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Beschreibung

Ethische Probleme in Politik und Wirtschaft, Ökologie und Medizin gewinnen zusehends an Bedeutung und werden in der Öffentlichkeit zum Teil heftig diskutiert. Hierzu ist dieses bewährte Lexikon ein informierender und zugleich kritischer Ratgeber. Kompetente Autoren erläutern alle wichtigen Begriffe, Richtungen und Traditionen. Sie erörtern ihren Zusammenhang, die zugrundeliegenden Probleme und machen auf Schwierigkeiten und Lösungsvorschläge aufmerksam. Die philosophische Ethik findet sich dort, wo überkommene Lebensweisen und Institutionen ihre selbstverständliche Geltung verlieren. Das gilt genauso für ihre Anfänge im Griechenland des 5. und 4. Jahrhunderts v. Chr. wie für die zeitgenössischen Gesellschaften. Angesichts einer solchen Situation kann die Philosophie nicht einfach einen verlorengegangenen Konsens über sittlich-politische Werte wiederherstellen. Sie kann jedoch auf methodischem Weg - und ohne eine letzte Berufung auf politische und religiöse Autoritäten als solche oder auf das von alters her Gewohnte und Bewährte - Aussagen über die menschliche Existenz versuchen, die an der leitenden Idee eines humanen Lebens, eines Zusichselbstkommens der Menschen, orientiert sind.

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Lexikon der Ethik

Herausgegeben von Otfried Höffein Zusammenarbeit mit Maximilian Forschner,Christoph Horn und Wilhelm Vossenkuhl

Achte, überarbeitete und ergänzte Auflage

C.H.Beck

Zum Buch

Die philosophische Ethik findet sich dort, wo überkommene Lebensweisen und Institutionen ihre selbstverständliche Geltung verlieren. Das gilt genauso für ihre Anfänge im Griechenland des 5. und 4. Jahrhunderts v. Chr. wie für die zeitgenössischen Gesellschaften. Angesichts einer solchen Situation kann die Philosophie nicht einfach einen verlorengegangenen Konsens über sittlich-politische Werte wiederherstellen. Sie kann jedoch auf methodischem Weg – und ohne eine letzte Berufung auf politische und religiöse Autoritäten als solche oder auf das von alters her Gewohnte und Bewährte – Aussagen über die menschliche Existenz versuchen, die an der leitenden Idee eines humanen Lebens, eines Zusichselbstkommens der Menschen, orientiert sind.

Über den Autor

Otfried Höffe, Maximilian Forschner, Christoph Horn und Wilhelm Vossenkuhl sind (zum Teil emeritierte) Professoren für Philosophie. Weitere Informationen über die Autoren siehe S. 11.

Inhalt

Vorwort zur achten Auflage

Vorwort zur ersten Auflage

Die Autoren

A

B

C

D

E

F

G

H

I

J

K

L

M

N

O

P

Q

R

S

T

U

V

W

Y

Z

Quellen der Ethik

Nachschlagewerke

Sammelbände

Vorwort zur achten Auflage

Das Grundkonzept des Lexikons hat vielfache Zustimmung gefunden. Trotzdem gibt sich diese Neuauflage nicht mit der in den letzten Neuauflagen praktizierten Art der Überarbeitung zufrieden. Sowohl die ethischen als auch die rechts- und sozialwissenschaftlichen Debatten, nicht zuletzt die öffentlichen Diskussionen haben sich in den vergangenen Jahren teils erheblich erweitert, teils deutlich verändert. Dem versucht diese achte Auflage Rechnung zu tragen.

Schon in den letzten Auflagen wurden viele Artikel überarbeitet und kamen zahlreiche neue Stichworte hinzu. Dazu gehören etwa: Bioethik, Epikureische Ethik und Humanitäre Intervention, Bürgertugenden, Feministische Ethik, Gentechnik, Medienethik und Unternehmensethik, Intergenerationelle Gerechtigkeit, Interkultureller Diskurs, Selbsttötung, Solidarität, Tierschutz und Widerstandsrecht.

Für diese neueste Auflage sind so gut wie alle Artikel noch gründlicher als in den früheren Auflagen überarbeitet und die Literaturangeben auf den neuesten Stand gebracht worden. Ebenfalls wurden im noch größeren Umfang neue Stichwörter aufgenommen: Ehrenamt, Ethik der Steuern, Geltung, Grenzen der Ethik, Humankapital und Intersexualität, konservativ, künstliche Intelligenz, Liberalismus, Nachhaltigkeit und Öffentlichkeit, Personalitätsprinzip, Politische Anthropologie, Populismus, Säkularisierung, Universalismus und Vertrauen.

Wegen dieser erheblichen Überarbeitung und Erweiterung ist das Lexikon zu einem beinahe neuen Nachschlagewerk geworden. Aus pragmatischen Gründen wurde die alte Rechtschreibung beibehalten. Ich danke meinen drei Mitautoren Maximilian Forschner, Christoph Horn und Wilhelm Vossenkuhl, daß sie die nötigen zeitaufwendigen Mühen auf sich genommen haben. Zu danken haben wir auch dem engagierten Lektor des Verlages, Dirk Setton, und seiner Kollegin Claire Zander.

München im Herbst 2022

Otfried Höffe

Vorwort zur ersten Auflage

Fragen der Ethik stoßen heute wieder auf ein größeres Interesse. Für die wiedererwachte Aufmerksamkeit gibt es mannigfache Indizien und Gründe: die Rehabilitierung der praktischen Philosophie und die Diskussion um die Sinn- und Orientierungskrise fortgeschrittener Industriegesellschaften; die öffentlichen Debatten um die Grundwerte in Staat und Gesellschaft, um die Strafrechtsreform, den Umweltschutz und den Begriff der Lebensqualität; die Einführung des Philosophieunterrichts in der reformierten Oberstufe und in einigen Bundesländern des Ethikunterrichts. Angesichts dieser Situation will das Lexikon der Ethik ein informierender und zugleich kritischer «Ratgeber» sein.

Das Aufgabenfeld der Ethik wird hier nicht auf den engeren Bereich des «Moralischen» beschränkt, dem es vor allem um die persönliche Seite rechten Handelns geht, während der soziale und politische Aspekt weitgehend ausgeklammert bleibt. Ethik geht als philosophische Disziplin auf Aristoteles zurück. Bei ihm und in diesem Lexikon hat Ethik die weite Bedeutung, nach der auch Fragen der Anthropologie und der Politik (der Rechts-, Sozial- und Staatsphilosophie), dann auch der Religionsphilosophie zu ihr gehören. Die normativen Probleme, die sich in den persönlichen und politischen Bereichen und Aspekten unseres Lebens stellen, werden aufgegriffen und unter der Leitidee eines humanen, eines guten und gerechten Lebens reflektiert.

Zu den aufgenommenen Stichwörtern gehören sowohl zentrale ethische Positionen und Richtungen (wie «christliche» und «stoische Ethik», «Pragmatismus» und «Utilitarismus») als auch die Grundbegriffe der sittlich-politischen Praxis («Friede», «Recht», «Sittlichkeit» usf.) und ihrer wissenschaftlichen Reflexion (etwa «Moralprinzip» und «kategorischer Imperativ»), schließlich auch solche für die politische Ethik oder durch die Humanwissenschaften bedeutsam gewordenen Begriffe wie «Angst», «Diskriminierung» und «Krankheit», die in die deutschsprachige Diskussion der philosophischen Ethik noch kaum Eingang gefunden haben.

Um das Lexikon der Ethik nicht in eine Überfülle von Kurzartikeln und Artikelchen aufzusplittern, schien es geboten, eine Reihe von Stichwörtern unter einem einzigen Hauptstichwort abzuhandeln (z.B. «Legalität», «Moralität», «praktische Vernunft» unter «Sittlichkeit»). Personenartikel sind nicht aufgenommen, jedoch verzeichnet der Anhang die wichtigsten Autoren aus der Geschichte der Ethik mit ihren Hauptwerken und deren greifbare Ausgaben, so daß bei den Artikeln selbst die «Klassiker der Ethik» nur mit dem Titel ihrer Werke verzeichnet sind. Ferner informiert der Anhang über allgemeine Hilfsmittel, die ebenso wie die Literaturhinweise zu den einzelnen Artikeln dem Weiterstudium dienen.

Das Lexikon der Ethik will nicht einfach ein Fremdwörterbuch für Fach- und Kunstausdrücke aus dem Umkreis der Ethik und ihrer verschiedenen Schulen sein. Trotz der gebotenen Kürze wird der Versuch unternommen, über die begriffliche und/oder historische Erläuterung des Stichwortes hinaus die zugrundeliegende Sachproblematik aufzuzeigen sowie auf Schwierigkeiten und Lösungsvorschläge aufmerksam zu machen. Überdies soll nicht bloß Information, sondern auch philosophische Analyse und Kritik vermittelt werden. Dabei werden weder fertige Rezepte oder dogmatische Lösungen angeboten noch wird eine enge Bindung an bestimmte Weltanschauungen eingegangen.

Die philosophische Ethik findet sich dort, wo überkommene Lebensweisen und Institutionen ihre selbstverständliche Geltung verlieren. Das gilt genauso für ihre Anfänge im Griechenland des 5. und 4. Jahrhunderts v. Chr. wie für die zeitgenössischen Industriegesellschaften. Angesichts einer solchen Situation kann die Philosophie nicht einfach einen verlorengegangenen Konsens über sittlich-politische Werte wiederherstellen. Sie kann jedoch auf methodischem Weg – und ohne eine letzte Berufung auf politische und religiöse Autoritäten als solche oder auf das von alters her Gewohnte und Bewährte – Aussagen über die menschliche Existenz versuchen, die an der leitenden Idee eines humanen Lebens, eines Zusichselbstkommens der Menschen, orientiert sind.

Aufgrund ihrer Herkunft aus der Philosophie fühlen sich die Autoren – bei aller persönlichen Verschiedenheit – sowohl dem Reflexionsniveau der klassischen Ethik als auch dem Methodenbewußtsein der mannigfachen Strömungen der Gegenwart verpflichtet. Zugleich ist ihnen bewußt, daß eine gegenwartsnahe Ethik nicht ohne Bezug auf die zeitgenössischen Humanwissenschaften auskommt. Bei der Behandlung der entsprechenden Sachbegriffe werden deshalb einige der für die Ethik bedeutsamen einzelwissenschaftlichen Forschungsergebnisse (aus der Psychoanalyse, der Verhaltensforschung, der politischen Wissenschaft usf.) aufgegriffen und zur Problematik des Sittlichen in Beziehung gesetzt.

München, im November 1976

Otfried Höffe

Die Autoren

Otfried Höffe (O. H.), geboren 1943, arbeitet vor allem zur Ethik, politischen Philosophie sowie zu Kant und Aristoteles. Er lehrte unter anderem in Fribourg (Schweiz), Zürich, Sankt Gallen, Klagenfurt und St. Louis sowie in Tübingen, wo er die Forschungsstelle Politische Philosophie gründete und leitete. Bei C.H.Beck sind von ihm u.a. erschienen: Immanuel Kant (92020), Die hohe Kunst des Alterns (42019, als Paperback 2021), Aristoteles (42014), Demokratie im Zeitalter der Globalisierung (22022), Kants Kritik der reinen Vernunft (42004, als Paperback 22023), Kleine Geschichte der Philosophie (42022), Die Macht der Moral im 21. Jahrhundert (2014), Kritik der Freiheit (22021), Geschichte des politischen Denkens (2016). Höffe ist Träger des Bayerischen Literaturpreises (Karl-Vossler-Preis) für wissenschaftliche Werke von literarischem Rang.

