Letztes Glas - Urs W. Käser - E-Book

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Urs W. Käser

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Beschreibung

Die Tage der Artenvielfalt im Berner Oberland werden von mehreren Morddrohungen überschattet. Während die Botanikerinnen und Zoologen auf Artensuche gehen, versucht die Polizei, eine Katastrophe zu verhindern. Doch vergeblich. Bald wird klar: Das Gift war im Weisswein. Und verräterische Fingerabdrücke sind nachgewiesen. Doch zu wem gehören sie?

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Inhaltsverzeichnis

Mittwoch, 25. Juni

Donnerstag, 26. Juni

Freitag, 27. Juni

Samstag, 28. Juni

Sonntag, 29. Juni

Montag, 30. Juni

Dienstag, 1. Juli

Mittwoch, 2. Juli

Donnerstag, 3. Juli

Freitag, 4. Juli

Samstag, 5. Juli

Sonntag, 6. Juli

Montag, 7. Juli

Dienstag, 8. Juli

Donnerstag, 10. Juli

Freitag, 11.Juli

Montag, 14. Juli

Mittwoch, 25. Juni

Ein wunderschöner Sommermorgen war angebrochen. Zuerst hatten, gegen Süden hin, die dünnen Schleierwolken in einem hauchzarten Rosa aufgeleuchtet. Kurz darauf hatten die Bergspitzen im Osten die ersten Sonnenstrahlen empfangen, und die beleuchtete Fläche war Minute für Minute grösser geworden. Währenddessen hatte, tief unten, der See noch in einem düsteren Graugrün gelegen, und die verschatteten Dörfer an seinen Ufern waren nur zu erahnen gewesen. Dann, um fünf vor sechs, waren die ersten Sonnenstrahlen über dem Haldengrat erschienen und hatten die Alp Schönegg unvermittelt in gleißendes Licht getaucht.

Doch Franziska Obrist hatte von alldem nichts mitbekommen. Sie saß auf ihrem Sofa, vor sich den ersten Kaffee des Tages, und hielt den Kopf in die Hände gestützt. Sie fühlte sich unruhig. Unruhiger als üblich. Zum ersten Mal in diesem Jahr war ihr Hotel, das Bellavista auf der Alp Schönegg, für das Wochenende ausgebucht. Und ausgerechnet jetzt musste es Personalprobleme geben! Erst vor einem Monat war ihr Küchenchef mit einem Herzinfarkt ausgefallen, und der Ersatz hatte sich als nicht optimal herausgestellt. Zudem war ein Portier verunfallt, und seine Kollegen mussten deswegen Sonderschichten einlegen. Zu guter Letzt hatte Franziska Obrist vorige Woche einen Kellner, der gestohlen hatte, fristlos entlassen müssen. Eine solche Häufung von Ereignissen war ihr in den vierzehn Jahren als Hoteldirektorin noch nie passiert.

Immerhin hatte Carla Costello, die Chefin des Servicepersonals, sehr schnell einen Ersatz für den Kellner gefunden. Einen gewissen Luis Sanchez, der heute seinen Dienst antreten sollte. Ihn wollte Franziska unbedingt persönlich in Augenschein nehmen. Sie schaute auf die Uhr. Zehn nach acht, da müsste dieser Sanchez wohl bei der Arbeit sein. Sie verließ ihre im Dachgeschoss gelegene Wohnung, fuhr mit dem Lift ins Erdgeschoss und betrat den großen Speisesaal.

Wie sie erwartet hatte, waren Carla Costello und der Neue in ein Gespräch vertieft. Ja, Carla war einfach eine Perle für das Hotel, dachte Franziska wieder einmal. Seit elf Jahren bei ihr im Dienst, lief unter Carlas Leitung alles, was mit dem Service zu tun hatte, jederzeit perfekt! Carla war überall präsent, achtete auf jede Kleinigkeit und ging mit dem Personal gleichermaßen professionell wie einfühlsam um. Deshalb hatte es Franziska sogar gewagt, Carla die Verantwortung für die Einstellung neuer Servicemitarbeiter zu übertragen, und sie hatte bisher nur gute Erfahrungen damit gemacht. Sie war sich sehr wohl bewusst, dass sie mit dieser Perle des Hotels sorgsam umgehen musste.

«Carla, guten Morgen!», sagte sie betont munter und versuchte, ihre Unruhe wegen der Personalsituation zu verbergen. «Alles in petto beim Service?»

«Sehr wohl, Chefin. Darf ich dir Luis Sanchez vorstellen? Ich mache gerade eine kleine Einführung für ihn. Aber ich merke schon jetzt, dass er sein Metier sehr gut beherrscht.»

«Das freut mich, Herr Sanchez.» Franziska gab ihm die Hand. «Sie kommen wohl aus Spanien?»

Sanchez sah ihr in die Augen. «Ja. Ich kommen von Sevilla. Am meisten heiße Stadt in Europa. Sommer über vierzig Grad. Aber sehr schön. Sie kennen es?»

