Liam Andersen und das Buch der Schatten - Anna Morgenroth - E-Book

Liam Andersen und das Buch der Schatten E-Book

Anna Morgenroth

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Beschreibung

Es läuft nicht gut für Liam: Während seine Freunde nach Herzenslust zaubern, kann er nicht einmal ein Gänseblümchen fliegen lassen - denn ihm wurde im Alter von drei Jahren die Magie gestohlen. Kurz danach verließ seine Mutter aus ungeklärten Gründen die Familie. Bei all diesem Pech hat er doch mit Rob und Roxy die besten Freunde der Welt. Zu dumm nur, dass auch sie bald nicht mehr bei ihm sein werden: Sie sollen nämlich ohne ihn auf ein Zauberinternat gehen. Dann bleibt ihm nur noch Neela, eine schneeweiße, magische Hündin, die nie von seiner Seite weicht. Leider verschwindet Neela eines Tages spurlos und Liam fragt sich, ob das etwas mit seiner gestohlenen Magie zu tun hat. Oder hat seine Mutter die Hände im Spiel? Und warum behauptet seine Oma, dass er dringend das geheimnisvolle Buch der Schatten finden muss?

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Seitenzahl: 532

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Für alle, die auch auf der Suche nach Magie sind. Ich hoffe, ihr findet sie in euch.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

1

Neela war doch wirklich das beneidenswerteste Geschöpf, das er kannte. Wie sie dort unter der Kastanie lag, zusammengerollt und bewegungslos, sah sie einfach nur aus wie ein wunderschöner, überdimensionierter Schneeball. Ihr Fell glitzerte verlockend in der Sonne. Er könnte jetzt einfach aufstehen, das Zimmer verlassen und hinuntergehen. Sie streicheln. Mit ihr toben. Er sollte das tun.

Ein Tritt gegen das Schienbein holte Liam unsanft in die Gegenwart zurück.

«Schreib ab, Liam, ich muss umblättern», zischte Rob ihm zu.

Umblättern? Was wollte Rob umblättern? Er blickte auf den Zettel, den Rob ihm zugeschoben hatte.

Mist! Sie schrieben gerade Mathe-Schulaufgabe! Wie konnte man nur so zerstreut sein, dass man sogar so etwas vergaß! Schnell schaute er nach vorne, aber Frau Bernil saß mit überkreuzten Beinen auf dem Pult, schaute hinaus auf den Schulhof und strich sich gerade eine kurze Haarsträhne hinter das Ohr. Gut! Sie war in Gedanken woanders! Er beeilte sich, die Aufgabe so detailgetreu wie möglich von Robs Blatt abzumalen.

«Noch fünf Minuten», sagte da Frau Bernil und stand auf, um eine Runde durch den Raum zu drehen.

Rob schmierte die letzte Teilaufgabe aufs Blatt und Liam beeilte sich, so viel wie möglich davon auf sein Blatt zu kopieren. Rob war gerade fertig, als Frau Bernil schon die Arbeiten einzusammeln begann. Die letzten drei Zeilen schaffte Liam nicht mehr abzuschreiben, aber das, fand er, war insgesamt eine zufriedenstellende Partnerarbeit gewesen – vor allem, weil Rob gleichzeitig noch seine Zwillingsschwester Roxy, die rechts von ihm saß, mit Ergebnissen beliefert hatte.

Nervös fuhr sich Rob durch seine verwuschelten Locken.

«Hast du dran gedacht, Zahlen zu vertauschen?», flüsterte er Liam zu.

Liam nickte. Na klar, reine Gewohnheit. Zweimal, wie aus Versehen, einen kleinen Fehler eingebaut und auch dieses Mal würde Frau Bernil nichts von ihrer Zusammenarbeit merken. Liam, Rob und Roxy klatschten sich ab.

«Na, wieder Gruppenarbeit gemacht?», ätzte da jemand aus der letzten Reihe.

Liam drehte sich um. Dort saß Kay, eingerahmt von seinen Freunden Eric und Jakob, und schaute ihn aus braunen Karpfenaugen auffordernd an. Liam ließ einen kleinen Lacher hören.

«Wieso Gruppenarbeit? Bei uns arbeitet doch nur Rob!» Er wusste genau, dass er Kay auf diese Art am meisten ärgern konnte.

Roxy schüttelte vor Lachen ihre braunen Locken und legte noch einmal nach: «Und du? Meinst du, du hast wenigstens die Addition im Zahlenraum bis zehn richtig hinbekommen?»

