Leuchtfische - Filiz Penzkofer - E-Book

Leuchtfische E-Book

Filiz Penzkofer

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Beschreibung

Zwei Schwestern, ein Fluch und jede Menge Strickwolle. Ein leichtfüßiger Roman über Herkunft, Familie, Schuldgefühle – und den Mut, sich seinen Ängsten zu stellen Malina ist noch klein, als ihre Eltern die gleichaltrige Melek adoptieren. Sie hat sich zwar immer eine Schwester gewünscht, aber diese Melek kann sie nicht akzeptieren. Im Gegenteil – als die Perseiden eine Sternschnuppe nach der anderen vom Himmel schleudern, wünscht sie sich, dass Melek einfach verschwindet. Und nun, zehn Jahre später, scheint ihr Wunsch in Erfüllung zu gehen. Ausgerechnet in der Nacht, in der Malina mit Meleks großer Liebe Micha rumknutscht und die Perseiden wieder durch den Himmel fegen, fährt Melek mit dem Fahrrad in eine Autotür und fällt ins Koma. Und Malina glaubt fest, dass sie daran Schuld ist. Und so beschließt sie, in Meleks Heimatstadt Istanbul zu fliegen, um das Schicksal gnädig zu stimmen. Wie, weiß sie selbst nicht. Doch auf ihrer Reise findet Malina heraus, dass die Geschichte ihrer Adoptivschwester auch ihre eigene ist – und zwar mehr, als sie ahnte. Ein gefühlvoller und emotionaler Jugendroman ab 14 Jahren über das Erwachsenwerden …

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Seitenzahl: 295

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Filiz Penzkofer

Leuchtfische

 

 

Über dieses Buch

 

 

Malina ist noch klein, als ihre Eltern die gleichaltrige Melek adoptieren. Sie hat sich zwar immer eine Schwester gewünscht, aber diese Melek kann sie nicht akzeptieren. Im Gegenteil – als die Perseiden eine Sternschnuppe nach der anderen vom Himmel schleudern, wünscht sie sich, dass Melek einfach verschwindet. Und nun, zehn Jahre später, scheint ihr Wunsch in Erfüllung zu gehen. Ausgerechnet in der Nacht, in der Malina mit Meleks großer Liebe Micha rumknutscht und die Perseiden wieder durch den Himmel fegen, fährt Melek mit dem Fahrrad in eine Autotür und fällt ins Koma. Und Malina glaubt fest, dass sie daran Schuld ist. Und so beschließt sie, in Meleks Heimatstadt Istanbul zu fliegen, um das Schicksal gnädig zu stimmen. Wie, weiß sie selbst nicht. Doch auf ihrer Reise findet Malina heraus, dass die Geschichte ihrer Adoptivschwester auch ihre eigene ist – und zwar mehr, als sie ahnte.

 

 

Weitere Informationen finden Sie unter www.fischer-sauerlaender.de

Biografie

 

 

Filiz Penzkofer, 1985 in München geboren, studierte Germanistik, Kommunikationswissenschaften und Turkologie in Bamberg und Ankara. Sie lebt in Berlin, wo sie als freie Autorin und Journalistin tätig ist. Zuvor war sie viele Jahre als Radio-Kolumnistin im Bayerischen Rundfunk zu hören, hat Theaterkurse für Kinder geleitet, Filme mit Jugendlichen gedreht und Deutsch unterrichtet.

Inhalt

Widmung

Das Anschnallzeichen erlischt. [...]

I

II

III

«Weiter nach rechts!», [...]

Dank

Für meine wunderbare Schwester.

Für meine wunderbaren Schwestern.

Das Anschnallzeichen erlischt. Der Flieger hat die Wolkendecke durchbrochen. Vorletzte Nacht habe ich noch die Perseiden am Himmel über dem Tiergarten gesehen, jetzt könnte ich mich selbst sehen, wenn ich noch da unten wäre. Auf dieser verfluchten Bismarck-Statue, wo alles angefangen hat. Also nein, nicht angefangen. So richtig angefangen hat alles vor zehn Jahren, als Melek zu uns kam. Oder kurze Zeit später mit den Perseiden, die damals zum ersten Mal als Sternschnuppen vom Himmel gefallen sind.

Egal.

Jedenfalls hat es vor zehn Jahren angefangen. Seitdem hat mein Fluch vor sich hin geschmurgelt, in irgendwelchen Töpfen oder Fässern oder keine Ahnung wo, bis er reif genug war. Und vorgestern Nacht war es dann eben so weit. Gut Ding will Weile haben, sagt ein Sprichwort, aber das gilt für die bösen Dinge anscheinend genauso. Nach zehn Jahren konnten die Töpfe oder Fässer, oder wie auch immer, dem Druck des Fluches nicht mehr standhalten und sind allesamt plötzlich explodiert, haben all das Aufgestaute in die Atmosphäre geschleudert, wo sie dann wieder mit den Perseiden auf die Erde gefallen sind. «Die Ereignisse haben sich überstürzt», würde man dazu in den Nachrichten sagen, weil eine Nachricht ja keinen Platz hat für die ganze Wirklichkeit. Da braucht man eben so Sätze wie «Die Ereignisse haben sich überstürzt», weil man damit tausend Seiten Geschehen zusammenpressen kann wie einen Berg Klamotten in einem Vakuumbeutel.

Jedenfalls: Flüche kann man nicht einfach so ungeschehen machen. Sonst wäre ja alles ganz einfach. Ich müsste nur ein bisschen Weihrauch auf Meleks Krankenhausbett verteilen, und sie würde die Augen öffnen und wäre wieder da. Aber so funktioniert das eben nicht. Keine Ahnung, wie es sonst funktioniert oder ob überhaupt.

