Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Sie sei ein normales Mädchen, hatte Lia betont. Sie würde eine normale Jugend leben. Sex, Saufen, Serien. Konzerte. Dass ihr Leben den Bach herunterging, das würde sie niemals zugeben. Eines schien sie aber zu wissen: Wenn sie eines nicht war, dann homosexuell. Molly hätte unterschiedlicher als sie nicht sein können. Feminin, Studentin, vernünftig. Vier Jahre älter. Lesbisch. Angeblich glücklich vergeben. Konzertgängerin. Anscheinend zufrieden mit dem eigenen Leben. Dass ihr Leben eine überraschende Wendung .nehmen würde und dass alles etwas mit der gemeinsamen Lieblingsband zu tun hatte, damit hatten beide niemals gerechnet. - Eine Liebesgeschichte, die dramatischer nicht hätte sein können
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 1062
Veröffentlichungsjahr: 2019
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
“It wasn’t hard to fall for you
You had it all planned out, didn’t you, didn't you?
You turned up late but I would have waited for days
Days for you, for you”
-Moose Blood, Knuckles
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Epilog
Stille, Ruhe, Einsamkeit. Einsamkeit, obwohl sie doch zu zweit waren. Einsamkeit, und das, obwohl die Person, die der anderen jeweils die Wichtigste im aktuellen Leben sein sollte. Sie waren nichts außer das gemeinsame Alleinsein.
Kein anderer Satz hätte die Situation besser beschreiben können, nichts konnte besser darstellen, wie Molly sich in diesem Moment gefühlt hatte, in dieser Januarnacht, dieser Eiseskälte, die sich in ihrem Inneren aufgebaut hatte, nachdem sie diese Sätze gehört hatte aus dem Mund ihrer Geliebten. Dieses Mädchen, diese junge Frau, diese wunderschöne, gefährliche Elfe, von der sie genau wusste, dass sie sie eines Tages ins Verhängnis stürzen würde. Es war klar gewesen und sie wünschte sich nur noch, dass sie damals nicht auf sich selbst gehört hatte. Wieso hatte sie mehr auf ihre Großmutter vertraut als auf sich selbst? Wenn sie niemals diese entscheidenden Schritte gewagt hätte, dann hätte sich kein bisschen in ihrem Leben verändert. Vielleicht wäre das auch besser so gewesen in einigen Punkten. Vielleicht hätte sie das Studium so absolviert, wie sie es gewollt hätte, vielleicht hätten sich ihre Ansichten und Meinungen zu vielen verschiedenen Themen nicht geändert, vielleicht sähe ihr Leben heute und besonders in dieser einen Nacht ganz anders aus. Nicht nur vielleicht, sondern ganz bestimmt. Es war einfach so und das Leben bestand doch aus Veränderungen, oder etwa nicht? Man wuchs daran und je größer die Veränderung, der Wechsel von gewissen Lebensabschnitten ist und was diese mit sich bringen, desto mehr wächst man auch daran und wird ein anderer Mensch. Selbst wenn sie das alles nicht getan hätte, dann hätte sich trotzdem irgendetwas verändert. Aber dann hätte sie nicht ihre Träume erfüllen können. Nicht ihre Leidenschaft ausleben können. Und sie hätte niemals etwas wie wahre Liebe gespürt, die sie ganz eingenommen und sie zu einem stärkeren Menschen gemacht hat. All‘ das, was Lia mit ihr gemacht hat, während sie zusammen diesen Weg des Lebens in ihren jungen Jahren meisterten, das hatte ihr mehr Glück beschert als das Tanzen, auf der Bühne zu stehen, sich frei zu fühlen und sich sanft und leicht zu fühlen inmitten des Rampenlichtes vor über sechshundert Menschen.
Es war einfach anders mit ihr. Durch sie war sie so geflogen, hatte sich leichter und sanfter gefühlt, während ihr Blick auf ihre verliebten Augen im Publikum getroffen hatte, als sie in der ersten Reihe saß und sie jedes Mal allein mit ihrer Anwesenheit ein wahres Wunder in ihr und ihren Fähigkeiten auslöste, sodass sie schlicht und einfach die beste Tänzerin in ihrer gesamten Gruppe geworden war. Und das jahrelang. Sie stand an ihrer Seite, zu jeglicher Zeit, war da, als sie gefallen war, als sie ihre ersten Wettbewerbe und Preise gewonnen hatte, hier, in Dresden, in ihrer neuen, alten Heimat. Sie hatte es einfach durchgezogen und man kannte sie dort einfach nur zusammen. Das Traumpaar schlechthin mit der schönsten, dramatischsten und traurigsten Geschichte, die man sich nur hätte denken können. Niemand wäre jemals darauf gekommen, was alles mit ihnen passiert war. Aber es hätte ihr klar sein müssen, schon mit ihren jungen einundzwanzig Jahren war ihr bewusst gewesen, dass sie hinfallen würde mit dieser ganzen Tragödie, dadurch, dass sie ihre Emotionen ihr gegenüber nicht unterdrückt, sondern zugelassen hatte, dadurch, dass sie sich auf die Sache mit Lia eingelassen hatte. Wie oft hatte sie darüber nachgedacht, dass es nicht ein Fehler gewesen war, damals, als sie sich das erste Mal geküsst hatten, allein als sie sich kennengelernt hatten und wie furchtbar und furchteinflößend das alles eigentlich war. Selbst jetzt mit achtundzwanzig war das immer noch mehr, als sie eigentlich ertragen konnte. „Die erste große Liebe vergisst man nie“, so sagen es die Leute. Molly war davon überzeugt gewesen, dass sie schon lange vor Lia etwas wie solch ein Gefühl in sich verspürt hatte, doch seitdem sie sie wirklich an ihrer Seite hatte, da fiel es ihr wirklich auf, dass sie diese erste große Liebe war. Dieses Unermessliche, Unbeschreibliche. Und sie wollte doch niemanden mehr, der nicht sie war. Zu intensiv, zu mitreißend war das, was sie miteinander erlebt hatten. Es war intimer als alles, was sie jemals davor verspürte, nein, es war mehr als eine Zeit des Lebens, es war ein anderes Leben, ein besseres, ein neues innerhalb von dieser Zeit. Und es ging hierbei niemals um reine Nacktheit, es ging darum, wie sehr sie sich voreinander geöffnet haben, wie verletzlich und schwach sie sich der anderen jeweils immer gegenüber gezeigt haben. Sie hat sich einfach ganz ihrer Partnerin hingegeben, das war die wahre Nacktheit, letztendlich ohne jegliche Furcht, Bedenken, Hintergedanken, all‘ das, was sie zuvor gequält hatte, als ihre Geschichte begonnen hatte. Und nun waren sie wieder zurück. Irgendwie war sie froh, dass sie diese Gedanken in der Zwischenzeit ablegen konnte, sonst wäre sie nie wirklich glücklich geworden. Ihre Liebe war jederzeit durch die Gefahr verbunden gewesen und es war so naiv zu denken, dass sich ein Mensch über die Jahre hinweg komplett verändern konnte. Und jetzt schmerzte es so sehr in ihr. Vor vielleicht fünf, sechs Stunden hatte sie es getan, nach dem Abendessen, das bei ihnen üblich sehr spät stattfand, wenn sie denn mal beide zuhause waren. „Zuhause“. Das hier war kein „Zuhause“ ohne Lia. Vor wenigen Stunden hatte sie in einem langen, schwarzen, aber dennoch relativ schlichten Kleid um ihre Hand angehalten, neben dem noch festlich geschmückten Tannenbaum und all‘ den Kerzen, dunklen Rosen und der feierlichen Dekoration. Das Mondlicht schien durch das Fenster in der entspannten Dunkelheit und es hätte keinen schöneren Moment für sie geben können, sie und sie beide vereint in einer Minute, die für Molly persönlich nicht hätte romantischer sein können. Es war still, nachdem sie es vorgebracht hatte, so still und ruhig wie nun. Sie hatte abgewartet, eine Minute, zwei. Drei, bis sie sich wieder vor ihr hinstellte und ihr zitternd in die Augen sah. Mit den hohen Schuhen war sie beinahe mit Lia auf einer Höhe, selbst, wenn es noch knapp war. Niemals würde sie diesen grausamen Moment vergessen, diese Sekunde, in der sie leise und beschämt aussprach, was sie damals schon gefürchtet hatte. „Es tut mir leid.“ Stille. „Molly, ich liebe dich.“ Stille, Mollys kurzes Nicken. „Aber du weißt, dass ich das wirklich nicht kann. Ich habe es dir früher erzählt und es hat sich nicht geändert. Leider. Das ist zu eng, zu viel.“ Und sobald Mollys Tränen dann liefen, langsam, dann immer mehr und weniger unscheinbar und ihre Verletztheit offensichtlich deutlich wurde, da hatte sie sich umgedreht und war gegangen. Sie wusste nicht, wohin es sie gezogen hatte, war weder mit dem Auto noch dem Rad gefahren, das hatte sie mitbekommen, sobald sie ihr hinterhergelaufen war, geschrien hatte, dass es ihr leidtat, dass sie alles tun würde, alles, nur sie müsse wieder zurück zu ihr. Wieso war die Liebe nur das Schrecklichste und Schönste zugleich auf dieser Welt?
