Leviathan | Deutsche Übersetzung der Original-Ausgabe von 1651 - Thomas Hobbes - E-Book

Leviathan | Deutsche Übersetzung der Original-Ausgabe von 1651 E-Book

Thomas Hobbes

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Beschreibung

Thomas Hobbes' "Leviathan" zählt zu den einflussreichsten Schriften der politischen Philosophie. Hobbes argumentiert dafür, die Gewalt auf einen absoluten Herrscher zu übertragen, weil sich die Menschheit in einem "Krieg aller gegen alle" befinde. Ausgehend von seinem negativem Menschenbild ("homo homini lupus": Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf) entwickelt Hobbes hier eine der wirkmächtigsten politischen Schriften der Neuzeit. Das vorliegende Buch wurde sorgfältig editiert und enthält Teil 1 und 2 von Thomas Hobbes' Werk im Original-Wortlaut der deutschen Übersetzung. Ein verlinktes Inhaltsverzeichnis erleichtert die Navigation im E-Book.

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Leviathan | Deutsche Übersetzung der Original-Ausgabe von 1651

THOMAS HOBBESVORWORTWIDMUNGEINLEITUNGErster Teil: Vom Menschen1. Kapitel: Von den Sinnen2. Kapitel: Von der Vorstellungskraft3. Kapitel: Gedankenfolge4. Kapitel: Von der Rede5. Kapitel: Vernunft und Wissenschaft6. Kapitel: Von den inneren Quellen7. Kapitel: Auflösung der Gedankenfolgen8. Kapitel: Vorzüge und Mängel des Verstandes9. Kapitel: Einteilung der Wissenschaften10. Kapitel: Macht, Würde, Ehre11. Kapitel: Von der Verschiedenheit der Sitten12. Kapitel: Von der Religion13. Kapitel: Vom Glück der Menschen14. Kapitel: Gesetze und Verträge15. Kapitel: Von den anderen natürlichen Gesetzen16. Kapitel: Von Personen und Haupt-PersonenZweiter Teil: Vom Staat17. Kapitel: Grund, Definition und Entstehung des Staats18. Kapitel: Von den Rechten der Besitzer19. Kapitel: Staaten und Thronfolge20. Kapitel: Väterliche und despotische Herrschaft21. Kapitel: Von der Freiheit der Staatsbürger22. Kapitel: Abteilungen der Bürger23. Kapitel: Öffentliche Diener der höchsten Gewalt24. Kapitel: Ernährung und Fruchtbarkeit des Staats25. Kapitel: Vom Ratgeben26. Kapitel: Von den bürgerlichen Gesetzen27. Kapitel: Von Verbrechen und Entschuldigungen28. Kapitel: Von Strafen und Belohnungen29. Kapitel: Was den Staat zugrundrichtet30. Kapitel: Von den Obliegenheiten des Oberherrn31. Kapitel: Vom natürlichen Reich Gottes

THOMAS HOBBES

LEVIATHAN

Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und staatlichen Gemeinwesens

Deutsche Übersetzung der Original-Ausgabe von 1651

VORWORT

Thomas Hobbes’ „Leviathan“ zählt zu den einflussreichsten Schriften der politischen Philosophie. Hobbes argumentiert dafür, die Gewalt auf einen absoluten Herrscher zu übertragen, weil sich die Menschheit in einem „Krieg aller gegen alle“ befinde. Ausgehend von seinem negativem Menschenbild („homo homini lupus“: Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf) entwickelt Hobbes hier eine der wirkmächtigsten politischen Schriften der Neuzeit.

Das vorliegende Buch wurde sorgfältig editiert und enthält Thomas Hobbes’ Werk im Original-Wortlaut der deutschen Übersetzung. Ein verlinktes Inhaltsverzeichnis erleichtert die Navigation im E-Book.

Viel Spaß beim Lesen!

WIDMUNG

Meinem sehr geehrten Freund, Herrn Francis Godolphin von Godolphin, Ritter des Bade-Ordens

Sehr geehrter Herr,

Ihr sehr geehrter Bruder, Herr Sidney Godolphin, hat an meinen Studien großen Anteil genommen und ich schuldete ihm auch, wie Sie wissen, bei Männern von Fähigkeiten wirkliche Beweise seiner guten Meinung; überdies wissen Sie schließlich nicht, wie sehr mir diese Beweise in den schwierigsten Augenblicken wertvoll waren. Wenn ich mich an all das erinnere, so geschieht das nicht, um mir aus der Gunst meiner Freunde ein Verdienst herzuleiten, vielmehr weil ich die ganz besondere Art von Beweisen so hervorragender Männer wie Ihr Bruder einer war, sehr schätze. Besaß doch Ihr Bruder im höchsten Grad alle Tugenden, welche der Gottesdienst, das Wohl des Vaterlands, die bürgerliche Gesellschaft oder die private Freundschaft fordern: fromm gegenüber Gott, dem Frieden dienend, mutig im Krieg, angenehm und treu im Umgang mit seinen Freunden. Deshalb lege ich diese Abhandlung über die bürgerliche und kirchliche Gewalt ihm zu Ehren und aus Dankbarkeit für ihn, sowie in Ergebenheit für Ihre Person in Ihre Hände und widme sie Ihnen demütig. Ich weiß nicht, wie die Öffentlichkeit in der Epoche, in der wir jetzt leben, diejenigen beurteilen wird, die mein Buch anzunehmen scheinen. Zwischen den Waffen derjenigen, die um die höchste Gewalt kämpfen, ist es nicht leicht durchzukommen, ohne eine Wunde zu erhalten. Trotzdem sehe ich nicht, warum sich die eine oder andere Partei über mich aufregen sollte. Was tue ich in der Tat anderes, als die bürgerliche Gewalt, so sehr ich es vermag, zu steigern (jene Gewalt, die ihr Inhaber auch immer so groß wie nur möglich sehen will).

Ich diskutiere nicht das Recht der einen oder anderen, sondern das Recht schlechthin; und wie einst die Gänse des Kapitols, so schreie ich nur beim Lärm derjenigen, die hinaufsteigen wollen. Was vielleicht am meisten mißfallen wird, ist, daß ich es gewagt habe, gewisse Stellen der Heiligen Schrift anders zu interpretieren, als man es gewöhnlich tut; aber mein Gegenstand zwang mich notwendigerweise dazu, denn diese Texte der Heiligen Schrift sind für den Feind jener Werke, die man mit Angriffstürmen vergleichen kann, das, womit er die bürgerliche Gewalt angreift. Wenn all das nicht genügt, meine Zensoren zu beruhigen, so wird es einfach und leicht für Sie sein, sich Ihnen nicht zuzugesellen; Sie werden ihnen sagen (wenn Sie wollen), daß ich ein Mann bin, der seine Meinungen liebt, daß ich an die Wahrheit von allem glaube, was ich sage, daß ich Ihren Bruder verehrte, wie ich Sie verehre, und daß ich, was mehr ist als dies, unterschrieben habe, ohne Sie zu fragen