Aber ich denke schon, man kann Buße tun und richtig dafür arbeiten, dass einem das Schicksal wohlgesinnt ist und sagt: «Ja, das hast du jetzt unendlich verkackt. Aber ich sehe, du bemühst dich aufrichtig, du durchgedrehtes Menschenkind! Na gut, wollen wir mal nicht so sein …» Keine Ahnung.

Lustig, dass ausgerechnet ich das sage, vor allem nach der Sache mit Latein, aber: Geschadet hat es bestimmt noch nie, sich um Dinge zu bemühen. Und: Wer wagt, gewinnt!

Was soll also schon schiefgehen …?

Gehen so nicht immer die «Letzte Worte»-Witze? Die letzten Worte des Elektrikers: «Was is ’n das für ein Kabel …?» Die letzten Worte des Fallschirmspringers: «Immer diese Scheißmotten …» Die letzten Worte von Malina, bevor sie ans andere Ende der Welt fliegt ohne Plan und nix: «Was soll schon schiefgehen …?»

Gut, Weltende ist Istanbul nicht wirklich. Aber landen werde ich auf einem anderen Kontinent, und das fühlt sich schon genug unendlich weit an.

Vorhin, als ich an der Check-in-Schlange nach Flughafen Sabiha Gökçen, Istanbul, stand, wäre ich am liebsten wieder umgekehrt. Weil man bei Stillstand viel zu viel Zeit hat, über die nächsten Schritte nachzudenken. Das ist wie mit dem Fünfmeterbrett im Schwimmbad: Wer wirklich springen will, der muss schneller sein als seine Zweifel: schnell die Leiter nach oben, Anlauf und zack. Wer sich ganz nach vorne ans Brettende stellt und nach unten guckt, hat eh schon verloren.

Eigentlich war ich mir bis vorhin sicher, dass Sabiha Gökçen irgendein alter General war, so wie die meisten Statuen. Aber nope! Sabiha Gökçen war die erste Kampfpilotin der Welt. Das habe ich vorhin noch in der Schlange beim Einchecken gegoogelt, als Ablenkungsmanöver vor meinen eigenen Gedanken.

Und was dabei sonst noch rauskam, war zu heftig, um Zufall zu sein: Sabiha Gökçen war die Tochter des Staatsgründers Atatürk. Aber nicht einfach die Tochter, sondern die Adoptivtochter! Ausgerechnet und genau wie Melek! Melek, wegen der ich überhaupt in die Türkei fliege und genau auf diesem Flughafen lande. Es hätte ja noch den Atatürk-Flughafen gegeben, aber nein, mein Flieger hat sich Sabiha Gökçen ausgesucht bzw. ich den Flieger. Egal. Viel wichtiger ist, dass hier Schicksalsregel Nummer 1 greift: Dinge, die sich genau dann doppeln, wenn man dringend nach einem Zeichen sucht, sind nichts anderes als ein Schicksalsnicken! Im Sinne von: «Gut, durchgedrehtes Menschenkind, weiter so!»

Deswegen bin ich dann am Ende doch noch ins Flugzeug gestiegen. Trotz einem Haufen wilder Hornissen im Bauch.

Jetzt, in keine Ahnung wie vielen Tausend Meter Höhe über Berlin, kann ich nur hoffen, dass ich das Schicksal richtig verstanden habe. Ist ja alles irgendwie auch Interpretationssache, ein bisschen wie bei Flüsterpost. Vielleicht hat das Schicksal ja überhaupt nicht meinen Flug in die Türkei abgenickt, sondern im Gegenteil mein Bauchgefühl, es sein zu lassen. Das wäre unendlich blöd gelaufen.

Um mich zu beruhigen, krame ich nach meinem Strickzeug. Beim Stricken gibt es klare Strukturen, da gibt es nichts falsch zu verstehen. Man hat zwei Arten von Maschen: die Links- und die Rechtsmaschen. Das ist die Basis. Und daraus lässt sich ein Universum an Mustern kombinieren: eine Reihe links, eine Reihe rechts, zwei Reihen links, eine Reihe rechts usw. Man kann die Maschen verschränken, zunehmen, abnehmen oder zusammenstricken. Das ist alles, und gleichzeitig ist es unendlich.

Was ich am Stricken aber eigentlich liebe, ist das: Wenn ich mich verstrickt habe, dann ribble ich die Maschen einfach wieder auf und mache sie neu.

Ich wünschte, alles wäre so einfach. Im echten Leben, meine ich. Einfach zurück zum Fehler, die Masche neu stricken, fertig. Dann würde ich jetzt nicht hier im Flugzeug sitzen und in irgendein Land fliegen, mit dem ich überhaupt nichts zu tun habe.

Wobei das auch nicht ganz richtig ist.

Es ist nicht irgendein Land.

Es ist Meleks Heimat.

Das Land, in dem sie geboren wurde.

In dem sie die ersten sieben Jahre ihres Lebens verbracht hat, bevor sie an diesem einen Mittwoch zu uns kam.

Das Verrückte ist, dass Melek nie über ihre Kindheit geredet hat. Als hätte es diese Zeit in der Türkei nie gegeben. Als wäre dieser eine Mittwoch bei uns ihr Anfang gewesen. Als könnte man sich die Jahre einfach vom Körper zupfen wie bei so einem Abreißkalender.

Ehrlich gesagt habe ich auch nie nach ihrem Leben davor gefragt. Mama und Papa auch nicht, jedenfalls habe ich das nicht mitbekommen. Vielleicht wollten sie keine tiefen Wunden aufreißen. Und ich … Keine Ahnung, mir ist überhaupt nicht in den Sinn gekommen, mit ihr darüber zu reden. Vielleicht war ich viel zu beschäftigt damit, mir mein altes Leben zurückzuwünschen. Am Anfang jedenfalls. Und später war es zwischen uns schon zu abgekühlt, um solche Fragen zu stellen. Fragen, die warme Blicke brauchen, wenn man sie stellt.