Maximilian Forschner (M. F.), geboren 1943, ist ordentlicher Professor (i.R.) für Philosophie an der Universität Erlangen-Nürnberg. Wichtigste Veröffentlichungen: Gesetz und Freiheit. Zum Problem der Autonomie bei I. Kant (1974); J.-J. Rousseau (1977); Mensch und Gesellschaft. Grundbegriffe der Sozialphilosophie (1989); Über das Glück des Menschen. Aristoteles, Epikur, Stoa, Thomas v. Aquin, Kant (21994); Die Stoische Ethik. Über den Zusammenhang von Natur-, Sprach- und Moralphilosophie im altstoischen System (21995); Über das Handeln im Einklang mit der Natur. Grundlagen ethischer Verständigung (1998); Thomas von Aquin (2006); Euthyphron. Platon Werke. Übersetzung und Kommentar (2013); Die Philosophie der Stoa. Logik, Physik und Ethik (2018); Praktische Philosophie bei Kant. Metaphysik und moralisches Selbstverständnis (2022). Beiträge zur Philosophie der Antike, des Mittelalters und der europäischen Aufklärung in Fachzeitschriften und Sammelbänden.

Christoph Horn (C. H.), geboren 1964, ist Professor für Praktische Philosophie und Philosophie der Antike an der Universität Bonn. Veröffentlichungen: Plotin über Sein, Zahl und Einheit. Eine Studie zu den systematischen Grundlagen der Enneaden (1995); Augustinus (32015); Hrsg.: Augustinus, De civitate dei (Reihe Klassiker Auslegen, 1997); Antike Lebenskunst (32014); Philosophie der Antike (22020); Einführung in die politische Philosophie (32012); Nichtideale Normativität. Ein neuer Blick auf Kants politische Philosophie (2014); Einführung in die Moralphilosophie (2018). Aufsätze zur antiken und zur praktischen Philosophie.

Wilhelm Vossenkuhl (W. V.), geboren 1945, ist emeritierter ordentlicher Professor für Philosophie an der Universität München. Veröffentlichungen: Anatomie des Sprachgebrauchs. Über die Regeln, Intentionen und Konventionen menschlicher Verständigung (1982); Wittgenstein (22003); Die Möglichkeit des Guten (2006); Solipsismus und Sprachkritik. Beiträge zu Wittgenstein (2009); Grenzen der Ethik. Eine Einführung als Erzählung (2021); Was gilt. Über den Zusammenhang zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll (2021); Hrsg.: Von Wittgenstein lernen (1992); Ludwig Wittgenstein. Tractatus logico-philosophicus (Reihe Klassiker Auslegen 2001); Mithrsg.: Bedingungen der Möglichkeit. Transcendental Arguments und Transzendentales Denken (1984); Reading Kant (1989); Die Gegenwart Ockhams (1990); Moralische Entscheidung und rationale Wahl (1992); Beiträge im Bereich von Sprachphilosophie, Handlungstheorie, Ethik und Sozialphilosophie in Fachzeitschriften und Sammelbänden.

Abkürzungen

A

Abschreckung Strafe.

Absicht↑Freiheit, Gesinnung, Handlung.

Absolutes ↑Gott.

Absurd↑Existentialistische E.

Abtreibung wird der Abbruch der Schwangerschaft u. der Entwicklung embryonalen ↑Lebens nach dem dreizehnten Tag der Empfängnis genannt, nach dem sich das befruchtete Ei in die Gebärmutter eingenistet hat (Nidation). Nach diesem Zeitpunkt gilt das ungeborene Leben als zu schützendes Rechtsgut. Die grundsätzliche Straffreiheit der A. innerhalb von 12 Wochen nach der Empfängnis durch einen Arzt mit der Einwilligung der Schwangeren nach vorheriger Beratung (Fristenmodell § 218a StGB) lehnte das Bundesverfassungsgericht trotz mehrheitlicher Befürwortung durch den Bundestag als verfassungswidrig ab. Nach dem Indikationenmodell (§ 218b StGB) kann die Schwangerschaft nach 12 Wochen zeitlich unbegrenzt bei unzumutbarer körperlicher u. seelischer Schädigung der Schwangeren (mütterliche Indikation), innerhalb von 22 Wochen bei einer Schädigung des Kindes (genetische Ind.) u. innerhalb von 12 Wochen nach der Empfängnis durch ein Sexualdelikt (e Ind.) mit Einwilligung der Frau durch einen Arzt abgebrochen werden. E problematisch sind die Spät-A. en. Sie werden nach der 23. Schwangerschaftswoche vorgenommen, wenn eine pränatale Diagnose eine Behinderung des Kindes vermuten lässt. Zulässig sind Spät-A.en bei konkreter Lebens- u. Suizidgefahr der Mutter, und wenn eine erhebliche gesundheitliche oder psychische Beeinträchtigung der Mutter zu befürchten ist. Der Arzt handelt bei Einwilligung der Mutter nicht nur entschuldigt, sondern gerechtfertigt. Rechtspolitisch u. e ist diese Regelung erheblich umstritten. Die abgetriebenen Föten können zum Zeitpunkt der A. lebensfähig sein u. müssen dann nach der A. am Leben erhalten werden. Sollten ihre Mütter sie nach der ungewollten Geburt ablehnen, werden sie zur Adoption freigegeben.

Eine A. verhindern kann eine Präimplantationsdiagnostik (sog. PID) bei familiär bedingten schweren Erbkrankheiten. Ein entsprechendes Gesetz ist seit 2011 in Kraft. Es ergänzt das Embryonenschutzgesetz des Jahres 1991. E umstritten ist die Tötung von Föten bei Mehrlingsschwangerschaften, um damit das Überleben von wenigstens einem Fötus zu sichern, die sog. selektive A. Diese A. ist strafrechtlich nicht geregelt. Ärzte handeln, die Einwilligung der Schwangeren vorausgesetzt, entschuldigt in einer Art rechtsfreiem Raum. Daß die Ärzte entschuldigt handeln, trifft vor allem dann zu, wenn ohne den Eingriff das Leben der Schwangeren gefährdet wäre (mütterliche Ind.). Aus e Perspektive ist die selektive A. problematisch. Unklar ist, ob ein solcher Eingriff einer ↑Diskriminierung zwischen ungeborenen Individuen entspricht. Selbst wenn dies zutrifft, lässt sich daraus kein Verbot solcher Eingriffe ableiten. Es handelt sich dann um einen ↑Konflikt, für den es keine e Lösung gibt. – Für die Freigabe der A. wurden in der Vergangenheit die hohe Zahl illegaler A., die mit ihnen verbundene Gefahr für das Leben der Schwangeren, deren Konfliktsituation bei ungewollter Schwangerschaft durch die Strafandrohung des StGB, die weitgehende Wirkungslosigkeit der Strafandrohung u. als prinzipielles Argument das Selbstbestimmungsrecht der Frauen angeführt. Die Gegner der A. wenden sich mit sittl. Argumenten gegen den generellen Vorrang des Selbstbestimmungsrechts der Frauen gegenüber dem Rechtsgut des embryonalen Lebens, verweisen auf die normbildende Kraft strafrechtlicher Sanktionen u. betonen den vollgültigen Schutzanspruch des werdenden Lebens. Diese Argumentation der A.-Gegner will der Einwand entkräften, die Identität des Kindes u. das Recht auf Leben seien erst Resultat eines sozialen Prozesses u. Embryonen u. Feten keine Rechtsgüter. Für die sittl. Argumente spricht die verfassungsrechtliche Absicherung des ↑Grundrechts auf Leben (Art. 2, 2 GG). Der Gesetzgeber kann daher Rechtfertigungsgründe für die A. nur als letztes Mittel, nicht aber prinzipiell anerkennen, um tatsächliche Gefahren für das Leben u. die körperliche u. seelische Gesundheit der Schwangeren u. des Kindes unter Berücksichtigung aller Lebensumstände abzuwenden. Dementsprechend hat der Gesetzgeber den § 218a des STGB 1995 modifiziert. Der Tatbestand des § 218 ist «nicht verwirklicht», d.h. die A. ist nicht rechtswidrig, «wenn der Abbruch der Schwangerschaft unter Berücksichtigung der gegenwärtigen und zukünftigen Lebensverhältnisse der Schwangeren nach ärztlicher Erkenntnis angezeigt ist, um eine Gefahr für das Leben oder die Gefahr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung des körperlichen oder seelischen Gesundheitszustandes der Schwangeren abzuwenden, und die Gefahr nicht auf eine andere für sie zumutbare Weise abgewendet werden kann.» (Art. 8, Bundesgesetzblatt I (1995), 1055)

Lit.: J. J. Thomson, A Defence of Abortion, Philosophy and Public Affairs, 1 (1971), 47–​66; G. Rüpke, Persönlichkeitsrecht u. Schwangerschaftsunterbrechung sowie R. Spaemann, Am Ende der Debatte um § 218u. Haben Ungeborene ein Recht auf Leben? In: Zeitschrift für Rechtspolitik (1974); D. Marquis, Why Abortion is Immoral, in: Journal of Philosophy 86 (1989), 183–​202; P. Singer, Rethinking Life and Death, Oxford 1994, Kap. 5; J. Glover, Causing Death and Saving Lives, London 21990, Kap. 9–​11; R. Dworkin, Die Grenze des Lebens, Hamburg 1994; J. M. Johnston, Are Sex Selective Abortions Wrong?, in: New Zealand-Bioethics Journal (2001), 9–​16; U. Steinvorth, Über den Anfang des menschlichen Individuums, in: Jahrbuch für Wissenschaft u. E 7 (2002), 165–​178; L. Boltanski, Soziologie der A., Frankfurt/M. 2007; D. Satz, Feminist Perspectives on Reproduction, and the Family, in: E. N. Zalta (Hrsg.), Stanford Encyclopedia of Philosophy; W. Vossenkuhl, Grenzen der E, Hamburg 2021.

W. V.

Abtreibung, selektive ↑Abtreibung.

Achtung bedeutet in der E nicht Aufmerksamkeit oder Warnung, sondern Wertschätzung u. respektvolle Anerkennung von Personen u. ihren Leistungen, nie von Sachen. Die nicht mehr überbietbare, moralische Wertschätzung heißt präzisierend moralische A.u. bezeichnet nach dem entscheidenden Denker Kant ein ‹durch einen Vernunftbegriff selbstgewirktes Gefühl›, die «unmittelbare Bestimmung des Willens durchs [moralische] Gesetz u. das Bewußtsein derselben» (Grundlegung). Gemeint ist die aus dem Inneren der Person erfolgende freie u. vorbehaltlose Zustimmung, die die nur im Inneren der Person mögliche Selbstverpflichtung auf die ↑Moral begleitet. Im Unterschied zum moralischen ↑Gefühl der GefühlsE hat die moralische A. weder eine kriteriologische Bedeutung noch hängt sie von der betreffenden Person ab. Sie ist die sinnlich erlebbare Empfindung der im tatsächlichen Leben praktizierten Anerkennung von Moral. Dabei ist nur ein moralischer Internalismus vertretbar (↑Gründe u. Motive): Wer von einer gewissen Handlung, Regel oder Maxime auf handlungsmächtige Weise überzeugt ist, sie sei moralisch, der handelt eo ipso dieser Überzeugung gemäß. Wer es z.B. aus Willensschwäche nicht tut, dem fehlt es an der vollen Anerkennung, an moralischer A. Überschätzen darf man die Motivationskraft freilich nicht. Denn der sachliche Vorrang liegt bei der freien Anerkennung der moralischen Grundsätze. Die moralische A. ist lediglich ein Begleitgefühl, das die Anerkennung nicht hervorruft, den Einfluß des Moralgesetzes aber verstärkt. Sie hat phänomenologisch betrachtet zwei Seiten. Negativ gesehen unterwirft sie das natürliche Verlangen nach ↑Glück einer Demütigung; Neigung u. Selbstinteresse verlieren das Recht, die letzte Antriebskraft zu sein. Positiv erhebt sich das zum Handeln nach Gründen fähige Wesen zur reinen praktischen Vernunft. Wer sich gegen die Moral verfehlt, empfindet das Gegengefühl, ein nicht autoritär erzwungenes, sondern moralisch begründetes Schuldgefühl. Wo der Verstoß kraß ausfällt, steigert es sich zum konträren Gegensatz der SelbstA., zur Selbstverachtung. Wer aber die moralische A. lebt, sie sogar zu einer Haltung ausbildet, verfügt über die moralische Gesinnung: Die moralische Gesinnung ist das zur Lebenseinstellung gewordene A.sgefühl.

