in seine Hände und rieb sich die Augen.

Da hörte er ein Rascheln, das aus dem Buch der Geschichten kam.

Eine Seite blätterte wie von selbst um.

Dort, unter dieser Seite lag ein kurzes, ganz einfach gedrucktes Wort.

Doch kaum hatten seine Augen es erfasst als ein Schwarm kleiner, schwarzer Kreaturen aus dem Nichts auf das Wort zuschossen.

Klein doch grauenhaft, in zerlumpte Kleider gewandet mit wirren Haaren, und scharfen Reißzähnen. Obwohl ihre Gesichter und Gliedmaßen menschenähnlich waren, wirkten sie dennoch wie wilde Tiere.

„Wortfresser!“, rief der Leser erbost aus. Ihr Ansinnen war eindeutig, sie wollten auch das letzte Wort noch aussaugen. Er musste sich beeilen, um es vor ihrem Durst zu retten.

„Kaya“, las er laut mit seiner wohltönenden Stimme.

Er las es stirnrunzelnd. Konnte es wirklich sein? War dies das Wort? Vielleicht sprach er es nur falsch aus?

Noch nie hatte er dieses Wort zuvor gelesen.

Dennoch hatte seine Stimme die erwünschte Wirkung.

Das Wort erschrak sich sichtlich, es wurde lebendig, so wie immer, wenn der Leser die Buchstaben eines Wortes laut vorlas.

Es nahm menschliche Gestalt an.

Der Leser wollte das kleine Wesen einfangen, um es vor den Wortfressern zu schützen. Er schlug eine Buchseite über das zappelnde Wesen, dann hob er die untere Seite an und versuchte das Menschenwort zwischen zwei Buchseiten zu verstecken.

Doch vergebens, das Wesen rutschte an den Rand des Buches, hielt sich mit Mühe und Not am überstehenden Umschlag fest und baumelte verzweifelt mit den dünnen Beinchen.

Ein Mädchen!

Der Leser schob sachte seine Hand unter das zappelnde Kind, so dass es Boden unter den Füßen fand. Lächelnd betrachtete er das Kind.

Kaya war ein Mädchen von vielleicht neun oder zehn Jahren, mit zerzausten blonden Haaren. Sie trug einen bunt gestreiften Schlafanzug mit einem „Wischi-Herz“ auf dem Oberteil, dessen Pailletten blau schimmerten.

Sie war barfuß.

Erbost schüttelten die Wortfresser ihre kleinen Fäuste, fletschten die Zähne und verschwanden wieder in dem Spalt zwischen Buchrücken und Papier.

Kaya rutschte und rutschte.

Plötzlich hörte das Blatt auf und sie schlitterte unsanft über den Bücherrand.

Sie konnte sich gerade noch an der Kante des Buchdeckels festhalten.

Mit aller Kraft krallten sich ihre Finger fest. Panisch schnappte sie nach Luft.

Wie lange würde ihre Kraft reichen?

Und wenn sie losließ, was erwartete sie?

Das wäre wahrscheinlich das Ende ihrer Geschichte, dachte sie traurig.

Sie dachte an Mama und dass sie sich nicht hatte verabschieden können.

Mama würde verzweifeln. Warum nur war sie dem Hilferuf des kleinen Wortes gefolgt? So war sie niemandem eine Hilfe.

Noch während sie grübelte, spürte sie plötzlich einen Halt unter ihren Füßen.

Kaum zu glauben, sie konnte ihre Füße abstellen.

Der Boden gab nicht nach.

Schluchzend vor Erleichterung ließ sie los und plumpste auf ihren Po.

Für einen Moment war sie erleichtert. Doch dann setzte sich der Boden in Bewegung. Sie gewann an Höhe und vor ihrem Gesichtsfeld tauchte ein riesiges, furchteinflößendes Gebilde auf.

Eine große, hautfarbene Kartoffel mit zwei großen Löchern, aus denen wilde graue Haare wucherten.

Aus den Löchern drang in regelmäßigen Abständen ein leichter Luftstrom, der ihr die Haare noch mehr zerzauste.

Eine Nase!

Durchzuckte es Kaya. Das pustende, knubbelige, haarige Gebilde war eine riesengroße Nase!

Schon schob sich der Boden höher und durch zwei kreisrunde, fensterhohe Brillengläser mit Goldrand, blickten sie ein paar große, braune Augen gütig an.

Kaya kreischte und krabbelte ein Stück rückwärts.

Die Augen begannen zu lächeln und unzählige kleine Falten umgaben das Augenpaar wie Sonnenstrahlen.

„Hab keine Angst“, sprach ein unsichtbarer Mund zu ihr.

Sie kannte diese Stimme.

Es war dieselbe, die sie gehört hatte, als sie noch zwischen den Buchseiten lag.

„Du bist also das letzte Wort“, sprach die Stimme weiter.

Die Magie des Lesens

„Nein, ich bin kein Wort, ich bin ein Mädchen. Mein Name ist Kaya“, antwortete Kaya mit piepsiger Stimme.

Sie klang ängstlicher als sie es beabsichtigte.