als Ihr sehr demütiger und ergebener Diener

Thomas Hobbes

EINLEITUNG

Die Natur oder die Weisheit, welche Gott in der Hervorbringung und Erhaltung der Welt darlegt, ahmt die menschliche Kunst so erfolgreich nach, daß sie unter anderen Werken auch ein solches liefern kann, welches ein künstliches Tier genannt werden muß. Denn da Leben doch nichts anderes ist als eine solche Bewegung der Glieder, die sich innerlich auf irgend einen vorzüglichen Teil im Körper gründet, warum sollte man nicht sagen können, daß alle Automaten oder Maschinen, welche wie z.B. die Uhren durch Federn oder durch ein im Innern angebrachtes Räderwerk in Bewegung gesetzt werden, gleichfalls ein künstliches Leben haben? Ist das Herz nicht als Springfeder anzusehen? Sind nicht die Nerven ein Netzwerk und der Gliederbau eine Menge von Rädern, die im Körper diejenigen Bewegungen hervorbringen, welche der Künstler beabsichtigte? Doch die Kunst schränkt sich nicht nur auf die Nachahmung der eigentlichen Tiere ein, auch das edelste darunter, den Menschen, bildet sie nach. Der große Leviathan (so nennen wir den Staat) ist ein Kunstwerk oder ein künstlicher Mensch, — obgleich an Umfang und Kraft weit größer als der natürliche Mensch, welcher dadurch geschützt und glücklich gemacht werden soll. Bei dem Leviathan ist derjenige, welcher die höchste Gewalt besitzt, gleichsam die Seele, welche den ganzen Körper belebt und in Bewegung setzt; die Obrigkeiten und Beamten stellen die künstlichen Glieder vor; die von der höchsten Gewalt abhängenden Belohnungen und Bestrafungen, wodurch jeder einzelne zur Erfüllung seiner Obliegenheiten angehalten wird, vertreten die Stelle der Nerven; das Vermögen einzelner Personen ist hier die Kraft, so wie das Glück des Volkes das allgemeine Geschäft; die Staatsmänner, von welchen die nötigen Kenntnisse erwartet werden, sind das Gedächtnis; Billigkeit und Recht eine künstliche Vernunft; Einigkeit ist gesunder, Aufruhr hingegen kranker Zustand und Bürgerkrieg der Tod. Die Verträge endlich, welche die Teile dieses Staatskörpers verbinden, sind jenem bei Erschaffung der Welt von Gott gebrauchtem Machtworte gleich: Es werde oder laßt uns Menschen machen.

Um die Natur dieses künstlichen Menschen näher zu beschreiben, muß betrachtet werden:

1) Der natürliche Mensch, der dessen Inhalt und Künstler zugleich ist. 2) Wie und durch welche Verträge jener entstanden, welche Rechte, welche Gewalt und Macht er habe, und wem die höchste Gewalt zukomme.

3) Was ein christlicher Staat sei.

4) Und schließlich: Was daß Reich der Finsternis genannt werden müsse.

Im Betreff des Ersteren behaupten zwar viele, man könne die Weisheit nicht sowohl aus Büchern als aus dem Umgang mit dem Menschen selbst erlangen; und natürlich pflichten dieser Meinung diejenigen bei, die von ihrer Weisheit leider keinen anderen Beweis geben können, als daß sie mit vielem Selbstbehagen durch lieblose Urteile über ihre Mitmenschen sichtbar machen, wie wenig sie aus diesem Umgang gelernt haben. Es gibt aber eine andere bewährtere Anweisung, die sie, wenn sie wollten, zu einer gründlicheren Kenntnis anderer Menschen führen könnte; und diese liegt in den Worten: Lerne dich selbst kennen. Die hierin enthaltene Lehre spricht dem übermütigen Stolz Höherer gegen Geringere, der der ungesitteten Frechheit Geringerer gegen Höhere ganz und gar nicht, wie einige wähnen, das Wort, sondern sie will sagen: die Gesinnungen und Leidenschaften der Menschen, so verschieden sie auch immer sein mögen, haben dennoch eine so große Ähnlichkeit untereinander, daß, sobald jeder über sich nachdenkt und findet, wie und aus welchen Gründen er selbst handelt, wenn er denkt, urteilt, schließt, hofft, fürchtet usw., er auch eben dadurch aller anderen Menschen Gesinnungen und Leidenschaften, die aus ähnlichen Quellen entstehen, deutlich kennen lernt; ähnliche Leidenschaften also, nicht aber ähnliche Gegenstände der Leidenschaften; denn diese sind, wegen der innerlichen Beschaffenheit und der Erziehung einzelner Menschen so mannigfaltig und versteckt, daß der wahre Zustand ihres Herzens, welcher durch Verstellung und Irrtümer einem unleserlichen und verworrenen schriftlichen Aufsatz ähnlich geworden ist, nur dem Herzenskundigen allein verständlich bleibt. Wenn wir auch zuweilen aus den Handlungen der Menschen ihre wahren Gedanken zu erraten im Stand sind, so ist dies doch sehr schwer, wenn wir, teils nicht dabei zugleich auf das achten, was in uns selbst vorgeht, teils nicht auf die verschiedenen Nebenumstände Rücksicht nehmen, welche eine Sache sehr verändern können. Kann wohl jemand einen fremden Aufsatz in unbekannten Chiffren lesen, wenn er den Schlüssel dazu nicht hat? Gerade so werden wir auch entweder aus Leichtgläubigkeit oder aus übertriebenem Mißtrauen, je nachdem wir gut- oder schlechtdenkend sind, andere falsch beurteilen.

Auch der Hellsehendste kann nur seine vertrauten Freunde, deren es immer nur wenige gibt, recht kennenlernen. Wer hingegen eine ganze Nation leiten will, der muß aus sich selbst, nicht diesen und jenen Menschen, sondern die ganze Menschheit kennenlernen. Freilich ist dies schwer, schwerer als die Erlernung einer neuen Sprache oder jeder anderen Wissenschaft; gelingt es mir aber, meine Gedanken hierüber geordnet und deutlich auseinanderzusetzen, so wird es anderen desto leichter werden: da sie nur bloß prüfen dürfen, ob das, was ich sage, ihren Gedanken entspreche. Denn auf keine andere Weise ist hierin eine überzeugende Erkenntnis möglich.

Erster Teil: Vom Menschen

Vom Menschen

1. Kapitel: Von den Sinnen

Zuerst wollen wir die Gedanken der Menschen einzeln betrachten, dann in Verbindung unter sich und wie sie auseinander entstehen. Denken wir uns irgendeine Eigenschaft oder sonst etwas an einem sichtbaren Körper, welches man gewöhnlich Gegenstand nennt, so ist das eine Erscheinung oder Vorstellung. Dieser Gegenstand, welcher auf die Werkzeuge unserer Sinne, z.B. Augen, Ohren usw. wirkt, bringt, nach Verschiedenheit seiner Wirkungsart, auch verschiedene Erscheinungen hervor.

Der Ursprung von dem allen heißt Sinn. Denn wir können uns nichts denken, wenn es nicht zuvor ganz oder zum Teil in einem unserer Sinne erzeugt war. Von diesen ersten Eindrücken aber hängen alle nachherigen ab.

Wie es mit der eigentlichen Art unseres Empfindens zugeht, darüber brauchen wir hier gerade keine tiefgehende Untersuchung anzustellen, zumal da wir schon am anderen Ort davon gehandelt haben. Doch wollen wir uns jetzt, so viel als nötig ist, nochmals darüber auslassen.

