letztlich tödlich - Karla Letterman - E-Book

letztlich tödlich E-Book

Karla Letterman

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Beschreibung

Karla Letterman präsentiert in diesem Krimi-Band ebenso spannende wie abwechslungsreiche Kurgeschichten. Ob die Pflanzenkundlerin mit ihren sehr speziellen Botaniklektionen, der verdächtig spendable Geschäftsmann oder die verhängnisvoll-vergessliche Maklerin - die Personen werden mit treffenden Hinweisen sicher skizziert. In Lettermans Geschichten spielt häufig die Landschaft eine Rolle, als Charakter und Befindlichkeit prägende Umgebung ihrer Protagonisten. Nie werden Grausamkeiten detailliert geschildert; der Autorin geht es vielmehr um die Bedingungen, unter denen das zwischenmenschliche Geflecht beginnt, erdrückend zu werden.

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Seitenzahl: 195

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Karla Letterman

letztlich tödlich

Kurzkrimis und Mini-Thriller

© 2021 Karla Letterman

Umschlag, Fotografie: Thomas Schmitt-Schech

Verlag und Druck:

tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

ISBN

 

Paperback:

978-3-347-04793-8

Hardcover:

978-3-347-04794-5

e-Book:

978-3-347-04795-2

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und der Autorin unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Die Geschichten in diesem Buch sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen wären rein zufällig und unbeabsichtigt.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Rose, Tulpe, Eisenhut – Von Pflanzenkundlerinnen und Blumenhassern

Traumstoff

Botaniklektion

Blütenträume

Mannsbilder, mit und ohne Krawatte

Krasse Krawatte

Heldenbild

Verlorener Posten

Digitales

Die zehnte Besichtigung

Pack aus

Eigen-artig – Symbolik und Hintergründiges

Rot wie Blut

Lichtschmelze

Der Mann mit der Wolfsangel

Anja, Manja, Tanja – Frauen und ihr Überraschungsmoment

Eineiig

Wetter stricken

Die schwarze Dame von Dahme

Untiefen

Dicker Fisch im Netz

Fluch der Familie

Pferde, die durchgehen

Sylvie lacht nicht

Die Nacht des Heiligen Jürgen

Abbildungsverzeichnis

Autorin & Fotograf

Vorwort

Liebe Krimifreundin, lieber Thriller-Fan,

bevor Sie so zufällig in dieses Buch stolpern wie mein armer Dragunsky in ein unheimliches Haus im Wald, fragen Sie sich lieber (was auch die tüchtige Maklerin vor dem zehnten Besichtigungstermin hätte tun sollen):

Bin ich hier richtig?

Es gibt Menschen, die sich in Anwesenheit von Leichen wohlfühlen. Der angesehene A. zählt dazu; mehr sei an dieser Stelle noch nicht verraten. Sollten Sie allerdings zu denen gehören, die Schilderungen von Grausamkeit genießen, weist Ihnen eine resolute junge Dame mit sorgfältig lackierten Fingernägeln umstandslos den Weg hinaus. Denn dann haben sie hier ebenso wenig verloren wie der Mann mit der Wolfsangel in Schneeflittchens Stammcafé.

Habe ich Sie jedoch mit der bisherigen Erwähnung einiger Charaktere, denen Sie in meinen Geschichten begegnen werden, neugierig gemacht, dann … ja, wie würde der kultivierte Oliver sagen: Dann bleiben Sie gern und verbringen einige spannende Stunden mit uns!

Ob Sie hinterher Sympathien für Viktoria hegen, deren Welt nach ihrem Gefühlsausbruch nicht mehr dieselbe ist, oder ob Sie am liebsten zusammen mit Matzes Trollen Licht schöpfen wollen, bleibt selbstverständlich Ihnen überlassen.

Möglicherweise werden Sie sich nicht mehr trauen, den Lieferdienst zu bestellen. Möglicherweise werden die Krawattenträger unter Ihnen den unstillbaren Drang verspüren, ihren Schrank auszumisten. Möglicherweise verzweifeln Sie beim Versuch, das Strickmuster der betagten Arabella nachzuarbeiten. Für all das übernehme ich ausdrücklich keine Verantwortung!