Ich krame nach meinen Kopfhörern, lehne meine Stirn gegen das Fenster. Ich hätte Melek einfach fragen sollen. Ich hätte es versuchen müssen. Und jetzt ist es dafür zu spät, wie so oft im Leben. Melek liegt im Koma, kann nicht antworten. Wenn sie überhaupt wieder aufwacht, dann weiß keiner, in welchem Zustand sie sein wird. Ich habe Stunden damit verbracht, alles über Kopfverletzungen zu googeln, habe mich von einem schlimmen Artikel zu noch schlimmeren geklickt. Ich reibe mir über die Stirn, als könnte ich damit das Gelesene, das mir jetzt wieder ungefiltert in den Sinn kommt, zusammen mit tausend anderen üblen Gedanken, einfach so aus meinem Kopf kehren.

Als ich gestern bei ihr am Bett stand, habe ich mir vorgenommen, nur noch positiv zu denken. Für Melek! Vielleicht fühlt sie das ja irgendwie. Vielleicht macht ihr das Hoffnung.

Weil es mir gerade aber nicht so wirklich gelingt, positiv zu denken, versuche ich zumindest, an etwas anderes zu denken, also eben nicht an das Allerschlimmste, was eintreffen könnte. Ich konzentriere mich auf das Zählen der Maschen und auf Nouvelle Vague, This is not a love song, auf die Wolken, die Schwerelosigkeit, das alles. Aber meine Gedanken müssen sich irgendwo da unten auf der Startbahn festgebissen haben. Jedenfalls lösen sie sich nicht von dem, was da unten passiert. Als würde ich mich in Gedanken da unten festkrallen. Häuser, Straßen, Felder sind inzwischen schon zu Miniaturen geschrumpft, aber die Sache mit Melek, die bleibt so groß, wie sie ist. Da kann ich so hoch sein, wie ich will.

Irgendwie habe ich geahnt, dass etwas passieren wird. Schon vor Wochen. Das ist immer so. Nennen wir es mal Schicksalsregel Nummer 2: Zunächst geschieht eine kleinere doofe Sache, um dann erst die richtig doofe Sache loszutreten. Als würde einen das Schicksal nur kurz anstupsen: «Tock, ja genau, durchgedrehtes Menschenkind! Genau dich nehme ich!» Um dann, im nächsten Moment, mit seinen Klauen auszuholen und dann: Wumms.

So wie bei Gin zum Beispiel: Vorletzten Monat wurde ihr in der Bahn der Geldbeutel geklaut, zwei Wochen später hat ihre Mutter sie nach der Schule abgeholt und ihr in einem Café beim Erdbeerkuchen erzählt, dass sie sich von Gins Papa trennen wird. Und dass sie und Gin in eine andere Stadt ziehen werden und dass alles schon geregelt ist. Der Umzug, die neue Wohnung usw. Seitdem sitzt Gin in irgendeinem Vorstadtkaff 645 Kilometer entfernt von mir, und das Einzige, was ich machen kann, ist, ihr Katzenvideos zu schicken und ellenlange Nachrichten auf WhatsApp aufzusprechen, die zu einer Art Tagebuch 2.0 eskalieren. «Liebe Gin, du kannst dir nicht vorstellen, was heute passiert ist …» Aber egal. Ich will gar nicht über Gin reden. Schließlich geht es um Melek. Und der ist jetzt genau das Gleiche passiert wie Gin. Das Schicksal: einmal Tock, dann Wumms. Nur eben in noch tausendmal schlimmer!

Melek schicke ich natürlich kein Katzenvideo. Erstens könnte sie die in ihrem Zustand eh nicht sehen, zweitens sieht unsere Beziehung so etwas gar nicht vor. Wenn wir uns zu Hause über den Weg laufen, dann reden wir nur das Nötigste miteinander. Das war schon immer so, auch bei unserer ersten Begegnung. Sie, wie sie vor mir im Wohnzimmer sitzt, so komplett anders, als ich sie mir vorgestellt hatte. Was ja nicht ihre Schuld ist. Nichts von alledem.

Jemand tippt mir auf die Schulter. Ich zucke zusammen. Der Steward. Für einen Moment packt mich die Panik. Lassen meine Eltern nach mir suchen? Oder, noch schlimmer, verfolgt mich die Polizei? Jetzt schon? Mit klopfendem Herzen nehme ich die Kopfhörer ab.

«Wird das ein Schal?»

«Wie bitte?» Ich blicke den Steward verwirrt an.

«Ob das ein Schal wird?», fragt er.

Ich atme auf. Das klingt nicht nach Bruchlandung mit anschließender Polizeiübergabe.

This is not a love song, singt Nouvelle Vague. Not a love song!

Ich schüttele den Kopf. Kein Schal. Also echt nicht! Schal stricken ist zwar nicht so schlimm wie Socken, aber gleiche Kategorie.

«Was dann?» Er will es wirklich wissen.

Also zucke ich die Achseln und blicke zu ihm hoch. «Ein Negligé für Bismarck!»

Das alte hat ihm die Polizei bestimmt schon über den Kopf gezogen und der Spurensuche übergeben. Ganz sicher weiß ich das aber nicht. Nach dieser verdammten Nacht kam ich nicht mehr dazu nachzusehen, ob der General es noch trägt. Andere freuen sich über Selbstgestricktes. Aber Generäle oder Reichskanzler neu zu bekleiden gilt als Straftatbestand. Noch mehr, wenn man ihnen die Nägel in Pinky Rose besprüht.

«Schön, da wird er sich bestimmt freuen!» Der Stewart hat natürlich keine Ahnung, was ich meine, nickt aber höflich und bittet mich, mein Strickzeug wegzulegen.