«Leider noch nicht», antwortete die Chefin. «Nun, bei uns wird es gottseidank nie so heiß. Das ist auch viel angenehmer zum Arbeiten.»

Sie zog ein Blatt aus einem Plastikmäppchen und überflog es. «Wie ich sehe, haben Sie ausgezeichnete Referenzen, Herr Sanchez. Der perfekte Service wird Ihnen also leicht fallen. Beim Deutsch hingegen müssten Sie sich noch verbessern können.»

«Ich genau wissen, Direktorin. Absolut!»

«Aber das kriegen wir schon hin! Vielleicht kann Ihnen Carla ein wenig behilflich sein? Ich wünsche Ihnen einen guten Start im Bellavista.»

Damit entfernte sich Franziska in Richtung Lift und fuhr zurück in ihr Büro im fünften Stock. Auf einmal wurde ihr bewusst, dass ihre Nervosität weitgehend verschwunden war. Ja, sie freute sich jetzt sogar auf das kommende Wochenende. Der Tag der Artenvielfalt, dieses alljährlich stattfindende Projekt unter der Leitung des Naturhistorischen Museums, wurde erstmals bei ihr auf der Alp Schönegg durchgeführt. Ja, hier oben, beinahe tausend Meter über dem Brienzersee, war die Natur noch weitgehend intakt. Franziska selber war zwar nur mäßig interessiert an Pflanzen und Tieren, aber natürlich war sie sehr erfreut gewesen, als vorigen Sommer die Anfrage vom Naturhistorischen Museum gekommen war. Schon im Juni, vor Beginn der Hochsaison, ein volles Haus zu haben, war nicht selbstverständlich. Auch wenn es nur für eine Nacht war. Es bestand ja immer die Hoffnung, dass ein Teil der neuen Gäste mit der Zeit zu Stammgästen würden.

Die Anmeldungen für das Wochenende waren alle über die Hotelrezeption gelaufen, und Franziska war noch nicht dazu gekommen, die Gästeliste zu studieren. Das wollte sie jetzt nachholen, zog das Dossier aus ihrer Schreibtischschublade und ging die Namensliste durch. Schwitter, Paul Schwitter… den kenne ich doch… Ach ja! Der arbeitet beim Bund, irgendetwas mit Wasser… War der nicht ebenfalls Mitglied bei der Bernensia, ihrer alten Sudentenverbindung? Eigentlich schade, dachte sie, dass sie seit vielen Jahren nicht mehr an den Alumni-Treffen der Verbindung teilgenommen hatte. Aber sie war eben kein ausgesprochener Vereinsmeier, zudem war sie in ihrem abseits gelegenen Hotel doch stark angebunden. Als sie den nächsten Namen las, Barbara Manzoni, war die ganze Erinnerung wieder da: Paul Schwitter und seine Partnerin Barbara hatten vor ein paar Jahren für einige Nächte bei ihr im Bellavista logiert. Ein sehr angenehmes, freundliches Paar. Schön, sind die beiden wieder hier, dachte sie. Als sie zum nächsten Namen kam, erstarrte sie jedoch: Joachim Seidler. Der kommt auch? Wie lange war das denn her? Ja, mehr als fünfunddreißig Jahre, dass sie, im ersten Semester ihres Studiums, Joachim Seidler an einer Party kennengelernt hatte. Von Anfang an waren ihre Gefühle ihm gegenüber zwiespältig gewesen. Zum einen hatte er sie spontan fasziniert, dieses Alphatier, dieser Macher, dieser geborene Anführer. Zum anderen hatte er sie gleichzeitig befremdet, hatte sie sein allzu selbstsicheres Gehabe unangenehm berührt. Joachim war beim weiblichen Geschlecht immens begehrt gewesen. Viele ihrer Kolleginnen hatten sich darum gerissen, in seinem kleinen, knallroten Kabriolett mitfahren zu dürfen. Was man da zu hören bekommen hatte, wie rasant er um die Kurven gejagt sei, und wie er sich über die Verkehrsregeln mokiert habe! Nein, sie selber hätte sich niemals in sein Auto gesetzt. Zum großen Glück, sagte sie sich, war sie nie im Geringsten in ihn verliebt gewesen! Ja, Joachim war zweifellos zum Aufstieg geboren, und er hatte dies später zur Genüge bewiesen. Ab und zu hatte sie irgendwo von seinem Erfolg als Geschäftsmann gelesen, aber ihre letzte Begegnung lag bestimmt zwanzig Jahre zurück. Nun ja, sie würde es auf sich zukommen lassen. Sie blickte wieder auf die Liste. Aber keiner der übrigen Namen kam ihr bekannt vor. Sie zählte kurz durch. Vierunddreißig Personen waren für die Veranstaltung angemeldet, offenbar lauter Expertinnen und Experten für bestimmte Gruppen von Lebewesen. Franziska fühlte sich ein wenig kribbelig. Das würde ein herausforderndes Wochenende werden!