Eines jedoch garantiere ich Ihnen: Sie werden nicht Timons Traumpaste kaufen müssen, um der Langeweile zu entfliehen. Im Zweifelsfall steigen Sie einfach in einen Fiat 500, kurbeln das Schiebedach auf und folgen Karlas und Irenes Spur bis zu einem ganz gewöhnlichen Urlaubsort an der Ostsee.

Nur beschweren Sie sich bitte nicht, wenn Sie dort auf suspekte Gestalten treffen. Denn wenn Sie bis dahin gekommen sind, dann … tja, dann haben Sie es nicht anders gewollt!

Zusammen mit Anja, Manja, Tanja und dem Rest der mörderischen Meute grüßt Sie

Ihre

Karla Letterman

Rose, Tulpe, Eisenhut

Von Pflanzenkundlerinnen und Blumenhassern

Während Timon im stillen Kämmerlein mit seinem Traumstoff beschäftigt ist, läuft Rona draußen über Stock und Stein. Sie kennt sich besser mit Pflanzen aus, als manchem lieb sein kann, und erteilt einem aufdringlichen Bekannten nur zu gern die ultimative Botaniklektion.

Nadine hängt ihren Blütenträumen nach und übersieht dabei geflissentlich, dass das auch Jonas’ Sehnsüchte waren. Bis der ihr das unmissverständlich klarmacht …

Traumstoff

Timon fuhr sacht mit dem Holzlöffel durch die große Röstpfanne. Die Kreuzkümmelsamen begannen diesen würzigen, exotischen Duft zu verbreiten, den er so liebte. Ein paar Minuten mussten sie noch vor sich hin darren, und er konnte ihrem Knistern lauschen. Die anderen Zutaten, Kurkuma, Koriander, Senf, Bockshornklee, Ingwer, Kardamom, Pfeffer und Zimt, hatte er schon bereitgestellt. Ach ja – er wollte diesmal mit Piment experimentieren. Er erwartete, dass das scharfe Nelkenaroma, dezent eingesetzt, seine Currymischung perfekt abrunden würde.

Für eine wertvolle halbe Stunde hatte er seine Verbitterung vergessen, war ganz der begeisterte Kräuterkundler.

Als der Kreuzkümmel abgekühlt war und er sich ans Mörsern der Körner und Samen machte, musste er wieder an Helmut Schlemilch denken, den satten Fernsehkoch, der sein sowieso schon stattliches Vermögen mit seiner, Timons, Hilfe weiter mehrte. Erst vorige Woche war der hier ungebeten hereinstolziert, mit einer staunenden Assistentin im Schlepptau, hatte über Chili-Sorten doziert und sich dann eine andere Art der Verpackung auserbeten. »Unsere neuen Etiketten verwenden veganen Klebstoff, der hält auf diesem Billigplastik nicht.« Dazu hatte er die Nase gerümpft und Timon tadelnd angesehen.

Timon fühlte Wut in sich aufsteigen wie giftige Dämpfe. Da nutzte dieser Show-Typ, der von nichts eine Ahnung hatte, sein, Timons, Können, und er als Hersteller wurde nirgends erwähnt! Die erlesenen Gewürze, die er lieferte, kriegten in Schlemilchs Lager ein Etikett aufgepappt ›Helmuts Würzwelt‹, und alle dachten, der Fernsehkoch hätte sie selbst kreiert. Er, Timon, war und blieb der Mann im Keller, den nie die Sonne des Ruhms bescheinen würde. Zu verdanken hatte er das alles nur einem Mann: Torsten Buchwald, seinem Englischlehrer, der ihm das Abi vermasselt hatte. Nur deshalb hatte er nicht Pharmazie studieren und Apotheker werden können – wegen eines unbeirrbaren Pedanten.

Timon atmete tief durch, als er zur Tür ging. Es hatte geklopft, und er ahnte, dass es Hazel war. Ihr wollte er nicht mit gerötetem Kopf und geschwärzten Gedanken gegenübertreten. Also sog er ganz bewusst eine Nase voll Röstaromen ein und wurde ruhiger.