Eine jede Empfindung setzt einen äußeren Körper oder Gegenstand voraus, der sich unserem jedesmaligen Sinn aufdrängt, entweder unmittelbar wie bei Gefühl oder Geschmack, oder mittelbar, wie beim Gesicht, Gehör und Geruch. Und dieser Druck wirkt vermittels der Nerven und Fasern sofort innerlich auf das Gehirn und von da aufs Herz. Von hier aus entsteht ein Widerstand und Gegendruck (άντιτυπία) oder ein Streben (conatus) des Herzens, sich durch eine entgegengesetzte Bewegung von diesem Druck zu befreien, und diese wird sichtbar. Diese Erscheinung heißt Empfindung. Licht und Farbe haben Bezug aufs Auge, der Schall aufs Ohr, der Geruch auf die Nase, der Geschmack auf den Gaumen; Wärme, Kälte, was hart und weich ist, und alles andere, was zum Gefühl gehört, auf den ganzen übrigen Körper. Dies alles nennt man empfindbar und ist im Grund genommen nichts anderes als eine Bewegung der Materie im Gegenstand, durch welche er auf die Sinneswerkzeuge mannigfaltig wirkt. Etwas anderes aber als verschiedene Bewegungen läßt sich darin nicht auffinden, weil Bewegung nur Bewegung hervorbringt, und jene Erscheinungen sowohl im Schlaf als beim Wachen bloße Vorstellungen sind. Wie überdies beim Druck des Gefühls ein Reiben, bei einem Schlag ins Auge ein Lichtschimmer und beim Druck des Ohrs ein Schall entsteht, ebenso wirken auch alle Dinge, die wir im übrigen sehen und hören: sie erzeugen eine Vorstellung durch einen wiewohl nur sehr unmerklichen Druck. Denn wenn die Farben und der Schall sich in dem Gegenstand selbst befänden, wären sie auch davon unzertrennlich; aber sie werden davon allerdings getrennt, was aus dem Zurückwerfen der Bilder in Spiegeln und des Schalls in Gebirgen erhellt. Es bleibt ausgemacht, daß ein sichtbarer Körper nur an einem Ort, aber die Beobachtung seines Daseins an mehreren Orten sein kann. Obgleich nun auch oft in geringer Entfernung der eigentliche Gegenstand selbst in seiner eigentlichen Hülle gesehen wird, so ist demungeachtet der Gegenstand jedesmal etwas ganz anderes als seine Hülle. Folglich sind Empfindungen und ursprüngliche Vorstellungen ein- und dasselbe; sie entstanden, wie schon gesagt, durch den Druck eines äußeren Gegenstands auf das Auge oder auf sonst ein Sinnesorgan.

Die Scholastiker aber erklären dies wegen einiger Stellen bei Aristoteles anders. Sie sagen: die sichtbaren Dinge (d.h. Erscheinungen), welche die Gegenstände auf unsere Augen werfen, bewirken das Sehen; die hörbaren Dinge (d.h. Erscheinungen), welche die Gegenstände auf unsere Ohren werfen, bringen das Hören hervor; endlich liege der Grund des Erkennens in gewissen zu erkennenden Dingen (d.h. Erscheinungen), die von der zu erkennenden Sache ausgehen.

Ich erwähne dies nicht in der Absicht, als wollte ich die philosophischen Schulen für völlig verwerflich erklären; vielmehr werde ich weiterhin von dem Bedürfnis derselben für den Staat reden und da hielt ich es für nötig, hier wenigstens beiläufig dies zu bemerken; indem ich an gegebenem Ort bei mehreren Anlässen zeigen werde, welcher Verbesserungen sie bedürfen, wozu insbesondere gehört: daß ihre Lehrsätze oft gar nichts sagen.

2. Kapitel: Von der Vorstellungskraft

Was einmal ruht, wird, wenn es nicht anderweitig in Bewegung gesetzt wird, immer in Ruhe bleiben; das leuchtet wohl einem jeden ein. Daß aber ein einmal in Bewegung gebrachter Körper sich, wenn er nicht anderweitig daran verhindert wird, ohne Aufhören fortbewegen werde, das ist (obgleich der nämliche Satz: nichts vermag sich selbst zu bewegen, hierbei zu Grunde liegt) nicht so einleuchtend. Denn die Menschen beurteilen gewöhnlich alles nach sich selbst; wenn sie nur gewahr werden, daß bei ihnen auf Bewegung Schmerz und Ermüdung folgt, so vermuten sie bei allen bewegten Körpern ein Gleiches, als wenn diese zuletzt ermüdet nach Ruhe strebten. Sie denken aber nicht daran, daß das Streben nach Ruhe selbst eine Bewegung in sich schließt. Hierauf gründet sich der Lehrsatz in den Schulen: schwere Körper fallen aus Streben nach Ruhe und um der Erhaltung ihrer Natur willen an die für sie passendsten Orte nieder; und so schreiben die Menschen leblosen Dingen ein Streben und eine Erkenntnis dessen, was ihnen nutzt und schadet (woran es dem Menschen so gar oft fehlt) ganz unrichtig zu.

Sobald ein Körper in Bewegung gebracht worden ist, so wird er, wenn kein anderer Körper es hindert, sich immerfort bewegen; und dieses Hindernis hemmt die Bewegung nicht immer auf einmal, sondern auch allmählich und gradweise. Wie auf dem Meer nicht dann gleich Ruhe wiederkehrt, sobald der Sturm sich legt, ebenso ist es auch mit der Bewegung im Menschen, wenn er sieht, träumt usw. Denn wenn auch wirklich der Gegenstand sich entfernt oder das Auge geschlossen wird, bleibt dessen Bild dennoch unserer Seele, wiewohl etwas dunkler, gegenwärtig. Dieses Bild aber hat die Benennung Einbildungskraft veranlaßt. Noch richtiger nennen es die Griechen φαντασίαν, es entstehe, durch welchen Sinn es wolle; Bild aber kann nur eigentlich von Gegenständen des Gesichts gesagt werden. Die Einbildungskraft ist daher nichts als die aufhörende Empfindung, oder die geschwächte und verwischte Vorstellung und ist sowohl dem Menschen als auch fast allen Tieren gemein, sie mögen schlafen oder wachen.

Daß nach Entfernung des Gegenstandes die Vorstellung schwächer wird, rührt nicht von der verringerten Bewegung des Empfindenden her, sondern von anderen Gegenständen, die seine Sinne beschäftigen. Gleichwie der stärkere Sonnenglanz den Schimmer der Sterne verdunkelt, obgleich sie an und für sich bei Tag so gut wie in der Nacht gesehen werden könnten. Aber weil unter den vielen und mannigfaltigen Eindrücken, welche die Augen, Ohren und die übrigen Sinnesorgane durch alles, was von außen her auf sie wirkt, bei Tag bekommen, nur der stärkste Eindruck empfunden wird, — so ist auch der besonders starke Sonnenglanz die Ursache, daß die Eindrücke der Sterne eben nicht von uns bemerkt werden. Wenn auch nach Entfernung des Gegenstandes der Eindruck bleibt, so wird dennoch durch die folgenden Gegenstände und deren Wirkung die Vorstellung des Vorhergehenden geschwächt und verdunkelt, wie die Stimme eines Menschen im Lärm des Tages. Je älter also ein Anblick oder die ehemalige Vorstellung eines Gegenstandes wird, je schwächer wird dessen Bild oder Vorstellung bei uns. Auch eine fortdauernde Veränderung der körperlichen Werkzeuge zerstört mit der Zeit manches, was bei der Empfindung in Bewegung gesetzt wurde, und folglich sind hierin die Länge der Zeit und die Entfernung des Ortes bei uns von einerlei Wirkung. Denn wie in einer großen Entfernung uns Gegenstände wenig deutlich erscheinen, so daß wir die kleineren Teile derselben nicht unterscheiden können, die Stimmen uns auch schwächer und einförmig vorkommen, ebenso verliert sich nach Verlauf eines beträchtlichen Zeitraumes auch allmählich die Vorstellung des Vergangenen, es entfallen uns z.B. von den Städten, welche wir sahen, manche Straßen und von den Handlungen manche Nebenumstände. Die schwächer gewordene Empfindung in Hinsicht der Vorstellung selbst nennen wir, wie schon gesagt, Einbildung; sehen wir aber auf das Schwächerwerden, so heißt dasselbe Gedächtnis, so daß folglich Einbildung und Gedächtnis eins ist, und nur in dieser verschiedenen Hinsicht auch verschiedene Benennungen erhält.