Sie stand vom Sofa auf, machte ein paar kleine Schritte in Richtung des Fensters, lehnte sich vorsichtig gegen die eiskalte Scheibe. Der Schneesturm, der seit Tagen draußen über die gesamte Stadt herfiel, wurde jetzt, um halb vier in der Nacht, nur noch um einiges schlimmer. Nicht eine Minute hatte sie geschlafen, seit diesem Moment nicht eine Sekunde irgendwie entspannt. Irgendwann hatte sie sich mit ihren letzten Kräften, welche sie aufbringen konnte, fertiggemacht und in bequemen Pyjamas in ihr gemeinsames Bett gekuschelt, ganz an die linke Seite. Zu diesem Zeitpunkt war sie auch davon überzeugt gewesen, dass jetzt so ziemlich jeder bei ihr aufkreuzen würde, jeder, doch nicht Lia. Mit ihrem Finger malte sie auf der beschlagenen Scheibe herum, wollte etwas schreiben darauf, doch ihr Kopf war so leer, leer, wie sie sich fühlte, leer, wie das Bett war, leer, wie ihr Leben sein würde ohne ihre Lia. Sie war nun selbst zu leer zum Weinen, also staute sich der Kummer in ihr an und konnte sie bloß einnehmen, ohne herausgelassen zu werden, sie war so gefüllt von Trauer und trotz allem doch so leer innerlich. Eingerollt in ihre eigene Decke starrte sie stundenlang an die Decke oben in ihrem Schlafzimmer, auf den Kronleuchter, an das Bild gegenüber auf dem Stück Wand zwischen den beiden großen Fenstern. Sie beide und Eddy Brewerton in der Mitte von ihnen, der Tag, an denen ihr gemeinsamer Traum in Erfüllung gegangen war. Eingerahmt, mit Datum versehen. Es ist schon so lange her und einfach unbeschreiblich, wie das alles entstanden ist. Ihr vierundzwanzigster Geburtstag. Und die ganzen Bilder, die sich im Raum verteilt befanden, in den schönsten Bilderrahmen, Bilder von Lia auf der Seite ihres Bettes, diese unerreichbare Gefahr, die sie dennoch erreicht hatte, doch sie wusste, die Liebe hing am seidenen Faden, jahrelang. Und jetzt war sie davon ausgegangen, dass dieser Faden endgültig gerissen war und es kein Zurück mehr geben würde, jetzt nicht und sowieso sonst auch niemals. Und dennoch war sie zu stolz, um sich im Geringsten vom vorgetäuschten Schlafe zu entfernen, sobald die Türe leise aufging und sie noch ganz schnell durch ein kurzes Blinzeln sah, dass es Lia war, die sich nun in einem hellblauen, großen Hoodie und gleichfarbiger Jogginghose auf die andere Seite des Bettes gelegt hatte und innerhalb weniger Sekunden ins Traumland eingetaucht war. Nach zehn Minuten ungefähr drehte Molly sich in ihre Richtung und beobachtete sie mit Trauer in ihren Augen, mit Vermissen, obwohl sie neben ihr lag, mit unstillbarem Verlangen nach ewiger Liebe, die sie von diesem Mädchen nicht erhalten würde.
Stundenlang. Selbst wenn sie es versucht hätte, eingeschlafen wäre sie trotzdem nicht. Da gab es zu viel, was sie jetzt belastete. Dass Lia jetzt schlafen konnte, das verwunderte sie fast, aber jeder Mensch hatte seine unterschiedlichen Wege, um mit Problemen umzugehen. Empfand sie das, was sie war, was sie angerichtet hatte, denn überhaupt für sich als Problem? Oder war es ihr so egal, dass sie engelsgleich nun hier auf diesem Ehebett liegen und schlummern konnte? Ehebett. Es war ein Bett für sie beide, aber ein Ehebett würde es dennoch nicht werden. Niemals. Das tat ihr so unglaublich weh, konnte es nicht mal eben so aus ihrem Kopf bekommen. In ihren Augen ergab die gesamte Situation komplett keinen Sinn, doch sie und Lia waren so unterschiedlich und auch so gleich, dass sie nichts weiter dazu sagen konnte. Es war viel schlimmer, als sie merkte, dass diese anfing, sich zu bewegen und es schien, als würde sie wieder wach werden. Augenblicklich schloss Molly ihre Augen wieder, rechtzeitig, denn im nächsten Moment setzte ihre Partnerin sich auf und saß dann einfach da auf ihrem Bett. Knie an den Bauch gezogen, Kopf stur geradeaus gerichtet, Scheuklappenblick. Und der sorgte dafür, dass sie es einfach nicht länger aushielt, weiter in ihrer „Tarnung“ zu verweilen. Es machte sie nur immer weiter kaputt.
„Lia?“ Molly zögerte, während sie sich ebenfalls setzte und vorsichtig ihre Arme um sie legen wollte. „Schatz?“ Lia reagierte zunächst überhaupt nicht auf sie, bis sie sie dann ganz sachte an sie heranziehen und küssen wollte, da hörte sie auf, diese zu ignorieren und sah ihr direkt in die Augen mit diesem intensiven Blau, welches sie sofort wieder schwach werden ließ. „Molly, ich kann das nicht mehr. Es tut mir wirklich leid.“ – „Was kannst du nicht mehr?“ Sie drehte sich wieder weg von ihr. „Ich tu dir weh. Und es wird von Monat zu Monat, von Jahr zu Jahr wahrscheinlich nur schlimmer.“ – „Inwiefern, Liebes?“ Dabei musste sie noch nicht einmal groß darüber nachdenken. Sie wusste genau, dass sie sich diese Frage selbst beantworten konnte und das wusste Lia auch. „Du weißt das selbst. Du gleichst einem Baum, ich bin hingegen ein Vogel. Du bleibst und ich kann nicht zu lange an einem Ort bleiben. Guck‘ mal, ich habe es wirklich versucht. Ich dachte, auch ich kann Wurzeln schlagen, in diesem Sinne sein wie du. Und es sind sechs Jahre vergangen, in denen wir zusammen sind. In diesen Jahren sind meine Flügel geblieben, keine Wurzeln sind entstanden. Und dazu bin ich nicht gemacht. Ich fliehe immer, jederzeit. Aber du hast meinem Dasein eine Zeit lang ein Nest gegeben, das schönste meines Lebens und dafür bin ich dir dankbar.“ Vielleicht waren das schöne Worte, aber sie verschleierten nur kläglich, was die Wahrheit hinter ihnen war. Genau wusste sie nicht so sehr, was Lia denn von ihr wollte, doch bei ihr sollte sie am besten immer vom Schlimmsten ausgehen. Denn es ist immer noch schlimmer gekommen, als sie es erwartet hätte, das konnte sie gut. Dabei war Molly jedes Mal davon überzeugt gewesen, dass sie sich die Hölle auf Erden schon vorgestellt hatte – bloß kam dann Lia noch als Satan persönlich. Immer, jederzeit. Zwar war sie davon ausgegangen, dass sich dieses Fiese, Gemeine, Unberechenbare, das, was sie so empfand, sich ändern würde. Für sie gab es diese eine wahre Liebe im Leben und wider Erwarten war sie zu der Erkenntnis gekommen, dass es Lia sein musste und niemand anderes sonst. Und jetzt meinte sie, sie könne es nicht mehr? Was war „es“? Was konnte sie nicht mehr? „Du hast verdammt nochmal gepredigt, wie sehr du mich doch lieben würdest! Habe ich meine Zeit hier etwa verschwendet? Wofür habe ich das alles für dich gemacht, du undankbare Kuh?!“ Ihre Stimme gellte durch das ganze Schlafzimmer, doch brachte sie es nicht über ihr Herz, irgendetwas Brutales, Verletzenderes auszusprechen, der Gedanke daran, dass es sie treffen könnte, das traf sie noch viel mehr. Sie konnte ihre Tränen nicht sehen, doch wie sollte sie es ihr übelnehmen? Bei Lia ging das auch nicht, eher würde sie zu Staub zerfallen wollen, als ihr jeglichen Schaden durch einfache Worte zuzufügen.