Von wegen grenzenlose Freiheit über den Wolken, denke ich. Und schon hat mich dieser schlimme «Über den Wolken»-Ohrwurm erfasst, trotz Nouvelle Vague in Dauerschleife.

«Bitte! Ist wichtig. Wegen der unerwarteten Turbulenzen.»

Ich frage mich, ob Turbulenzen, die erwartet werden, wirklich unerwartete Turbulenzen genannt werden sollten, dabei habe ich doch eigentlich wichtigere Themen im Kopf. Aber so ist es ja oft. Ich weiß nicht, ob ich wegrennen soll oder mich tot stellen oder mich entschuldigen, und weil all das gleich wenig an der Situation mit Melek ändern würde, mache ich mir stattdessen komische Gedanken.

Und stricke weiter.

Keine Ahnung, ob sich der General wirklich über das Negligé gefreut hat, ich meine, es ist eine Bismarck-Statue! – aber mit echten unerwarteten Turbulenzen kenne ich mich inzwischen bestens aus. Erst passiert lange, lange Zeit gar nichts, dann rüttelt es so ein bisschen. Und ehe man sich versieht, schüttelt es dein ganzes Leben durch, bis du nicht mehr weißt, wo oben und unten ist. Du weißt nur, dass du irgendwas tun musst. Die Stürme aufhalten, die du selbst herbeigeschworen hast. Klingt dramatisch? Ist so!

 

Das Flugticket habe ich gestern gekauft. Gleich nachdem ich bei Melek im Krankenhaus war. Ich habe einfach gebucht, ohne darüber nachzudenken. Also, ohne bewusst darüber nachzudenken. Hätte ich bewusst darüber nachgedacht, hätte ich den Laptop ganz bestimmt wieder zugeschlagen. Es ist ja eigentlich völlig irre, einfach in ein Land zu fliegen, in dem man die Sprache nicht spricht, niemanden kennt und noch nicht einmal weiß, welche Nummer man für den Notruf wählen muss.

Na ja, unbewusst muss ich mich ja schon irgendwie damit beschäftigt haben, man kommt ja nicht einfach so auf die Idee, sich zu Hause die Schuhe auszuziehen und dann gleich den Laptop anzuschalten, um nach Flügen und einem Hostel zu googeln. Anschließend habe ich die wichtigsten Sachen in meinen Rucksack geworfen: Handykabel, Wolle, Chips mit Essiggeschmack, frische Unterhosen und das Döschen mit Rosenweihrauch, das ich mir mal in einem Eso-Laden gekauft habe. Auch wenn man Flüche nicht rückgängig machen kann, ein bisschen abmildern kann man sie ja vielleicht doch. Keine Ahnung. Schaden wird es auf jeden Fall nicht.

Heute Morgen dann noch der Brief an meine Eltern.

Liebste Mama, liebster Papa, bitte macht euch keine Sorgen, ich fliege nach Istanbul. Ich habe das Gefühl, ich muss dorthin, wegen Melek. Ich rufe euch an. Eine riesengroße Umarmung, eure Malle

Meinen alten Spitznamen habe ich verwendet, um so undramatisch wie möglich zu klingen. Malle hört sich einfach harmlos an. Nach Kurzurlaub und Sonnenschein. Keine Ahnung, wann meine Eltern aufgehört haben, mich so zu nennen. Vor zwei, drei Jahren? Malina hört sich jedenfalls erwachsener an, als ich mich fühle. Manchmal, an seinen sentimentalen Tagen, nennt mich Papa aber auch noch Möwchen, weil ich bei meiner Geburt wie eine kleine Möwe geschrien haben soll, das senkt das Altersgefühl gleich wieder um tausend Prozent.

Plötzlich habe ich das Foto von mir als Baby vor Augen, das bei uns im Wohnzimmer hängt. Wie vorsichtig mich meine Eltern in den Händen halten. Und wie beschützend. Als könnten sie mich vor allen Gefahren dieser Welt abschirmen. Je länger ich über das Bild nachdenke, desto schwerer fällt mir das Atmen. Als hätte ich eine Packung Hubba Bubba im Hals. Fast mit Gewalt atme ich ein. Ich hätte mit ihnen reden sollen, statt einfach abzuhauen. Falls mir etwas passiert, habe ich mich noch nicht einmal von ihnen verabschiedet! Wie schlimm wäre das dann?! Man darf eigentlich niemals im Streit gehen. Und: Man sollte sich immer verabschieden. Ich meine, so richtig. Vor jedem kleinen bisschen Nach-draußen-Gehen. Und wenn es nur der zehn Minuten entfernte Tiergarten ist. Bei Tausenden von Kilometern sowieso.

Andererseits: Mama hätte mich niemals alleine fliegen lassen. Sie fand schon meinen Plan nicht so toll, Gin in den Sommerferien mit dem Zug zu besuchen, weil ich dreimal hätte umsteigen müssen. Wie hätte ich ihr dann erst das mit Istanbul erklären sollen?

Ich krame nach meinem Weihrauch, nehme ein Steinchen in meine Handflächen, rieche daran und versuche, an etwas beruhigend Langweiliges zu denken.

Scheibenwischer im Regen.

Schlafende Igelbabys auf Instagram.

Das Gesicht von Olaf Scholz, wenn er Marmeladenbrot isst.

 

Wäre Melek vorgestern Abend mit mir auf Michas Geburtstagsfeier gegangen, wäre alles anders gekommen. Oder wenn sie noch früher hin wäre, so wie sie es eigentlich vorgehabt hatte. Sie wollte Micha eigentlich schon am Nachmittag die ausgebaute Waschmaschinentrommel vorbeibringen, die sie extra für ihn auf einem Schrottplatz gesucht hatte – zum Marshmallows-Grillen.