Kay strich sich Möchtegern-lässig durch die blonden Stoppelhaare, legte den Kopf schief und setzte seinen «Ichbin-gerade-so-unwiderstehlich-witzig-und-gemein»-Blick auf.

«Spuck du mal keine Töne! Wir wissen doch, was dabei rauskommt, wenn man die Intelligenz für ein einziges Kind auf zwei aufteilen muss, oder? Dein Bruder hat alles abgekriegt und du gar nix!»

Jakob und Eric lachten. Aber Liam reichte es nun. Er spürte, wie sich der Ärger den Weg in sein Gehirn bahnte. Wie automatisch ballte sich seine Hand zur Faust. Kay konnte ihn beleidigen, so oft er wollte. Aber wenn es um Roxy ging, kannte er kein Pardon. Niemand beleidigte Roxy ungestraft.

«Hör zu!», zischte er. «Lass Roxy aus deinen widrigen kleinen Spielchen raus. Mach es mit mir aus oder lass es!»

Kay sah gerade so aus, als wollte er etwas erwidern, als Frau Bernil neben ihm auftauchte.

«Raus mit euch», sagte sie. «Die Pause ist nicht zum Streiten da, dazu ist sie viel zu kurz.»

Rob und Roxy ließen sich das nicht zweimal sagen.

«Wir kaufen Süßigkeiten, Liam. Bis gleich!»

Damit war Roxy als Erste draußen. Rob folgte ihr auf dem Fuß. Liam allerdings musste erst seine verstreuten Dinge einsammeln. Als er sich auf der Suche nach dem letzten Stift auf den Boden kniete, sah er immer noch die Turnschuhe von Frau Bernil vor sich. Wartete sie auf ihn? Er mochte sie ja. Sie war einfach die jüngste und coolste Lehrerin an der Schule, sah sogar noch ein bisschen aus wie eine Schülerin mit ihren Jeans und dem Rucksack. Außerdem hatte sie sogar die gleiche hellbraune Haarfarbe wie er und weil die so selten war, fiel ihm das immer wieder auf. Allerdings war ihr kurzer Bob um einiges gepflegter als seine «Müsste-dringend-nachgeschnitten-werden»-Frisur. Aber konnte sie ihn nicht einfach allein lassen?

Langsam stand er auf.

«Na, hast du alles?», sagte sie belustigt. «Dann können wir ja jetzt in die Pause gehen, bevor sie wieder zu Ende ist.» Mit diesen Worten ging sie zur Tür des Klassenzimmers hinaus. Liam beeilte sich, ihr zu folgen und beobachtete, wie sie die Tür verschloss.

«Tschüss, bis morgen! Und denk mal an deine Hausaufgaben, Liam». Sie zwinkerte ihm zu. «Und du auch, Kay! Kann nichts schaden!»

Liam drehte sich um. Kay stand grinsend hinter ihm.

«Na klar doch, Frau Bernil, wie immer», rief er ihr noch nach und wandte sich an Liam. Eric und Jakob hatten hinter ihm Aufstellung bezogen.

«Sag mal, weißt du eigentlich, was heute in einem halben Jahr ist, Liam?», begann Kay und musterte Liam abschätzig.

Liam starrte ihn verständnislos an. Was wollte er? Was bitte war in einem halben Jahr? Heute war der 15. März. Der Tag der dritten Mathe-Schulaufgabe. Also dann war in einem halben Jahr der 15. September.

Reflexartig machte Liam einen Schritt zurück. Er merkte, wie das Blut in seinen Kopf schoss und die Schläfen zu pochen begannen. Der 15. September, der Tag, der besser nie kommen sollte. Ihm war, als ob Kay gerade einen Stöpsel aus seinem Körper gezogen hätte und ihm alle Energie entwichen wäre.

Kay zog siegesgewiss die Mundwinkel nach oben.

«Da gibt es was zu feiern! Filigri fängt an – aber ohne dich, du Ohmic!» Er legte den Kopf schief und ließ ein fast lautloses, gemeines Lachen hören.

«Dann sind wir magisch Begabten endlich unter uns! Und ihr armen, armen Ohmies ... Oh, wie ich dich bemitleide! Lieber wäre ich tot als ein Ohmie. Ohne Magie – wie trostlos! Aber ihr seid dann ja auch unter euch. Dann geht es euch auch besser.»