Als ein zur Moral fähiges Wesen verdient der Mensch auch dann A., wenn er nicht moralisch handelt (↑Menschenwürde).

Lit.: G. Pico della Mirandola, Oratio de hominis dignitate/Rede über die Würde des Menschen, Stuttgart 1990; I. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 1. Abschn., ders., Kritik der praktischen Vernunft, Von den Triebfedern; ders., Kritik der Urteilskraft, §§ 25u. 27; ders., Metaphys. Anfangsgründe der Tugendlehre, §§ 23u. 25u. Schlußanmerkung; I. Goy, Immanuel Kant über das moralische Gefühl der A., in: Zeitschrift für philosophische Forschung 61 (2007) 337–​360; O. Höffe, Lebenskunst u. Moral, München 2007, Kap. 22.4; ders., E. Eine Einführung, Kap. VI, München 22018; S. Schadow, A. für das Gesetz. Moral u. Motivation bei Kant, Berlin u.a. 2013; G. Brudermüller (Hrsg.), Menschenwürde. Begründung, Konturen, Geschichte, Würzburg 2008; A. Margalit, Politik der Würde. Über Achtung u. Verachtung, Berlin 2012

O. H.

Ärgernis↑Moral u. Sitte.

Affekt↑Leidenschaft.

Agape↑Liebe.

Aggression↑Gewalt.

Allokation ist ein den Wirtschaftswissenschaften entnommener Begriff, der ursprünglich die Verteilung von knappen Gütern u. Ressourcen an Personen oder Institutionen bezeichnet. A. meint eine einmalige u. definitive Distribution; bereits verteilte Güter u. Ressourcen können von niemand sonst als den Verteilungsadressaten genutzt werden. Der A.begriff suggeriert keine vertikale Verteilung «von oben nach unten» – wie etwa eine Mutter Kuchenstücke beim Kindergeburtstag ausgibt. Marktförmige, horizontale Prozesse von Angebot u. Nachfrage fallen ebenfalls unter ihre Beschreibung. Bisweilen kann unter A. auch die möglichst günstige Nutzung von Ressourcen zur Herstellung eines Produkts verstanden werden.

Ein wichtiges A.-Kriterium ist die Pareto-Optimalität: In der starken Version ist eine A. dann pareto-optimal, wenn keine andere mögliche Verteilung von jemandem stark bevorzugt werden würde; in der schwachen Version gilt, daß pareto-optimal eine Verteilung ist, in Bezug auf die eine ReA. nicht von allen Betroffenen stark präferiert würde. A.-Probleme treten im ökonomischen Geschehen sowohl auf der Makroebene als auch auf der Meso- oder Mikroebene auf. Verteilungsprobleme ergeben sich in welt- u. volkswirtschaftlichen Kontexten ebenso wie innerhalb von Regionen, Unternehmen, Kleingruppen, Familien oder in sonstigen Konstellationen. Eine wichtige Frage für die E ist, welche Güter in einem Gemeinwesen (bzw. weltweit) staatlich (bzw. zwischenstaatlich) verteilt werden sollten u. welche einem Marktgeschehen offen stehen sollten. Ein e bedeutendes Teilproblem der A. ist etwa die Verteilung öffentlicher Güter u. die Frage, wer sie bereitzustellen hat.

Moralisch relevant sind Prozesse der A. außerdem dann, wenn bei gegebener Güterknappheit jeder Adressat ein nachdrückliches Interesse an einer möglichst großen Güterzuteilung hat. Wenn in einem Katastrophengebiet jeder Betroffene möglichst viel an Lebensmitteln u. Medikamenten erhalten will, kann man bei der A. (a) egalitär verfahren oder (b) adressatenrelativ. Für (a) sollte man sich entscheiden, wenn keine besonderen Gründe vorliegen («Präsumption der Gleichheit»). Dagegen sollte (b) praktiziert werden, wenn einige Personen leicht, andere schwer verletzt sind oder sonstige Gründe für eine ungleiche A. sprechen. Fragen der A. werfen somit neben Effizienzaspekten immer zugleich Probleme der ↑Gerechtigkeit auf.

Eine erhebliche e Bedeutung des Stichworts A. ergibt sich aus Fragen der Gesundheitsökonomie (↑Gesundheit): Wie kann es zu einer gerechten A. begrenzter medizinischer Güter kommen, wenn wie in den westlichen Ländern das gesamte staatliche Sozialversicherungssystem wegen ungünstiger demographischer Entwicklungen in eine Schieflage geraten ist, während zugleich der zunehmende Einsatz innovativer Hochtechnologieverfahren in der Medizin spürbare Kostensteigerungen verursacht? Knappe Ressourcen werden die Verantwortlichen in der Gesundheitspolitik in der Zukunft zu einer Beschränkung diagnostischer, therapeutischer u. medikamentöser Instrumente zwingen, besonders in kostenintensiven Bereichen. Es droht ein System der Priorisierung, das entweder nach Kriterien medizinischer Indikation oder marktförmig (jeder bezahlt das, was ihm ein Gesundheitsgut wert ist) oder aber in einem Mischmodell vorgenommen werden kann. In einem öffentlich finanzierten Gesundheitssystem müßte man Kriterien therapeutischer Notwendigkeit (z.B. Heilung geht vor Enhancement) oder medizinischer Dringlichkeit (die Behandlung lebensbedrohlicher Erkrankungen ist vorrangig) aufstellen. Wollte man Gesundheitsgüter allein dem Markt überlassen, wären unsoziale Konsequenzen zu befürchten; zudem würde dies die medizinische Forschung einseitig in lukrative Geschäftsbereiche locken. Ein Mischmodell könnte das medizinische Knappheitsproblem u.U. so lösen, daß man öffentliche u. private Krankenversicherungsaspekte in einem Zwei-Stufen-Modell (d.h. Grundsicherung plus Zusatzsicherung) miteinander verbindet.

Lit.: J. Weimann, Wirtschaftspolitik. A.u. kollektive Entscheidung, Berlin u.a. 42006; Th. Gutmann (Hrsg.), Rationierung u. A. im Gesundheitswesen, Weilerswist 2002; C. F. Gethmann u.a. (Hrsg.), Gesundheitsgüter nach Maß?, Berlin 2004.

C. H.

Das Alter ist bei Lebewesen, so auch beim Menschen, eine natürliche Phase, Ausweis ihrer biologischen Endlichkeit: Der Mensch ist sterblich; er ist «Sein zum Tode» (Heidegger). Da das A. kein einheitliches Phänomen ist, gibt es keinen einheitlichen Begriff, sondern außer dem kalendarischen A.z.B. ein biologisches u. ein psychisch-intellektuelles A., zusammen genommen als bio-kognitives A., ferner als die kulturell übliche Abgrenzung ein soziales, schließlich ein administratives, durch Beschäftigungs- u. Rentenregeln festgelegtes A. Viele Kulturen kennen schematische Einteilungen der LebensA., die etwa mit der Kindheit u. Jugend beginnen u. über den reifen Erwachsenen schließlich mit dem A. enden. Die Wertschätzung fällt unterschiedlich aus, sogar in derselben Kultur wie dem antiken Griechenland u. Rom. Schon bei Homer findet sich die ambivalente Beurteilung mit Priamos als Muster von A.schwäche u. Nestor als dem weisen Ratgeber. In Aristoteles’ wirkungsmächtigem Text schließt sich an die ‹unreife› Phase der Jugend u. die Blüte der mittleren Phase das A. als Abstieg an. Der für den europäischen A.sdiskurs kaum weniger wichtige Cicero schreibt dem A. noch alle drei Vorzüge des reifen Mannes zu: Würde, gewichtiger Ernst u. respekteinflößendes Ansehen. J. Grimm spricht vom ↑Glück des Altwerdens, das selbst bei körperlichen Behinderungen das Gute sieht.

Schon in der Antike wurden nicht wenige Menschen 80 oder mehr Jahre alt. Vor allem aus sozialen u. medizinischen Gründen ist in den letzten Jahrzehnten die Lebenserwartung erheblich gewachsen. Da überdies die Geburtenrate stark gesunken ist, hat sich insbesondere in den wohlhabenden Gesellschaften der A.aufbau der Bevölkerung erheblich verändert; der Prozentsatz der Jugendlichen ist enorm zurückgegangen, der der Hochbetagten stark gestiegen. Die Menschen werden aber nicht bloß älter, sondern bleiben auch länger körperlich u. geistig frisch. Man spricht daher etwas (zu) äußerlich vom «dritten» A. (etwa ab 60 Jahren) u. dem «vierten A.» (ab etwa 80 Jahren).

A.diskurse können Generationenbeziehungen regeln, als Projektionsflächen z.B. für politische Konflikte dienen, aber auch Lebenserfahrungen bündeln, die sich in den zwei Gegensatzpaaren A.lob – A.schelte u. A.klage – A.trost zu bewegen pflegen. Medizinische (seit Hippokrates u. Galen) u. psychologische A.diskurse (seit Aristoteles) untersuchen weitgehend kulturunabhängig a.spezifische Krankheiten (einschließlich Gegenmitteln) u. Verhaltensweisen. Eine E des A. erörtert als SozialE u. politische E die Bedingungen einer dem A. freundlichen Gesellschaft u. Politik. Weniger von Mitleid als (Tausch-) ↑Gerechtigkeit bestimmt, sorgt sie für Möglichkeiten beruflicher u. ehrenamtlicher Tätigkeit, für medizinische u. soziale Dienste (ohne eine Mentalität des Entmündigens!), für Anreize u. Angebote zu körperlicher Aktivität, nicht zuletzt für eine auch a.gerechte Wohn- u. Stadtarchitektur. Im Rahmen einer personalen E befaßt sich eine deontologische A.E mit der Frage, wie ältere Menschen selber leben sollen u. wie sie von anderen behandelt werden sollen. Der eudaimonistischen A. E geht es dagegen um die schwierige Lebenskunst, auf menschenwürdige Art alt zu werden, etwa in einem vierstufigen Lernprozeß von Revolte, Resignation, abwägend-integrativem A.n u. jenem kreativen A.n, das die dem A. angemessene Güte u. ↑Gelassenheit entwickelt, der z.B. die Frage nach mehr oder weniger Erfolg gleichgültig geworden ist, die das Geben für erfüllender als das Nehmen hält, auch die Erlaubnis sieht, vom Leben erschöpft zu sein.