»Ich brauche ganz schnell Nachschub vom Frauenmantel- und Johanniskraut-Tee und von den Brennnessel-Samen!« Wie üblich war sie außer Atem hereingeplatzt und sparte sich die Begrüßung. Timon fand ihr kleines, schüchternes Lachen, das sie der überhasteten Bestellung folgen ließ, hinreißend.

»Oh, also großer Bedarf an Liebeskräutern heute«, sagte er und sah ihr in die Augen. Nun errötete er doch.

»Ja, eine Selbsterfahrungsgruppe aus Bremen ist übers Wochenende im Seminarhaus. Ich habe den Tipp vom Hausmeister bekommen.« Sie lachte wieder, und nun zeigten sich auch die Grübchen, auf die Timon gewartet hatte.

Er würde alles für dieses Mädchen tun! »Ja? Möchtest du noch etwas?« Er hatte ihr Zögern bemerkt.

»Ehrlich gesagt, läuft das Zeug mit dem Bilsenkraut ziemlich gut. Ich biete es als ›Traumpaste‹ an. Aber du hattest ja gesagt…«

»Immer schön vorsichtig damit!« Timon runzelte leicht die Stirn. »Magische Stoffe muss man mit Bedacht dosieren. Halluzinogene können sehr gefährlich werden. Deine Mutter hätte das selbst gewusst, ihr hätte ich es nicht zu sagen brauchen. Aber dich …«

»Mich musst du warnen, ich weiß.« Hazel machte sich keine Illusionen: Sie würde nie eine echte Harzer Kräuterfrau sein. Sie konnte mit Charme und Witz den Andenkenladen betreiben, das schon. Aber von den Tropfen und Salben, mit denen sie unterm Ladentisch handelte, hatte sie soviel Ahnung wie ein Bremer Fischkopp vom Harz. Das wusste nur Timon; allen anderen gegenüber spielte sie die würdige Nachfahrin der weisen Kräuterfrauenfamilie.

Timon lachte in sich hinein, als er diese ganz besondere, inoffizielle Mixtur zusammenrührte. Zum ersten Mal verwendete er neben dem Bilsenkraut mit seinen giftigen Alkaloiden die hochwirksamen Herz-Glykoside des Fingerhuts und, um ganz sicher zu gehen, einige Tropfen Öl von den Zweigspitzen des Sadebaums. Das Anwendungsrisiko aus seiner Sicht bestand im unangenehm bitteren Geschmack dieser Mischung. Er hoffte jedoch, dass Hazels Kunde so erpicht auf die Wirkung wäre, dass er das Aroma in Kauf nehmen würde. Auch wenn es Hazel nicht bewusst war: sie verplapperte sich in ihrer atemlosen, niedlichen Art immer wieder, sodass Timon genau wusste, für wen er da gerade eine ›Traumpaste‹ oder ›Mystikpillen‹ herstellte.

Torsten Buchwald stand kurz vor der Pensionierung und fand, er hätte diese kleinen Auszeiten, die er sich ab und zu gönnte, redlich verdient. Wie viele Kollegen machten auf Burnout und fielen ganz aus! Er jedoch erschien jeden Tag pünktlich zur ersten Stunde. Wenn er noch leicht benebelt von der ›Session‹ des Vorabends war, hatte er kein schlechtes Gewissen. Die Schüler merkten es sowieso nicht, so beschäftigt waren sie mit Pinterest, Snapchat und YouTube.

Hazel hatte ihm den »ultimativen Kick« versprochen. Er dürfe sich nicht am bitteren Geschmack stören, hatte sie gesagt, die Wirkung wäre unerhört.

Hazel hatte Recht gehabt.

Botaniklektion

Es war eine gehörige Strecke vom alten Zechenhaus, in dem sie wohnte, bis in die Marktstraße in Zellerfeld, wo sie übten. Mit dem Bus war es ziemlich umständlich, und zu Fuß brauchte sie eine ganze Stunde, auch wenn sie flott lief, denn sie ging über Stock und Stein, über Fichtennadelteppich und über knüppelharten Asphalt.