Regungslos stand Liam da. Es fiel ihm beim besten Willen nicht ein, was er sagen konnte. Was gab es da auch überhaupt zu sagen? Es war die Wahrheit. Er war ein Ohmic. In seinem Körper war kein bisschen Magie. Und deshalb würde er hierbleiben und verrotten, während Kay, Rob und Roxy nach Filigri gehen würden. Der deutschen Schule für Magie. Der einzig wahren Schule für einzig wahre Magie. Genau heute in einem halben Jahr.

Kay stand immer noch vor ihm und grinste. Liam öffnete den Mund, aber er blieb stumm. Kay lachte, diesmal lauthals, klatschte seine beiden Freunde ab und ging lässig winkend mit ihnen zur Treppe.

Scham und Wut stiegen in Liams Kopf. Gleich würde etwas in ihm platzen!

Raus hier!, war der einzige Gedanke, den Liam noch fassen konnte. Weg, einfach nur weg.

Er packte seinen Rucksack und stolperte an den hässlichen roten und grünen Glasschaukästen und den steinernen Statuen vorbei, die Treppen hinunter, so schnell er konnte, vorbei an zwei erstaunt blickenden Lehrern, knallte die Eingangstür hinter sich zu, pfiff nach Neela, die sofort an seiner Seite war, und rannte mit ihr die Straße hinunter zur Mühle, weg von der Schule, über die Brücke und vorbei am letzten Haus des Dorfes, immer weiter. Er hatte Seitenstechen und sein Rucksack schlug bei jedem Schritt gegen sein Bein, aber er hielt nicht an, er rannte und rannte, bis sie endlich am Alten Wehr angekommen waren.

Dort lehnte er sich mit dem Rücken an eine Esche und rutschte zu Boden. Er legte seinen Kopf auf die angezogenen Knie und versuchte, zu atmen, viel Luft einzuatmen, ruhiger zu werden. Neela stand vor ihm und so, wie er dasaß, überragte sie ihn sogar um einige Zentimeter. Sie stupste mit ihrer Schnauze immer wieder seinen Kopf an und legte ihre Pfote auf sein Knie. Liam zog sie zu sich heran und vergrub seinen Kopf in ihr Fell. Dann ließ er seinen Tränen endlich freien Lauf.

Wie lange er so dasaß, wusste er nicht. Ein eisiger Wind pfiff ihm um die Ohren und die Kälte des Bodens schlich ihm den Rücken hinauf. Sie ließ ihn bereuen, dass er so früh den Sonnenstrahlen geglaubt und seine Winterjacke gegen die leichtere getauscht hatte.

Er rieb seine Wange an Neelas Fell und streichelte über ihren Kopf, ihre Ohren, ihren Hals. War er tatsächlich weggelaufen von der Schule, nur weil dieser Schwachkopf ihn daran erinnert hatte, dass er als einer der Menschen ohne Magie, als Ohmie, nicht nach Filigri durfte? Er biss sich auf die Unterlippe.

Es hätte hundert Möglichkeiten gegeben, darauf zu antworten, und bislang war ihm bei jeder Gemeinheit eine davon eingefallen, aber dieses Mal hatte etwas in ihm versagt. Er war ja nicht der einzige Ohmie in der Klasse. Sie waren sogar in der Mehrheit. Aber er war leider der Einzige, der wusste, dass es Zauberer in der Klasse gab. Das war nicht zu vermeiden gewesen, denn alle in seiner Familie waren magisch. Und er war es auch gewesen. Bis er drei geworden war. So zumindest behauptete es sein Vater. Und deshalb war er auch der Einzige, der immer wieder unter Kays Hänseleien zu leiden hatte.

Es war quasi doppeltes Pech für ihn: Ohmie zu sein und zu wissen, dass man ein Ohmie war. Was hatte Kay überhaupt gegen ihn? Wieso war es so weit gekommen? Waren sie nicht sogar befreundet gewesen, damals, im Kindergarten?

War es nur, weil er ein Ohmie war? Oder hatte er Kay irgendeinen Anlass dazu gegeben?

Neela schob ihre feuchte Nase in Liams rechte Hand. Erließ es geschehen, dass sie über die kreisförmige, verblasste Narbe auf seiner Handfläche leckte, hielt ihr zur Abwechslung die linke Handfläche hin und genoss ihre Liebkosungen.