Eine Träne tropfte nun auf ihre Brust, während sie die Fensterscheibe erneut anhauchte. Es war einfach zu viel für sie gewesen, was danach geschah. Lia war einfach nicht mehr sie selbst gewesen, so hatte sie sie nicht kennengelernt. Natürlich kannte Molly alle Seiten von ihrer Partnerin, gute, schlechte, alles Mögliche. Sie hatte sie doch indirekt aus der ganzen Problemzone ihrer Jugend gerissen, aus ihr eine vernünftige Person gemacht. Und das nicht, weil sie sie so furchtbar fand, im Gegenteil. Sie hatte sich in eine Person verliebt, die für sie damals nicht unattraktiver hätte sein können durch ihr Verhalten und sie hatte sich in die richtige Richtung leiten lassen. Und dieses Verlangen, mit ihr zusammenzubleiben, das schüttelte sie am ganzen Körper, Schweißperlen auf ihrer Stirn, ein fiebergleiches Gefühl, welches sie durchzog. Molly strich sich die goldenen Locken nach vorne und durchfuhr sie mit ihren kleinen Händen. Zwar war sie Lia vom Intellekt her überlegen, doch noch lange nicht von den körperlichen Fähigkeiten. Allein, dass ihr Größenunterschied mindestens 7 Zentimeter betrug, trug zu dieser Sache bei. Und sie war eine Ballerina, keine Kickboxerin, die mal eben auf jemanden losgehen könnte. Aber verflucht, sie konnte und wollte nicht auf dieses liebliche Wesen losgehen, nur, weil sie sie nicht heiraten wollte, auch nicht, weil sie sie angeschrien hatte, da sie Trennungsandeutungen gemacht hatte, die nicht in ihre kleine Welt gehören sollten. Der Streit, der eben entstanden war, der tat ihr so leid. Und im Vergleich zu ihr konnte sie locker diskutieren, ohne, dass es ihr irgendwie naheging. Da war es nur eine Frage der Zeit, bis sie wieder tränenüberströmt vor ihr floh, wie jetzt vor dieser halben Stunde, als sie ins Wohnzimmer getrampelt war im Schnellschritt, unüblich für sie, geblendet von der Spiegelreflektion und ihren feuchten Augen und nun stand sie dort, neben dem blöden Weihnachtsbaum und dieser hässlichen Beleuchtung, alles, was sie gestern noch als traumhaft schön empfunden hatte, hatte seinen Zauber und den Glanz verloren durch Lias harte Worte. Die Erinnerungen an das gemeinsame Weihnachtsfest, welches nicht das erste gewesen war, als sich alles angefühlt hat, als würde es niemals ein Ende nehmen. Und das ist gerade einmal vielleicht zwei Wochen her. Weihnachten, das Fest der Liebe. Ob Lia immer noch nicht verstanden hatte, was „Liebe“ für sie wirklich bedeutete? War sie denn wirklich nun komplett neben der Spur? Sie hat das alles sowieso nie so gesehen wie sie es tat. Warum glauben, dass sich jemand jemals verändern sollte? Das war dumm. Abartig dumm, unschön, grauenhaft.
Wieso hatte nur sie dieses Feuer in ihr entfachen können? Immer dasselbe, hatte sie kein Glück verdient? Eigentlich war sie sicher, dass sie es gefunden hatte.
Täuschung. Üblich. Aus der Ferne vernahm sie keine Geräusche, die würde sie allerdings automatisch ausblenden. Nichts wollte sie mehr wahrnehmen, nichts mehr spüren oder wissen, was Lias Absichten nun waren. Zu deprimierend war die Gesamtsituation, in der sie sich befand – am liebsten würde sie sich nun einfach nach draußen in den Schnee schmeißen, halbnackt, dort einschlafen und hoffen, dass das alles bloß ein Alptraum war. Schlafen. Für immer. Für immer, oder wenigstens, bis dieser Schmerz vorüber war oder sie sich umentschieden hatte. Richtig umentschieden hatte. Für sie.
„The thing you said, stay beautiful, even though that I know that it’s second hand, I’d have you say it in the same way!“ Lia schien es vollkommen egal zu sein, was irgendjemand von den fremden Menschen, von denen sie umgeben war, von ihr halten würden, schließlich waren sie vereint, alle doch in diesem Moment so gleich durch ihre gemeinsame Leidenschaft, die sich vor ihnen auf der Bühne befand, Moose Blood hieß und sie alle in den Adrenalinrausch ihres Lebens fallen ließ. Wohlmöglich erging es nicht jedem gleich, sehr wahrscheinlich sogar, doch in fremde Köpfe gucken gehörte nicht zu Lias unglaublichen Supertalenten, da war sie eher von abgeneigt. Trotz allem war sie davon überzeugt, dass sie gerade den Spaß, die Euphorie, den Moment ihres Lebens hatte, selbst, wenn es nicht das erste Mal gewesen war. Es war nicht das erste Konzert ihrer Lieblingsband, zu welchem sie sich entschieden hatte zu gehen, im Gegenteil. Egal, wie mies sie in Mathe doch war – vier Stück waren es bestimmt. Bald würde das neue Album kommen und mit Sicherheit und großer Hoffnung kämen ihre Helden seit langer Zeit, seit ihrer Gründung im Jahre 2012, wieder nach Köln zurück in eine der unzähligen Konzerthallen. Lia liebte jede einzelne von ihnen, doch am liebsten befand sie sich in der Live Music Hall oder der Essigfabrik – dass die Veranstaltung gerade im Palladium abgehalten wurde, das änderte aber nicht großartig etwas an ihrer Stimmung.
Das erste Mal, endlich stand sie in der vordersten, der allerersten Reihe und war ihren Lieblingskünstlern näher als je zuvor – für diesen Platz musste sie ziemlich kämpfen, wer glaubte, dass sie entspannt von allein diese Möglichkeit ergriffen hatte, der lag komplett falsch. Jedes verdammte Mal hatte sie es vergeblich probiert, mit früherem Erscheinen, mit Drängeln, Schubsen, harten Worten der Menschen, die auch nur eine Reihe vor ihr ihren Platz gefunden hatten. Teilweise hatte sie sich einfach von ihnen wegdrängen lassen, da waren sie die, zu der sie nun geworden war. Vergangenheit war dieses kleine, dreizehnjährige Mädchen, welches sich von der Menschenmasse hat unterkriegen lassen – die Zeit hatte etwas aus ihr gemacht und das war auch ziemlich gut so – so hatte sie nun die Möglichkeit, mit ein paar flotten, gefühlskalten Sprüchen und Handgriffen all‘ ihre Konkurrenten, die eigentlich teilweise liebevolle Personen sein mussten, super schnell ausschalten können und stand somit viel weiter vorne als sie damals in ihrer Frühpubertät bei ihrem allerersten Konzert. Streit unter Fangemeinschaften kam immer wieder mal vor, dennoch war es ihr Ziel, sich nicht immer von jedem herumschubsen zu lassen, sondern selbst mal eine von diesen „Besonderen“ zu sein. Die, die man fürchtete, die, die ein gewisses Ansehen hatten durch die gefährliche Persönlichkeit, die sie ausstrahlten. Ihr dreizehnjähriges Ich hatte da noch nicht einmal wirklich drüber nachdenken können – heute mit siebzehn machte sie wenigstens den Anschein, als wäre sie eine gewisse Rebellin. Wieso auch nicht – schließlich machte es das Leben um einiges leichter, alles, besonders jetzt, jegliche Negativität und Gefahren prallten an ihr ab und für die, die sich nun in ihrem damaligen Alter befanden, für diese war sie jemand, zu denen sie hochsahen wie sie damals zu den Menschen, die diesen unerreichbar, unberührbaren Eindruck hinterlassen hatten. So wollte sie immer sein, so hatte sie sich entwickelt und so würde sie auch den Rest ihres Lebens bleiben. Punkt, aus. Niemals hätte sie gedacht, dass sich alles mal so gut anfühlen konnte, all‘ diese Gemeinschaft um sie herum, vor ihr die bedeutsamsten Menschen dieser Welt, die eine hinreißende Musik produzierten mit Texten, welche mitten ins Herz trafen und sie über das Publikum, unter dem sie stand, nachdenken ließ. Gerade hatten sie angefangen, „Cheek“ zu spielen und wie bei sonst auch ziemlich jedem Track kannte sie jede einzelne Zeile, jedes kleinste Wörtchen auswendig. Hm, es war wirklich interessant, sich mal mehr Gedanken zu machen, man sah ja die Personen immer nur von außen, vielleicht bekommt man mit, wie sie sich geben, entweder im persönlichen Gespräch oder auch mal an der Bar, wenn man sich ausversehen auf der Toilette anrempelte oder dann auch mal, wenn man zwischendrin in der Warteschlange die Gespräche der Grüppchen vor oder hinter einem belauschte. Aber wenn man mal wirklich jemanden kennenlernte, dann zunächst eher oberflächlich, denn ihre Erfahrungen mit neuen „Freunden“ von irgendwelchen Veranstaltungen hatten sich über die letzten Jahre nicht großartig verändert. Immer dasselbe eintönige Muster, das auf nichts hinauslief. Man sprach sich an, fand sich nett, hielt Smalltalk.