Lit.: Aristoteles, Rhetorik, II 14; Cicero, Cato der Ältere über das A.; J. Grimm, Rede über das A., 1860; M. Heidegger, Sein u. Zeit, §§ 46–​53; E. Bloch, Was im A. zu wünschen übrig bleibt, in: Prinzip Hoffnung, I 37–​44; G. Benn, Altern als Problem des Künstlers, Belin 1954; S. de Beauvoir, Das A., Reinbek 1972; Ph. Ariès, Studien zur Geschichte des Todes im Abendland, München 1976; H. Bender (Hrsg.), Das Insel Buch vom A., Frankfurt/M. 1978; L. u. H. Rosenmayr, Der alte Mensch in der Gesellschaft, Reinbek 1978; H. Ebeling (Hrsg.), Der Tod in der Moderne, Königstein 1979; L. u. H. Rosenmayr (Hrsg.), Die menschlichen LebensA. Kontinuität u. Krisen, München 1978; U. Lehr, Psychologie des A.ns, Heidelberg 112007; A. Auer, Geglücktes A.n, Freiburg 41996; P. Baltes, K. U. Mayer (Hrsg.), Die Berliner A.sstudie BASE, Berlin 1996; J. Améry, Über das A.n. Revolte u. Resignation, Stuttgart 72001; O.-A. Möller (Hrsg.), Die Kunst des A.ns, Medizinische Diskurse, Frankfurt/M. 2001; T. Kirkwood, Times of our Lives. The Science of Human Aging, London 2001; Ph. Ariès, Geschichte des Todes, München 2005; Boëtius, Trost der Philosophie, Berlin 2014; O. Höffe, Die hohe Kunst des Alterns, München 62013.

O. H.

Altruismus↑Liebe, Wohlwollen.

Amoralismus↑Nihilismus.

Analytische E↑Metaethik, Methoden der E.

Anamnetische Gerechtigkeit tritt in einem kritischen Weltgedächtnis zutage, das die großen Gewalttaten sowohl der Geschichte als auch der Gegenwart in Erinnerung behält u. bei der Erinnerung ↑Gerechtigkeit pflegt. Nur ein Weltgedächtnis, das die Untaten nicht länger wie bislang in parteilicher Auswahl bewahrt, das überdies an die mancherorts nachhaltige, andernorts aber fehlende Wiedergutmachung erinnert, nur ein gerechtes Weltgedächtnis hilft, künftigen Gewalttaten vorzubeugen.

Mindestens ebenso wichtig wie dieser präventive Gesichtspunkt ist das G.argument selbst: Die Fairneß gegen die Opfer verlangt von der Weltgesellschaft, sich nicht mit der Erinnerung an einige besonders gravierende Verbrechen zu begnügen u. selbst sie selektiv wahrzunehmen. Daß gewisse Genozide tief ins Weltgedächtnis eingegraben, andere dagegen lieber kleingeredet oder verdrängt werden, ist ein elementares a. Unrecht an den Opfern.

Zur a.G. tragen die Geisteswissenschaften bei, indem sie sich mit so gut wie allen Kulturen u. Epochen beschäftigen. Wo mächtige Gruppen u. Interessen die a.G. behindern, braucht es Zivilcourage.

Die a.G. erinnert allerdings nicht bloß an die Untaten, sondern auch an die vielen Leistungen, nicht selten sogar Glanzleistungen.

Lit.: M. Brumlik, Nationalistische Identifikation oder anamnetische Solidarität?, in: J. Assmann, D. Harth (Hrsg.), Kultur und Konflikt, Frankfurt/M. 1990, 304–​321; O. Höffe, Gerechtigkeit, München 32007, Kap. XIII.4; ders., Wirtschaftsbürger, Staatsbürger, Weltbürger, München 2004, Kap. 17; Th. Laubach, Warum sollen wir uns erinnern? Annäherungen an eine a. E, Tübingen 2005.

O. H.

Anarchie, Anarchismus↑Autorität, Herrschaft.

Anerkennung bedeutet die Wertschätzung, die man bei seinen Mitmenschen genießt: die Reputation. Deren Minimum besteht im guten Ruf, die Steigerung in der ↑Ehre, die aus einem Sich-Auszeichnen entspringt, u. der Superlativ im Ruhm, der am liebsten ewig dauere. A. ist ein wesentlich soziales Phänomen. Man kann nämlich auf A. hinarbeiten u. sie trotzdem durch Eigenleistung allein nicht erreichen. Denn die Leistung muß von anderen als Leistung wahrgenommen, überdies geschätzt werden, womit man sich ungewollt in fremde Abhängigkeit begibt. Obwohl die A. zu den Grundbedingungen menschlichen ↑Glücks gehört, wird sie erst in der Neuzeit, ausdrücklich erst bei Fichte u. Hegel, zu einem Grundbegriff vor allem der Rechts- u. SozialE. Während die A. im schlichten Verständnis eine Belobigung oder, etwas anspruchsvoller, die im Ansehen zutage tretende Achtung fremder Leistung bedeutet, bezeichnet sie als philosophischer Grundbegriff eine Wechselbeziehung, jenen gegenseitigen Respekt, der sich weder zwischen Individuen noch zwischen Gruppen, Rechtsgemeinschaften und selbst Kulturen von allein einstellt.

Hobbes’ Gedankenexperiment des Naturzustandes zeigt Schwierigkeiten der wechselseitigen A. auf, die in grundlegender Weise erst ein Rechtsverhältnis mit öffentlicher Gewalt, also ein Staatswesen, löst. Fichte u. Hegel knüpfen daran an u. gehen zugleich darüber hinaus. Kant u. Fichte bestimmten das Recht als wechselseitige Einschränkung von ↑Freiheit, wobei nur Fichte den Begriff der A. verwendet. Hegel skizziert im Kapitel «Herrschaft und Knechtschaft» seiner Phänomenologie des Geistes den dafür notwendigen dynamischen Prozeß, dessen Kern in einer «Selbsterkenntnis im Anderen» besteht: Zunächst kommt man sich gegenseitig ins Gehege, was, von einem Exklusivanspruch getragen, in einen Kampf auf Leben und Tod übergeht. Erst nach schmerzlichen Erfahrungen gelangt man zur wechselseitigen A., die notwendig, aber nicht ausschließlich Rechtscharakter hat. Diese A. besitzt aber den unschätzbaren Vorteil, nicht unter Knappheit zu leiden. In einem demokratischen Rechtsstaat ist die wechselseitige A. als Rechtsperson u. als Staatsbürger kein knappes Gut nur für einige; sie kommt vielmehr allen Menschen zugute. Anders verhält es sich mit der konkreten A., dem persönlichen Ansehen. Die Aufmerksamkeit u. Wertschätzung der Mitmenschen ist ein knappes Gut, um das auch innerhalb eines Rechtsstaats teils offen, teils versteckt gekämpft wird. Nicht selten versucht man, die eigene Leistung hochzuspielen, aus Konkurrenzgründen die Leistung anderer herabzuwürdigen; einige machen vor ↑Manipulationen nicht halt. Manch einer läßt sich sogar für eine Leistung bewundern, die er nie vollbracht hat; er lebt mit einer veritablen Lebenslüge.

Die Alternative, seit der antiken E vertreten, sucht die Leistung als solche, schöpft aus ihr die Selbstachtung u. bemüht sich um die A. anderer nur nach Maßgabe von zwei Kriterien, der tatsächlich erbrachten Leistung u. deren Wertschätzung allein durch die Personen, die die Leistung unparteiisch zu würdigen vermögen. Hier wird die konkrete A. durch andere, die persönliche Fremdachtung, durch eine Selbstachtung teils ergänzt, teils sogar ersetzt.

Lit.: I. Kant, Metaphys. Anfangsgründe der Rechtslehre, bes. § B; J. G. Fichte, Grundlage des Naturrechts, § 4; G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Herrschaft u. Knechtschaft; L. Siep, A. als Prinzip der Praktischen Philosophie, Freiburg/München 1979; R. Williams, Recognition: Fichte and Hegel on the Other, Albany/NY 1992; ders., Hegel’s Ethics of Recognition, Berkely/CA u.a. 1997; A. Honneth, Kampf um A., Frankfurt/M. 1992; W. Schild (Hrsg.), A. Interdisziplinäre Dimensionen eines Begriffs, Würzburg 2000; O. Höffe, Lebenskunst und Moral, München 2007, Kap. 8u. 10.

O. H.

Angeborenes Verhalten↑Instinkt.

Die angewandte Ethik bewegt sich im Zwischenbereich von allgemeiner E (FundamentalE) u. der Erörterung konkreter Fälle oder Falltypen. Sie untersucht wichtige Handlungsfelder u. Lebensbereiche unter den normativen Gesichtspunkten von ↑Moral u. ↑E. Mit zunehmender Differenzierung der menschlichen Praxis u. wachsender Spezialisierung der e Diskussion darüber bilden sich immer mehr Bereichs- oder SpezialEen heraus, z.B. die ↑BioE, die E von ↑Datenschutz u. ↑Gentechnik, die ↑Medizinische E, Politische E u. TechnikE, die E von Tier- u. Umweltschutz, die WirtschaftsE u. WissenschaftsE. Die Bezeichnung dieses Zwischenbereichs als a. E ist mißverständlich, da der Ausdruck «Anwenden» an eine logische Ableitung denken läßt. In Wahrheit braucht eine a. E, die ihrer Aufgabe gerecht werden will, drei Zuständigkeiten: Sie muß aus der allgemeinen E die Grundbegriffe u. Prinzipien u. deren ↑Begründung kennen; sie muß mit den Sachgesetzlichkeiten u. Schwierigkeiten des jeweiligen Gegenstandes vertraut sein u. schließlich über eine Urteilsfähigkeit verfügen, die den Gegenstandsbereich im Lichte der Begriffe, Prinzipien u. Argumentationsmuster der allgemeinen E einzuschätzen versteht.

Dabei ergeben sich selten relativ konkrete Verbindlichkeiten, in der Regel nur bestimmte Gesichtspunkte, für deren «Anwendung» in der jeweiligen Lage funktionale Tugenden der Urteilskraft gefragt sind, etwa situative Geschmeidigkeit, Flexibilität u. Kreativität.

Lit.: O. Höffe, Sittl.-politische Diskurse. Philosophische Grundlagen, Politische E, Biomedizinische E, Frankfurt/M. 1981; ders., Moral als Preis der Moderne. Ein Versuch über Wissenschaft, Technik u. Umwelt, Frankfurt/M. 42000; ders., E. Eine Einführung, Kap. VII, München 22018; K. Bayertz, Praktische Philosophie. Grundorientierungen a. E, Reinbek 1991; P. Singer, Praktische E, Stuttgart 21994; J. Nida-Rümelin (Hrsg.), A. E. Die BereichsEen u. ihre theoretische Fundierung, Stuttgart 1996; A. Pieper, U. Turnherr (Hrsg.), A. E. Eine Einführung, München 1998; R. Chadwick (Hrsg.), Encyclopedia of Applied Ethics, San Diego u.a. 1998; H. LaFollette (Hrsg.), Ethics in Practice, Oxford 32006; D. Boonin, G. Oddie (Hrsg.), What’s Wrong?. Applied Ethicists and Their Critics, Oxford 2004; A. Vieth, Einführung in die A. E, Darmstadt 2006.