Ein Blick auf die Uhr sagte Liam, dass er schon seit über ein er Stunde weg war. Der Unterricht war mittlerweile beendet und sicherlich warteten seine Großeltern mit dem Essen auf ihn. Liam schloss kurz die Augen. Er würde jetzt einfach nach Hause gehen. Die Sache vergessen. Kay wusste jetzt, dass er Liams wunden Punkt getroffen hatte, und er würde dies in den kommenden Tagen noch mehrmals auskosten. Das einzig Gute an der bitteren Wahrheit war, dass er Kay im nächsten Schuljahr endlich los war.

«Liam.»

Deutlich hatte er seinen Namen vernommen.

«Liam.»

Er stand auf und blickte in die Richtung, aus der auch er selbst gekommen war. Natürlich waren es Rob und Roxy, das wusste er. Nur sie konnten ahnen, wo sie Liam sehr wahrscheinlich finden würden. Und wenn Liam ganz ehrlich war, war er froh, dass sie ihn gefunden hatten. Er beobachtete, wie zwei braune Haarschöpfe zwischen den Büschen auf ihn zu rannten.

«Liam!», rief Roxy noch einmal und schüttelte sich die nassgeschwitzten Locken aus dem Gesicht. «Was ist passiert?»

Neela begrüßte die beiden mit einem freudigen Jaulen und Liam ließ sich auf den Boden zurücksinken. Die Zwillinge folgten dem Beispiel.

«Wir haben dich in Zauberpropädeutik vermisst. Was war los, Liam?», drängte Rob. «Professor Seful hat uns gefragt, wo du wohl geblieben bist.»

Liam blickte beschämt zu Boden.

«Ja, ich wollte ja kommen. Aber ... ich hatte ... na ja, Kay hat ... dieser Mistkerl!»

Die Zwillinge wechselten einen raschen Blick und Liam konnte sich nur allzu gut denken, was in ihren Köpfen vorging. Sie hatten Mitleid. Und genau das wollte er nicht.

«Liam, sei doch dankbar, dass du diesen Sonderstatus hast», begann Rob vorsichtig. «Du weißt schon. Dass du in die Zauberpropädeutik darfst. Ich würde an deiner Stelle nicht riskieren, ihn zu verlieren. Wer weiß ... vielleicht klappt es ja doch noch. Mit Filigri, meine ich. Vielleicht kann dein Papa trotzdem was drehen. Ich meine ... er ist doch wirklich ein mächtiger Zauberer.»

Liam seufzte. «Ach, ja, klar doch! Hätte ich jetzt fast mal eine Sekunde vergessen! Mein Dad ist richtig wichtig. Und nur deswegen hab’ ich den Sonderstatus! Danke, Dad, für meinen», er hob theatralisch den Blick in die Höhe, «Son – der – sta – tus!»

Neela gab ein Fiepen von sich und schaute ihn traurig an. Er fuhr sich mit der Hand durchs Gesicht und starrte auf den Boden.

«Aber wisst ihr was? Mein Sonderstatus wird mir auch nicht helfen, nichts kann mir helfen! In einem halben Jahr seid ihr weg, ich bin allein. Sogar Kay ist weg! Nicht, dass es mir was ausmachen würde. Meinetwegen könnte dieser Trottel ans andere Ende der Welt ziehen. Am besten dorthin, wo der Pfeffer wächst. Aber nein. Er geht nicht ans Ende der Welt. Er geht nach Filigri! Zusammen mit euch.»

Jetzt schauten die Zwillinge betreten.

Aber Liam war noch nicht fertig.

«Ich kann mir seinen Gesichtsausdruck lebhaft vorstellen, wenn er in den ersten Ferien zurückkommt. Er jubiliert ja jetzt schon.» Er legte seinen Kopf wieder auf die Knie.

«Ja, stimmt», sagte Roxy, «Aber wenn du wegrennst, dann zeigst du ihm ja gerade noch, dass es dein wunder Punkt ist. Und er wird noch mehr Spaß daran haben, darauf herumzureiten. Kay ist ein Mistkerl. Lass ihn doch einfach.»

Ja. Kay war ein Mistkerl. Aber ein erfolgreicher Mistkerl. Ein magisch begabter Mistkerl. Kein netter Ohne-Magie-Ohmie, so wie er. Lieber wäre ich ein Mistkerl als der ewig nette Typ, ging es Liam durch den Kopf. Warum hatten so fiese Typen ein besseres Leben als er? Warum war das Leben einfach nicht fair? Wie konnte er es bitte anstellen, ein erfolgreicher Mistkerl zu werden? Ein beliebtes Scheusal. Ein lebenslustiger Widerling. Egal was, Hauptsache nicht der langweilige Durchschnitts-Ohmie, der er war.