Das Bundesamt für Naturgefahren hatte seine Büros mitten in der Altstadt. Der viergeschossige Sandsteinbau aus dem neunzehnten Jahrhundert stand in einer engen Gasse, keine hundert Meter vom Parlamentsgebäude entfernt. Punkt viertel vor zwei Uhr betrat Paul Schwitter das Haus, stieg in flottem Schritt die Treppe hoch und betrat sein Direktionsbüro im dritten Stock. Seit sieben Jahren war er Amtsvorsteher, und in fünf Jahren würde er in Pension gehen. Eine Perspektive, die ihm gefiel. Nicht, dass er ungern hier arbeitete. Aber nach so vielen Jahren war doch beinahe alles zur Routine geworden, und er sehnte sich danach, mehr Zeit zu haben für seine Leidenschaft, die Beobachtung von Schmetterlingen. Und natürlich auch mehr Zeit für Barbara, seine zweite Leidenschaft.

Paul Schwitter rief sich kurz sein reich befrachtetes Programm für heute Nachmittag in Erinnerung. Zunächst war eine Sitzung mit dem Leiter Wasserbau geplant, danach ein Rapport mit seinem Chef, dem Departements-Vorsteher. Um siebzehn Uhr musste er vor einer Nationalratskommission ein kurzes Referat halten. Dazwischen würde er hoffentlich noch Zeit finden für die Vorbereitung eines weiteren Referats. Auch die schriftliche Stellungnahme zu einer Vorlage des Bundesrats durfte er nicht vergessen. Aber das konnte durchaus bis morgen warten.

Wie immer lag die Mittagspost auf seinem Schreibtisch. Obenauf lag ein Couvert ohne Absender. Neugierig geworden, riss er den Umschlag auf – und zuckte zurück. Was zum Teufel war denn das? Das durfte doch nicht wahr sein! Er warf das Papier auf seinen Schreibtisch, als wäre es ein lästiges Insekt.

«Barbara!», rief er durch die offenstehende Tür.

Die schlanke Frau mit pechschwarzen, locker auf die Schultern fallenden Haaren erschien im Türrahmen. «Ärger?», fragte sie.

Paul hatte unterdessen sein Bürofenster weit geöffnet und blickte, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, hinaus auf die schon halb im Schatten liegende Gasse.

«Paul!», rief Barbara Manzoni, ungeduldig geworden, «was ist los?»

Sekunden verstrichen. Endlich drehte sich Paul um und kam, mit zu Boden gerichtetem, starrem Blick, langsam auf sie zu.

Barbara erschrak. Was war nur los?

Ganz plötzlich hob Paul den Kopf, trat zu ihr, breitete seine Arme aus und umarmte sie heftig. «Sag, dass es nicht wahr ist!», stieß er aus. «Sag, dass ich bloß träume!»

«Aber Liebling!» Barbara löste sich vorsichtig aus der Umarmung, sah Paul in die Augen und strich ihm sanft über die Wange. «Was bringt dich denn so aus dem Häuschen?»

Paul atmete heftig aus, ging zu seinem Schreibtisch, griff nach dem Papier, das dort lag, und wedelte damit in der Luft herum. «Hier! Soeben mit der Post gekommen! Unglaublich! Schau es dir ruhig an! Hast du schon mal so was erlebt, Barbara? Ein unbescholtener Vertreter der Schweizerischen Eidgenossenschaft wird anonym bedroht! Haarsträubend ist das!»

Barbara ergriff das Papier und las den mit einem grünen Filzschreiber in ungelenken Druckbuchstaben verfassten Text.

Paul Schwitter, du wirst es bitter bereuen! Korruption kann tödlich sein! Schon sehr bald!

«So was Dummes!», rief Barbara unwillig aus. «Das kann doch nur ein schlechter Scherz sein! Du und korrupt? Da lachen ja die Hühner! Bitte nimm das nicht ernst, Paul! Einen seriöseren Schweizer Beamten als dich kann ich mir gar nicht vorstellen!»

«Eben! Was soll dann dieser anonyme Wisch?»

Paul riss ihr das Papier aus der Hand, knüllte es zusammen und warf es mit Schwung in den Papierkorb. «Weg damit! Aus den Augen, aus dem Sinn!»

«Recht so!», bestätigte ihn Barbara. Sie setzte sich auf seinen Schreibtisch und schlug die Beine übereinander. Nachdenklich schaute sie ihn an.

«Was glotzt du so?», stieß Paul unwillig aus, «habe ich doch etwas verbrochen?»

Barbara zuckte zusammen. So mürrisch hatte sie Paul in den sieben Jahren ihrer Beziehung noch nie erlebt. Wenn es irgendein Problem gegeben hatte, war immer sie es gewesen, die zuerst nervös oder ärgerlich reagiert hatte. Ja, vom Temperament her waren sie wirklich ein ungleiches Paar! Aber jetzt, wurde ihr bewusst, machte er sich tatsächlich Sorgen.