Wer sich vieler Ereignisse erinnern kann, hat Erfahrung. Wenn wir uns nur die Gegenstände vorstellen, die wir ehedem entweder auf einmal oder teilweise durch unsere Sinne aufnahmen, so ist die Vorstellung, insofern sie den ganzen Gegenstand auf einmal enthält, eine einfache Einbildung; so z.B. wenn sich jemand einen Menschen oder ein Pferd, welches er einmal sah, vorstellt. Die Vorstellung aber, welche aus der Empfindung einzelner Teile von verschiedenen Dingen entsteht, wie wenn wir von dem gehabten Anblick eines Menschen zu einer Zeit und von dem Anblick eines Pferds zu einer anderen Zeit veranlaßt werden, uns einen Kentauren zu denken, heißt eine zusammengesetzte Einbildung. So oft wie jemand die Vorstellung seiner eigenen Person mit der Vorstellung von den Handlungen eines anderen Menschen verbindet: Jemand bildet sich ein, er sei Herkules oder Alexander (wie es dem leidenschaftlichen Leser der Heldengeschichten oft ergeht), so ist dies eine zusammengesetzte Einbildung und ein bloßes Hirngespinst. Es entstehen auch in uns, sogar wenn wir wachen, viele andere Vorstellungen aus dem bei der ersten Empfindung gemachten tiefen Eindruck; denn ein scharfer Blick in die Sonne läßt noch lange Zeit ein kleines Sonnenbild wie einen Fleck in unseren Augen zurück, und nach einer anhaltenden und aufmerksamen Betrachtung geometrischer Figuren stellen sich uns im Dunkeln, auch wenn wir wachen, Linien und Winkel vor. Ob diese Art von Vorstellung eine eigene Benennung habe, ist mir unbekannt; es ist selten hiervon die Rede.

Die Vorstellungen der Schlafenden sind Träume. Auch sie entstehen wie alle übrigen Vorstellungen entweder ganz oder zum Teil aus der Empfindung. Und weil die notwendigen Werkzeuge der Empfindung, das Gehirn und die Nerven, im Schlaf so stumpf werden, daß sie durch äußere Gegenstände sehr schwer in Bewegung gesetzt werden, so können Schlafende gar keine Einbildung haben; folglich auch keinen Traum, — außer insofern dergleichen von der inneren Bewegung des empfindenden Körpers hervorgebracht wird. Die inneren Teile (infolge der Verbindung, worin sie mit dem Gehirn stehen) bewegen nämlich ihre Werkzeuge oft zur Unzeit, und bewirken es so, daß sich ehemalige Vorstellungen dem Träumenden so gut vergegenwärtigen, als ob er wache. Weil aber angenommen wird, daß während des Schlafs die Werkzeuge der Sinne jedes neuen Eindrucks unfähig sind, so daß also kein neuer Gegenstand auf sie wirken kann, so muß bei diesem Ruhestand der Sinne ein Traum eine weit größere Klarheit haben als alle Vorstellung eines Wachenden. Dies ist auch die Ursache, weshalb es so schwer, ja manchem unmöglich zu sein scheint, eine Empfindung von einem Traum richtig zu unterscheiden. Wenn ich erwäge, daß ich im Traum selten und nicht immer dieselben Gegenstände, Orte, Personen und Handlungen mir vorstelle, die ich wachend bemerke, noch daß ich im Traum keiner so langen und zusammenhängenden Reihe von Gedanken mir bewußt sein kann wie sonst; und weil ich beim Wachen sehr oft das Widersinnige in meinen Träumen gewahre, welches ich aber während des Traums nicht zu tun imstande bin, so überzeugt mich dies hinlänglich, daß ich im Wachen mir dessen, daß ich nicht träume, bewußt bin, obgleich ich im Traum wirklich zu wachen glaube.

Weil indes die Entstehung der Träume in der Unbehaglichkeit einiger innerer Teile des Körpers ihren Grund haben soll, so werden notwendig, je nachdem dieselbe verschieden ist, auch verschiedene Träume entstehen. Daher kommt es, daß diejenigen, welche auf dem Lager Kälte empfinden, gewöhnlich fürchterliche Träume haben und Schreckensbilder zu erblicken glauben, (denn die Bewegung vom Gehirn zu den übrigen inneren Teilen geht von hier aus zu jenem wieder zurück). Sowie auch ferner der Zorn im Wachen einige innere Teile erhitzt, so bewirkt auch die Erhitzung dieser Teile im Schlaf den Zorn und schafft im Gehirn das Bild eines Feindes. Und wie der Anblick von Liebenden im Wachen Liebe erzeugt und einige innere Teile erhitzt, so bringt gleichfalls die Erhitzung dieser Teile im Schlaf das Bild der Liebe hervor. Mit einem Wort: die Träume und die Vorstellungen eines Wachenden sind umgekehrt miteinander verbunden; beim Wachen nämlich entsteht die Bewegung im Gehirn, beim Schlaf hingegen in den inneren Teilen.

Sobald wir uns etwa nicht deutlich bewußt sind, daß wir wirklich einschliefen, wird es auch allemal schwer sein, Träume von wahren Vorstellungen zu unterscheiden. Dies ist gewöhnlich bei dem der Fall, welcher eine Freveltat verübt hat, oder noch damit umgeht, und, von diesen Gedanken, ohne wie sonst sich auszuziehen und sich niederzulegen, einschläft; sowie auch bei dem, welcher auf einem Stuhl sitzend oder in einer unnatürlichen Lage schläft. Wer sich aber, wie gewöhnlich, schlafenlegt, der kann ein sich ihm darstellendes ungewöhnliches und seltsames Bild für nichts anderes als einen Traum halten. Marcus Brutus, ein ehemaliger Freund des Julius Caesar, dessen Gnade er allein sein Leben zu verdanken hatte, war dennoch so undankbar, daß er ihn ermordete. Von diesem erzählen die Schriftsteller: daß er in der Nacht vor der Schlacht gegen den Augustus Caesar bei Philippi, eine schreckliche Vorstellung gehabt habe, die allgemein als eine wahre Erscheinung vorgestellt wird. Wer aber die näheren Umstände dabei genau erwägt, der wird sogleich finden, daß es nicht eine Erscheinung, sondern ein Traum war. Denn da er im Zelt saß, wo er, wegen seiner verwegenen Tat, natürlich traurig und in sich gekehrt war, und nicht eigentlich schlief, sondern bei der etwas kühlen Nacht nur schlummerte, so mußte er wohl von dem träumen, was seine Seele so sehr erschütterte, auch deshalb unvermerkt wieder wach werden, und so das, was er gesehen, für ein Gespenst halten, welches inzwischen verschwunden sei; ja, sich unbewußt, geschlafen zu haben, konnte er auch nicht entscheiden, ob es ein Traum oder sonst etwas gewesen sei. Solche Fälle sind überhaupt nicht selten; denn auch vollkommen Wachende werden, wenn sie furchtsam, abergläubisch, fürchterlicher Erzählungen voll, und im Dunkeln allein sind, solchen Vorstellungen ausgesetzt, und glauben, daß sie auf Friedhöfen Schatten und Geister der Verstorbenen wandeln sehen; da sie diese doch nur in der Einbildung erblicken und auch wohl von schlechten Menschen hintergangen sind, welche die abergläubische Furcht derselben in der Absicht benutzen, daß sie, in Totengewänder gehüllt, über Gottesäcker und andere geweihte Orte bei Nacht sich dahinbegeben können, wo sie sich auch sonst nicht mit Ehren sehen lassen dürfen.