Liam spürte Rob und Roxys Blicke und seufzte wieder.

«Tja, Kay hat es geschafft, mir den Tag zu verderben.»

Oder den halben Tag, setzte er in Gedanken hinzu. Jetzt waren Rob und Roxy an seiner Seite. Das machte die Angelegenheit plötzlich gar nicht mehr so wichtig. Er grinste. Es ging schon wieder. Die Mundwinkel ließen sich wieder heben.

Und er fügte hinzu: «Aber wisst ihr was? Kay hat nur Jacob und Erik. Ich habe euch! Ich würde nicht mit ihm tauschen wollen.»

Roxy und Rob lachten.

«Komm, du Ohmie», sagte Roxy und klopfte auf seine Schulter. «Lass uns zurückgehen. Ich habe nämlich Hunger. Und Mama hat schon versucht, uns auf dem Handy anzurufen. Ich würde sagen, sie ist sauer.»

Auf dem Weg zurück erzählte Liam ihnen, was Kay gesagt hatte. Er spürte erneut die Schamesröte ins Gesicht steigen, als er die Worte wiederholte.

Rob sah grimmig drein. «Deshalb war er so gut gelaunt in Zauberpropädeutik. Aber das wird er büßen!», murmelte er.

Roxy nickte nur entschlossen.

«Das zahlen wir ihm heim, Liam», sagte Rob. «Heute Nachmittag! Der taucht bestimmt wieder mit seinen zwei Speichelleckern auf dem Weiherdamm auf!»

Liam schaute dankbar zu Rob hinüber. Rob war normalerweise stets der Zurückhaltende von ihnen, der, der erst nachdachte, bevor er sprach, der, der immer zur Vernunft mahnte, aber wann immer es um Kay ging, war Rob wie ausgewechselt. Eigentlich hackte Kay ja immer nur auf Liam herum, aber das hielt Rob nicht davon ab, Kay immer wieder seine Abneigung gegen ihn spüren zu lassen. Seine grünen Augen sprühten vor Angriffslust. Dieses Thema war eines der wenigen, in welchen sich die Zwillinge stets komplett einig waren.

Roxy ergänzte: «Der kann was erleben, dieser Mistkerl!»

Sogar Neela ließ ein Bellen hören, das, wie Liam fand, kämpferisch klang. Er fühlte sich besser. Es war, als ob er seine Wut jetzt in drei Stücke geteilt und zwei davon abgegeben hätte. Niemand, das wusste er, hatte drei so gute Freunde wie er. Zwei davon würden bald weggehen, ja. Aber Neela würde bleiben. Für immer.

Als sie an Liams Gartentür angekommen waren, hatten sie das Thema «Kay und Konsorten» beiseite gelegt. Zum Glück waren sie Nachbarn.

Die Mirwalds lebten in einem schräg hinter ihrem Garten angrenzenden Haus und so hatte Liam seine Freunde immer in Sichtweite. Von seiner Haustür aus konnte er sogar, durch einen wohl fast drei Meter breiten Bogen in der Hecke, die Küchentür der Mirwalds sehen. Das war wirklich praktisch. Auch für seine Hühner. Die nutzten das Heckentor des Öfteren für Ausflüge in den Garten der Mirwalds.

Rob und Roxy knufften ihn freundschaftlich in die Seite.

«Bis später!», sagte Roxy.

«Wie immer!», sagte Rob und zwinkerte.

Liam sah sie im Haus verschwinden und nahm die drei Stufen zu seiner Haustür mit einem Sprung. Neela folgte ihm bis zur Türschwelle, wo sie stehen blieb. Er konnte sich nicht daran erinnern, sie je im Haus gesehen zu haben.

Natürlich hatte er so einiges versucht, um sie über die Schwelle zu locken, doch das war alles erfolglos geblieben. Sie hatte eben ihren eigenen Kopf und er musste das akzeptieren. Sie hielt ihm ihre rechte Pfote zum Gruß hin. Manchmal, bildete er sich ein, zwinkerte sie ihm sogar zu, aber jetzt drehte sie ab und trabte hinüber zu den Hühnern. Er schaute auf die Standuhr im Flur. Fast eine Stunde zu spät.

«Hände waschen und Handy weg!», hörte er seinen Großvater rufen. Er angelte in seinem Schulrucksack nach seinem Handy und legte es in eine Kiste aus Metall, die vor der Haustür stand. Der Großvater duldete keine Handys im Haus. Er behauptete stets, dass sie die Magie stören würden. Mit schlechtem Gewissen und sauberen Händen schlich Liam ins Esszimmer.