«Entschuldigung, Liebling», sagte sie sanft, «aber ich frage mich schon, ob das die richtige Reaktion auf so eine Drohung ist. Einfach den Kopf in den Sand zu stecken. Sollten wir nicht doch besser die Polizei informieren?»

«Ehm…» Paul lief unschlüssig im Büro hin und her. «Wenn ich bloß wüsste, worauf dieser anonyme Schreiber anspielt! Verdammt, ich bin doch niemals korrupt gewesen!» Er kratzte sich mit allen Fingern am Kopf. «Was könnte denn gemeint sein? Habe ich vielleicht irgendwann, ohne dass es mir bewusst wurde, etwas getan, das mir als Korruption vorgeworfen werden könnte? Irgendeine unbedachte Handlung? Ein Geschenk, das ich hätte zurückweisen müssen? Eine Einladung, die ich hätte ablehnen müssen?»

«Paul! Mach dich bitte nicht verrückt!» Barbaras Stimme war energisch geworden. Sie packte seine Hand. «Am besten gehen wir sofort zur Polizei. Die muss sich doch eines solchen Falles annehmen! Kann tödlich sein, heißt es da. Das ist eine glatte Morddrohung, Paul, ich bekomme Angst um dich!»

«Eben!» Paul seufzte. «Auch die Polizei kann mir niemals einen absoluten Schutz bieten. Ich muss zuallererst selber darauf kommen, was da gemeint sein könnte, und wer dahinter steckt. Bitte lass mich allein, Barbara. Ich kann jetzt nicht weiter darüber nachdenken. Meine Agenda ist randvoll.»

Kopfschüttelnd kehrte Barbara zurück in ihr Büro. Sie arbeitete seit sechsundzwanzig Jahren im Bundesamt für Naturgefahren, und Paul Schwitter war der dritte Amtsvorsteher, dem sie als Chefsekretärin unterstellt war. Und der erste, mit dem sie ein Liebesverhältnis unterhielt. Aber das wussten nur einige wenige Eingeweihte. So eine Konstellation sah man in der Bundesverwaltung eigentlich nicht gern. Aber offen ansprechen wollte es auch niemand. Barbara hatte sich im Lauf der Jahre einen tadellosen Ruf im Amt erarbeitet. Sie trat gegenüber allen Leuten freundlich und korrekt auf, ließ aber nie Zweifel darüber aufkommen, dass sie über sämtliche Projekte im Amt bestens informiert war, und dass ihr dieses Wissen nicht wenig Macht verlieh. Aber in all dieser Zeit war ihr noch nie etwas Vergleichbares passiert. Eine anonyme Drohung gegen eine Amtsperson! Die zudem noch ihren Liebsten betraf!

Plötzlich fühlte sie sich komplett erschöpft. Ihre Knie wurden butterweich, ihr Atem ging keuchend. Seufzend ließ sie sich auf einen Stuhl fallen, sackte richtiggehend in sich zusammen. Sie merkte, dass sie am ganzen Körper zitterte. Ja, gestand sie sich ein, sie hatte Angst, furchtbare Angst! Schon sehr bald, hatte es geheißen. War etwa das kommende Wochenende gemeint? An dem Paul und sie auf der Alp Schönegg Vögel und Schmetterlinge beobachten wollten, zusammen mit vielen anderen Naturbegeisterten? Aber warum sollte ausgerechnet dort etwas passieren? Ein Verbrechen konnte doch überall geschehen! Die schiere Vorstellung, dass jemand ihren Paul umbringen könnte, war vollkommen absurd. So etwas kam nur im Krimi vor! Und doch, Barbara vermochte sich nicht zu beruhigen. Die Angst blieb wie ein dicker Kloss in ihr stecken.

Iris König und Elena Keller hatten vor bald dreißig Jahren zusammen Botanik studiert. Seither waren sie dicke Freundinnen. Gerade saßen sie im Pausenraum des Botanischen Instituts und tranken ihren Nachmittagskaffee. Iris trug einen blau-weiß längsgestreiften Sommerrock. Dieser war bei dem heißen Wetter sehr bequem und hatte zudem den Vorteil, ihre in die Breite gegangenen Hüften zu kaschieren. Wie meistens hatte Iris die Augenpartie gekonnt blauviolett geschminkt und einen Lippenstift in Altrosa aufgetragen. Ihre mit einem Hauch von Grau durchwobenen blonden Haare waren zu einem Pagenschnitt frisiert. Elena fand diese Frisur unpassend, weil sie Iris’ rundliches Gesicht betonte und sie älter als nötig erscheinen ließ. Trotzdem hätte sie unter keinen Umständen eine Bemerkung dazu fallen lassen. Elena selber, immer noch so schlank, wie sie früher gewesen war, trug lediglich verwaschene Bluejeans und ein schwarzes T-Shirt. Sie war ungeschminkt und hatte ihre langen, dunkelblonden Haare zu einem lockeren Pferdeschwanz gebunden. Iris fand es schade, dass sich Elena so wenig Mühe mit ihrer äußeren Erscheinung gab. Mit wenig Aufwand hätte sie viel erreichen können, dachte sie oft. Aber selbstverständlich hätte sie es niemals laut ausgesprochen. In früheren Zeiten war dies anders gewesen, da hatten sich die Freundinnen beinahe täglich über Kleider, Schmuck und Schminke unterhalten. Aber in letzter Zeit hatte sich dieses Thema irgendwie von selber erledigt.