Aber als ich loswollte, und ich war schon spät dran, war sie immer noch in ihrem Zimmer, wo ich sie durch die Tür hindurch telefonieren hörte:

«Er ist mein bester Freund, ich kann mich doch jetzt nicht einfach so in ihn verlieben! Das ist doch völlig crazy!»

Mir war sofort klar, dass es um Micha gehen musste. Jeder mit halbwegs Sachverstand kann sehen, dass Micha schon seit Ewigkeiten in Melek verknallt ist. Sie ist diejenige, die ihn gefriendzoned hat. Zumindest bis jetzt.

Um sie nicht weiter unfreiwillig zu belauschen, klopfe ich.

«Ja?» Melek nimmt ihr Handy vom Ohr und sieht mich an. Sie studiert mein Gesicht, wahrscheinlich versucht sie herauszufinden, wie viel ich mitgehört habe.

Ich lasse mir nichts anmerken. «Ich mache mich auf die Socken, kommst du mit?»

«Lieb, dass du fragst, aber fahr besser ohne mich. Ich brauche noch, muss warten, bis die Schmerztablette endlich wirkt.»

Vor ein paar Tagen war Melek beim Klettern in der Halle abgerutscht und mit der Schläfe gegen einen Wandvorsprung gestoßen, sie meint, nicht schlimm. Aber seitdem kommen die Kopfschmerzen schubweise. (Da ist sie, Schicksalsregel Nummer 2: «Hallo, Menschenkind, tock, ja, genau du!»).

Ich nicke. «Soll ich die Waschmaschinentrommel mitnehmen?»

«Ja, das wäre gut, dann könnt ihr schon Feuer machen. Danke!» Sie lächelt mich an. Alles einen Tick zu höflich. Inzwischen hat unser Verhältnis etwas von einer ganz o.k. funktionierenden Zweck-WG. Was schon mal tausendmal besser ist, als in unseren ersten Jahren, da haben wir fast kein Wort miteinander geredet. Am Esstisch lief eigentlich jede Unterhaltung über meine Eltern. Melek und meine Eltern. Ich und meine Eltern.

Unsere Eltern, korrigiere ich mich.

 

Die meisten aus der Klasse sind schon da, als ich mit einem Rucksack voll mit Wein, Sprühdosen und dem Strickkleid im Park aufkreuze. Die Waschmaschinentrommel, die mir Melek mitgegeben hat, wird begeistert empfangen.

Ich umarme Micha. Eine kurze flüchtige Umarmung, bei der man den Kopf weit zur Seite hält, um sich nicht zu nahe zu kommen. Wenn viele andere Leute dabei sind, kommen wir klar. Wir halten uns dann in verschiedenen Untergrüppchen auf. Gin und ich sind immer ein Zweiergespann. Besser gesagt: Wir waren eins. Das merke ich auch auf dieser Party, ohne sie fühle ich mich unendlich verloren. Vor allem jetzt. Ich kann das Mitleid der anderen fühlen. Vielleicht ist es auch Verachtung. Keine Ahnung, was schlimmer ist. Es ist ja auch ziemlich erbärmlich, dass ich wegen nichts ein ganzes Schuljahr wiederholen muss.

Clara hält mir eine Geburtstagskarte und einen Stift hin, für Micha, da soll ich drauf unterschreiben. Es ist ein Klassenfoto von uns, auf Pappe geklebt und mit Katzenstickern verziert. Soll wohl lustig sein.

«Mache ich gleich!», sage ich. Aber dann kommt Magda mit einem Kuchen und stimmt Happy Birthday an. Ich stecke die Geburtstagskarte erst mal in meinen Pulli.

Auf das noch immer gefrorene Kuchenstück, das mir Ruben ein paar Minuten später hinhält, habe ich keine Lust.

«Kann man vielleicht auch in die Waschmaschine legen!», sagt er. «Schleudert sich warm.»

Ich ziehe die Augenbrauen nach oben, wie immer, wenn ich etwas nicht witzig finde, aber auch nicht allzu unhöflich sein will.

Gin wäre mir ein Stück entgegengelaufen, mit ausgebreiteten Armen, hätte mich auf die Wange geknutscht. Ich hätte ihr das Strickkleid gezeigt, sie hätte gesagt, dass es viel zu schade für den General sei, und es mir um den Körper gewickelt. Wir wären zu den anderen gegangen, und ich hätte nicht smalltalken müssen.

Aber egal! Ich erinnere mich daran, dass ich ja eigentlich nur für den General hier bin.

Weil der nur ein paar Bäume weit von der Party entfernt steht.

Weil ich noch ein letztes Foto – das zehnte von zehn Proben – für mein Portfolio brauche, mit dem ich mich bei der Kunstschule bewerben möchte. Und wenn sie mich nehmen, dann bin ich sofort weg.

Diese ganze Sinnlosigkeit an meiner jetzigen Schule noch mal, das halte ich jedenfalls nicht aus! Ich bin wegen Latein durchgefallen, einer Zombie-Sprache, die nur von toten Männern in Büchern gesprochen wird. Mama hat mich dazu gezwungen. Natürlich! Ich hätte damals viel lieber Spanisch gewählt. Aber Mama meinte, Latein sei die Wurzel aller Sprachen … Wurzel aller Übel vielleicht  … In der letzten Übersetzungsklausur hatte ich jedenfalls wieder eine Sechs, weil ich aus einer Handvoll Vokabeln, die mir bekannt vorkamen, eine eigene Geschichte erfunden habe. Völlig am Thema vorbei, leider. Jedenfalls: Der Schlote wollte mir noch eine Chance geben und mich ein Referat halten lassen – «Römische Statuen und ihre Geschichte», fast mein Thema! Aber dann, in der nächsten Stunde, hatte ich das Referat nicht dabei, ich habe es einfach vergessen vorzubereiten, und damit war mein Schicksal besiegelt. Keine Ahnung, wer enttäuschter von mir war, der Schlote oder ich.