Trotzdem war Rona glücklich, dass sie diesen Chor gefunden hatte. Das Repertoire war abwechslungsreich, nicht immer nur Gospels wie sonst so oft. Draco, ihr neuer Chorleiter, hatte früher den Universitätschor dirigiert, er verstand also etwas von Musik und auch von Menschen. Vielleicht sogar von Pflanzen, denn er hatte den Chor ›Arnika‹ getauft. Ein Name, der Rona aufmerken ließ, denn die kostbare Blume gehörte zu den Zauberpflanzen und hatte deshalb einen besonderen Platz in ihrem Herzen. Arnika mit ihrem wunderbar satten Gelb stand für die Sommersonnenwende, lange bevor sie als Heilpflanze entdeckt wurde.

Draco hätte Rona eigentlich nicht in den Chor aufnehmen dürfen, weil die obere Altersgrenze bei 50 lag. Doch Rona verstand etwas von Kräutern und Blumen, die im Harz oft im Verborgenen wuchsen und starke Kräfte entfalteten, wenn man sie richtig einzusetzen wusste. Manche trugen zu einer regelrechter Verjüngungskur bei. Früher hatte man ihre Vorfahrinnen als Hexen beschimpft, noch viel früher als weise Frauen verehrt. Auch Rona verstand sich auf die Herstellung von allerlei Salben und Tinkturen, darunter waren wertvolle, geheim gehaltene Familienrezepturen. Sie sah noch lange nicht aus wie 53, deshalb hatte Draco sie bedenkenlos aufgenommen.

Sie sang leise eine kleine Melodie, Maienwind am Abend sacht, eine ihrer Lieblingsweisen aus dem Chor, als sie die letzten Meter in der Goslarschen Straße entlangschlenderte. Sie fuhr jeden Dienstagabend einkaufen, selbst wenn sie nur ein Fläschchen Olivenöl und Haferflocken brauchte, denn um diese Zeit war im Supermarkt der wenigste Andrang. Heute wärmte die Sonne schon angenehm, ein Pfeifenstrauch wiegte anmutig seine Zweige. Für einen Frühlingstag im Oberharz war es erstaunlich warm. Summend öffnete Rona die oberen Knöpfe ihrer Strickjacke.

Jäh stoppte sie. Das gab es doch nicht! Der Kerl mit dem albernen Schlapphut stand tatsächlich vor dem Supermarkt, vor ihrem Supermarkt, was zum Teufel …! Sollte sie umdrehen? Pah! Sie würde nicht weglaufen vor dem, so weit käme es noch! Trotzig straffte sie den Rücken.

Als die Autos endlich durchgefahren waren und sie die Straße überqueren konnte, stand er noch immer am selben Platz. »Rose – äh: Rona, welch holder Zufall! Kannst du mir helfen? Du kennst dich doch mit Pflanzen aus. Ich suche schöne Blumen für meinen Balkon.« Er versuchte, seinem Tonfall etwas Beiläufiges zu geben, aber das gelang war ihm nicht ganz, natürlich nicht, so ein Schwachsinn: Blumensuche vor dem Supermarkt!

Sie war von Anfang an skeptisch gewesen, schon an seinem ersten Abend im Chor. Er hatte allen die Hand geschüttelt, ihr zuletzt, und natürlich hatte sie ihn lächelnd willkommen geheißen, vielleicht eine Sekunde zu lange, und er hatte sich in ihrem offenen Lächeln verfangen und zu ihr gesagt: »Ich bin Rainer und sonst keiner.« Sie hatte gekichert, nicht wohlwollend, sondern hämisch über den plumpen Spruch, dann hatte sie sich abgewandt und war summend nach Hause gegangen.