Daß man Träume und andere lebhafte Vorstellungen von dem, was man sah und empfand, nicht zu unterscheiden wußte, dies veranlaßte hauptsächlich die Religion der alten heidnischen Völker, welche Satyre, Faune, Nymphen und ähnliche Hirngespinste verehrte, sowie auch den Wahn, den noch heute ungebildete Menschen von Werwölfen und Poltergeistern und von der großen Macht der Zauberer hegen. Wenn ich übrigens die Zauberei für ein Unding ansehe, so billige ich doch die Bestrafung der Zauberer, da sie dergleichen Verbrechen nicht bloß für möglich halten, sondern sie auch, so weit es in ihren Kräften steht, zu begehen sich bemühen. Indessen kommt mir die Zauberei keineswegs als etwas Wahres oder als eine Kunst oder Wissenschaft vor, vielmehr glaube ich, daß es überspannte Begriffe sind, die man vorsätzlich unterhält. Was aber die Poltergeister und Gespenster betrifft, so ist meiner Meinung nach der bisherige Wahn mit Fleiß fortgepflanzt oder wenigstens nicht widerlegt worden, weil sonst die Beschwörungen, das Einsegnen, das Besprengen mit Weihwasser und andere ähnliche Dinge, die den Geistlichen viel einbringen, dabei würden gelitten haben. Daß jedoch Gott übernatürliche Vorstellungen wirken könne, ist außer allem Zweifel; daß er es indes so häufig tun sollte, um dadurch eine größere Furcht zu erregen als durch die Hemmung oder Umwandlung der Natur, welches ebensogut in der Gewalt Gottes steht, — das ist kein christlicher Glaubensartikel; sondern schlechte Menschen erfrechen sich aus dem Grund: Gott sei alles möglich, alles das als wahr zu behaupten, was ihnen Vorteil schaffen kann, ob sie gleich im Grund vom Gegenteil überzeugt sind. Jeder Verständige muß aber ihren Behauptungen keinen weiteren Glauben beimessen, als die gesunde Vernunft es erlaubt. Wäre diese Furcht vor Gespenstern, die Traumdeuterei und mehr noch, welches hiermit in Verbindung steht, dessen sich stolze und listige Menschen zum Nachteil des gemeinen Mannes leider bedienen, verdrängt, so würde sich bei dem Bürger jedes Staats wirklich weit mehr Lust zum Gehorsam finden.

Dafür müßten nun die Schulen sorgen, die aber, anstatt solche Lehren zu widerlegen, sie vielmehr oft verbreiten. Da sie nämlich die Einbildung und Empfindung ihrer Beschaffenheit nach nicht kennen, so beten sie nur das nach, was andere ihnen vorsagten. Einige lehren: die Einbildungen entstünden von selbst, also ohne allen Grund; andere schreiben sie einem Willen zu, so daß die guten Gedanken von Gott, die bösen aber vom Teufel dem Menschen eingegeben oder eingeflößt würden. Endlich sagen noch andere: wenn unsere Sinne die Eindrücke von den Dingen empfangen, so überliefern sie dieselben dem Verstand, der Verstand der Einbildungskraft, die Einbildungskraft dem Gedächtnis, das Gedächtnis der Urteilskraft, und werden bei allem Aufwand von Worten durchaus unverständlich.

Die Vorstellung, welche bei Menschen und Tieren durch Sprache oder andere willkürliche Zeichen hervorgebracht wird, heißt Verstand, und diesen hat der Mensch mit den vernunftlosen Tieren gemein; denn z.B. der Hund kann so abgerichtet werden, daß er weiß, ob sein Herr ihn herbeiruft oder ihn von sich weist. Man findet dies auch noch bei mehreren Tieren. Der dem Menschen eigentümliche Verstand aber ist ein solcher, der nicht allein die Willensmeinung, sondern auch die Begriffe und Gedanken anderer Menschen einsieht, und zwar durch Folgerungen und durch die Zusammensetzung der Benennungen der Dinge, woraus bejahende, verneinende und andere Redensarten entstehen. Von dieser Art des Verstandes werden wir weiter unten handeln.

3. Kapitel: Gedankenfolge

Unter Gedankenfolge verstehe ich den Übergang von einem Gedanken zum andern, welcher aber nicht durch Worte, wie bei der Rede, sondern innerlich geschieht.

Wenn jemand etwas denkt, so hängt der nächstfolgende Gedanke nicht so von einem ungewissen Zufall ab, wie es scheinen möchte, obgleich auch nicht jeder Gedanke einen anderen immer zur notwendigen Folge hat. Wie jede Vorstellung entweder ganz oder ihren Teilen nach zuvor von uns empfunden gewesen sein muß, so kann auch kein Übergang von einem Gedanken zu einem anderen stattfinden, der nicht zuvor in unserer Empfindung dagewesen wäre. Der Grund davon ist folgender: alle Vorstellungen sind innere Bewegungen, gleichsam das, was von den Bewegungen bei der Empfindung zurückblieb. Die bei der Empfindung genau verbunden gewesenen Vorstellungen aber bleiben auch nach der Empfindung in dieser Verbindung. Sooft also der erste Gedanke wiederkehrt und der herrschende wird, so folgt jedesmal wegen des Zusammenhangs der bewegten Materie der spätere nach, wie auf einer glatten Fläche das Wasser dem Finger folgt, wohin dieser es leitet. Weil wir aber bei ein und demselben Gedanken bald dies, bald jenes andere gedacht haben, so wird es zuletzt ungewiß, welche Vorstellung jetzt jenen ersten Gedanken begleiten werde. Gewiß bleibt, daß ihm von den Vorstellungen eine folgen wird, welche mit ihm vorher verbunden gewesen.

Es gibt eine zweifache Gedankenfolge. Die eine ist ungebunden und frei, hat keinen Zweck und ist folglich schwankend, weil dabei nichts die Gedanken leitet und zu einem bestimmten Ziel führt, so daß sie zu schwärmen und in keinem Zusammenhang zu stehen scheinen, wie in einem Traum. Dies ist der Fall bei denen, welche nicht bloß sich allein befinden, sondern auch frei von allen Sorgen sind, wiewohl auch dann die Gedanken nicht ganz aufhören: aber ohne Harmonie, wie wenn ein Saitenspiel von einem Laien in dieser Kunst berührt wird. Bei diesen umherschweifenden Gedanken wird aber doch eine Regel zugrunde liegen, nach welcher der eine Gedanke aus dem anderen entsteht. Was schien wohl bei einem Gespräch über unseren Bürgerkrieg unschicklicher, als die Frage — und die wurde wirklich aufgeworfen — „was galt ein Silberling bei den Römern?“ Mir leuchtet der Zusammenhang zur Genüge ein. Der Gedanke an den Krieg erzeugte den Gedanken an den von seinen Untertanen dem Feind überlieferten König; dieser Gedanke erzeugte den, daß Christus den Juden verraten wurde, und dieser wieder den Gedanken an die dreißig Silberlinge, den Lohn dieser Verräterei, wodurch denn gar leicht obige Frage veranlaßt wurde. Wegen der geschwinden Folge der Gedanken geschah dies aber sozusagen in einem Augenblick.