Im besten Falle kam es zum Austausch der Handynummern, vielleicht schrieb man dann ein Weilchen und dann war die neue Bekanntschaft so gut wie verschollen. Einmal kam es dazu, dass jemand sie auf dem nächsten Konzert entdeckt, allerdings nicht angesprochen hatte. Da es merkwürdig gewesen sei. Alles, aber nichts als unschlüssige und nichtsnutzige Aussagen. Dabei hatte jedes einzelne Individuum, welches sich auf diesem kleinen Event befand, auf eine gewisse Art und Weise zu dieser Band gefunden und vermutlich auch eine einzigartige Geschichte mit dieser. Diese musste nicht positiv sein, jedoch verbunden zu den Mitgliedern, der Texte, der Musik. Lia hatte schon einmal darüber nachgedacht, was wäre, wenn man einfach mal diese Geschichten auf Konzerten sammeln könnte, jedes Mitglied ihrer Gemeinschaft nach einem Satz, einer kleinen Erzählung zu fragen und all‘ das zusammenfassend ihren Lieblingen in die Hand zu drücken, wodurch sie etwas Handfestes haben würden. Fans, Anhänger waren doch viel mehr als ein lauter Haufen an schreienden Menschen oder ein paar Nachrichten oder Kommentare in jeglichen Sozialen Netzwerken, sie wollte hinter die Fassade sehen. Sowohl bei den Menschen, die diese Konzerte besuchten als auch bei den Mitgliedern von Moose Blood selbst. Oftmals waren Menschen nicht so hart und gefühlskalt wie sie sich gaben und gerade das faszinierte sie. Die Erfahrung hatte sie so oft doch schon selbst erleben müssen. Ausnahmsweise konnte es doch sein, dass sie Person, die neben ihr stand, genauso fühlte wie sie in diesem Moment. Aber wieso sollte sie? Und warum sollte sie sie fragen? Die wenigsten Menschen gaben sich einer Wildfremden sofort hin wie ein offenes Buch, es würde nur wieder auf ein unangenehmes Gespräch mit erzwungenen Smalltalk hinauslaufen, ohne jegliche anderen Details. Ihre Pläne konnte sie vergessen und nun, wie sie so brutal und herzlos wirkte, da schien es ebenfalls eher unwahrscheinlich, dass sich jemand ihr öffnen würde in jeglicher Hinsicht. Sie würde sich gerade nicht einmal gerne sich selbst öffnen. Wieso dachte sie überhaupt über so vieles nach? Es könnte doch alles so einfach, so locker sein auf diesem Konzert, aber irgendwie wollte sie, dass es anders wäre dieses eine Mal. Zwar stand sie jetzt so weit vorne und konnte es wirklich fühlen und genießen, aber irgendwie war das nicht genug. Dieses Gefühl der vollkommenen Zufriedenheit ist mit den Jahren und von Konzert zu Konzert verlorengegangen, allerdings trug sie die Überzeugung in sich, dass sich das wieder legen würde. Ihr fehlte so schnell wieder etwas, brauchte immer etwas Neues, da dieses Gefühl ihr so sehr fehlte, hatte es nötig, dass man diese Lücke in ihr füllte, die sie selbst niemals vervollständigen konnte, egal ob mit neuer Musik, einer neuen Beziehung oder anderen Veränderungen. Manchmal trank sie diesen Schmerz einfach locker weg, das dauerte ja nicht wirklich lange, paar Shots und sie war weg. Betrunken und ohne jegliche Kontrolle, doch das war nicht das große Problem. In ihrem Kopf spielte sie nun eher mit dem Gedanken, sich gleich mindestens noch ein Bier die Kehle herunter zu kippen als bei der letzten Ansprache und dem Beginn von „I hope you’re missing me“. Wen sollte sie auch jetzt großartig vermissen oder von wem sollte sie vermisst werden? Bestimmt gab es da so ein paar Kandidaten, aber erstens war sie angetrunken und fühlte sich merkwürdig, zweitens hatte sie die letzten Jahre hinweg auch nichts getan außer sich gigantisch und ins Unermessliche verändert. Und alles Negative, was das mit sich gebracht hatte, jedes Mal mit ein, zwei, drei Gläsern oder auch Flaschen verdaut, heruntergespült. Sie wollte nicht, dass es ein Teil von ihr blieb, auf gar keinen Fall. Aber wie sollte man anders damit umgehen als so? Damals mit dreizehn hatte sie da ganz anders gegen gehandelt, aber niemand hatte jemals etwas davon erfahren, niemand. Dafür war sie viel zu vorsichtig und zu unauffällig, ist nie zu große Risiken eingegangen und war ein Profi im Verstecken von Dingen und Stellen, die man nicht sehen sollte. Ihre Geheimnisse waren in sie eingemeißelt an den unscheinbarsten Plätzen, die, die sie sehen sollten, die interessierten sich nicht wirklich dafür, dafür hatten diese Menschen viel zu unterschiedliche Ziele, ignorierten es, wollten nicht darauf eingehen oder probierten gar nicht erst, etwas daran verändern oder verstehen zu wollen. Manchmal wünschte sie sich indirekt, dass es jemandem auffallen würde, allerdings war es viel zu spät dafür. Lia war inzwischen wirklich zu alt dafür, um sich jetzt darüber Gedanken zu machen. Früher, da hätte das etwas bringen können, doch durch den extremen Wandel war sie davon überzeugt, jetzt wirklich ein freier, zufriedener Mensch zu sein. Endlich. Also, wenn sie glücklich und zufrieden war, warum konnte sie es dann nicht einfach genießen, es super finden, an diesem Ort zu sein? Vielleicht war heute schlichtweg nicht ihr Tag. Damit musste man auch mal rechnen, das war ein gewöhnlicher, menschlicher Zustand, selbst wenn Lia eigentlich nur eines kannte – schwarz oder weiß, das höchste aller Glücksgefühle oder die tiefste Trauer. Es gab nichts in ihrem Leben, das wirklich langanhaltend war. Also sollte auch die Konzertfrustration nicht für immer ihre gute Laune, die mehr zum Dauerzustand werden sollte, wegnehmen? Nur halbherzig brüllte sie „One more song!“ mit all‘ den anderen Fans neben ihr, die wie wild umhersprangen, jubelten, weinten, lächelten, sich ihren Emotionen hingab. Und sie?
Sie hatte das Gefühl, als hätte sie keine Emotionen mehr, jegliches intensive Gefühl verloren. „I fucking love you all!“, brüllte Eddy Brewerton, dieser unglaubliche Mann mit dieser unglaublich fantastischen Stimme, „I love you too“, dachte sie sich erschöpft, sollte eigentlich mitgerissen werden von dem Gekreische der anderen, aber im Gegenteil. Es schwächte sie eher und das ganze Nachdenken machte müde, entmutigte und nahm ihr jegliche Lust. Da machte es keinen Unterschied, ob die Band jetzt noch mit „Sway“ loslegen würde oder ob sie einfach gehen würde, sodass sie auch gehen könnte.
Schließlich war sie allein und das einzige, was sie jetzt noch wollte waren ein paar Gläser Bier und eventuell etwas vom Merchandisestand, der auch nicht weit entfernt war von der Ausgangstüre, in deren Nähe sie sich befand. Die paar Meter… und wenn sie sich jetzt die Mühe machen würde und sich durch die Menschenmenge hindurch dorthin kämpfen würde, dann würde gleich alles ganz schnell gehen und sie müsste sich nicht so furchtbar lange anstellen und dadurch nur noch viel deprimierter werden, wenn sie gerade erst begonnen hatte, vielleicht einen kleinen ablenkenden Ausweg einzuschlagen. Oft hatte sie darüber nachgedacht, ob es denn gesellschaftlich akzeptabel sei, allein Konzerte zu besuchen, aber das war nie ein Problem für sie gewesen. Ihre beste Freundin, Alisa, hatte einen ganz anderen Musikgeschmack und ihr bester Freund Ben hatte in letzter Zeit wirklich wenig Zeit. Seine schlechten Klausuren waren ihm zu Kopf gestiegen und er schien nur noch am Lernen zu sein seitdem. Irgendwie war das ein wenig schade. Wenn er jetzt mit ihr hier sein könnte, vielleicht würde es ihr dann bessergehen, vielleicht hätte sie dann gar nicht erst all’ diese Gedankengänge entwickeln müssen. Sonst gab es doch keinen, mit dem sie ihre Musikleidenschaft teilen konnte und der hier, in der Nähe von ihr sein konnte. Ihr Freund interessierte sich schließlich nicht ansatzweise für das, was sie tat und Tabea wohnte viel zu weit weg. Wieso war das nur so kompliziert? Nun ja, wenn sie sich über die generelle aktuelle Lebenssituation weiter den Kopf zerbrach, dann würde es auch nicht gut enden.
Und das alles wegen diesem Konzert, das nicht einmal wirklich misslungen war, alles schien wahrhaftig großartig. Allerdings schaffte sie es, das für sich zu verderben. Inzwischen war es viel zu spät, um überhaupt zu versuchen, sich durch die johlende Ansammlung an Leuten zu drängen, nein, sie tat einfach so, als würde sie den Spaß ihres Lebens haben. Eben war es ruhig, der Abschluss, an dem sie sich entschieden hatten, ein letztes Mal „Knuckles“ zu spielen, da ging es durch in allem und sie überlegte sich einfach nur nervös, wie sie die Halle gleich am schnellsten verlassen konnte.