An ihrem Geburtstag hatte sie sich vom Chor ein Lied wünschen dürfen. Rosmarin hatte sie gewählt, sie liebte die Melodie und die Pflanze. Rosmarin, bitter-süßes Abschiedskraut, auch wenn die meisten Leute nur an das Würzen von Ofenkartoffeln dachten. Was Draco wohl über die Zauberpflanze wusste? »Ein schönes Stück für Rona, unsere Botanikerin, das passt ja bestens zu dir«, hatte er befunden und es schwungvoll dirigiert. Da hatte dieser Rainer gesagt: »Ich habe auch bald Geburtstag. Dann wünsche ich mir Sah ein Knab’ ein Röslein stehn«, und hatte sie bedeutungsvoll angegrinst. Sie musste an eine Trottellumme denken.

Beim allgemeinen Abschied an diesem Abend hatte er sie das erste Mal »Rose – äh Rona« genannt und dann nachgeschoben, sie erinnere ihn eben an die schönste aller Blumen, da könne er nichts machen. War so jung und morgenschön / Lief er schnell, es nah zu sehn / Sah's mit vielen Freuden. Er sang die Verse im Weggehen, und alle schmolzen dahin angesichts seiner wunderbar vollen Bassstimme. Nur Rona schmolz nicht. Rona kochte.

Bei der nächsten Chorprobe war sie vorbereitet. Er faselte wieder etwas von seinen Lieblingsblumen, den Rosen, und sah sie schmachtend an. Beim Abschied gab sie ihm die Hand und steckte ihm dabei ein Blatt Papier zu. Sie hatte die Charakteristika von Blutberberitze, Schöllkraut und Sonnentau ausgedruckt. »Meine Lieblingspflanzen«, hatte sie ihm zugeraunt und die Zähne gefletscht.

Die beiden Wochen danach hatte Rainer bei der Chorprobe gefehlt.

Er sah nicht schlecht aus, das musste man ihm lassen. Er war bestimmt zehn Jahre jünger als sie. Nicht zu groß, nicht zu klein, breite Schultern, schlank, aber nicht mager, der Mann achtete auf sich. Wären da nur nicht diese Augen! Große, runde Augen, die sie an ihre Ausbildung erinnerten, an die Zeit im Kuhstall. Jawohl, richtige Kuhaugen hatte Rainer-und-sonstkeiner, auch wenn sie zu den Schläfen hin nun ein wenig spitz zuliefen, kleine Fältchen zogen an den Lidern.

Leider stand in der Mitgliederliste ihre Adresse. Rainers noch nicht, er war noch zu neu im Chor, die Liste wurde nur alle paar Monate aktualisiert. Doch Rona wusste, dass er am östlichen Ortsrand wohnte, wo es nach Altenau hinausging, das hatte er Draco erzählt, als sie in der Nähe stand. Deshalb beschlich sie eine böse Ahnung, als sie ihn zum ersten Mal an der Bushaltestelle Frankenscharrnhütte weit im Westen warten sah. Sie befürchtete, er wäre ihretwegen dort. Zu Recht. Er hatte ihr seitdem drei-, viermal dort aufgelauert, obwohl sie ihn angefaucht und ihm unmissverständlich klar gemacht hatte, dass sie auf seine Gesellschaft keinerlei Wert lege. Als er ein paar Abende später beim Aussteigen aus dem Bus ihren Arm berührte, hatte sie den Entschluss gefasst, ihn als Stalker anzuzeigen. Eine offizielle, unmissverständliche Verwarnung, das wäre es!

Gleich am nächsten Morgen spazierte sie aufs Kommissariat in der Berliner Straße. Sie öffnete die Tür – und prallte zurück. ›KK Rainer Ochsenmann‹ stand auf dem Namensschild vor ihm. Zum Glück hatte er sich zu einer Kollegin umgewandt und sah sie nicht.

Rona taumelte nach Hause, sie lief ohne innezuhalten die viereinhalb Kilometer zu Fuß, durch den Ort, übers Feld, in den Wald, durchs Kleine Clausthal. Sie goss einen Aufgesetzten hinunter und dann noch einen. Nach dem dritten Glas bekam sie einen Lachanfall. Rainer Ochsenmann, ein Bulle mit Kuhaugen!