«Wie ich mich auf das nächste Wochenende freue!» sagte Iris. «Wieder mal raus aus dem Alltagstrott. Auf der Alp Schönegg war ich noch nie. Die Flora dort oben soll prächtig sein.»

«Das ist sie wirklich», bestätigte Elena, «ich war schon mehrmals dort, um für meine Projekte die Pflanzenwelt zu kartieren. Die Gegend präsentiert sich traumhaft schön, das kann ich dir versprechen. Und auch das altehrwürdige Hotel Bellavista, wo wir untergebracht sind, hat seinen besonderen Reiz.»

«Da bin ich mal gespannt auf dieses Wunderhotel», fuhr Iris fort, «aber genauso freue ich mich darauf, wieder einmal alte Bekannte aus anderen Wissensgebieten zu sehen. Man trifft doch mehr oder weniger immer dieselben Kolleginnen und Kollegen aus den anderen Disziplinen an.»

«Ja, solch ein Tag der Artenvielfalt ist eine gute Sache», bestätigte Elena, «wenn man immer nur im Botanischen Institut sitzt, vergisst man leicht, welche Vielfalt an spannenden Organismen es neben unseren geliebten Pflanzen noch gibt: Vögel, Schmetterlinge, Wildbienen, Käfer, Fliegen, Spinnen, Schnecken, Moose, Pilze… Der Reichtum der Natur ist doch atemberaubend, nicht wahr? Sag mal, Iris, war es leicht» – Elena malte mit zwei Fingern Gänsefüßchen in die Luft – «Urlaub von deiner Familie zu bekommen?»

«Kein Problem», lachte Iris, «meine Söhne sind ja schon zwölf und fünfzehn, die haben andere Prioritäten, als mit Mama einen Sonntagsspaziergang zu machen… Kurt wird mit den Jungs am See zelten gehen, so wird es meiner Männerrunde nicht langweilig. Ja, wir haben es gut zusammen in meiner kleinen Familie.»

«Schön für euch», erwiderte Elena dumpf. Nach ein paar Sekunden wandte sie sich ab und blickte starr zur Wand. Sie konnte nicht verhindern, dass ihr zwei große Tränen über die Wangen liefen.

Iris merkte es sofort. «Oh, das wollte ich bestimmt nicht, Elena», sagte sie schuldbewusst und strich ihr sanft über den Handrücken, «tut mir echt leid.»

Jetzt fühlte sich Iris nur noch miserabel. Immer wieder passierte es ihr, dass sie ins Fettnäpfchen trat, wenn sie gegenüber Elena von ihrer Familie schwärmte. Du unsensibles Ding, schimpfte sie sich jeweils in solchen Situationen. Ja, Elena hatte es, nach dem tragischen Ereignis damals, wahrlich nicht leicht gehabt. Kein Wunder, hatte sie das Vertrauen in die Männer weitgehend verloren und seither, neben einigen belanglosen Episoden, keine stabile Beziehung zu einem Mann mehr aufbauen können. Dabei lag diese unselige Geschichte schon mehr als fünfundzwanzig Jahre zurück! Aber eben, gewisse Wunden lassen sich kaum heilen, sagte sich Iris.

«Schon gut», erwiderte Elena und wischte sich mit ihrem Taschentuch energisch die Tränen weg, «beim Thema Familie kommen mir manchmal die Gefühle hoch… Dann kommt wieder dieses sinnlose Grübeln… Wenn ich das damals besser hätte verarbeiten können… Wenn ich doch noch den Richtigen gefunden hätte… Und wenn ich jetzt gerade zwei pubertierende Teens hätte… Ach Scheiße, vergiss es, Elena!» Sie ballte beide Fäuste. «Übrigens», versuchte sie vom Thema wegzukommen, «hast du die Teilnehmerliste auch erhalten?»

«Ja, natürlich», erwiderte Iris, «aber ich habe sie noch nicht wirklich angeschaut. Lass mich mal sehen.»

Sie griff in ihre Handtasche, zog ein Couvert hervor, entnahm ihm ein Blatt, faltete es auf und begann, die Liste durchzugehen. «Aha, die Insektenkunde ist wie immer gut vertreten. Ganze fünf Leute vom Naturhistorischen Museum sind für diesen Bereich angemeldet. Wen wundert’s, Insekten-Arten gibt es ja wie Sand am Meer…»

Elena hatte ihre Liste ebenfalls hervorgenommen. «Oh, sogar Ernst Biland macht wieder mit. Ist der nicht schon ein wenig…?»