Mama weiß natürlich noch nicht, dass ich wiederhole. Den Vorwarn-Brief der Schule habe ich abgefangen und selbst unterschrieben.

Papa ist es bestimmt egal. Der ist mit allem einverstanden, solange wir seine gesunden Gemüsesoßen aus dem Garten essen und gut wachsen. Der hätte den Brief auch unterschrieben, ohne ihn richtig zu lesen. Ich hätte nur irgendwas mit «unbegleitet auf den Wandertag» nuscheln müssen oder so. Am Ende habe ich das mit der Unterschrift aber lieber selbst erledigt, sonst hätte er auch noch Ärger mit Mama bekommen.

Es ist ja nur eine Frage der Zeit, bis sie es herausfinden wird! Und dann: Gnade mir Gott!

 

Na ja.

Jedenfalls: ich und Gin.

Und: Micha und Melek. Das andere Zweiergespann.

Im Gegensatz zu uns sind die beiden immer umringt von einer Traube Fangirls und -boys, was an Melek liegt. Dabei spielt sie noch nicht mal in einer Band. Und sie geht mir nur bis zur Schulter, dabei bin ich schon nicht besonders groß. Aber wenn sie spricht, herrscht immer diese besondere Stille. Sie redet leise, mit einer ganz eigenen Melodie, die macht, dass alles, was aus ihrem Mund kommt, bedeutungsvoll klingt. Und dann ist sie auch noch wunderschön. Ihre Haare fallen tiefschwarz glänzend auf ihre braunen Schultern. Würde ich sie zeichnen, würde ich aus ihr eine Katze machen. Das Gesicht herzförmig, hohe Wangenknochen, leicht schräg stehende Augen. Grün mit braunen Sprenkeln oder andersrum.

Bis auf den knallroten Mund vermeidet Melek Farbe. Sie trägt nur schwarz, schwarze Jeans, schwarzes T-Shirt. Natürlich ist sie nicht die Einzige, die Schwarz trägt, aber bei ihr wirkt es auf irgendeine Art wie die bessere Idee. Neben ihr sehe ich mit meinen roten Haaren und den grünen Sneakers wie ein Knallbonbon aus.

«Wie geht es ihr?» Micha nimmt den Gänsefüßchenkranz von seinem Kopf, fummelt an den Blüten rum. Hundertpro weiß er noch nichts über Meleks Gefühlsumschwung, sonst würde er den Kranz anbehalten.

«Sie hat Kopfschmerzen, will aber auf jeden Fall nachkommen!», sage ich und halte ihm die Rotweinflasche hin. Nicht zum letzten Mal an diesem Abend. Micha fühlt sich ohne Melek wahrscheinlich ähnlich verloren wie ich ohne Gin. Jedenfalls blickt er die ganze Zeit auf sein Handy – und ich habe das Gefühl, dass mit jedem Blick der nächste Schluck aus der Flasche einen Tick länger ausfällt.

Ich verlasse das Mosaik aus Picknickdecken, um im Gebüsch Brennholz für die Waschmaschine zu sammeln. Es raschelt hinter mir. Micha!

«Darf ich dich begleiten?», fragt er. Ich kann ihm ansehen, dass er genauso wenig Lust auf seine Party hat wie ich.

Wir setzen uns auf eine Parkbank abseits vom Feiergeschehen und planen, auf jedes Eichhörnchen anzustoßen, das wir sehen, aber wir sehen keines, darum ändern wir die Spielregel in Vögel um, und weil es davon auch weniger gibt als erwartet, trinken wir auf alles, was sich bewegt. Unsere Haare im Wind, Motten an der Parklaterne, Clara beim Pinkeln usw. Es gibt wirklich vieles, was sich bewegt, eigentlich bewegt sich alles, die Blätter, die Äste, die Wiese, und schon bald klaut Micha eine neue Flasche von der Party, und wir trinken weiter, bis es sich um uns herum dreht.

In all dem Gedrehe entdecke ich die Taubenfrau.

Keiner aus unserer Klasse hat sie jemals mit einer Taube gesehen, aber sie sieht mit ihren zerzausten, grauen Haaren aus wie die Wohnungslose aus Kevin allein in New York. Die Taubenfrau wohnt hier im Park, in einem Zelt im Gebüsch. Morgens sitzt sie auch auf den Stufen vor der S-Bahn-Station und trinkt einen Kaffee, jedenfalls habe ich sie auf dem Weg zur Schule immer wieder mal dort gesehen.

Ganz sicher bin ich mir aber nicht. Vielleicht ist sie es auch nicht, vielleicht ist es nur ein Baum oder eine Statue oder ein Geist.

Da fällt mir der General wieder ein. Ich nehme Micha an der Hand.

«Komm!», sage ich. Und wir rennen zwischen den Bäumen hindurch, stolpern, rappeln uns auf, rennen weiter, kichernd, bis wir vor Bismarck stehen. Micha salutiert. Ich werfe Germania, die vor Bismarck einen Panther auf den Boden drückt, einen mitfühlenden Blick zu. Einem Mann, der einen Panther zu Boden drückt, hätte man natürlich sofort einen eigenen Sockel gegönnt. Aber Germania ist bloß ein Accessoire. Genauso wie Sibylle neben ihr, die die geistige Bedeutung Bismarcks betonen soll. Keine Ahnung, wer Sibylle ist, aber auf Wikipedia habe ich gelesen, dass sie auf einer Sphinx reitet, während sie in einem Buch liest. Was schon eine beneidenswerte Form des Multitaskings ist.

Ich krame das Kleid aus dem Rucksack.

«Wow!» Micha nimmt es mir aus der Hand. «Das ist ja riesig!»

«Ist für ihn.» Ich zeige auf den General.