Die zweite Art hat einen gewisseren Gang und wird durch einen bestimmten Zweckregelmäßig. Denn der Eindruck von dem, was wir wünschen oder fürchten, ist lebhaft und ausdauernd, wird er auch unterbrochen, so kehrt er schnell wieder und ist oft imstande, den Schlaf nicht bloß zu erschweren, sondern ganz zu verhindern. Der Wunsch macht, daß wir an das Mittel denken, den gewünschten Zweck zu erreichen, und zwar auf ein solches, von dem uns die Erfahrung einen ähnlichen Erfolg gelehrt hat. Der Gedanke an dieses Mittel erzeugt den an ein Mittel, welches jenem untergeordnet ist, und so immer fort, bis wir auf etwas kommen, welches in unserer Gewalt steht. Weil aber der Zweck wegen des gemachten tiefen Eindrucks sich uns oft und leicht vergegenwärtigt, so werden unsere Gedanken, sollten sie auch anfangen auszuschweifen, ohne Mühe ins Gleis zurückgebracht werden. Diese Bemerkung war es, weshalb einer von den berühmten sieben Weltweisen die noch jetzt so bekannte Lehre gab: „Bedenke das Ende!“, womit er sagen will: daß man bei allen Handlungen wiederholt auf den Zweck zurücksehen müsse als auf das, wodurch alle Gedanken auf dem zweckmäßigen Weg erhalten werden.

DieregelmäßigeGedankenfolge ist auch von zweifacher Art. Die eine, wenn man die Ursachen und Mittel, wodurch eine bemerkte Wirkung hervorgebracht worden sein mag, aufsucht; und diese Art haben die Menschen mit den Tieren gemein. Die andere: wenn man allen Wirkungen nachforscht, welche eine Sache haben kann, d.h. sich um den Nutzen derselben bekümmert. Von dieser Denkart habe ich nur bei den Menschen eine Spur gefunden; denn diese Art von Wißbegierde kann beim Tier, welches nur sinnliche Triebe, z.B. Hunger, Durst, Geschlechtstrieb und Zorn hat, nicht gut stattfinden. Wenn endlich unsere Gedankenreihe von einem bestimmten Zweck ausgeht so ist sie Forschungs- und Erfindungskraft, Schlauheit oder Scharfsinn, und man spürt dabei, wie auf einer Jagd, einer gegenwärtigen oder ehemaligen Wirkung nach. Wie spürt man aber dem, was man verloren hat, nach? Von dem Ort und der Zeit, wo man es verloren zu haben glaubt, geht man in Gedanken alle Orte und Zeiten durch, um ausfindig zu machen, wann und wo man es zuletzt hatte, d.h. um den Ort und die Zeit gewiß zu erfahren, wo die Nachforschung ihren Anfang nehmen muß. Dann denken wir die Zeiten und Orte wohl noch einmal durch, um die Handlung oder Veranlassung aufzufinden, die den Verlust des Gesuchten nach sich gezogen haben könnte. Dies ist dasErinnerungsvermögen.

Zuweilen hat man auch nur an einem bestimmten Ort nachzusuchen. Dann gehen wir aber in Gedanken alle Teile des bestimmten Orts durch, ungefähr wie wenn jemand ein Zimmer auskehrt, um ein verlorenes Kleinod wiederzufinden; oder wie ein Jagdhund das Feld durchläuft, bis er einem Wild auf die Spur kommt; oder wie einer das ganze Alphabet durchgeht, um einen Reim zu finden.

Wie erforscht man gewöhnlich den noch zukünftigen Erfolg einer Unternehmung? Man denkt sich eine vergangene gleiche Handlung mit ihren Folgen — eine nach der anderen — in der Annahme, daß Handlungen einerlei Art insgemein einerlei Ausgang haben. Wer z.B. das Schicksal irgend eines Hauptverbrechens wissen will, erinnert sich, wie es bei einem ähnlichen Verbrechen sonst wohl erging, und da stellen sich ihm dar: das Verbrechen, der Gerichtsdiener, das Gefängnis, der Richter, der Galgen. Diese Gedankenfolge heißtVorhersehungsvermögen, auch Klugheit und Vorsicht, ja zuweilenWeisheit, wiewohl es nur Vermutung und sehr trüglich ist, weil nur gar zu leicht dieser oder jener Nebenumstand dabei unserer Aufmerksamkeit entgehen kann. Das ist aber ausgemacht, daß derjenige der Klügste ist, der die ausgebreitetste Erfahrung hat, weil er sich nur selten in seiner Erwartung irren wird. Bloß das Gegenwärtige ist in der Welt vorhanden, so wie das Vergangene im Gedächtnis; das Zukünftige hingegen hat gar kein Dasein, und ist nur ein Geschöpf des Geistes, welcher die Folgen einer vergangenen Handlung auf eine gegenwärtige anwendet. Die häufigste Erfahrung gibt hier die größte, wiewohl nicht ganz zuverlässige Gewißheit. Man nennt es zwarKlugheit, wenn der wirkliche Erfolg der davon gehegten Erwartung entspricht; im Grunde genommen ist es aber doch nur Vermutung. Der Blick in die Zukunft oder die Vorhersehung ist allein die Sache desjenigen, der alles veranstaltet hat, und von ihm kann auch dies Vermögen auf eine übernatürliche Weise anderen mitgeteilt werden. Übrigens ist der der beste Prophet, welcher am richtigsten mutmaßt, und dies wird der zu tun imstande sein, der mit der Art von Dingen ganz bekannt ist, worüber er Vermutungen äußert; denn seine Mutmaßungen werden von den meistenZeichenunterstützt.

Der nachherige Erfolg dient als Zeichen zur Erklärung eines ehemaligen Erfolges, (der vielleicht dunkel geblieben war) und so umgekehrt, der vorhergehende dem nachfolgenden, wenn ähnliche Ereignisse vormals bemerkt worden sind; und je öfter dies geschehen war, desto zuverlässiger ist das Zeichen. Wer daher in jeder Art von Geschäften die größte Erfahrung hat, hat auch die meisten Zeichen, die ihn auf die Zukunft schließen lassen, und ist folglich sehr klug, ja um so klüger als der Unerfahrene, der sich auch daran wagt, und auch bei den glücklichsten Anlagen des Verstandes jenen bei weitem nicht erreichen kann, wiewohl sich hiervon mancher junge Mann schwerlich überzeugen wird.

Klugheitmacht indessen nicht die Grenzlinie zwischen dem Menschen und dem Tier aus; denn es gibt mehrere Tiere, die schon in ihrem ersten Jahr das, was ihnen nützlich sein kann, bemerken und richtiger anwenden als mancher zehnjährige Knabe.

Wie die Klugheit in einer Vermutung über das Zukünftige besteht, welche sich auf die Erfahrung der vergangenen Zeiten gründet, so gibt es auch eine Vermutung über das Vergangene, welche von anderen ebenfalls vergangenen und nicht gerade zukünftigen Dingen hergenommen ist. Wer z.B. weiß, wodurch ein Staat allmählich in einen Bürgerkrieg verwickelt wurde und wie unglücklich er dadurch ward, der wird, wenn er den Verfall irgend eines anderen Staats bemerkt, den Schluß ziehen: es müsse darin ein ähnlicher Verfall der Sitten und ein ähnlicher Krieg vorangegangen sein. Jedoch hat diese Art zu schließen eben die Ungewißheit, über die Zukunft zu urteilen.