«Genau», bestätigte Iris schmunzelnd, «ein wenig Gaga ist der emeritierte Professor unterdessen… Aber warum soll er nicht mitmachen? Ich finde es schön, dass man ihn nicht links liegen lässt. Er kann ja einfach dabei sein, ohne jeden Druck, irgendetwas Wissenschaftliches beitragen zu müssen. Er wird viele seiner geliebten Wanzen finden und damit sehr zufrieden sein, auch wenn er wohl ihre Namen manchmal verwechselt.»

«Da stimme ich dir zu. Weißt du noch? Die Entomologie-Vorlesung, die wir bei Ernst Biland im zweiten Studienjahr besuchen mussten. Meine Güte, das sind jetzt genau dreißig Jahre her! Der Biland war damals im besten Mannesalter, immer piekfein gekleidet und frisiert. Nicht wahr, die Insektenkunde hat uns beide nicht wirklich fasziniert, unser Herz hing schon damals klar an der Botanik.»

«Aber die Vorlesung war trotzdem gut, auch wenn es nur Pflichtstoff war», entgegnete Iris, «und weißt du noch, wie wir uns immer gefragt haben, wie wohl Bilands Privatleben aussehe? Ob er verheiratet oder einfach Single geblieben sei? Oder… vielleicht sogar vom anderen Ufer sei…?»

«Ja, aber wir haben es nie herausgefunden. Waren das noch Zeiten!», sinnierte Elena lächelnd.

Iris blickte wieder auf die Namensliste. «Paul Schwitter und Barbara Manzoni sind auch wieder dabei, das freut mich! Ich mag die beiden wirklich gut. So angenehme Leute! Und sonst? Oh je! Joachim Seidler kommt ebenfalls! Bist du sicher, Elena, dass du es verkraften wirst, Joachim wieder zu begegnen? Wenn vielleicht all die Erinnerungen wieder hochkommen…?»

«Ja, ich muss und werde das aushalten!», stieß Elena grimmig hervor. «Ich lasse es nicht zu, dass die Vergangenheit mein Leben so einengt. Nein, ganz bestimmt nicht!»

«Gut, wenn du meinst. Aber quäle dich nicht unnötig. Wenn es dir zu viel wird, vertraue dich mir an, und dann reist du einfach wieder ab. Versprichst du mir das, Elena?»

«Ja», hauchte diese nur und musste nochmals ihr Taschentuch hervorholen. Ja, ihre Erinnerungen an Joachim Seidler waren beileibe nicht nur angenehm.

«Verdammt, was soll das?» Joachim Seidler zerknitterte das Stück Papier und warf es mit einer raschen Handbewegung auf seinen Schreibtisch, als wäre es glühend heiß. «Wer besitzt die unverschämte Frechheit, mir zu drohen?» Er ging rasch zum Fenster, riss es auf und sah auf den parkähnlichen Garten hinaus, der seine Villa umgab.

«Joachim! Was hast du? Ist etwas passiert?»

Eine Frauenstimme hatte sich genähert. Joachim drehte sich um.

Martina erschien im Türrahmen. «Warum schreist du so?», fragte sie ungeduldig. Da bemerkte sie den zerknitterten Fetzen Papier auf dem Schreibtisch, nahm ihn mit spitzen Fingern auf und strich ihn mit der Handfläche glatt. «Oh je! Du wirst bedroht! Das ist ja allerhand!»

Joachims Miene entgleiste. «Eine unverschämte Frechheit ist das! Soeben mit der Post gekommen, natürlich anonym!» Er schlug mit der Faust auf seinen Schreibtisch. «Ach, am besten vergesse ich es gleich wieder. Das kann ja nur so ein Spinner sein, der sich wichtig machen will.»

Martina Seidler sah nochmals auf das Papier. Eine ungelenke Schrift mit grünem Filzschrift und in Druckbuchstaben:

Joachim Seidler, was hast du mir damals Schlimmes angetan! Du wirst es bitter bereuen! Die Rache folgt schon sehr bald!

Sie wandte den Blick ihrem Mann zu. «Meinst du, das sei klug? Einfach wegzuschauen und den Wisch zu ignorieren? Also ich würde sofort zur Polizei gehen damit.»

«Unsinn», stieß Joachim aus und strich sich mit gespreizten Fingern seine hellbraunen, leicht gewellten Haare zurück. «Ich habe jetzt keine Zeit für solchen Firlefanz. Das nächste Wochenende rückt näher, und bis dann gibt es noch jede Menge zu tun…»

«Wie du meinst», antwortete Martina leise. «Aber einmal ernsthaft – und ich meine ernsthaft! – zu überlegen, wer überhaupt einen Grund hätte, sich für irgendetwas an dir rächen zu wollen – wäre das nicht angebracht? Nur du selber kannst abschätzen, wer das sein könnte. Mir damals Schlimmes angetan, heißt es. Demnach muss das Ereignis, auf das angespielt wird, schon länger zurückliegen. Ich denke sogar, es geschah vor meiner Zeit. Und es muss etwas sehr Gravierendes gewesen sein. Ich kann mir lebhaft vorstellen, dass du dir in jüngeren Jahren Manches geleistet hast, das nicht wirklich dem Gesetz und der Moral entsprach. Denk bitte mal gründlich darüber nach. Ich glaube nicht daran, dass dies nur ein Scherz ist.»