«Für den?! Ist doch viel zu schade! Du solltest es tragen!»

Ich grinse. «Weißt du, du könntest Gin sein», sage ich, während ich mir den Pulli über den Kopf ziehe.

Die Geburtstagskarte fällt heraus. Der Stift auch. Ich könnte auf jeden Fall nicht auf einer Sphinx reiten und dabei lesen.

Bevor ich die Karte aufheben kann, hat mir Micha das Kleid übergestülpt und betrachtet mich stirnrunzelnd. «Zu groß», stellt er fachmännisch fest.

«Ach was!», sage ich. Angestrengt darum bemüht, mein Gleichgewicht zu halten, fische ich endlich die Karte vom Boden, unterschreibe und stecke sie in die Kleidertasche, um sie später Clara zurückzugeben.

«Was hast du da gefunden?», lallt Micha.

«Eine geheime Schildkröte!», sage ich, was Besseres fällt mir mit keine Ahnung wie viel Promille, nicht ein.

«Eine gemeine Schildkröte???»

«Eine geheime Schildkröte!!!»

«Dann darf ich sie nicht sehen?»

«Richtig!»

«Und du darfst sie sehen?»

«Richtig!»

«Dann ist es eine gemeine Schildkröte!»

Ich kichere. Dann wandert mein Blick den Sockel nach oben.

«Kommst du mit?», frage ich.

Micha folgt meinem Blick. «Klar!», sagt er.

Schon macht er für mich Räuberleiter, ich ziehe mich auf die Weltkugel hoch, nicht ohne mich bei Atlas zu entschuldigen, der die Welt in seiner Hand hält und hier auch nur wegen Bismarck rumsteht – von dort aus hangele ich mich weiter zum General. Mit einer Hand halte ich mich am Schwert fest, mit der anderen helfe ich Micha nach oben. Jetzt teilen wir uns mit Bismarck den Sockel. Micha prostet ihm zu. Ich beginne, ihm die Nägel mit dem Spray zu lackieren. Also Bismarcks Nägel, nicht die von Micha. Man sollte nicht nur Autofahren mit Promille verbieten, sondern auch Maniküre. Aber egal, ist ja nur Bismarck, der ist ja nicht so streng, haha, und außerdem ist es Nacht, und Germania, Atlas und Sybille sind eh so beschäftigt mit ihren eigenen Angelegenheiten, denen fällt so ein lausig aufgetragener Nagellack sowieso nicht auf. Als Nächstes ziehen wir Bismarck das Kleid über. Ich will Micha darum bitten, das finale Foto von uns für mein Portfolio zu machen, das zehnte von zehn.

Aber Micha drückt mir schon wieder die Flasche in die Hand. «Auf das Negligé für Bismarck!», sagt er. «Steht ihm ganz gut, oder?»

«Aber irgendwas fehlt!», sage ich. Um dann gleich zu rufen: «Die Lippen!» Und schon hat Bismarck ein bisschen Farbe im Gesicht.

Wir begutachten mein Werk eine Weile schweigend.

«Schade, dass sie nicht gekommen ist!», sagt Micha irgendwann.

Ich weiß sofort, wen er meint, und bin fast ein bisschen enttäuscht, dass er jetzt an sie denken muss. Jetzt, wo Bismarck leuchtet wie ein Flamingo und die Sterne strahlen und so.

«Kopfschmerzen können ganz schön übel sein, manchmal!», sage ich trotzdem.

«Kopfschmerzen!», wiederholt Micha. «Pah!»

«Vielleicht ist sie ja schon da!», sage ich. Schließlich sind wir schon länger nicht mehr auf der Party.

«Denke nicht!» Micha zuckt die Achseln. Trotzig. Traurig. Wütend. «Sie wollte unsere Freundschaft noch mal überdenken, weil ich … ich …»

«Weil du verliebt in sie bist!», vervollständige ich seinen Satz.

Er blickt mich irritiert an. «Hat sie dir das erzählt?»

«Das weiß jeder! Schon immer.»

«Aber vielleicht nicht für immer», sagt Micha leise. «Dass sie sich einfach nicht meldet, das ist eine red flag für mich. Vor allem heute, ich meine, es ist mein Geburtstag!»

Ich blicke ihn angestrengt an.

«Lass uns bitte von was anderem reden», sagt er.

«O.k.», sage ich und bin auch froh darüber, nicht weiter darüber nachdenken zu müssen, ihm das von Melek zu spoilern. Dass sie auch in ihn und so. Ich komme mir fast mies vor, dass ich es nicht mache. Aber es zu machen wäre doch auch nicht richtig, oder? Ach. Keine Ahnung.

Ein Schleier Wolken zieht an uns vorbei, als würde er einmal über den Mond polieren. Schon glänzt er wie neu.

Micha guckt mir in die Augen. «Das ist das erste Mal, dass wir miteinander reden. So wirklich, meine ich!»

Ich nicke. Eigentlich kennen wir uns schon seit dem ersten Schultag. Auch wenn zwischen uns fast immer ein ganzes Klassenzimmer lag, weil er in der ersten und ich in der letzten Reihe saß. Das hat sich auch bis heute, Jahre später, nicht geändert. Er ist immer noch ganz vorne, neben Melek, ich hinten.

Dass wir mal so nah beieinandersitzen, damit habe ich wirklich nicht gerechnet. Zu Füßen Bismarcks. Eigentlich ganz großes romantisches Kino! Wäre das nicht mit Melek, würde ich ihn küssen. Aber selbst, wenn das mit Melek nicht zwischen uns stehen würde – keine Ahnung, ob Micha überhaupt mit am Start wäre. Es war ja schon immer ein bisschen komisch zwischen uns. Keine Ahnung, was Melek über mich erzählt, aber allein die Tatsache, dass sie und ich immer noch dieses verkrampfte Verhältnis haben, reicht wahrscheinlich schon aus, um mich nicht besonders cool zu finden.