O. H.

Angst bezeichnet ein Gefühl der Verunsicherung in einer Situation von Bedrohung u. Gefahr. In der Tradition Kierkegaards u. der Existenzphilosophie differenziert man häufig zwischen Furcht, die sich auf konkrete Gefahrenquellen bezieht, u. einer unbestimmten A. als Kennzeichen der menschlichen Lebenssituation überhaupt. Umgangssprachlich ist eine solche Furcht-A.-Unterscheidung unüblich, sachlich dagegen sicher triftig. In der Antike wurde der Charakter von Affekten wie A. oder Furcht unterschiedlich beurteilt. Aristoteles u. seine Schule verteidigen den kognitiven oder moralischen Wert einiger A. formen; so könne etwa Furcht zum situationsangemessenen Überlegen oder zu angemessenem Verhalten der Risikovermeidung veranlassen. Aristoteles meint, A. verschwinde bei einer intellektuell u. moralisch entwickelten Persönlichkeit keineswegs; im Gegenteil soll TodesA. für den Tugendhaften ein angemessener Affekt sein, weil gerade er durch den Tod viel zu verlieren habe. Eine mechanische A. freiheit sei das Merkmal einer plumpen, unsensiblen Person; dagegen stelle die Furcht vor einer Maus ein pathologisches Phänomen u. ein substantielles Glückshindernis dar. Die Stoiker hingegen vertreten die Auffassung, daß A. ebenso wie alle anderen Affekte einen krankhaften Seelenzustand anzeige; sie setzen ↑Glück mit Affektfreiheit gleich (stoische E). Für eine adäquate Einschätzung der Risiken bedarf es der A. nicht. Bei Augustinus findet sich die Vorstellung einer «heiligen A.» (timor castus), die sich nicht auf ein befürchtetes Übel, sondern auf das erstrebte höchste Gut richtet. Kierkegaard entwickelt seinen A.begriff vor dem Hintergrund des christlichen Sündenverständnisses: A. ist danach Ausdruck der Freiheit, selbständig mit unendlichen Lebensmöglichkeiten u. der Entscheidung zwischen Gut u. Böse zurechtkommen zu müssen. Auch Heidegger spricht der A. einen kognitiven Wert zu: A. sei eine «Grundbefindlichkeit» des Menschen, die von seinem In-der-Welt-sein überhaupt ausgehe; A. mache dem Individuum seine Endlichkeit bewußt u. erschließe ihm seine eigentlichen Seinsmöglichkeiten.

A. ist nicht allein ein individuelles, sondern mitunter auch ein kollektives Phänomen, etwa in politisch-sozialen oder kulturellen Umbruchsituationen; so hat E. R. Dodds A. als Epochenmerkmal der Spätantike ausmachen wollen. Gegenwärtig ist die öffentliche Risikowahrnehmung (im Fall des Terrorismus oder der Gentechnologie) ein bedeutendes Thema des politischen Umgangs mit A.

A. als pathologisches Phänomen wird in der Medizin zweifach differenziert: Unter Primärängsten versteht man selbständige, nicht auf andere Krankheiten zurückgehende A.formen; Beispiele sind plötzliche Panikattacken (ohne eine konkrete Gefahrenlage), eine generalisierte A.störung (chronische Überbesorgtheit) sowie Objekt- u. Situationsphobien (z.B. Agoraphobie oder Klaustrophobie). Dagegen werden Sekundärängste durch andere Krankheiten verursacht, nämlich durch psychische (Depressionen, Schizophrenie) oder durch somatische Erkrankungen (etwa Störungen der Herz- oder der Schilddrüsentätigkeit, Diabetes oder Epilepsie). A.krankheiten können sowohl äußere Ursachen haben (Überforderungen der psychischen Anpassungsfähigkeit bei Extrembelastungen) als auch innere (Störungen der psychischen Anpassungsfähigkeit). In der Psychologie wird zwischen der schizoiden A. (vor menschlicher Nähe), der depressiven A. (vor Liebesverlust), der zwanghaften A. (vor Veränderung der Lebensumstände) u. der hysterischen A. (vor biographischer Stagnation) differenziert.

Lit.: Aristoteles, Rhetorik II; Nikomachische Ethik II–III; Augustinus, De civitate dei XIV 9; S. Kierkegaard, Der Begriff A.; M. Heidegger, Sein u. Zeit, § 40; E. R. Dodds, Heiden u. Christen in einem Zeitalter der A., Frankfurt/M. 1985; F. Strian, A. u. A.krankheiten, München 1995; H. Faller (Hrsg.), Das Phänomen A., Frankfurt/M. 1996; A. Gron, A. bei S. Kierkegaard, Stuttgart 1999; C. R. Sunstein, Gesetze der A. Jenseits des Vorsorgeprinzips, Frankfurt/M. 2007.

C. H.

Anmut, moralische Schöne Seele.

Anomalie Norm.

Anomie↑Gesellschaft.

Anpassung↑Konformität.

Ansehen↑Ehre.

Anstand↑Moral u. Sitte.

Anthropologie↑Mensch, Moralanthropologie, politische Anthropologie.

Anthropozentrisch (= a.) heißt ein Denken, das den ↑Menschen (gr. anthropos), biozentrisch (= b.) eines, das jedes ↑Leben (gr. bios) in den Mittelpunkt stellt. Die oft emotional geführte Debatte übersieht in der Regel, daß kein Entweder-Oder vorliegt, vielmehr sind gemäßigte Formen a. u. b. Denkens durchaus miteinander verträglich. Der Mensch kann, wie das b. Denken annimmt, in einem Kontinuum von Gemeinsamkeiten mit anderen Naturwesen stehen u. trotzdem, wie das a. Denken sagt, einen signifikanten Vorrang einnehmen, durchaus die «Krone der Schöpfung» sein u. eine absolute Würde, die ↑Menschenwürde, haben. Außerdem übersieht man den Unterschied, der zwischen einer bloß theoretischen Interpretation u. den praktischen Folgerungen besteht; dort geht es um einen bloßen Vorrang, hier um Vorrechte; von sittl. Belang ist unmittelbar nur ein praktischer, nicht ein theoretischer A.ismus.

Nach Ansicht mancher Tierschutz- u. UmweltschutzE trägt das a. Denken – mit seinen jüdischen u. christlichen Wurzeln (die Rede ist sogar von deren «gnadenlosen Folgen»: Améry) u. der neuzeitlichen Verschärfung – die größte Verantwortung an der einschlägigen «Unterdrückung u. Ausbeutung» der Natur. Derartige Ansichten sind aber schon deshalb simplifizierend, weil einerseits für die heutigen Umweltprobleme weit mehr Faktoren zuständig sind, z.B. auch die frühneuzeitliche Umwertung sittl. illegitimer ↑Leidenschaften in sittl. neutrale, sogar positive Interessen; etwa wird aus Habgier jetzt Gewinnstreben. Außerdem gibt es hinsichtlich der Naturbeziehung sowohl im Christentum (Franziskus oder A. Schweitzer) wie in der Aufklärungsepoche (Montaigne) «Häretiker». Vor allem bestätigt eine nähere Interpretation der biblischen Texte (Gen., Kap. 1–​9, Hiob, Kap. 38–​39u. Psalm 72u. 104) zwar deren a.es Denken (trotz Prediger 3, 19), sieht aber auch, daß sie gegen die Natur, immerhin Gottes Schöpfung, ein Verhältnis der Hege u. Pflege gebieten. U. das sog. Dominium terrae («machet euch die Erde untertan») ist im Zusammenhang altoriental. Herrschaftsdenkens zu lesen; ihm zufolge obliegt dem Herrscher, als Statthalter Gottes, die Sorge für die Armen u. die Schwachen. Ähnlich zu modifizieren ist die Interpretation des fast schon berüchtigten Descartes-Wortes von den Menschen als «Herren u. Besitzern der Natur». Herr ist, wer sich in den Naturkräften – immer: zum Wohl des Menschen, also humanitärer A.ismus – auskennt (wobei es Descartes auf ↑Medizin u. Ingenieurkunst ankommt), Besitzer, wer sich die Natur zunutze machen darf. Dabei versteht es sich – in der Aufklärungsepoche generell –, daß nur eine schlichte Nutznießung u. kein despotischer A.ismus erlaubt ist.

Kritiker des a. Denkens halten es für einen Art-bzw. Gattungsegoismus (Speziezismus, von species: Art), der ebenso verwerflich wie Rassismus sei. Kritiker des b. Denkens sehen dagegen kulturelle Errungenschaften bedroht, namentlich der Personencharakter des Menschen. Zumindest in einer Hinsicht ist a. Denken unaufgebbar u. die Gegenposition, ein radikaler B.ismus, zu verwerfen: Ohne einen überlegenen Rang des Menschen kann man von ihm nicht fordern, was für eine Tierschutz- u. UmweltschutzE unverzichtbar, der Natur als Natur aber fremd ist, sich nämlich auch gegen Nichtartgenossen sittl. zu verhalten. Insofern wir nur ein einziges animal morale kennen, verdient der Prototyp des a. Denkens in der Moderne, Kant, Zustimmung: sittl. Subjekt ist allein der Mensch: ↑Achtung geht jederzeit nur auf Personen, niemals auf Sachen, die nur Neigung, als Tiere aber auch ↑Liebe erwecken können (Kritik der praktischen Vernunft). Aus dieser Einsicht eines fundamental-e oder gemäßigten A.ismus folgt allerdings nicht ein radikaler A.ismus, demzufolge sittl. Ansprüche lediglich dem Menschen zugute kommen können oder sollen, weshalb es Pflichten nicht «gegen» Tiere, sondern nur «in Ansehung von» Tieren gebe (Kant). Schon um des Menschen willen (aus ästhet., aus pädagog., aus Ressourcen-Gründen usw.), aber nicht nur um seinetwillen verdient alles Leben Schutz (gemäßigter B.ismus); je nach ihrer Organisationshöhe verdienen Lebewesen aber einen größeren Schutz, Tiere z.B., die schmerz- u. leidensfähig sind, einen höheren Schutz als Tiere, die es nicht sind. Nach demselben Kriterium gebührt aber dem Menschen ein nochmals höherer Schutz (↑Menschenwürde). Pathozentrisch heißt dagegen ein Denken, das die Schmerz- u. Leidensfähigkeit zum höchsten Kriterium erklärt, folglich zwischen Mensch u. Tier keinen wesentlichen Unterschied der Behandlung anerkennt.

Die in b. Denken beliebte Rede von der Heiligkeit des Lebens u. der Ehrfurcht vor dem Leben (A. Schweitzer) hat vielleicht dieselbe Intention, bleibt trotzdem eine Verlegenheit. Denn in der subhumanen Natur lebt Leben vom Leben; u. um des bloßen Überlebens willen kann der Mensch zwar auf tierische, aber nicht auf pflanzliche Nahrung verzichten. Im übrigen gebührt Heiligkeit – u. ebenso Ehrfurcht – lediglich ↑Gott. Nach Überwindung des Animismus durch den Monotheismus ist dem Menschen diese Einstellung gegenüber allem natürlichen Leben versperrt.

Lit.: M. de Montaigne, Über Tierschutz, in: De la cruauté, in: Essais, Bd. II, Nr. 11, s. Lesebuch zur Ethik, Nr. 110; Descartes, Abhandlung über die Methode, 6. Kap.; I. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, Von den Triebfedern; ders., Kritik der Urteilskraft, §§ 61–​68u. 83; ders., Metaphys. Anfangsgründe der Tugendlehre, § 17; A. Schweitzer, Kultur u. E, München 1960, bes. Kap. XXI–XXII; ders., Die Lehre von der Ehrfurcht vor dem Leben, Berlin 1963; J. Passmore, Man’s Responsibility for Nature, London 21970; C. Améry, Das Ende der Vorsehung. Die gnadenlosen Folgen des Christentums, Hamburg 1972; C. Westermann, Genesis, Neukirchen 1974; O. Steck, Welt u. Umwelt, Stuttgart u.a. 1978; H. Jonas, Das Prinzip Verantwortung, Frankfurt/M. 1979; D. Birnbacher (Hrsg.), Ökologie u. E, Stuttgart 1980; K. M. Meyer-Abich, Wege zum Frieden mit der Natur, München 1984; ders., Aufstand für die Natur, München 1990; F. Ricken, A.ismus oder B.ismus? in: Theologie u. Philosophie 62 (1987) 1–​21; O. Höffe, Moral als Preis der Moderne, Frankfurt/M. 42000, bes. Kap. 12; A. Krebs (Hrsg.), NaturE, Frankfurt/M. 1996.