Als sie die Woche darauf im Chor Come again geprobt hatten, hatte er sie bei der Zeile ›to see, to hear, to touch, to kiss, to die with thee again‹ so schamlos angeschmachtet, dass selbst Draco, der eigentlich aufs Dirigieren konzentriert war, irritiert den Blick abgewandt hatte. Da hatte Rona auf dem Heimweg ›I shot the sheriff‹ gebrummt.

Doch dann hatte er höchst lebensfroh vor ihr gestanden, vor dem kleinen Supermarkt. Balkonpflanzen von Rewe, wie dumm konnte man sein!

Als Rainer zum dritten Mal hintereinander nicht zur Chorprobe erschien, wurden die anderen unruhig. Ob jemand seine Telefonnummer habe, wollte Draco wissen. Doch die hatte niemand, die Adressliste war ja noch nicht aktualisiert.

»Vielleicht singt er jetzt in einem anderen, einem größeren Chor«, mutmaßte jemand. »Mit dieser Stimme …«. Vernehmliches Seufzen. »Bei den Himmlischen Heeren«, flüsterte Rona, so leise, dass nicht einmal ihre Sitznachbarin es verstand.

Als der Hornochse Rainer sie vor dem Supermarkt nach Balkonblumen gefragt hatte, war blitzartig eine Idee in ihr entstanden. Ein Plan.

»Wenn du gute Balkonblumen haben willst, musst du woanders hingehen. Zum Gartencenter. Wenn du willst, begleite ich dich«, hatte sie zuckersüß reagiert.

Mit seinen Kuhaugen hatte er sich an ihr festgeglubscht, festgesaugt, wollte sie aufsaugen, auffressen mit Haut und Haar. Sie hatten sich für den übernächsten Tag verabredet.

Im Gartencenter hatte sie spielerisch Arbeitshandschuhe anprobiert, bevor sie ihm die Tupperdose herüberreichte, als wäre es ihr just in dem Moment eingefallen. »Ich habe noch ein paar Rosmarinkekse übrig, wenn du mal probieren magst …«, hatte sie gesagt. So war die Dose ohne ihre Fingerabdrücke in seinen Besitz gewechselt. Dann hatten sie Fuchsien, Nelken und Geranien eingesammelt. Die Rose Holde vom Harz, die er mit Schmachtaugen-Seitenblick in den Wagen gestellt hatte, hatte sie zurückgepackt mit dem Kommentar: »Die würde auf deinem Balkon kümmern.«

Er gab keine Ruhe, wollte sie unbedingt zum Abendschoppen einladen. »Gern, nächste Woche habe ich viel Zeit«, hatte sie geantwortet und gelächelt. Sie wusste, dazu würde es nicht mehr kommen. Sie wusste, er würde die Kekse verschlingen, weil sie von ihr waren. Solange er nicht sie selbst verschlingen konnte.

Nach der Chorprobe machte sich Rona auf den Heimweg, sie entschied sich für die weitere Strecke, am Eulenspiegler Teich vorbei. Sie hatte Zeit, niemand war ihr auf den Fersen. Sie sang das Lied Rosmarin. Doch an manchen Stellen ersetzte sie Ros--ma--rin durch Ei--sen--hut.

Blütenträume

Jonas stieß den Spaten beiseite. Mit bloßen Händen würde er weitermachen; Kratzer, Schrammen waren unerheblich.

Angesichts der Wunden, die man ihm zugefügt hatte, zählten Blessuren der Außenhaut nicht. Steinspitzen, Lehmbrocken, Stacheln – was rau war und dreckig, das war genau richtig.

Er irrte vorbei an robusten Zentifolien, duftenden David-AustinSchönheiten und prächtig blühenden historischen Sorten, Apothekerrose, Konditorrose. Tipps fielen ihm ein, wie man das beste Gelee daraus kochte, welche Blüten sich zur Parfumgewinnung eigneten. Wie konnte sein Hirn so glasklar Rezepte abrufen, wieso jetzt, wo es um ganz anderes ging.