«Ich hatte immer das Gefühl, dass du mich eigentlich gar nicht so richtig magst!», sage ich.

Micha nimmt schweigend einen Schluck, wirkt mit einem Mal verlegen. «Nicht mögen, das ist zu viel. Ich dachte, du bist vielleicht ein bisschen fies!»

«Ein bisschen fies?!»

«Ja, wegen damals, zweite Klasse, letzter Schultag.» Micha lacht. «Zweite Klasse! Das klingt gerade ziemlich lächerlich, oder?»

«Habe ich dir deine Pausenmilch geklaut?», scherze ich. Dabei weiß ich sofort, was er meint. Ich hatte es nicht richtig vergessen. Nur irgendwohin abgelegt, wo es nicht ganz so präsent war. Und plötzlich trudeln die ganzen Bilder von irgendwoher wieder zurück in meinen Kopf. Melek, wie sie einsam vor mir läuft, deren Rücken seltsam nackt aussieht.

«Du warst der Held, der ihren Schulranzen gerettet hat, oder?» Es ist keine Frage, ich sehe es genau vor mir. Wie Micha auf dem Nachhauseweg an mir vorbeirennt, neben Melek stehen bleibt und ihr zurückgibt, was ihr Lisa von den Schultern gerissen hat.

«Die ganze Klasse war hinter ihr her!», sagt Micha. «Das war wie so eine Hetzjagd. Ich habe nie verstanden, warum!»

Ich auch nicht. Oder doch. Es war eigentlich ganz einfach. Lisa, beliebtestes Mädchen der Klasse, fand Melek doof. Und dann fanden alle anderen in der Klasse sie auch doof. Ich habe zwar nicht mitgemobbt, aber Melek verteidigt habe ich nicht. Auch nicht an diesem Tag, an dem Lisa Meleks Rucksack in den Fluss werfen wollte. Ich habe mich dem Mob natürlich nicht angeschlossen. Aber an Meleks Seite nach Hause gegangen bin ich auch nicht. Stattdessen bin ich in einem Meter Abstand hinter ihr hergeschlichen, wie so ein beschämter Dackel.

Seitdem habe ich Lisa gemieden, wo ich nur konnte. Und Melek hat das Gleiche mit mir gemacht. Für sie muss ich eine aus dem Mob gewesen sein. Was ja auch stimmt. Wer nur schweigt, ist ja auch Teil des Ganzen. Und dann hatte ich irgendwie nicht die Eierstöcke, mit ihr darüber zu reden. Weil ich mir selbst unangenehm war. Weil ich einfach nur hoffte, dass das alles mit der Zeit vergessen werden würde. Also von Melek. Dabei passiert im Leben das Gleiche wie beim Stricken. Hat man einen Fehler gemacht, und macht dann einfach weiter, als ob nichts wäre, legt sich dieser Fehler über alles, was noch kommt, egal wie perfekt man weiterstrickt.

«Ist ja schon eine Weile her!», sagt Micha in mein Schweigen hinein. Ich habe bestimmt einen knallroten Kopf. Wer will später schon zu den Bösen gehören? Oder zu den Feiglingen?

«Waren wir nicht alle jung und dumm?!», versucht er es noch mal.

«Ähm, nein. Du ja eher nicht!»

«Doch, ich auch, natürlich!»

«Beweise es!»

«Streber!», lege ich nach, weil Micha tatsächlich immer noch überlegt.

«Ich habe wirklich mal ’ne Pausenmilch geklaut!»

«Ernsthaft?» Ich lache.

«Ja, einmal standen die ganzen Kisten neben dem Kiosk, und keiner war zu sehen. Da habe ich mir eine Milch rausgeholt. Alle durften sich in der Pause ihr eigenes Trinken kaufen, nur meine Mutter hat mir immer ihren selbstgemachten Kefir mitgegeben.» Er lacht auch.

«Das einzige Dumme daran ist, dass du nicht den Kakao geklaut hast!»

«Das wäre zu kriminell gewesen, der war ja 20 Cent teurer!»

«Ist auf jeden Fall schön, dich endlich kennenzulernen, Robin Hood!»

«Und dich erst, Samariterin!»

«Samariterin?»

Er zeigt auf Bismarck im Kleid.

Wir stoßen noch mal an.

Ich lächele Micha an, und er lächelt zurück. Und hat diesen Blick in den Augen, den man hat, wenn es gleich ernst wird. Eigentlich will ich jetzt doch viel lieber das Foto machen, als mit Micha zu knutschen. Meine Zunge ist pelzig. Und dann dieser eklig saure Geschmack. Als hätte ich eine Flasche Essig gekippt. Oder eben den billigsten Wein auf Glasflaschenniveau, den ich im Supermarkt finden konnte! Andererseits fühlt es sich aber auch gar nicht so schlecht an, dass jemand, der mich sonst kaum eines Blickes gewürdigt hat, plötzlich so interessiert ist.

Von der Geburtstagsparty hallt harter Techno zu uns rüber. Micha streichelt mir übers Haar. Hätte ich ihm von Meleks Gesinnungswandel erzählt, würde er das jetzt ganz bestimmt nicht tun.

Egal! Ich nehme seine Hand, schiebe schnell die Gedanken an Melek beiseite. Sein Kopf nähert sich meinem, seine Lippen berühren meine, und bevor ich die Augen schließe, sehe ich sie aus den Augenwinkeln: Sternschnuppen! Wie fette Glühwürmer fallen sie vom Himmel.

Es ist wie damals! Genau wie damals!

Mit einem Aufschrei ziehe ich meine Hand aus Michas Hand.

Der Wein knallt auf den Boden.

Und während die Sternschnuppen fallen und fallen und fallen, höre ich eine Polizeisirene.