O. H.

Antiautoritäre Erziehung↑Autorität, Erziehung.

Antipathie↑Liebe.

Antirealismus↑MetaE.

Antisemitismus↑Diskriminierung.

Antizipation↑Utopie.

Apathie↑Stoische E.

Arbeit, wiewohl im Alltag, in Mythos u. Dichtung der meisten Kultursprachen ein häufig gebrauchtes Wort mit wechselnder u. vielfältiger Bedeutung, wurde erst spät zu einem Terminus der philos. Reflexion (im Übergang von der auf agrarisch-handwerklicher Grundlage ruhenden Gesellschaft zur modernen industriellen Welt, v.a. durch J. Locke,J.-J. Rousseau, A. Smith, G. W. F. Hegel, K. Marx, F. Engels). Der vorphilos. Sprachgebrauch verweist auf drei grundlegende Bedeutungen: A. als Mühsal, Not, Beschwernis, A. als gewollte u. bewußte Tätigkeit zur Sicherung des Lebensunterhaltes u. Verbesserung der Lebensbedingungen u. A. als Resultat dieser Anstrengung: als Leistung bzw. als Werk. A. im heutigen Sprachgebrauch, in dem die Widerfahrnisbedeutung von A. verlorengegangen ist, meint (häufig mit Mühe verbundene) Tätigkeit des Menschen in Abhängigkeit von Natur u. natürlicher Bedürftigkeit zum Zweck der Lebensunterhaltung u. -verbesserung. Durch planvolle u. geregelte Aneignung, Indienstnahme u. Aufbereitung der Natur, durch ‹Produktion› von Werkzeugen, von Gebrauchs- u. Verbrauchsgütern unterscheidet sich der Mensch vom Tier. Planvoll u. streng geregelt «arbeitet» der Mensch erst im Rahmen der Agrikultur. So gesehen wird die Genese des Wortes (lat. arvum: Ackerland) ebenso wie die späte begriffliche Präzisierung u. Interpretation des Phänomens A. verständlich (Rousseau etwa spricht von A. erst im Zusammenhang der Agrikultur, 2. Disc., 2. Teil): Sie orientiert sich einseitig am Modell des Bearbeitens von Grund u. Boden u. von Naturdingen, nach dem Modell handwerklicher Tätigkeit, in der das arbeitende Subjekt einen Stoff behandelt u. formiert. Sowohl die antik-mittelalterliche Unterscheidung von knechtischer A.u. freier Tätigkeit, von mühsamer Aufbereitung widerständiger Natur (opera servilia) u. von freier Betätigung in Kunst, Wissenschaft, Kult u. Staatsdienst (opera liberalia) als auch der neuzeitliche Gedanke der Selbstgestaltung im Prozeß der Aneignung u. Unterwerfung von Natur, in dem der Mensch sich in seinen Produkten vergegenständlicht u. aus der Naturabhängigkeit zu sich selbst befreit u. herausbildet, haben hier ihre Wurzel. In der Tat deckt die Bearbeitung von Natur u. die Herstellung von Instrumenten, in denen sich die generalisierten Erfahrungen des Arbeitenden mit seinem Objekt niederschlagen, einen Großteil von A. ab, wenn auch A. sich nicht in Herstellen u. instrumentellem Handeln erschöpft (vgl. etwa Sammeln u. Jagen, Dienstleistungen etc.).

Bestimmt man A. indessen von ihrem Zweck her als jegliche planvolle Leistung zur Sicherung des Lebensunterhaltes u. Verbesserung der Lebensbedingungen, so muß sie nach wie vor als Grundbedingung menschlichen Lebens u. Fundament aller Kulturleistungen angesehen werden. Aber das Recht der tradierten Abgrenzung von A.u. Muße (freie Zeit), von A.u. ↑Kommunikation, von A.u. Spiel bleibt gewahrt. Während man immer auch arbeitet, um zu leben (das Moment möglicher Selbstgestaltung u. Selbstverwirklichung in der A. ist damit keineswegs geleugnet), haben Mußetätigkeiten, Spiel, z.T. auch kommunikative Praxis ihren Zweck in sich selbst. A. in Gestalt handwerklich-technischen Hervorbringens kann nicht zum Paradigma menschlichen Tätigseins überhaupt gemacht werden (so etwa bei F. Engels), zwischen sprachlichem Handeln, kommunikativem Handeln u. A. ist zu unterscheiden, erst aus ihrem dialektischen Zusammenspiel u. nicht durch Reduzierung der Interaktion auf A. kann die Konstitutionsgeschichte des Menschen u. der Gesellschaft zureichend verstanden werden. Wie jener theologische Gedanke, der A. als Fortführung u. Vollendung göttlicher Schöpfungs- u. Erlösungstat (F. Bacon) u. A.ethos, Berufsethos, Fleiß als Signum sich bewährender Auserwählung interpretiert (↑Berufsethik), so überanstrengt auch die Philosophie einen Begriff, wenn sie die «Erzeugung einer gegenständlichen Welt» im Prozeß der A., die produktive Tätigkeit zum entscheidenden «Gattungscharakter des Menschen» (Marx) macht. Eine Entmythologisierung des A.begriffs u. die Differenzierung des ↑Handlungsbegriffs ist umso dringender, als die A. in der technisch-industriellen Welt durch die Einführung von Teilfertigung, des mechanisch-normierten A.rhythmus u. der lückenlosen Kontrolle sowie das komplexen Systems der Dienstleistungen für den Einzelnen (↑Individuum) eine immer geringere Möglichkeit der Selbstrealisierung u. Befriedigung bietet. Diese Entwicklung verstärkt sich durch die zunehmende Digitalisierung des Informationsgeschehens u. der A.welt.

Lit.: A. Smith, Der Wohlstand der Nationen; G. W. F. Hegel, Jenenser Realphilosophie; ders., Phänomenologie des Geistes, Abschnitt B: Selbstbewußtsein; ders., Rechtsphilosophie, III. Teil, 2. Abschn. A: Das System der Bedürfnisse; K. Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844; ders., Das Kapital, MEW Bd. 23–​25; F. Engels, Anteil der A. an der Menschwerdung des Affen, MEW Bd. 20; M. Scheler, A.u. E (1899), in: Frühe Schriften, Bern 1971; F. Giese, Philosophie der A., Halle 1932; H. Marcuse, Die philosophischen Grundlagen des wirtschaftswissenschaftlichen A.begriffs (1932), Kultur u. Gesellschaft, Bd. II, Frankfurt/M. 1965; M. D. Chenu, Pour une théologie du travail, Paris 1955; J. Huizinga, Homo ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel, Hamburg 1956; H. Arendt, Vita activa oder vom tätigen Leben, Stuttgart 1960; R. C. Kwant, Philosophy of Labour, Pittsburg 1960; J. Habermas, A.u. Interaktion, Technik u. Wissenschaft als ‹Ideologie›, Frankfurt/M. 21968; M. Riedel, Art. A., Handb. philos. Grundbegriffe, Bd. I; W. Conze, Art. A., Geschichtliche Grundbegriffe, Bd, 1; Th. Ebert, Poiesis u. Praxis, Zeitschr. f. philos. Forsch. Bd. 30, 1976; J. Moltmann (Hg.), Recht auf A. – Sinn der A., München 1979; V. Hösle, Praktische Philosophie in der modernen Welt, München 1992; S. Müller, Phänomenologie u. philosophische Theorie der A., 2 Bde., Freiburg/München 1992, 1994; O. Höffe, Wirtschaftsbürger, Staatsbürger, Weltbürger, München 2004, Kap. 2; R. Muirhead, Just Work, New York 2004; W. Thierse, H. Ludwig (Hg.), A. ist keine Ware. Über wirtschaftliche Krisen, normative Orientierung u. politische Praxis, Freiburg i.Br. 2009; A. Schlittmaier, Philosophie in der Sozialen A., Stuttgart 2018.

M. F.

Arbeitsethos↑Arbeit.

Argumentation↑Begründung.

Die Aristotelische Ethik ist eine der wichtigsten klassischen Beiträge zur E, die neuerdings starke Beachtung findet, zumal als Gegensatz zur ↑Kantischen E. In dieser Wiederbelebung, der neoaristotelischen E, wird die A. E aber selten in ihrer vollen Bandbreite u. tatsächlichen, lediglich teilweise zu Kant alternativen Eigenart aufgegriffen. Charakteristisch für die A. E ist ihr Zusammenhang mit der Politik, der Gedanke einer der moralischen Praxis dienenden Philosophie (praktische Philosophie), das Streben als Grundmodell des Handelns samt dem ↑Glück (eudaimonia) als Erfüllung allen Strebens (↑Lebenskunst), die Bedeutung von sittl. Grundhaltungen, der Tugenden, einschließlich der ↑Gerechtigkeit u. der ↑Billigkeit, einer Quasi-Tugend, der ↑Freundschaft, u. einer für Situationen u. Kontexte sensiblen sittl.-praktischen Urteilskraft, der ↑Klugheit (phronēsis). Hinzu kommen eine gewisse Rehabilitierung der Lust (↑Freude) u. der Vorrang der theoretischen ↑Lebensform (bios theorētikos) vor dem sittl.-politischen Leben (bios politikos). Einige Vertreter des ↑Kommunitarismus nehmen dagegen zu Unrecht an, die A. E sei nicht universalistisch, sondern partikularistisch (Partikularismus).

Ein Großteil der angeblich für die A. E eigentümlichen Elemente finden sich auch bei Kant, so die Bedeutung der Tugend u. der Urteilskraft, selbst der Gedanke des guten Lebens. Die Unterschiede sind hier subtiler. Grundlegend verschieden ist die A. E mit dem Strebens- statt Willensmodell des Handelns, mit dem dazugehörenden Glück statt ↑Freiheit u. dem Vorrang der theoretischen Vernunft.

Lit.: Aristoteles, Nikomach. E; J. Ritter, Metaphysik u. Politik. Studien zu Aristoteles u. Hegel, Frankfurt/M. 1969; Ph. Foot, Virtues and Vices, Oxford 22002; O. Höffe, Praktische Philosophie. Das Modell des Aristoteles, Berlin 32008; ders. (Hrsg.), Aristoteles. Die Nikomachische E (= Klassiker auslegen, Bd. 2), Berlin 42019; ders., Lebenskunst u. Moral, München 2007, Teil II.