Was für ein grausamer Stress, der sie gerade umgab. Es gab sicherlich nichts Unangenehmeres als das gerade, oder? Wobei, diese Frage konnte sie sich auch selbst beantworten. Da musste nichts und niemand drauf eingehen und das war in Ordnung so. Jetzt sollte es nur noch um Merchandise gehen und um Alkohol, der ihre restlichen Nerven ein wenig betäuben konnte. Das bisschen, das sie eben getrunken hatte, schien nichts in ihr getan zu haben oder auf alle Fälle nicht genug - die Hoffnung, vielleicht noch ein Plektrum zu fangen oder jegliche Beachtung ihrer Lieblinge zu erhalten, hatte sie aufgegeben. Für sie waren sie „die einen“, sie wahrscheinlich sowieso nur eine unter so vielen.
Nichts Besonderes und es würde keinen Unterschied machen, wenn sie gar nicht erst vorne stehen würde. Sie müsste einfach jetzt, hier und gleich verschwinden.
Niemals hätte Lia allerdings gedacht, wie sehr sie es freuen könne, dass das Konzert nun vorbei sei. Kreischende, tobende kleine Mädchen drängten sich an ihr vorbei, ein paar Betrunkene führten lauthals sinnlose Gespräche. Freundesgruppen oder Menschen, die sich heute gefunden hatten, diskutierten über das, was die letzten drei Stunden geschehen war. Es war laut, sehr laut. Zu laut für sie persönlich auf alle Fälle. Wenn die Leute nur nicht so drängeln würden, quetschen würden oder noch schlimmer – einfach auf dem Weg stehen blieben, während andere hindurch wollten und dann ihren Partner küssen mussten!
Als ob es in diesem Moment nichts Besseres zu tun gäbe?! Selten gab es etwas, was sie so sehr reizte wie das, aber Lia war eine schnell reizbare Persönlichkeit und ziemlich abgeneigt solchen Paaren gegenüber. Man musste nicht der ganzen Welt präsentieren, dass sie zueinander gehörten, sie machte das doch auch nicht, Mehmet würde sich das überhaupt nicht wünschen. Er war ihr Freund, ja, sie waren in einer Beziehung und es war auch nicht ihre erste – wenn sie ehrlich war, war es die, die bisher am längsten hielt und sie liebte ihren Freund, ja, Lia liebte ihn wirklich innig, doch niemals würde sie auch nur auf die Idee kommen, sich in solchen Ausmaßen zur Schau zu stellen. Die Überlegung, wie viele Partner hier eigentlich waren, die gar kein Interesse an der Band hatten, sondern nur mit ihrer oder ihrem „Liebsten“ Zeit verbringen wollten, die drehte ihr fast schon den Magen um. Das war einfach nur abartig und für so eine anspruchslose Gefühlsduselei hatte sie nie auch nur ein kleines bisschen Zeit gehabt. Es war nicht ihre Welt. Ohne diese komischen Begleitungen, dachte sie, da würde es leerer sein und die Band könnte sich inniger auf ihre Fans konzentrieren. Zwar gönnte sie Moose Blood den wachsenden Erfolg, allerdings fühlte sie sich dadurch schon leicht angegriffen. Sinnlos.
Und nicht sonderlich nützlich für sie, noch weniger für die, die sie doch unterstützte.
Es tat gut, diese volle, nach Schweiß und Stimmung riechende Halle zu verlassen, die durch ihre Temperatur regelrecht einer Sauna glich, außerhalb fror man hingegen dann nach einer kurzen Pause, in der man sich vitalisiert und erfrischt fühlt, wieder ein. Unangenehm. Lia musste sich ihren geliebten Pullover, der schon ein wenig klein geworden war, den sie besaß, seitdem sie dreizehn Jahre alt war, überziehen. Eben war es nicht kühl genug gewesen um den Merchandise ihrer Lieblingsband deutlich tragen zu können, nun hingegen lohnte es sich. Es gab selten einen Moment, in dem sie dieses Kleidungsstück nicht mit sich herumtrug – selbst im Sommer war es des Öfteren der Fall, dass sie laue Abende am Lagerfeuer oder in Nächten des wilden Feierns letztendlich betrunken mit ein paar Menschen, die sie manchmal kannte, manchmal allerdings auch nicht – in diesem Pullover irgendwo herumsaß. Wieviel er schon mitgemacht hatte, das war unglaublich. Damals, zu den Jahreszeugnissen vor vier Jahren hatte sie ihn bekommen und er schien noch viel zu groß, doch hatte sie bis jetzt, zum siebzehnten Lebensjahr einen Wachstumsschub von mindestens auch siebzehn Zentimetern durchlebt, von daher passte das jetzt ja schon. Wenn auch knapp. Er erinnerte sie zurück an den Anbeginn ihrer Leidenschaft für diese eine Band, an schlimme Tage, an erste Trunkenheit, lange Nächte, große Schmerzen. Und insbesondere erinnerte er an die Tage und vor allem an die Abende, deren Erinnerungen sie nicht mehr besaß. „Sollte ich mich jetzt zu sehr abfüllen, vergesse ich das, was ich tatsächlich noch vorhatte und das Risiko möchte ich nun keineswegs eingehen..“ Klar stehen konnte sie noch, klarsehen und normal gehen, hm. Würde sie sich Mühe geben, vielleicht. Im Kopf diesen einen Satz einer ehemaligen Freundin, immer und immer wieder in ihr, hörte diese abgehobene Stimme, auf sie mit uneigennütziger Arroganz wirkend, wie sie leise und ohne jegliche Furcht hauchte, wie unattraktiv betrunkene Mädchen doch seien und dass niemand sie so wollen würde. Ach was. Es gab genug Jungen, die sie wollten. Und wenn sie so darüber nachdachte, bekamen diese sie auch, so ab und an. Annabel würde niemals in den Genuss eines solchen Lebens kommen, ohne Alkohol gab es ihrer Meinung nach keinen Spaß im Leben und seitdem sie auf einem vierzehnten Geburtstag das erste Mal hemmungslos alkoholische Getränke in sich gekippt hatte, da hatte sie diese Meinung vertreten und sie hatte sich mit den Jahren verstärkt. Die unzähligen Dinge, die ihr beim Trinken passiert waren und der Rausch generell, sie hatten ihr geholfen. Damals war sie ein kleines, dreizehnjähriges Mädchen, welches den Schmerz, den sie in ihrem Inneren spüren musste, unscheinbar und dennoch möglichst brutal an sich selbst auszulassen wusste – und dann kam ihr Freund und Helfer, der Alkohol, dazu. Nie wieder gab es jegliche schwere Verletzungen, oh nein, äußerlich auf gar keinen Fall.
Vielleicht war sie ein paar Mal ohnmächtig geworden, eventuell hatte sie sich blamiert, wahrscheinlich war der Sonntagmorgen auch mal nicht die Zeit für ein gemütliches Frühstück im Bett, sondern eher ein Zwischenaufenthalt auf der Intensivstation ohne jegliche, noch so winzige Spur einer Erinnerung.
Aber das wollte sie doch. Alles vergessen, was ihr damals, so jung bereits geschehen war und zwischenzeitlich ging das sogar. „Die Zeit heilt alle Wunden“, das hatte man ihr von Anfang an so oft predigen wollen, jedoch schien dieser taube Vergessenheitszustand immer nur dann anzuhalten, wenn sie blau und voll war. Schließlich hatte sie über die Jahre hinweg vieles vergessen, vom Stoff der folgenden Mathematikklausur bis hin Ereignissen, die sie tatsächlich nicht mehr in ihrem kleinen Kopf behalten wollte. Trotz allem war sie da, dieses eine, prägende Geschehnis. Würde sie jetzt nicht in dem Zustand sein, in dem sie sich gerade befand, vielleicht würden ihre Gedanken wieder in diese Richtung abdriften wollen. Im Moment hingegen schien sie eher passiv, leer, dennoch geladen und aggressiv. Die Ärmel ihres Oberteiles zog sie bestimmt nach unten, zwar gab es nichts, was sie zu verdecken wagte, doch ihr Unterbewusstsein, das sie im nicht nüchternen Zustand steuerte, das war immer noch klein, jung und unzerbrechlich. Keine dreizehn, wenn überhaupt, dann war es elf. Elf, zehn, neun Jahre alt und immer fluchtbereit, bereit, sich zu verstecken. „Kein Schritt weiter. Nicht aufregen. Du siehst, was du willst, du sagst es, du kaufst es. Dann gehst du.“ Ihre Gedanken waren kurz und unkompliziert, für eine komplexere Struktur fehlte die Möglichkeit, es war so ein unerträglicher Zustand, da sie zwar zu taub war, um normal, gewöhnlich zu handeln, aber trotz allem war sie noch nicht so betrunken, dass man ihr Verhalten entschuldigen konnte und sie konnte sich noch einigermaßen ausdrücken. Wäre sie nicht auf einem Konzert, dann würden die Menschen, wie damals in der Schule, als sie einmal angetrunken in der letzten Stunde gesessen hatte, sie nicht für betrunken halten, sondern einfach für dumm. Wer ging denn davon aus, dass man sich mit dreizehn, vierzehn Jahren in den Drogenkonsum stürzte? Sicherlich die allerwenigsten, doch für Lia schien es so selbstverständlich. Und wenn sie unterwegs war, feierte und Clubs betrat, dadurch bekam sie das Gefühl, als sei sie wirklich nicht die einzige, die so mit ihrem Leben umging. Lia beobachtete ihr Umfeld schon seit einer längeren Zeit, wusste nicht, wie sie mit sich selbst umgehen sollte, also tat sie das, was die anderen ihr vormachten, wie sie ihren Aufenthalt auf dieser Welt meisterten. So einfach schien das zu sein. Skaten, Serien, Sex, Saufen. So stellten sich alle diese „Jugend“, diese „schönste Zeit des Lebens“ vor, oder etwa nicht?