Meines Wissens hat der Mensch zum Gebrauch aller seiner natürlichen Anlagen etwas außer sich nötig; nur zu dem nicht, daß er geboren werde und sich seiner fünf Sinne bediene. Die Fähigkeiten, die dem Menschen ausschließlich zuzukommen scheinen und wovon nachher gehandelt werden wird, müssen erworben und durch anhaltenden Fleiß vervollkommnet werden. Den Anfang dazu machen Unterricht und Erziehung und die unter den Menschen erfundene Sprache bildet sie aus. Also finden sich bei dem Menschen nur Empfindung, Vorstellung und Gedankenfolge, obgleich diese Naturgeschenke durch Sprache und Ordnung so weit vervollkommnet werden können, daß durch sie der Mensch von allen übrigen Tieren unterschieden ist.

Was wir uns vorstellen, istendlich. Von dem, was wirunendlichnennen, können also keine Vorstellung und kein Gedanke ausgehen. Der menschliche Geist ist zu schwach, um sich von einer unendlichen Größe, oder Geschwindigkeit, oder Kraft, oder Dauer oder Macht eine Vorstellung zu machen. Wenn wir etwas unendlich nennen, so geben wir dadurch zu verstehen: daß wir den Umfang und die Grenzen desselben nicht fassen können, welches also ein Bekenntnis unserer Schwäche ist. Deshalb ist Gottes Name nicht dazu unter uns, daß wir ihn durchschauen (denn er ist unbegreiflich und seine Größe und Macht ist über alle Begriff erhaben), sondern: daß wir ihn ehren sollen. Und weil, wie schon erwähnt, alle unsere Vorstellungen sich auf ehemalige Empfindung gründen, so kann der Mensch keine Vorstellung von dem haben, was überall kein Gegenstand der Sinne ist. Es kann also der Mensch sich nur von dem einen Begriff machen, was einen Ort einnimmt, eine bestimmte Größe hat und geteilt werden kann; nicht aber von dem, was zu ein und derselben Zeit ganz an dem einen Ort sowohl, als an dem anderen sich befinden, oder was als zwei oder mehrere Dinge zugleich an einerlei Ort sein könne. Dergleichen hat noch keiner empfunden, noch empfinden können, sondern es sind Sätze, welche eigentlich nichts sagen, und aus Achtung gegen einige irregeführte Philosophen oder trügende Scholastiker angenommen worden sind.

4. Kapitel: Von der Rede

Die Erfindung der Buchdruckerkunst macht dem menschlichen Verstande zwar Ehre, doch verliert sie sehr, wenn man sie mit der Erfindung der Buchstaben vergleicht. Wer letztere erfunden hat, ist unbekannt. Kadmos, der Sohn des phönizischen Königs Agenor, soll sie zuerst nach Griechenland gebracht haben. Diese Erfindung pflanzt das Andenken vergangener Zeiten fort und verbindet das Menschengeschlecht, so sehr es auch durch so viele und weit entlegene Erdgegenden getrennt wird; diese Erfindung war aber nicht leicht, denn sie setzte eine sorgfältige Beobachtung der Bewegungen der Zunge, des Gaumens, der Lippen und anderer Sprachwerkzeuge voraus, deren Mannigfaltigkeit auch ebensoviele mannigfaltige Zeichen nötig machte. Von einem ungleich größeren Wert und Nutzen ist aber dieRede, welche aus Namen oder Benennungen und deren Verbindung besteht, wodurch unsere Gedanken schriftlich verfaßt, ins Gedächtnis zurückgerufen und anderen mitgeteilt werden können, so daß man sich damit gesellschaftlich unterhält und wechselseitig nützlich wird. Ohne sie fänden unter den Menschen, Gemeinwesen, Gesellschaft, Vertrag, Frieden eben so wenig statt wie unter Löwen, Bären und Wölfen. Adam bediente sich zuerst der Rede, da er den Geschöpfen, welche Gott zu ihm brachte, ihre Namen gab. Mehr sagt die Schrift uns hiervon nicht; doch war es auch für jene Zeiten hinreichend, denn er konnte auf eben die Art anderen Dingen andere Namen geben, je nachdem es die Erfahrung und die Benutzung der Geschöpfe notwendig machten. Um sich verständlich zu machen, konnte er nach und nach diese Namen zusammensetzen, und so wurde mit der Zeit der Reichtum der Sprache nach Maßgabe des Bedürfnisses groß genug; freilich bedarf der Redner oder der Philosoph mehr. Aus dem, was die Schrift davon sagt, kann man auf keine Weise, weder geradezu, noch durch eine Folgerung schließen, daß Adam den fast unzähligen Figuren, Zahlen, Maßen, Farben, Tönen, Begriffen, Verhältnissen auch Namen gegeben habe; noch weniger solchen Sachen und Gegenständen der Rede, wie z.B. allgemein, besonders, bejahend, verneinend, wünschend, unbestimmt, welches übrigens doch einigen Nutzen gewährt; zuverlässig aber hat er nicht solche Worte, wie z.B. Dinglichkeit (Entitatem), Bedeutung (Intentionalitatem), Wesenheit (Quidditatem) erfunden, deren sich die Scholastiker bedienen, ohne sich jedoch etwas dabei zu denken.

Dieser ganze Reichtum aber, er sei nun von Adam oder seinen Nachkommen erfunden oder erweitert worden, ging bei dem Babylonischen Turmbau, wo Gott die Menschen ihrer Empörung halber sämtlich mit Vergessenheit strafte, völlig verloren. Da sie nun gezwungen waren, sich in verschiedene Gegenden zu zerstreuen, so mußten die nachherigen vielen Sprachen unter ihnen allmählich entstehen, wie das Bedürfnis, die Mutter aller Erfindungen, sie darauf hinführte. Und auf die Art ist mit der Zeit eine jede Sprache ansehnlich bereichert worden.

Durch die Sprache übertragen wir — und das ist ihr eigentlicher Gebrauch —, was wir denken, oder unsere Gedankenfolge, in Worte oder in eine Reihe von Worten. Hierbei kann ein doppelter Zweck stattfinden: der eine ist, was wir denken, niederzuschreiben, damit wir uns dessen, wenn es uns entfallen sollte, durch Hilfe der niedergeschriebenen Worte wieder erinnern können. Hierdurch sollen sie also ein Hilfsmittel des Gedächtnisses werden.

Der andere Zweck aber tritt dann ein, wenn mehrere derselben Sprache kundig sind, und besteht darin, daß, vermöge der Ordnung und des Zusammenhangs einer dem anderen seine Begriffe und Gedanken, Wünsche, Besorgnisse usw. darstellen kann. In dieser Hinsicht werden WorteZeichengenannt. Eingeschränkter sind folgende Arten des Gebrauchs: erstens, daß die Ursachen der vergangenen oder gegenwärtigen Dinge, die wir durch Nachdenken ausfindig gemacht haben, oder die möglichen Folgen der gegenwärtigen und vergangenen Dinge niedergeschrieben werden, und hieraus entspringen die Künste. Zweitens, daß wir unsere erworbenen Kenntnisse anderen durch Rat und Unterricht darlegen; drittens, daß wir zur gegenseitigen Unterstützung unsere Anschläge und Absichten einander bekannt machen; viertens können wir auch zuweilen auf eine erlaubte Weise Vergnügungen erwecken und gefallen wollen.