O. H.

Armut bedeutet ursprünglich u. gemäß der gr. u. lat. Entsprechungen zweierlei: sowohl seelisches Elend u. Unglück (gr. eleginos, lat. miseria) als auch materielles Unbemitteltsein, Bedürftigkeit (gr. penia, endeia, lat. paupertas). Dort ist die Barmherzigkeit (lat. misericordia) gefragt, also die Haltung, Menschen in seelischer Not ↑Mitleid entgegenzubringen, ihnen Trost zu spenden u. wenn möglich weitere Hilfe zu leisten. Heute herrscht in der E zwar die andere, bloß materielle Bedeutung vor, die A. als Mangel an Besitz. Man sollte aber weder das Phänomen der seelischen Not ausblenden, noch darf man übersehen, daß eine ↑Diskriminierung in Form von sozialem u. kulturellem Ausschließen («Exklusion») u. noch mehr die soziale u. politische Unterdrückung die menschliche Existenz stärker gefährden als wirtschaftliche A. – Unter wirtschaftlich «absoluter A.» leidet, wer sich den nötigsten Lebensbedarf nicht selber beschaffen kann, insbesondere wer Hunger leidet; unter einer «relativen A.», wer zwar genug zum Überleben hat, also das physische, jedoch nicht das soziale oder kulturelle Existenzminimum erreicht. Daneben gibt es eine dritte Art, jene A. als freie Askese u. Bedürfnislosigkeit u. als freiwilliger Verzicht auf Besitz, der sich als Lebensideal in vielen Religionen findet. Schon die absolute A. ist schwierig zu messen, da es nicht auf ein «objektives» Einkommensminimum, auch nicht auf finanzielle Kaufkraft ankommt, sondern auf die Verfügbarkeit von Grundnahrungsmitteln, weiteren lebenswichtigen Bedarfsgütern u. einer elementaren Gesundheitsfürsorge. Ebenfalls problematisch ist für die relative A. die Annahme eines bestimmten Prozentsatzes (weit verbreitet: 60 %) vom Durchschnittseinkommen in der betreffenden Gesellschaft. Erstens sind die Kosten des Lebensunterhaltes oft so unterschiedlich, daß jemand in einer günstigen Region als arm gilt, obwohl er ein gutes Auskommen hat. Zweitens ist es unplausibel, selbst dort von A. zu sprechen, wo eine Gesellschaft das «soziale Existenzminimum» großzügig festsetzt. Trotzdem ist es unbestritten, daß in globaler Perspektive vielerorts absolute A. (↑Entwicklungshilfe) u. in den reichen Staaten mancherorts relative A. herrschen. Ob aber die A. zu- oder eher abnimmt (etwa weil manche Hilfe in Sach- nicht Geldleistungen besteht), diese Frage ist schwierig zu beantworten.

Aus Sicht der Betroffenen besteht A. vor allem im Mangel an materiellen Dingen, hier insbesondere an Lebensmitteln, dann an Kleidung u. Wohnung, aber auch an Geld, mit der Folge, täglich existentielle Sorgen u. Angst vor der Zukunft zu haben. Mit A. verbindet sich häufig ein ungesundes, verschmutztes u. von Gewalt geprägtes Umfeld, ergänzt um ein Gefühl der Machtlosigkeit u. fehlenden Möglichkeit, die eigenen Interessen zu artikulieren.

Die Ursachen der A. sind vielfältig u. nicht überall dieselben; u. oft werden je nach politischer Einstellung einige Ursachen (über)betont, andere verdrängt. Individuelle Ursachen erklären die A. bestimmter Familien u. Personen innerhalb einer Gesellschaft: gestörte Familienverhältnisse (↑Familie), Behinderung, ↑Krankheit, Kinderreichtum, ↑Alter, auch ethnische Zugehörigkeit, ferner Alkoholismus (Sucht) u. Kriminalität. Strukturelle Ursachen erklären die A. in einer Region oder Gesellschaft: (1) Naturkatastrophen, (2) Kriege u. Bürgerkriege, (3) wirtschaftliche, soziale u. politische Umwälzungen, (4) die nur selektive Liberalisierung des Welthandels (z.B. Abschottung der Agrarmärkte der reichen gegen die der ärmeren Länder), (5) Bevölkerungswachstum, (6) mangelnde Rechtsstaatlichkeit, statt dessen Korruption u. Mißwirtschaft auch in bodenschatzreichen Ländern, (6) mangelnde Bildung u. Ausbildung, (7) falsche Wirtschaftspolitik, (8) geringe Einkommenssteuer.

Je nach den vorrangigen Ursachen ist eine andere Therapie gefragt. Den zwei ersten strukturellen Ursachen von A. bspw. tritt eine Wiederaufbauhilfe entgegen, gegen die anderen bedarf es größerer Strukturveränderungen (↑Entwicklungshilfe). Hinsichtlich der Prioritäten richtet sich der Kampf gegen A. sinnvollerweise als erstes gegen Hunger u. mangelnde Kleidung u. Wohnung sowie gegen die von A. bedingte Sterblichkeit. Danach folgt die Hilfe zu einem einigermaßen angenehmen u. sicheren Leben in einem humanen Umfeld.

Lit.: A. Sen, Poverty and Famines. An Essay on Entitlement and Deprivation, Oxford 71997; O. Höffe, Demokratie im Zeitalter der Globalisierung, München 22002, Kap. 15; ders., Wirtschaftsbürger, Staatsbürger, Weltbürger, München 2004, Kap. 15; Th. Kesselring, E der Entwicklungspolitik, München 2003; Th. Pogge, World Poverty and Human Rights, Cambridge 2003; Lebenslagen in Deutschland. Der 2. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, Bonn 2005.

O. H.

Artegoismus ↑Tierschutz

Askese↑Verzicht.

Asozial↑Sozialisation.

Ataraxie↑Epikureische E, Gelassenheit, Seelenruhe, stoische E.

Atheismus↑Gott.

Aufklärung↑Moralkritik.

Aufrichtigkeit↑Wahrheit

Ausbeutung↑Entfremdung.

Ausnahmesituation↑humanitäre Intervention, Notsituation.

Autarkie↑Glück.

Autonomie↑Freiheit.

Autorität (lat. auctoritas: Ansehen, Geltung) zeichnet Personen (z.B. ↑Eltern oder Fachleute) u. Instanzen (↑Gewissen), auch Institutionen (Kirche, Gericht …) u. Schriften (Bibel, klassische Texte …) aus, die man aufgrund ihres Ansehens, ihres Einflusses, ihres Könnens oder ihrer Befugnisse als weisungsberechtigt oder vorbildlich anerkennt. Nur wenig zugespitzt ist die A. eine ↑Macht durch Ansehen u. ↑Anerkennung. Manche Kulturen sprechen sie auch ihren Vorfahren u. ihren Traditionen, insbesondere dem überlieferten Recht zu. Nach Diderot gibt es eine einzige natürliche, die väterliche (besser: elterliche) A. A. heißt jene soziale Vorrangstellung aufgrund von Überlegenheit, die zwischen der bloßen Zwangsgewalt u. dem Zwang des besseren Arguments steht. Manche A. ist angemaßt, andere wird verspielt oder mißbraucht. Legitim ist A., die sich letztlich aus Können u. Leistung speist u. bei Personen in der Verantwortung zutage tritt, die sie übernehmen. In Recht u. Staat besitzen jene Amtspersonen u. Instanzen A., die dazu autorisiert (ermächtigt) sind, folglich die Befugnis haben, zu einem bestimmten ↑Handeln zu verpflichten, einschließlich der Befugnis, rechtsverbindliche Urteile zu fällen u. Gesetze zu erlassen. Die entsprechende ↑Herrschaft ist legitim, wenn sie aus der formalen (↑Demokratie) u. inhaltlichen Zustimmung (Vorteil) der Betroffenen heraus erfolgt. Im persönlichen, gesellschaftlichen u. politischen, auch wissenschaftlichen, literarischen u. künstlerischen Leben verdient A., wer durch überlegenes Wissen oder Können oder eine vorbildliche Lebensführung herausragt. Eltern u. Erzieher sind in dem Maß als A. unverzichtbar, wie sie sich für die ↑Bedürfnisse u. Interessen der ihnen Anvertrauten einsetzen. Hier u. andernorts verkehrt sich A. ins Autoritäre, wo das eigene Interesse, etwa ein Machtstreben, sich anstelle von Können u. Lesitung in den Vordergrund drängt. Das plane Gegenteil, z.B. die antiautoritäre Erziehung oder die politische Anarchie (wörtlich: Freiheit von Herrschaft), verfehlt die Aufgabe, die zum Heranwachsen u. die zum Zusammenleben erforderliche A. zu schaffen. Eine ↑Moral ist autoritär, die sich jeder ↑Begründung u. evtl. ↑Moralkritik versperrt.

Lit.: D. Diderot, Art. Autorität, in: ders. Enzyklopädie, München 1969, 198–​208; C. J. Friedrich (Hrsg.), Authority, Cambridge, Mass. 1958; H. G. Gadamer, Wahrheit u. Methode, Tübingen 21965, 261f.; H. Arendt, Was ist A.? in: Fragwürdige Traditionsbestände im politischen Denken der Gegenwart, Frankfurt/M.o.J. (1957); Th. Eschenburg, Über A., Frankfurt/M. 1965; Th. W. Adorno, Der autoritäre Charakter, Amsterdam 1968; H. Marcuse, Studien über A.u. Familie, in: Ideen zu einer kritischen Theorie der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1969; M. Horkheimer, A.u. Familie, Ges. Schr. Bd. 3, 326–​417; J. Löschke, Authority in Relationships. International Journal of Philosophical Studies 23(2), 187–​204.

O. H.

B

Barmherzigkeit↑Armut, Christliche E, Wohlwollen.

Bedürfnis bezeichnet gemäß einem objektiven Sprachgebrauch das Verlangen nach einem unentbehrlichen, zentralen u. grundlegenden Gut für ein Individuum; in der (häufiger verwendeten) subjektiven Redeweise steht der B.begriff für das individuelle Verlangen, Begehren u. Streben nach einem beliebigen Gut. Güter im Sinn des objektiven Wortgebrauchs sind das Überleben, die persönliche Freiheit, familiäre u. freundschaftliche Bindungen, soziale Anerkennung, beruflicher Erfolg u.ä., also alles unverzichtbar Erforderliche, u. zwar je nach Interpretation unverzichtbar (a) für das bloße Überleben einer Person («natürliche B.se») oder (b) für ihre gelingende Lebensführung («existentielle B.se») oder aber für ihre spezielle Identität («persönliche B.se»). In einem sekundären Sinn richten sich B.se zudem auf solche Güter, die für die genannten konstitutiv sind, d.h. auf alles Überlebensnotwendige, Freiheitsfördernde, Gesundheitserhaltende usw. Insofern kann man sagen, Güter wie Nahrung, Kleidung, Unterkunft, medizinische Versorgung, Chancengleichheit, Meinungsfreiheit, Arbeit etc. seien B.se oder der Gegenstand von B. sen. Für die Moralphilosophie ist nun folgender Punkt zentral: B.se begründen Interessen in einem fundamentalen Sinn, nämlich solche, die man einander nicht streitig machen kann. Der B.begriff geht damit erheblich über den instrumentellen Begriff des ‹Bedarfs› hinaus: Ein ‹Bedarf an X› besteht, sooft ein Mangel an dem für das Ziel Y notwendigen Mittel X herrscht; dagegen kann von einem ‹B. nach X› nur die Rede sein, wenn Personen ohne X in ihrer Identität bedroht wären. Institutionen wie die UNO oder die OECD, aber auch verschiedene Nichtregierungsorganisationen haben einschlägige Güterkataloge erstellt (basic needs-Listen).