Wenn schon damals alles so in die Brüche gegangen ist, dann wollte sie es wenigstens so genießen. Und wie sie es tat. Die Meinung von jeglichen anderen Personen interessierte sie dazu nicht, sie hatte die paar Menschen gefunden, zu denen sie stand und die anderen – die waren sowieso nichts als ein kurzer Moment, eine schnelle Handlung, eine Sache, in die man nicht zu viel hineininterpretieren sollte. Sie, Lia Schillings, ging davon aus, dass sie es endlich geschafft hatte. Dass sie das Leben führte, welches man führen sollte und eins, das sie wollte. Schließlich hatte sie es sich ja auch selbst ausgesucht. Moose Blood waren dennoch von Anfang an das Beste in ihrem Leben gewesen, niemand hatte sie so sehr verstanden wie „nur eine Band“, nein, sie waren durchaus mehr. Durch ihre Texte, Ansprachen, Konzerte hatten sie Lia immer das Gefühl gegeben, nicht allein zu sein. Jetzt war sie zwar nicht mehr alleine, aber alleine auf diesem Konzert, zu verzweifelt, um mit jemandem zu sprechen und dennoch dieses unwohle Gefühl wie sonst auch öfters. Es schien so simpel zu sein – sie hatte absolut nichts dagegen, allein zu sein, egal wann, wo, wie. Hingegen kam sie nicht gut damit klar, überhaupt nicht, wenn andere Gruppen oder Ansammlungen an Menschen sie ohne jegliche Begleitung erkennen konnten. Es war ihr irgendwie peinlich und um mutig zu sein, musste sie sich diesen Mut eben auch antrinken. Großartig im Leben gelernt hatte sie nicht, weder schulisch noch in sozialen Fähigkeiten, aber das würde sie auch weiterhin nicht weiter stören oder einschränken. Wenn sie Bedürfnisse hatte, dann konnte man diese auch anderweitig aus der Welt schaffen. Sie wollte sich dem gar nicht stellen, Lia sah da schlichtweg keinen vernünftigen Sinn hinter und wenn sie den nicht erkennen oder wenigstens erahnen konnte, dann würde sie auch nicht blind drauflos handeln, nur da wer anders ihr verkaufen wollte, es sei richtig. Zumindest war das ebenfalls eine von ihren festen Überzeugungen. Sicherlich.
Gemächlich, vielleicht ein wenig zu gemütlich und langsam schlenderte sie auf den Stand mit den Fanartikeln zu, ein Mann, der ihr im Weg stand und blöd aus der Wäsche sah, der wurde von ihr kurzerhand mal eben zur Seite gestoßen, was er selbstverständlich nicht erwartete. Vor ihm stand – oder schwankte – nämlich Lia, die den Anschein machte, als sei sie weniger gefährlich, sondern fast schon wehrlos, wie „zum Mitnehmen“. Aber falsch gedacht.
Egal, wie harmlos sie sich nun zu zeigen wagte, in diesem Zustand hatte das Mädchen noch um einiges weniger Kontrolle über ihre unberechenbare Impulsivität, die in Kombination mit der angestauten Reizbarkeit von dem seltsamen Moment in der Halle auch mal eben eine feste Ohrfeige zur Folge haben konnte, die den Alten auch in der nächsten Minute traf. Dann schritt sie zur Seite, so, als hätte sie niemals etwas angestellt. Ob er auf ihre plötzliche Handlung reagierte, das bekam Lia auch nicht mehr so ganz mit, erstens war sie zu sehr darauf fixiert, sich durch die Menge zu quetschen, ohne auf irgendjemanden auch nur die geringste Rücksicht nehmen zu wollen. Ganz weg war sie vom vorherigen Geschehen, hatte nur ein einziges Ziel und egal, wie betäubt und durch sie sich fühlte, zwei Sätze würde sie herausbekommen, auch das Geld hatte sie passend schon in ihren Händen, schwitzig waren diese, es drohte herauszugleiten. Lia versuchte, ihre vermeintlichen Konkurrenten in dieser Lage zu beobachten, sicherlich gab es genug Exemplare ihres gewünschten Artikels und das auch in ihrer Größe, allerdings war diese Denkweise für Lia in diesem Moment alles andere als aktuell. Realistisches Denken war nie so wirklich ihres, aber unter Alkoholeinfluss setzte es instant komplett aus. Ein junges Mädchen, um einiges kleiner als sie und ein anderes, welches noch winziger als das andere schien, standen direkt vor ihr. Locker konnte sie über die beiden Gestalten hinüberblicken, die Blonde schien etwas von sich zu geben, die neben ihr fuhr sich durch diese merkwürdigen kurzen Locken, die mintgrün schimmerten. Das gefiel ihr eher weniger, vielleicht würde Ben sie mögen. Ben stand doch auf solche Mädchen und bestimmt hatte sie keinen Freund, oder? Wobei… nette Gedanken beiseite. Die durfte sie nicht besitzen.
Die beiden waren verdammte Schnepfen, die ihr ihr Merchandise wegkaufen wollten und sie musste etwas dagegen tun. „Hey!“ Sobald Lia ruckzuck ihre Ellbogen angewendet hatte und die Mädchen entrüstet zurücksprangen, da stand die Blonde mit dem Gesicht zu ihr gedreht und starrte sie an, als wäre sie von allen guten Geistern verlassen. Mit einem Mal wurde ihr bewusst, dass dieses Mädchen kein Mädchen, sondern eher eine junge Frau war, die eventuell etwas älter sein konnte als sie. Wobei, das Make-Up, das sie trug, konnte selbst eine Zwölfjährige wirken lassen als sei sie letztens neunzehn geworden, demnach musste das nicht sein. Aber diese überschminkte Tussi hatte doch überhaupt nichts auf einem Konzert zu suchen, vielleicht bei Justin Bieber oder Ariana Grande, oder wie diese komischen Pop Stars alle hießen – auf gar keinen Fall hier. Bestimmt war sie auch nur für ihre Begleitung mitgekommen, das waren die besten. Worüber hatte sie sich gerade eben nicht aufgeregt? Ganz genau. Ohne ein Wort zu sagen, verpasste sie dem anderen Typen neben sich einen Hieb in die Seite und lächelte den Verkäufer genugtuend an.
„I’d like to have the one on the right. Small size.“ Engelsgleich war ihr Lächeln, dieses verführerische und traumhafte Grinsen, das nicht zu stark und nicht zu leicht war und immer funktionierte. Ja, nicht immer, jedoch meistens.
Der Mann, der ihr gegenüberstand, der sah die Sache hingegen ganz anders und hielt nicht viel von Lias Überzeugungskraft, sie schlug bei ihm nicht an.