Unsicher strich sie über das blaue Paillettenherz auf ihrem Schlafanzug Oberteil. Es wechselte seine Farbe von dunklem Lila in ein schimmerndes Silber.

„Und du? Bist du ein Riese oder ein Monster?“, stotterte sie.

Die große Nase bebte vor Lachen auf und nieder.

Der Boden unter Kayas Füßen bewegte sich rückwärts, so dass sie nun das vollständige Gesicht des Fremden sehen konnte.

Ein gutmütiges Gesicht blickte sie an.

Es war umrahmt von einem dünnen Kranz weißer Haare, die wirr vom Kopf abstanden.

Die faltige Stirn schien nicht enden zu wollen, denn bis auf den weißen Haarkranz war der Riese kahlköpfig.

Irgendwie erinnerte er sie an Opa Max nur in riesig!

Auch der Boden, auf dem sie immer noch unsicher kauerte war durchaus menschlich, denn sie saß bei näherer Betrachtung offensichtlich zwischen den Linien einer riesigen Hand, die vermutlich zu dem Gesicht vor ihr gehörte.

Als der Mann nicht aufhörte sich vor Lachen zu schütteln, purzelte Kaya in der Handfläche hin und her und klammerte sich verzweifelt an den Daumen.

„Kannst du bitte aufhören zu lachen? Ich falle sonst noch herunter!“, rief sie, so laut sie konnte.

Das Gesicht beruhigte sich und lächelte sie nun vertrauenswürdig an.

„Wie unhöflich von mir, es tut mir leid. Ich bin einfach nur froh, dass es dich gibt“, brummte er freundlich.

„Ich bin der Leser und du das letzte Wort, dass ich im Buch der Geschichten gelesen habe.“

„Aber ich bin doch ein Mädchen, kein Wort!“, protestierte Kaya.

Doch dann stockte ihr der Atem. Sie erinnerte sich an den seltsamen Traum.

Kurz nachdem sie die Tinte des kleinen Wortes getrunken hatte, verwandelte sie sich selbst zu einem Wort. Von Buchstabe zu Buchstabe wurde aus dem Mädchen das Wort KAYA.

Hatte sie etwa doch nicht geträumt?

Oder träumte sie immer noch?

„Am Anfang war das Wort mein Kind. Erst durch das Lesen nimmt ein Wort Gestalt an, wird eine Geschichte ein lebendiges Wesen.

So wie du gerade eben.“

Kaya blickte ihn fassungslos an.

„Aber zu Hause bei Mama bin ich doch ein Mensch.

Ich kann mich nicht daran erinnern, jemals nur ein Wort gewesen zu sein“, versuchte sie das Ganze zu verstehen.

„Aber auch das ist nur eine Geschichte, die hier im Buch der Geschichten aufgeschrieben stand und die ich ins Leben gelesen habe.

Hier sind alle Geschichten aller Lebewesen, alles, was je existiert hat für mich aufgeschrieben, damit ich sie durch meine Stimme zum Leben erwecke.

Oder vielmehr, hier standen sie geschrieben“, traurig deutete der Leser mit seiner freien Hand auf ein großes, aufgeschlagenes Buch, dessen Seiten ebenso leer waren, wie die Bücher in Kayas zu Hause.

„Komm ich möchte dir etwas zeigen, vielleicht verstehst du dann besser, woher du wirklich kommst“, lächelte der Leser nun wieder freundlich.

Der Baum des Lebens

Kaya sah vor sich einen riesigen Turm aus Büchern.

Einige erkannte sie tatsächlich wieder, sie hatte sie selbst schon einmal gelesen oder Mama und Papa hatten sie ihr vorgelesen.

„Das ist mein Reich“, lächelte der Leser.

„Oder vielmehr mein Arbeitsplatz.“

Er ging auf ein besonders großes Buch zu, dessen Buchdeckel aus fein geschnitztem Holz zu bestehen schien. Die Schnitzereien formten das Bild eines wundervollen, weitverzweigten Baumes mit unzähligen Blättern. Das Bild schien lebendig, denn die Blätter wogten im Wind und ein leises Rascheln drang an Kayas Ohr. Bei genauerer Betrachtung sah man kleine Tiere durch den Baumwipfel springen und Menschen in Miniaturgröße gingen über seine starken Äste spazieren.

„Du darfst sie ruhig öffnen“, sagte der Leser.

Eine Tür? Dann konnte man den Turm betreten?

Kaya drückte gegen den Buchdeckel und tatsächlich, er gab leise knarzend nach.

Das Turmzimmer verströmte einen herrlich vertrauten Geruch nach Papier.

Nach altem, verstaubtem, neuem, vergilbtem, geleimtem Papier.

Das Zimmer lag in völliger Dunkelheit, so dass Kaya seine Größe nicht wirklich abschätzen konnte. Der Turm besaß kein Dach und so sah man den Nachthimmel, an dessen Firmament ein paar kleine, schwache Sterne glommen.

„Lumen!“, rief die Stimme des Lesers in das Dunkel hinein und auf sein Geheiß begann ein Feuer zu lodern.

Es erhellte den Raum und Kaya sah, dass es in einem Kamin züngelte.