Joachim warf ihr einen bösen Blick zu. «Ehm… Wie du meinst. Aber zuerst brauche ich einen Schnaps.»

Er ging zu seiner in der Ecke des Wohnzimmers stehenden Bar, schenkte sich einen Whisky ein und kippte ihn hinunter. «Sagt nicht ein altes Sprichwort: Hunde, die bellen, beißen nicht?», fragte er zu Martina hinüber.

Diese zuckte nur mit den Schultern. «Also wenn du dich darauf verlassen willst… Bitte sehr.»

Joachim brummelte etwas vor sich hin. Dann nahm er das Papier nochmals zur Hand. «Mir damals Schlimmes angetan, heißt es tatsächlich… Verdammt! Wer kann das bloß sein?»

Er sah zum Fenster und schüttelte energisch seinen Kopf. «Selbstverständlich war ich nicht immer ein Engel», sagte er grinsend vor sich hin. «Manchmal muss man eben jemandem auf die Füße treten, um seine Ziele zu erreichen. Das ist ganz normal. Aber so eine unmissverständliche Drohung?»

Er drehte sich wieder zu Martina um. «Du hast vollkommen recht. Ich muss diese üble Sache zuerst gründlich überdenken. Ich verziehe mich jetzt ins Büro. Es könnte heute Abend etwas später werden. Du musst nicht warten mit dem Essen.»

«Kein Problem», antwortete Martina und wandte sich zum Gehen, «du weißt ja, an meinem freien Mittwochnachmittag bin ich immer im Tennisclub. Und auch da könnte es etwas später werden…»

Soll er sich doch besser mit seiner Bettina über die Bedrohung unterhalten, sagte sich Martina, ich jedenfalls habe damit gar nichts zu tun. Sie eilte in ihr eigenes Schlafzimmer, um ihre Tennissachen zusammenzupacken.

Joachim spürte einen Kloß im Magen. Wenn er sich vorstellte, wie seine Frau im Tennisclub mit dieser Stefanie… Dabei ging das jetzt schon drei Jahre so… Er schaffte es einfach nicht, sich an solch eine Vorstellung zu gewöhnen. Lag es etwa daran, dass sie nach wie vor zusammenwohnten? Wenn auch mit getrennten Schlafzimmern und Bädern, aber man begegnete sich eben täglich einige Male. Wäre es doch an der Zeit, eine Scheidung ins Auge zu fassen? Lange, sehr lange hatte er sich gegen diese Idee gewehrt, weil es ihm einfach nicht in den Kram passte. Martina, Stefanie, Bettina, alle wären glücklich über eine Scheidung. Vielleicht am Ende auch er selber? Aber vorerst wartete ein dringenderes Problem: Dieser Drohbrief!

Joachim entschloss sich, entgegen seiner Gewohnheit, zu Fuß ins Büro bei seiner Firma AquaTop zu gehen. Dreißig Minuten Marschieren statt vier Minuten Autofahren, das würde ihm guttun.

Er ging, ohne sich zu beeilen, aber auch ohne stehenzubleiben, in Richtung Innenstadt. Seine Sinne nahmen kaum etwas wahr von dem, was um ihn herum passierte, so tief war er in Gedanken versunken. Mir damals Schlimmes angetan, wirbelte es ihm unablässig durch den Kopf. Was könnte damit gemeint sein? Ja, er hatte manches Mal über die Stränge geschlagen, vor allem in jungen Jahren. Er hatte viele Frauen gehabt, und manche von ihnen hatte er bitter enttäuscht. Da drängte sich plötzlich ein Name in der Vordergrund: Elena. Diese attraktive und gescheite Frau. Und auch sie hatte er enttäuschen müssen. Nichts dergleichen war geplant gewesen, es war einfach passiert. Nein, damals war es für ihn undenkbar gewesen, sich auf so eine Situation einzulassen. Natürlich war es für Elena bitter gewesen, aber was hätte er sonst tun sollen? Ja, das war damals die beste und die einzige Lösung des Problems gewesen!

Joachims Gedanken schweiften um viele Jahre weiter… Und schon erschien der Name Peter vor seinem inneren Auge. Ja, da hatte er nicht fair gehandelt, das musste er sich eingestehen. Peter hätte eine größere Abfindung bekommen sollen. Aber im Geschäftsleben geht es eben manchmal hart auf hart, und wenn man sich nicht einigen kann, muss man die Konsequenzen ziehen. Er, Joachim, hatte die Auseinandersetzung für sich entschieden. Aber als Sieger hätte er großzügiger sein sollen, das sah er jetzt ein. Wie es Peter wohl jetzt ging? Hatte er sich, nach seinem unschönen Abgang von der AquaTop, im Lehrerberuf bewähren können?