Aus Lias Augen schien alles so normal, aber die Leute um sie herum schienen ganz klar zu merken, dass etwas auf sie entweder Einfluss haben musste oder sie einfach zu betrunken war, um jegliche, vernünftige Entscheidungen zu treffen. „The girls were here before you. Let me help them first.“ – „But..“ – „There’s no but. And no hitting at my place and no mean behavior.“ – „I wasn’t..“ – „Leave. Leave this place. Now. You have no control over yourself.“ Gleichgültig, wie alles für sie schien, aber trotz allem im Herzen betrübt trottete sie davon. Wie gemein das alles war. Es gab noch keinen Moment, in dem sie sich heute glücklich fühlen konnte und selbst jetzt hatte sie kein Merchandise, keinen Grund, in jeglicher Art und Weise Dopamin in ihrem Körper zu spüren. „Letzte Möglichkeit“, schrie diese verzweifelte Stimme in ihrem Kopf, es war Alkohol. Immer war es Alkohol. Ob und wie sie heute heimkam – egal, sie konnte zurechtkommen, nun musste sie mit dieser Situation besser umgehen können. Zwar hatte ihre nicht mehr vorhandene Nüchternheit sie in diese Lage gebracht, aber um sich vom Trinken fernzuhalten, da fehlte ihr der Mut. Nie hatte sie gelernt, anders mit ihrer Problematik umzugehen. Völlig in sich gekehrt, aber dennoch auf ihr Umfeld reagierend hangelte sich das Mädchen zur Theke entlang. Zwar war es das Konsumgut, das auf sie wirkte, jedoch schien es auch für sie so, als würde heute eine unsichtbare, jedoch teuflisch magische Macht gewisse Kräfte auf sie ausüben. Diese Vorstellung war ihr wirklich nicht geheuer. An der Bar vorne standen ein paar Mädels mit ihren Freunden, etwas ältere Männer mit einem längeren Bart, zwei Paare. Fast wollte sich ihr Inneres wieder beschweren, jedoch schaltete ihr Verstand sich für den Bruchteil einer Sekunde dann doch allmählich ein. „Du kannst nicht jedem aus dem Weg gehen, der in einer anderen Form von Beziehung ist oder diese so lebt, wie du es dir nicht vorstellen kannst.“ Lia nickte sich selbst zu bei diesem Gedanken. In einigen Dingen schien sie sich von anderen Menschen in ihrer Umgebung zu unterscheiden, aber das musste sie ja nicht an die große Glocke hängen. Ab und an war es doch wohl besser, ein wenig unscheinbar zu sein, egal, um welchen Bereich es ginge. Neben ihr roch es nach etwas, was sie nicht ganz zuordnen konnte, auf alle Fälle war es nicht der schönste Geruch, er löste langsam, aber sicher Unbehagen in ihr aus. Das Mädchen nickte nun dem Barkeeper zu, er wirkte auf sie positiver und freundlicher als der Herr, mit dem sie eben noch diskutieren musste. Mit der rechten Hand fuhr sie sich langsam in die hintere Hosentasche, bloß um erschrocken festzustellen, dass sie mit einem Mal innerhalb von der kurzen Zeit und Strecke dreißig Euro entweder verloren hatte – oder dass es ihr sogar entwendet worden war. Dieses Mal war das Lächeln auch eher schief als anziehend, als sie frustriert mit ihrem letzten bisschen an Geld, welches sie mit sich trug, ein Bier für sich bestellte. „Noch zwei Euro für das Pfand“, versuchte der Mann, der festgestellt hatte, dass sie bereits einige Getränke intus haben musste, ihr langsam, laut und deutlich zu vermitteln. „Nicht dafür“, grummelte Lia genervt und verwirrt, kippte sich die bräunlich schimmernde Brühe mit einem Mal hinunter und verließ den Platz wenige Sekunden später. Nichts hatte es gebracht, nicht ein kleines bisschen mehr an Gelassenheit. Dafür vertrug sie inzwischen viel zu viel. Würde sie sich anstrengen, bekäme sie selbst Handlungen wie zwischenmenschliche Kommunikation noch hin, aber wenn es ihr so furchtbar ging, warum konnte sie die Trunkenheit nicht auch als Ausrede wahrnehmen? Schwanken tat sie nur, wenn sie sich wirklich in ihrer Rolle drin war und sich nicht darauf konzentrierte, gerade zu laufen. Dennoch war ihr schwindelig und sie musste unglaublich dringend auf die Toilette, trinken konnte sie, jedoch nicht, ohne eine gewisse Zeit auf dem stillen Örtchen verbringen zu müssen. Eine gewisse Kraft, Stärke durchfuhr sie, sobald sie die Treppe hinunterstürmte, vorbei an den Garderoben und hinein in die Waschräume, die gerade nicht einmal all‘ zu voll und schön gestaltet waren. In der Life Music Hall beispielsweise war alles klein und eng, hier gerade gab es gefühlt hundert einzelne Möglichkeiten, aufs Klo zu gehen und sich dabei auch nicht im Geringsten stressen zu lassen. Lia durchfuhr ein Gefühl der Heiterkeit, der Erleichterung, als sie dann endlich die Türe zuschlug und sich wirklich erleichtern konnte. Das Gefühl war mindestens genauso befreiend wie der erste Bissen einer Mahlzeit, wenn der Hunger einen geplagt hatte oder das Ankommen an einem fernen Ort nach einer unbeschreiblich langen Reise. „Es kann ja wohl nicht sein, dass ein Toilettengang das schönste an diesem Abend sein soll“, machte Lias innere Stimme sich drängend bemerkbar, versuchte sie noch ein wenig mehr zu deprimieren. Das Mädchen wollte es aber gerade nicht allzu sehr auf sich wirken lassen, es kramte einen Stift aus seiner Tasche, saß mindestens zwanzig Minuten still auf der Klobrille mit leerem Kopf. Natürlich, irgendetwas dachte man immer, doch war Lia so sehr mit den Gedanken woanders, dass es sich anfühlte, als würde sie überhaupt nicht denken.
Nach einer Weile stand sie auf, zog sich mit einem Ruck ihre Hose nach oben und begann, klein etwas an die Kabinentür zu kritzeln, gleich unter die Klinke.
„Moose Blood“ schrieb sie, das heutige Datum, ihren Namen. Zwischen jedem Wort ließ sie ein wenig Platz, ein wenig mehr als man benötigte. Kurz zögerte sie, bevor sie herausging. Gerade wollte sie die Kabine verlassen, da fiel ihrem berauschten Kopf das ein, was sie gerade eben noch vergessen hatte. „Dear reader – stay beautiful. xoxo“, das war das letzte, was sie hinterließ, bevor sie dem nächsten Mädel, das ihr schon entgegenkam, die Toilette überließ.
Vielleicht war das letzte Glas ein klein wenig viel gewesen, denn zwar fühlte sie sich nicht unbedingt mieser, wenn überhaupt etwas torkliger, allerdings war ihre Sicht nun doch ein wenig wacklig und verschwommen. Da ihr leichtes Make-Up mit einem bisschen an Lidschatten, Puder und Wimperntusche wasserfest sein sollte, hielt sie ihr glühendes Gesicht, über das ein paar Tränen gelaufen waren, ohne dass sie es gemerkt hatte, unter den eisig kalten Strahl des Wasserhahnes. Sobald sie ihre Augen wieder öffnete, ging es ihr ein wenig besser, bloß sah sie aus, als sei sie die Personifikation einer Nacht aus Vodka und wilder Vögelei. Genauso sah sie nämlich aus, ihre Schminke war zerlaufener, als sie gedacht hätte, ihr Pulli saß nicht so ganz, wie er sitzen sollte, ihre Augen waren rot und verheult. Der Kontrast war nicht sonderlich schön und auch, wenn auf dem Konzert so eine Ansammlung an Menschen gewesen war, gerade war hier niemand. Kein weibliches oder männliches Lebewesen weit und breit, es war viel zu untypisch und unrealistisch, als dass das gerade wirklich passieren würde. So, wie sie gerade herüberkam, da könnte sie auch die Hauptdarstellerin im Film „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ ersetzen, sie glich einer Drogenleiche. Was für ein verdammt beschissener Abend, der noch schlimmer geworden war, als dass sie ihn erwartet hätte.
Entsetzt von sich selbst und was sie aus sich erschaffen hatte, starrte sie in den beschmutzten Spiegel vor ihr. Hass sah sie da und Wut, Verzweiflung und Trauer. All‘ das, was sich über die letzten Tage in ihr angestaut hatte und nicht herausgelassen worden war, das spiegelte sich vor ihr und in ihrem Verhalten.
Eventuell war das auch gelogen. Es mussten Wochen sein, Monate. Wenn nicht sogar mehr – Lia konnte sich kaum an Tage erinnern, an denen sie nicht betrunken gewesen war. Zumindest nicht innerhalb der letzten vier Monate.
Schwach war sie, schwach und hilflos, während sie die Tränen rinnen sah.
Sah, aber nicht spürte, spüren tat sie sowieso nichts mehr seit der letzten Zeit.
Und wenn man so darüber nachdachte, dann konnte es länger sein, dann waren es Jahre, die Zeit, seitdem sie dreizehn geworden war, all‘ das, was sie über die Zeit beschäftigt hatte, das raffte sie ausgerechnet heute dahin. An einem Tag, an dem sie eigentlich von Freude erfüllt sein sollte. Sie hatte doch ihre liebste Band sehen dürfen, sogar von der ersten Reihe aus. Siebzehn Jahre war sie alt und ihr standen so viele Türen im Leben offen und dennoch war sie immer noch die einzige, die im Biologieleistungskurs die Klausur mit ordentlicher Rotweinfahne geschrieben hatte. Neben ihr stand eine vermeintliche Wasserflasche, aber ihre klaren Flüssigkeiten führten im Regelfall nur äußerst selten zu einer klaren Denkstruktur. Sieben Punkte waren eine schwache Leistung, aber besser als nichts. Tabea war eine erstklassige Hilfe, Biologie lag ihr damals in der EF überhaupt nicht, aber mit der Zeit hatte sie ein solches Interesse aufgebaut, dass sie das Fach selber irgendwann studieren möchte. In diesem Gebiet zu forschen, das ist über die letzten Jahre, in denen sie sich immer mehr verändert hatte, ihr großer Traum geworden. Schwach blickte Lia zurück, zurück zu diesem Moment, in dem sie in der neunten Klasse war und Tabea ihr von dem Einstieg in die Oberstufe erzählt hatte und wie sie innerhalb von kurzer Zeit mit diesem einen Jungen zusammengekommen war, mit dem sie nun zusammen Abi machte. Sie hatten nächtelang darüber telefoniert, ebenfalls über ihr aktuelles Leben und wie es weitergehen sollte. Von außen, so wie es für Lia herüberkam, hatte Tabea es eher schwer damit, Gefühle zu zeigen und zu offenbaren und hielt einen größeren Teil von sich eher privat.