Endlich sah er sie. Sie hatte ihm am meisten bedeutet, er hatte sie gepflegt, sie hatte ihn betört. Schon der Klang ihres Namens bezauberte ihn: Ghislaine de Féligonde. Mit schwerem Stiefel trat er gegen das filigrane Geflecht ihrer Zweige. Er verfluchte die zartgelben Blütenblätter, die im Herunterschweben seine nackten Unterarme streiften, als wollten sie ihn streicheln. Einmal noch.

Fassungslos, haltlos, ohne jede Beherrschung zerrupfte er Blütengesichter. Er riss sich die Hände an Dornen blutig, er schrie und hörte es nicht, Tränen der Wut und der Trauer und Beschämung rannen die Wangen hinunter, und er spürte sie nicht. Wie ein zu spät geborener Sturm wütete er mit einer Kraft, die alles nachholen wollte.

Seine Wurzeln waren gekappt; sie hatte ihm jegliche Illusion genommen.

Er wollte ihr Albtraum sein.

»Wo ist Jonas?«

Kastner hatte seinen Trenchcoat ordentlich an die Garderobe gehängt, hatte einen Blickblitz ins Wohnzimmer geworfen; es war leer. Jetzt blieb er an der Küchentür stehen.

Nadine drehte sich zu ihm um, ihr Lächeln wie so oft in den letzten Tagen ein Ausbund an Tapferkeit. »Ich mache Teig für Kartoffelpuffer. Für Dich, mich – und für Jonas.«

»Wo ist er denn, dein nimmersatter Ex-Lover?«

»Bitte Max … «

»Ist doch wahr.«

»Vielleicht hat er einen Auftrag bekommen. Er wollte akquirieren.«

»Einen Auftrag, so, so. Hat er überhaupt sein Fotozeug eingepackt?«

»Verdammt, ich bin nicht seine Sprecherin. Wenn du wissen willst, was er mitgenommen hat, guck nach!«

»Und was heißt, ›er wollte akquirieren‹. Hat er’s getan oder nicht?«

Nadine versetzte der blauen Porzellanschüssel, die ihr plötzlich wie manifestierter Vorwurf vorkam, einen Hieb mit dem Schneebesen. »Steh nicht wie ein Kontrolleur in der Tür. Komm rein und setz dich!« Sie schubste die Schüssel beiseite. Teig schwappte über.

Kastner, der bedächtig an den Tisch getreten war, schob sich einen Barhocker halb unters Gesäß. Mehr stehend als sitzend beugte er sich über die Tischplatte und zog einen Finger aufreizend langsam durch die Teigpfütze.

Nadine sagte ihm nicht, dass sie das hasste. Er wusste es. Sie atmete tief durch. Dann gab sie sich einen Ruck. »Vielleicht war es ein Fehler, Jonas aufzunehmen.«

Kastner hob den Blick, sie sollte ihm in die Augen sehen.

Nadine bebte. »Er ist wirklich seltsam seit … damals. Doch ich musste mich so entscheiden, Max. Ich musste ihm einfach helfen. Ich habe ihn mal geliebt.«

»Du kannst nichts dafür, was passiert ist. Er kann nicht dir die Schuld geben.«

»Er tut mir trotzdem leid.«

»Ach, immer diese Leier: der arme, labile Mann.« Kastner hätte am liebsten auf den Boden gespuckt, besann sich aber. »Ich sag dir, er weiß genau, welchen Knopf er drücken muss. Wie gestern. Er beschimpft mich, und du zerfließt vor Mitgefühl. Für den Aggressor, nicht für mich.«

Nadine biss sich fest auf den Unterkiefer. Sie wandte Max den Rücken zu, stellte Pfanne und Öl bereit. »Wir werden ihn ja wohl noch zehn Tage ertragen können. Und dann … du weißt, er will nach München – dann ist er weit weg.«

Sie fragte sich, ob sie das selbst glaubte. Wäre er wirklich weit weg? Jonas litt, beträchtlich stärker als sie vermutet hatte, und er hegte sein Leid. Seit sie ihm Unterschlupf gewährt hatte, ließ er keine Gelegenheit aus, sie zu erinnern. An ihr ersehntes Hausprojekt, das sie umsetzen wollten, sobald Nadines Eltern ausgezogen wären. Das kleine Zimmer, für das sie schon drollige bunte Tapete ausgesucht hatten. Die gemeinsam freigeschnittenen Rosen.