Als Joachim vor einem Fußgängerstreifen warten musste, kam ihm plötzlich Angelika in den Sinn. War das eine Frau gewesen, und wie hatte er um sie gekämpft! Ja, sein Konkurrent hatte damals ebenfalls mit harten Bandagen gefochten, aber am Ende hatte er Angelika auf seine Seite ziehen können. Und, wer weiß, ohne dieses tragische Unglück kurz darauf wären sie vielleicht heute noch zusammen! Wie war er dumm gewesen damals, hatte geglaubt, mit einem schnittigen Sportwagen könne er jede Frau beeindrucken. Und es hatte ja funktioniert, bis zu jenem Unglückstag…

Ach, lass das Grübeln, sagte sich Joachim, das sind doch nur längst erledigte alte Geschichten. Wie sollte es möglich sein, dass eine davon jetzt wieder auftauchte und ihm mit einer solchen Drohung die Hölle heiß macht? Nein, das war einfach absurd! War es doch nur ein makabrer Scherz?

Energisch betrat er das Gebäude der AquaTop.

Es klopfte an der Tür. «Herein!», rief Max Opprecht mit seiner Bassstimme. «Ach du bist es, Lisa. Komm rein.»

Max Opprecht freute sich jedes Mal beim Anblick seiner Forschungsassistentin Lisa Tonelli. Mit ihrer weiblichen Ausstrahlung, ihrer Offenheit, ihrer Fröhlichkeit, ihrem Charme brachte sie täglich eine Prise Lebensfreude in die verstaubten Mauern des Naturhistorischen Museums. Das war auch bitter nötig, weil in diesen Räumen ausschließlich mit toten Organismen gearbeitet wurde. Säugetiere, Vögel, Reptilien und Amphibien standen als Präparate – sogenannt ausgestopft – in den Vitrinen herum. Insekten, Spinnen und andere Kleintiere reihten sich – tot, aufgespießt und sauber beschriftet – in breiten Schubladen nebeneinander. Pflanzen lagen zu Tausenden – getrocknet, aufgeklebt und etikettiert – in den Herbariums-Schränken. Schließlich die Mineralien und Steine in der Geologischen Abteilung – nun, die waren sowieso nie wirklich lebendig gewesen…

Max schmunzelte. «Womit kann ich dienen, Lisa?»

«Zunächst mal Guten Tag!»

Lisa Tonelli fuhr sich lachend durch ihren schwarzen Lockenkopf, den sie von ihrem italienischen Vater geerbt hatte. Ihre dunklen Augen strahlten, die purpurrot angemalten Lippen leuchteten, und ihre hellblaue Bluse, der dunkelblaue Jupe und die schwarzem Pumps mit halbhohen, dünnen Absätzen passten perfekt zusammen.

«Sorry, sorry», brummte Max schuldbewusst. Es machte ihm Freude, eine gepflegte weibliche Erscheinung zu würdigen. «Also guten Tag, schöne Frau. Komm ruhig herein, ich beiße bekanntlich niemanden.»

Lisa kam näher und stupste Max mit einem Zeigefinger scherzhaft in die Brust. «Max, wie siehst du heute wieder aus! Ist das eine Art, eine junge, elegante Dame zu empfangen?», spöttelte sie kopfschüttelnd.

Max Opprecht, seit Jahrzehnten Leiter der Entomologischen Abteilung, war bekannt für sein ausgesprochen saloppes Auftreten. Die grauen, immer etwas zu langen Haare standen ihm in allen Richtungen vom Kopf ab, der Bart war mehr schlecht als recht getrimmt, das T-Shirt war nicht gebügelt, die Jeans ausgefranst, die Sandalen uralt, und seine tiefe Stimme konnte, wenn man ihn nicht kannte, abschreckend wirken. Trotzdem war Lisa, die immer sehr auf ihre äußere Erscheinung achtete, mehr als zufrieden mit ihrem Vorgesetzten. Max war blitzgescheit, dabei immer freundlich und hilfsbereit, und eines seiner großen Anliegen war die Förderung junger Frauen in ihrer akademischen Karriere. Als Max vor mehr als dreißig Jahren seine Dissertation schrieb, gab es kaum Frauen, die sich wissenschaftlich für Insekten interessierten. Inzwischen aber waren die Frauen unter den Doktorierenden sogar in der Überzahl, und Max versuchte, die besten unter ihnen für eine akademische Laufbahn zu motivieren. Lisa gehörte definitiv zu den besten, fand er. Nach ihrer mit summa cum laude abgeschlossenen Dissertation über die Gruppe der Schlupfwespen hatte er ihr zu einer Forschungsstelle als Postdoktorandin verholfen, und jetzt stand sie kurz vor dem Abschluss ihrer Habilitationsschrift. Er hoffte, Lisa auch weiterhin als Forscherin für das Museum halten zu können. Aber natürlich war ihm bewusst, dass sie mit größerer Wahrscheinlichkeit irgendwann als hauptamtliche Dozentin an eine Universität wechseln würde.