Sie machte einen harten, aber gleichzeitig weich-verletzlichen Eindruck, was daran deutlich wurde, dass es egal war, was eigentlich passierte, immer machte sie den Eindruck, als würde es sie nicht im Geringsten interessieren.
Da könnte ein Amokläufer durch das Nachbargebäude in der Schule laufen und während alle damit beginnen wollten, sich selbst zu evakuieren, da würde sie mit ihrer Spanischmappe im Halbschlaf am Tisch sitzen, ihren Ordner dabei mit ein paar Herzchen versehen und die Hände in den Taschen ihrer gefühlt viel zu weiten Hosen zu haben. Lia hatte noch nie verstanden, warum man sich in diesen Dingern aus dem Haus bewegte, sie aber hatte eine andere Art und betonte ihren äußerst langen, geschmeidig schlanken Körper durch enge Röhrenjeans. Auf alle Fälle, wenn sie auf den Amokfall zurückkam – vielleicht hatte sie in ihrer Hand auch noch ihr Handy und überlegte sich, was sie als Nächstes auf Tumblr teilen konnte, damit ihr Feed nicht zerstört werden konnte. Der Amokläufer würde vor ihr stehen können, mit der Waffe in ihrem Gesicht und sie würde müde aufschauen, ihm mitteilen, dass er machen könne, was er wolle, nur solle er sie weiterschlafen lassen. Ihr sei es völlig gleich, was nun passieren würde. Nichts, ja rein gar nichts würde mit ihr passieren, da sie dadurch fast schon einen mitleidenswerten Eindruck erregte, sodass sie gemeinsam dasitzen und weinen würden. Dass Tabea viel weinte, das hätte Lia niemals gedacht, bis sie sie dann näher kennengelernt hatte. Aufgrund des Geldes und den vielen Kilometern, die zwischen ihnen lagen hatten sie sich noch niemals im realen Leben treffen dürfen, dennoch bereicherten sie das Leben des anderen seit mindestens vier, fünf Jahren und das würde sich nicht ändern. Spätestens nach dem Abitur würde sie zu ihr fahren, das hatte ihre Internetfreundin ihr versprochen und Lia hielt sehr daran fest. Der Gedanke an Tabea zauberte ihr, wie häufig sonst auch, nun ein Lächeln ins Gesicht. Nun guckte die dürre Schnapsleiche im Spiegel immerhin ein wenig freundlicher, bei dieser Vorstellung musste sie kurz lauthals über sich selbst lachen. Störte niemanden, es war ja niemand dort, wo sie sich gerade befand. Immer noch keiner. Wunderlich. Wenn sie schon dabei war, dann konnte sie sich auch an die Zeit erinnern, in der sie noch nicht so unterschiedliche Menschen waren.
Als sie noch keine allzu unterschiedlichen Wegen eingeschlagen hatten und beide abends, beide leicht angetrunken auf Skype miteinander geredet haben, wie vorhin in der Schule. Tabea ließ nie eine Möglichkeit aus, um ihr Handy zu benutzen, sie lebte auf den sozialen Netzwerken und verbrachte unheimlich gerne viel Zeit in ihrem abgedunkelten Zimmer, um sich stundenlang Serien zu widmen, in denen es unzählige Lesben gab – und das, obwohl sie überhaupt keine war. Nie im Leben würde Lia auch diese Verhaltensweise ihrer Freundin verstehen können, Serien fand sie in Ordnung, aber dass es darin Mädchen gab, die miteinander herummachten und eventuell sogar Sex hatten, an sowas wollte sie gar nicht denken. Die Vorstellung, die Lippen einer anderen Frau zu berühren, die widerte sie so sehr an wie der ekelerregende Geruch, der in der Luft lag, als sie sich in der Nähe der Bar befunden hatte. Widerlich. Ekelhaft.
Auf Partys taten das andere Mädchen in ihrem Alter aus Spaß, aber niemals könnte sie es tun. Egal, wie sehr sie sich abgeschossen hatte. „Bevor ich jemals so komische Widerlichkeiten ausübe, da sterbe ich lieber“, das hatte sie sich fest vorgenommen, jedoch Tabea niemals ansatzweise vermuten lassen, wie sehr sie diese Eigenschaft an ihr, wenn man es als solche bezeichnen konnte, abwertete. Es gab wenige Sachen, die sie an Menschen so sehr abschreckten wie der Fakt, dass es Frauen gab, und sogar Männer, denen es gefiel, etwas anzufassen, was sie selbst schon besaßen und in ihren Augen war das erstens unnötig und zweitens widersetzte man sich dadurch der Biologie.
Biologie, das Gebiet, für das Tabeas Herz doch schlug. Also wieso ließ sie diesen Kram dann zu, wenn sie die Logik, was in dem Wort doch enthalten war, so wertschätzte, wieso hieß sie es dann sogar für gut? Fragen über Fragen. Aber die Auszeit unten tat gut, bevor sie sich quälen musste, heimzukommen, wobei sie gar keine Ahnung hatte, wie sie das anstellen sollte. Vielleicht schaltete sich ihr Instinkt wieder ein, sobald sie draußen war, ihr Akku war inzwischen komplett leer und ihr relativ gutes und schnelles Datenvolumen am Handy ausgeschöpft. Mist, aber nun mal eine Tatsache, die sich nicht verhindern ließ. Lia stützte sich mit den Ellbogen auf der Waschbeckenkante ab, sah hinein. Noch nie hatte sie solch eine lange Zeit in diesem Waschraum verbracht. Ob und wann das Palladium nach dieser Veranstaltung schloss, das war ihr unbekannt und sich jetzt zu bewegen und wieder unter diese gewöhnungsbedürftigen Menschen zu gehen, die sie dumm angemacht hatten – nein.
Lia fand die heutige Crowd einfach absolut unter aller Sau und so fühlte sie sich auch. Als hätte eine dicke, verschlammte und stinkende Schweinemama sie im Moshpit umgeworfen und hätte ihr ihren abartigen Atem mitten ins Gesicht geblasen. Wäre Tabea jetzt nur hier, dann könnte sie sie einfach nach Hause tragen und auf sie Acht geben. Jeder Gedanke an sie zauberte ihr ein neues, beinahe unscheinbares Lächeln auf die vollen Lippen. Da war mal ein wenig roter Lippenstift drauf gewesen, aber unter diesen Bedingungen schien es sowieso gleich, ob und wieviel davon jetzt darauf war. Die Dresdenerin hätte jetzt bestimmt ein paar liebe Worte parat, das war die weiche Seite an ihr und jeder war davon überzeugt, dass es nur diese gab, bis man dann erfuhr, dass sie ebenso ab dem vierzehnten Lebensjahr angefangen hatte, einfach aus Spaß eine gewisse Alkoholresistenz aufzubauen, indem sie nach der Schule oder wenn sie alleine war sich mal etwas gönnte, um herunterzukommen. Motivation, um etwas Schulisches zu machen – nein. Seit Jahren musste Lia gar nicht erst danach fragen, ob sie denn etwas machen musste, bevor sie ihren Anruf starteten, sie würde jedes Mal ein „Nein“ aus Überzeugung zu hören bekommen. Das Wort „Motivation“ passte genauso wenig in ihren Wortschatz wie das Wörtchen „Lesbe“ in den von Lia, jedoch hatte sich das dann ab der elften Klasse, in der es anfing, ums Ganze zu gehen, um einiges verändert.
Und sie hatten über die jahrelange Freundschaft hinweg auch voneinander profitieren können – ohne Tabea hätte sie keinen Leistungskurs gehabt, in dem sie ansatzweise gut gewesen wäre und in dem sie Unterstützung bekam und Tabea ist eine Nichtraucherin geblieben – aufgrund ihres Freundes. Es gab so wenige und bescheuerte Gründe, warum sie damit anfangen wollte, teilweise, da Lia selbst rauchte wie ein Schlot und das seit über drei Jahren und andererseits, da sie etwas finden wollte, was beruhigend und ästhetisch zugleich schien. Einerseits wollte Lia ihre Freundin nie von irgendetwas abhalten, das sie selbst tat, da es für sie und ihrer Vorstellung von Jugend dazugehörte, sie fand hingegen aber, dass ihre Tabea, auch wenn sie älter war als sie selbst, immer noch kindlich und unschuldig schien, auch wenn sie alles andere war als das. Darum war sie fast schon froh, als sie erfuhr, Louis habe ihr den Kontakt zu jeglichen Suchtmitteln außer Neck Deep verboten. Ach ja, Neck Deep.