Ebenso vielfach kann man auch die Sprache mißbrauchen; nämlich erstens, wenn man wegen der schwankenden Bedeutung seiner Worte, seine Gedanken widersinnig aufsetzt. Wenn man z.B. statt desjenigen, was man gedacht hat, etwas setzt, was man nicht gedacht hatte, und so sich selbst hintergeht. Zweitens, wenn man die Worte figürlich, d.h. in einem anderen als gewöhnlichen Sinne gebraucht und so andere betrügt. Drittens, wenn man durch Worte eine Absicht zu haben vorgibt, die man nicht hat. Viertens, wenn man dadurch seinem Mitmenschen schadet. Den Tieren hat die Natur Waffen gegeben, einigen Zähne, anderen Hörner; dem Menschen aber seine Hände, damit jedes derselben seinem Feind wehe tun könne. Aber mit der Zunge wehtun, ist ein Mißbrauch der Sprache, es wäre denn, wir müßten jemanden zurechtweisen. Das ist aber kein Wehtun, sondern Ändern und Bessern.

Die Art, wie die Sprache dem Gedächtnis in Ansehung der Folgerungen zu Hilfe kommt, besteht darin, daß man Namen macht und dieselben verbindet.

Einige Namen sind eigentümlich und bezeichnen eine einzelne Sache, z.B. Peter, Johann, dieser Mensch, dieser Baum; andere aber sind mehreren gemein, z.B. Mensch, Pferd, Baum; denn wenn auch ein jedes von diesen allemal ein einzelnes ist, so kommt doch die Benennung mehreren dieser Art zu. In Rücksicht auf alle diese Einzelnen heißt sie eine allgemeine Benennung. Außer den Benennungen gibt es in der Welt nichts, das allgemein wäre. Die mit Namen belegten Dinge sind alle Individuen und einzelne Dinge.

Mehrere Dinge werden mit einer einzigen allgemeinen Benennung belegt, weil sie sich in dieser oder jener Eigenschaft oder Beschaffenheit ähneln.

So wie also eine eigentümliche Benennung nur an eine gewisse Sache erinnert, so erinnert eine allgemeine an eine jede unter vielen.

Die allgemeinen Benennungen haben zum Teil eine weitumfassendere, z.T. eine engere Bedeutung, so daß die weitumfassendere die engere in sich schließt. andere hingegen haben einen gleichen Umfang und sind wechselweise ineinander enthalten. Das WortMenschz.B. begreift das WortKörperin sich, und noch etwas mehr; aber die Worte Mensch und vernünftig sagen gleich viel und sind ineinander enthalten. Ich merke hier an: unter Benennung versteht man nicht immer wie die Grammatiker ein einziges Wort, sondern oftmals eine weitläufigere Umschreibung, z.B. folgende Umschreibung: wer seiner Oberen Beschlüsse, wer Gesetze und Rechte beachtet, sagt nicht mehr, als das einzige, gleichviel bedeutende Wort: ein Gerechter.

Durch den Gebrauch dieser Benennungen von weiterer und engerer Bedeutung drücken wir das, was wir uns bei den Folgerungen denken, durch Worte aus. Wenn z.B. ein Taub- und Stummgeborener, der folglich ganz sprachlos ist, ein Dreieck sieht und neben diesem zwei rechte Winkel, wie immer sie in einem Viereck sind, so kann er leicht durch Nachdenken, Betrachten und Vergleichen finden, daß die Summe der drei Winkel des Dreiecks der Summe der beiden daneben liegenden rechten Winkel gleich ist. Wenn aber ein anderer, der sprechen kann, bemerkt, daß diese Gleichheit sich gründe, nicht auf die Länge der Seiten, noch auf sonst etwas im Dreieck, sondern auf den Umstand, daß die Seiten gerade und der Winkel nur drei sind, weshalb auch die Figur ein Dreieck heißt, so behauptet er kühn den allgemeinen Satz: die drei Winkel eines Dreiecks zusammen sind so groß wie zwei rechte Winkel. Und so wird eine bei einem einzelnen Fall herausgebrachte Folgerung als eine allgemeine Regel niedergeschrieben und aufbewahrt, und die Rückerinnerung an dieselbe macht ein abermaliges Nachdenken auf immer unnötig, überhebt uns aller ferneren Anstrengung und läßt das, was wirzu einer Zeit und in einem Fallwahr fanden, als eine ausgemachte Wahrheitfür immer und überallanerkennen.

Wie nützlich die Worte beim Niederschreiben der Gedanken sind, wird bei den Zahlen am deutlichsten. Ein Mensch von äußerst schwachen Verstandeskräften ist nicht fähig, die Zahlwörter eins, zwei, drei nach ihrer Ordnung auswendig herzusagen; doch kann er die verschiedenen Schläge der Uhr bemerken und mit Kopfnicken sagen: eins, eins, eins; wie viel es aber geschlagen, weiß er nicht. Wahrscheinlich hat es aber einmal eine Zeit gegeben, wo man noch wenige Zahlwörter hatte und man beim Zählen die Finger der einen Hand zuerst und hernach die von beiden Händen zu Hilfe nahm. Dies ist wohl auch die Ursache davon, daß die Zahlwörter bei fast allen Völkern nicht über zehn hinausgehen, ja bei einigen es nur deren fünf gibt, wo sie dann wieder anfangen. Wer auch wirklich zehn Zahlwörter hat, muß sie dennoch nach der Ordnung folgen lassen, wenn er bis zehn zählen, um so mehr aber, wenn erzusammenzählenoderabziehenund andere arithmetische Operationen vornehmen will. Bei den Zahlen können wir folglich der Wörter nicht entbehren, noch weniger bei den Größen, den Graden der Geschwindigkeit, den Kräften und bei mehreren Dingen, die dem Menschengeschlecht nötig oder doch nützlich sind.

Wenn zwei Wörter nebeneinander gesetzt werden, so daß es eine Bejahung oder Folgerung sein soll, wie wenn wir sagen:der Mensch ist ein Tier, oderwas ein Mensch ist, ist auch ein Tier, und das letztere WortTieralles das in sich faßt, was das erstere WortMenschhier sagen will, so ist diese Bejahung oder Folgerungwahr, sonst aberfalsch. Denn wahr und falsch sind nicht Eigenschaften der Dinge, sondern der Rede. Außer der Rede gibt es weder Wahres noch Falsches, wohl aber einen Irrtum, wenn wir z.B. etwas erwarten, was nicht kommen wird, oder etwas vermuten, was nicht dagewesen ist; der Begriff des Falschen kann hierbei indes nicht stattfinden.

Weil nur dieWahrheitin der richtigen Zusammensetzung der Worte, womit wir etwas bejahen wollen, besteht, so muß der Wahrheitsfreund sich der Bedeutung seiner jedesmaligen Worte bewußt sein und sie regelmäßig ordnen; sonst wird er sich ebenso verwickeln wie ein Vogel, der sich auf der Leimrute desto fester anklebt, je emsiger er sich davon losmachen will. Deshalb macht man in der Geometrie, die vielleicht die einzige gründliche Wissenschaft ist, den Anfang des Unterrichts damit, daß man die Bedeutung der dabei zu gebrauchenden Wörter genau bestimmt, das heißt mit anderen Worten: man schickt die Definition derselben voran.

Hierin liegt auch der Grund, warum die, welche nach wahrer Wissenschaft streben, die Erklärungen älterer Lehrer untersuchen, auch wohl oft sich ganz neue schaffen müssen. Denn mit einem jeden Fortschritt in einer Wissenschaft mehren sich auch die durch die Erklärungen veranlaßten Irrtümer; man stößt unvermerkt auf widersinnige Folgerungen, aus denen man sich doch nicht herauswickeln kann, gesetzt mansehesie auch, es sei denn man müßte bis zur ersten Quelle des Irrtums zurückgehen. Wer daher dem Lehrer zu sehr auf sein Wort traut, gleicht dem, der viele kleine Summen, ohne sich von der Richtigkeit derselben hinlänglich überzeugt zu haben, ineine