Im Anschluß an Platon unterscheidet die antike B.theorie, besonders Epikur, zwischen «notwendigen», «natürlichen» u. «leeren» Begierden, um damit bloß subjektive Wünsche (etwa nach Luxus, erlesenen Speisen u. Getränken), von natürlichen, aber nicht notwendigen Handlungszielen (wie Sexualität) u. diese von den «wirklichen B.sen» des Menschen, nämlich den «natürlichen u. notwendigen Begierden», absetzen zu können. Als echte B.se gelten dann einerseits die überlebensnotwendigen u. andererseits die glücksnotwendigen Tendenzen. Besonders Hegel sieht eine anthropologische Besonderheit gegenüber dem Tier in der «Vervielfältigung», «Zerlegung» u. «Unterscheidung» der konkreten menschlichen B.se, aus denen immer partikularisiertere bzw. abstraktere B.se hervorgehen.

B.se bilden zentrale Orientierungspunkte für ein prudentiell u. moralisch angemessenes Handeln. Sie weisen die Besonderheit auf, auch dann für mich selbst u. für andere handlungsrelevant zu sein, wenn ich ein B. weder registriere noch anerkenne noch artikuliere. Es könnte etwa sein, daß ich meine «wirklichen B.se» ignoriere u. daher meine «tatsächlichen Interessen» verkenne. Daher spielt der B.begriff eine erhebliche Rolle für die Idee einer politisch-sozialen Verteilungsgerechtigkeit, u. zwar historisch bereits seit den Anfängen des Christentums (vgl. Apostelgeschichte 2, 45; ↑Gerechtigkeit). In der aktuellen Debatte ist es kontrovers, ob man über eine umfassende, material gehaltvolle Hintergrundtheorie menschlicher Grundfähigkeiten u. -funktionen verfügen muß, um ein zuverlässiges Bild der authentischen B.se von Individuen zu erhalten oder ob rein subjektive B.se von Individuen u. Kulturen geltend gemacht werden können (Präferenzautonomie). Es kommt zu folgendem Dilemma: Definiert man B.se objektiv-distanziert, so besteht die Gefahr von Paternalismus bzw. Kulturimperialismus; denn B.se scheinen irreduzibel individuell u. kulturrelativ zu sein. Umgekehrt droht bei jeder empirischen Ermittlung subjektiver oder kulturabhängiger B.se die Gefahr, daß Personen arbiträre, idiosynkratische, vorgetäuschte oder zu wenige B.se deklarieren. So gesehen führt der B.begriff in eine Aporie: Einerseits scheint es mißlich, etwa als Politiker oder Angehöriger einer karitativen Hilfsorganisation bestimmten Personen vorschreiben zu müssen, was für sie ein zentrales Gut ist, andererseits scheint man nicht umhin zu können, die jeweilige B.artikulation objektivierend infrage zu stellen. Als Ausweg schlägt D. Braybrooke ein inhaltlich neutrales u. zugleich methodisch objektivierendes Verfahren vor: Die Erstellung einer B.liste, die sich einerseits aus bestimmten universellen «Minimalstandards von Versorgung» zusammensetzt u. andererseits ein kultur- u. epochenspezifisches «Präzedenzprinzip» zuläßt, das eine gewisse Präferenzautonomie von Individuen u. Gruppen sicherstellt. In einem objektiven Sinn gibt es adressatenspezifische B.e jedenfalls bei Kindern, Kranken, Behinderten, älteren Menschen usw.

Lit.: Platon, Politeia, VIII 558f.; Epikur, Brief an Menoikeus, 127; G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 121; A. H. Maslow, Motivation and personality, New York 1954; D. Braybrooke, Meeting Needs, Princeton 1987; G. Thomson, Needs, London/New York 1987; L. Doyal/I. Gough, A Theory of Human Need, Basingstoke 1991; R. Ohlson, Morals Based on Needs, Lanham 1995; C. Brock (Hrsg.), Necessary Goods, Lanham 1998; J. Disse, Desiderium. Eine Philosophie des Verlangens, Stuttgart 2016.

C. H.

Befindlichkeit↑Existentialistische E.

Befreiung ↑Philosophie der Befreiung.

Begegnung↑Kommunikation.

Begierde↑Leidenschaft.

Begründung. Welches ↑Handeln sittl. geboten, verboten oder erlaubt ist – dessen sind sich die Menschen nicht immer sicher, u. noch weniger sind sie sich untereinander darüber einig. In drei Stufen zunehmender Radikalität beziehen sich Unsicherheit u. Uneinigkeit entweder auf die Anwendung einer Handlungsregel (↑Maxime, Norm) in einer konkreten Situation oder auf die Sittlichkeit der Regel oder das Kriterium u. Prinzip der Sittlichkeit, dabei auch auf die Grundfrage, warum man sich überhaupt auf den Standpunkt der Sittlichkeit stellen u. nicht auf dem des Selbstinteresses verbleiben soll. Diese Fragen zu beantworten ist das Ziel der (Normen-)B. Sie ist nur dort belanglos, wo man glaubt, sittl. Urteile aufstellen zu können, ohne sie selbst oder ihre Kriterien zu überprüfen. Im Gegensatz zu einem solchen Dogmatismus u. autoritärem Verhalten (↑Autorität) sucht die ↑E seit der griechischen Aufklärung (Sophisten, Sokrates) auch im Bereich von ↑Moral u. Sitte nach rationaler Argumentation, nach B. oder Rechtfertigung. Zwar findet man häufig sowohl Gründe für als auch wider die Richtigkeit gewisser Regeln. Aber daraus folgt nicht, daß der Bereich des Praktischen einem objektiven Erkennen nicht zugänglich sei (e Skeptizismus).

Eine philosophisch zufriedenstellende B. ist ein zweiteiliger, methodisch mehrfach differenzierter Prozeß (↑Methoden der E). Der erste Teil ist reduktiv: Nach der Vorfrage, warum es überhaupt normative, des näheren sittl. Anforderungen braucht, sucht man in einer Selbstreflexion des sittl. Bewußtseins dieses auf seinen Begriff, sein Prinzip u. Kriterium zurückzuführen. Dazu muß man bei einem konkreten sittl. Urteil (der Synthesis einer sittl. Maxime mit den wechselnden Situationsbedingungen) vom nicht-sittl. Element (den Situationsbedingungen, auch den geschichtlich-gesellschaftlichen Vorgaben, auch Sachgesetzlichkeiten) abstrahieren, ebenso von den verschiedenen Inhalten der Maximen, so daß nur eine formale Gleichheit, die Qualität des Sittl. selbst, übrigbleibt. Das ist der Begriff einer unüberbietbar höchsten Verpflichtung, die schlechthin oder unbedingt gültig ist, d.h. unabhängig von den zufälligen Gegebenheiten individueller, geschichtlich-gesellschaftlicher, selbst gattungsmäßiger Natur. Sittl. Gebote oder Verbote sind insofern nicht subjektabhängig, sondern objektiv, notwendig u. allgemein (für jedes Vernunftwesen) gültig. Versteht man das Handeln als Zulaufen auf ein Ziel, als ein Streben, so liegt das Prinzip in der höchsten u. vollkommenen Erfüllung allen Strebens, im ↑Glück als Eudaimonie. Blickt man dagegen auf den Anfang des Handelns, den Willen, so liegt das Prinzip im allerersten Anfang, in der Selbstbestimmung des Willens (↑Freiheit im Sinne von Autonomie). Letztlich ist man nicht deshalb sittl., weil es dem langfristigen eigenen oder gemeinsamen Wohlergehen (Utiliarismus) dient, sondern weil man nur beim sittl. Handeln selbstgesetzten Geboten folgt, also im strengen Sinn frei ist. Das Kriterium für die Autonomie eines Handelns ist die Verallgemeinerbarkeit der Maxime, der das Handeln folgt (kategorischer Imperativ). In Annäherung kann man sagen, daß eine Maxime sittl. ist, die ein idealer (unparteiischer u. rationaler) Beobachter wählen bzw. die aus einer idealen Beratungssituation (Rawls, konstruktive E, kritische Theorie) hervorgehen würde.

Der zweite Teil der B. ist deduktiv: Mit Hilfe der genannten Kriterien kann man Handlungsmaximen, somit auch unsere moralischen Alltagsurteile auf die Sittlichkeit hin prüfen u. sie bestätigen oder revidieren. Im Gegensatz zur Vorstellung einer mechanischen Subsumptionsmöglichkeit schreiben die entsprechend begründeten Maximen in der Regel aber kein konkretes Handeln vor. Sie haben vielmehr die methodische Bedeutung von normativen Leitprinzipien, die (wie: Versprechen zu halten, anderen in Not zu helfen, aber auch wie das Prinzip des Utilitaris-mus oder die ↑Goldene Regel) einen weiteren methodischen Schritt erfordern. Aufgrund von oft umfangreichen empirischen Situations- u. Sachkenntnissen u. teilweise recht komplizierten Beurteilungsprozessen sind die Leitprinzipien situationsgemäß anzuwenden (↑Klugheit). Es gilt, z.B., die fremde Not zu erkennen, sie genau zu diagnostizieren u. die rechten Mittel der Hilfe zu finden. Der sittl. Handelnde muß zusätzlich u. vorab die Situation als für sich sittl. relevant wahrnehmen u. anerkennen.

Durch die B. wird weder der sittl. Standpunkt noch ein konkretes sittl. Urteil aus dem Nichts hervorgebracht. Eine gelebte Moral u. ein schon vorhandenes sittl. Bewußtsein werden vielmehr über sich selbst aufgeklärt, evtl. auch kritisiert (↑Moralkritik). Durch die Erkenntnis des Prinzips sieht man, daß sittl. Gebote nicht eine Sache willkürlicher Dezision oder persönlichen Gefühls, nicht eine Frage der Herkunft, des Taktes oder der eingespielten Konvention u. letztlich auch nicht bloß Gebote einer religiösen Instanz sind. Der Mensch wird sich vielmehr seiner Autonomie bewußt. Zugleich gewinnt er das Kriterium, nach dem sich die Autonomie seines Handelns prüfen läßt. – ↑MetaE.

Lit.: I. Kant, Grundleg. z. Metaphysik der Sitten; ders., Kritik der praktischen Vernunft; J. Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt/M. 1975, bes. Kap. 3u. 8; ders. Politischer Liberalismus, Frankfurt/M. 1998, bes. 3. u. 4. Vorlesung; R. M. Hare, Freiheit u. Vernunft, Düsseldorf 1973; O. Höffe, E u. Politik, Frankfurt/M. 31987, Kap. 2, 3u. 8; ders., Kategorische Rechtsprinzipien, Frankfurt/M. 1990; F. Kambartel (Hrsg.), Praktische Philosophie u. konstruktive Wissenschaftstheorie, Frankfurt/M. 1974; W. Oelmüller (Hrsg.), Materialien zur Normendiskussion, 3. Bde., Paderborn 1978–​79; A. Pieper, Pragmat. u. e Normenb., Freiburg/München 1979; J. Habermas, Moralbewußtsein u. kommunikatives Handeln, Frankfurt/M. 21985; A. Gibbard, Wise Choices, Apt Feelings. A Theory of Normative Judgement, Oxford/New York 1990; O. Höffe, Lebenkunst u. Moral, München 2007.

O. H.

Behaviorismus↑Belohnen u. Bestrafen.

Unter Belohnen u. Bestrafen versteht man im prägnanten Sinn den Sachverhalt, daß ein Mensch einem Menschen dafür, daß dieser (verantwortlich) etwas Gutes bzw. Schlechtes getan hat, (gewollt) etwas Gutes (Belohnen) bzw. etwas Schlechtes (Bestrafen) zufügt. Die Praxis von B. u. B. ist von eminenter (sozialer) Bedeutung für die Regulierung menschlichen Verhaltens, für die Bildung u. Verstärkung erwünschter bzw. für die Reduzierung unerwünschter Verhaltensweisen.