Tage mit Schmetterlingen, Tage des Dufts, längst verflogen. Jonas jedoch blieb mutwillig stehen und machte sich schwer, er stampfte auf und zeigte mit dem Finger auf andere. Jetzt zeigte er auf Max und auf ihren Neuanfang.

Er müsse nur noch zwei Wochen bis zu seinem Umzug überbrücken, hatte er ihr gesagt, als er mit seiner Fotoausrüstung vor der Tür stand. ›Hab meine Wohnung zu früh gekündigt, hab gedacht, die wären in München eher fertig.‹ Natürlich hatte sie ihn nicht hierhaben wollen. Doch er bestand darauf, sie sei es ihm schuldig. ›Für alles, was ich verloren habe.‹ Als hätte sie nichts verloren.

Nadine drehte sich zu Max um und wagte ein Lächeln. Sie seufzte. »Ich freue mich auf unseren eigenen Umzug.«

Kastner starrte sie an. »Der Umzug, der Umzug. Dann ist die Welt in Ordnung, ja?«

»Warum, bitte, nicht?«

Er zerrte die Teigschüssel zu sich heran und begann, mit dem Rührbesen Krater in die Kartoffelmasse zu bohren. »Weil du nicht so tun kannst, als gäbe es keine Probleme mehr, wenn nur deine Blütenträume in Erfüllung gehen. Glaubst du, mir macht es nichts aus, in das Haus zu ziehen, wo eigentlich ›Jonas‹ an jeder Tür steht? Und an jeder Blume im Garten?«

»Das fällt dir ja früh ein.« Nadine stemmte die Fäuste in die Seiten. »Und was schlägst du jetzt vor?«

»Der Garten gehört kräftig umgegraben, bevor ich mich da niederlasse. Von euren Erinnerungsrosen lasse ich mich nicht betören.«

Nadine knallte die Tür, als sie ging. Sie musste raus aus der Küche, sich hinter Kochzeug verschanzen half nicht gegen Max’ Zorn. Ganz raus musste sie. Wind schnappen.

»Aiko!«

Der Collie, zutraulich und sanft und weich, hatte sie oft über das verlorene Kind hinweggetröstet.

»Aiko…?!« Nichts rührte sich. Hatte etwa Jonas den Hund mitgenommen?

Wie von Magneten gezogen steuerte sie das Haus an. Sie öffnete die verschnörkelte Pforte und folgte dem schmalen Weg zur Westseite des Gebäudes. Unsicher lächelte sie der Steinputte am Pavillon zu.

Die kahlen Zweige im Floribunda-Beet bemerkte sie fast gleichzeitig mit den abgeschlagenen Köpfen der Damaszenerrosen. Purpurfarbene Blütenblätter bedeckten den Boden wie Tränen aus Blut.

Sie sah den Spaten.

Nadines Körper war taub und dumpf, als sie sich aufmachte nachzusehen, warum dieser verschmierte Riemen da unter dem Spaten aussah wie ihre Hundeleine.

Mannsbilder, mit und ohne Krawatte

Ernesto Wrage trägt gern Krasse Krawatte, doch das ist längst nicht das Bemerkenswerteste an ihm.

Immerhin lügt er nicht – im Unterschied zu Oscar, der alles dafür getan hat, um ein Heldenbild zu bewahren.

Verlorener Posten, denkt Dragunsky, als er bei seiner Flucht auf ein ungepflegtes Gebäude stößt. Hätte er geahnt, was das in diesem Fall bedeutet, hätte er es nicht betreten.

Das Haus, in dem Henning arbeitet, ist hochmodern. Und es gibt darin verwirrend viel Digitales.

Schmoll ist sauer, dass ihn die Immobilienmaklerin noch immer nicht erkennt, dabei ist es schon Die zehnte Besichtigung