Seine Großeltern saßen noch am Tisch. Die Terrine mit dem Eintopf stand in der Mitte und sein Opa schnippte energisch mit dem Finger und sagte leise: «Incalzire.»

Plötzlich stieg leichter Dampf aus dem Topf. Der Eintopf schien wieder heiß zu sein. Liam seufzte innerlich. Sie hätten gerne ohne ihn essen können, denn das war nun wirklich nicht seine Leibspeise. Damals, als seine Oma noch gekocht hatte, hatte er den sogar gemocht, aber seit Opa kochte, gab es die recht wässrige Suppe viel zu oft. Sein Großvater kochte nicht gerne. Obwohl er ein großartiger Zauberer war und ihm sonst alles gelang, schaffte er es einfach nicht, ein leckeres Essen auf den Tisch zu zaubern. Trotz allem: er gab sich die allergrößte Mühe. Deshalb motzte Liam auch nicht über das Essen.

«Wie schön», sagte seine Großmutter, «dass du da bist!» Sie lächelte ihr schönstes Großmutterlächeln und er schämte sich dafür, dass er sie hatte warten lassen. Er drückte ihr einen Kuss auf die Wange.

«Tut mir leid, Oma», murmelte er. «Mir ist was dazwischengekommen. »

«Dein Papa lässt dich grüßen. Er schafft es heute nicht, nach Hause zu kommen, aber morgen Abend wird er auf jeden Fall da sein», sagte der Großvater.

«Schön, freut mich», erwiderte Liam knapp. Sein Opa war der Einzige im Haus, der das Wort «Papa» benutzte. Liam bevorzugte es, ihn mit «Dad» anzureden. Das klang viel cooler und schließlich war sein Dad ja beruflich in England unterwegs und kam nur an den Wochenenden und ab und an einmal unter der Woche zurück zu ihnen.

Liam begann, sich verkochte Möhren und Kartoffeln auf den Teller zu schöpfen. Was es wohl bei den Mirwalds zum Mittagessen gab? Rob und Roxys Mutter, Freya, war eine ganz ausgezeichnete Köchin. Liam hatte sich schon manchmal gefragt, ob wohl seine eigene Mutter auch so gut gekocht hatte. Er konnte sich nicht mehr erinnern. Seine Großmutter war eine ganz ausgezeichnete Köchin gewesen und er dachte immer noch an ihre Schnitzel zurück.

Die Großmutter begann nun langsam und bedächtig, einen Löffel nach dem anderen zum Mund zu fuhren, ohne Liam auch nur einen Augenblick aus den Augen zu lassen.

Plötzlich ergriff sie seine Hand und sagte eindringlich: «Heute ist der Tag, Liam!»

Liam starrte sie entgeistert an.

Auch der Großvater schaute erschrocken auf, lächelte dann aber, nahm ihre Hand in seine und sagte nur: «Nicht doch, Hera, heute ist ein Tag wie jeder andere!»

Liam schaute von ihm zu seiner Großmutter und zurück. Was hatte sie gemeint? Die Worte hatten etwas sehr Beunruhigendes an sich. Hatte er irgendetwas vergessen? Außer, dass es in einem halben Jahr in Filigri ohne ihn losging, schoss ihm durch den Kopf. Aber das war unmöglich das, was seine Oma meinte.

Er kramte in seinem Gehirn, sah seinen Großvater fragend an, aber da dieser nur lächelnd den Kopf schüttelte, verdrängte Liam den Gedanken und fragte stattdessen: «Kann ich dir nachher etwas vorlesen, Oma?»

Es hatte sich so eingebürgert, dass er dies nach dem Mittagessen tat, sodass sein Großvater sich ebenfalls kurz ausruhen oder seinen eigenen Geschäften nachgehen konnte.

«Ja, das wäre toll, David!» Die Großmutter strahlte.

«Liam, Oma, ich bin Liam.»

Ein Ausdruck peinlicher Berührung huschte über ihr Gesicht. Sie schwieg.

Liam biss sich auf die Unterlippe. Hätte er doch nur den Mund gehalten! Es war doch eigentlich egal, wie sie ihn anredete. I

2

Es klingelte. Erstaunt blickte Liam hoch. Wer kam um diese Tageszeit? Er sprang auf, lief in den Flur und riss die Tür auf. Professor Seful stand davor, wie immer in einen perfekten schwarzen Anzug gekleidet, der zu seinen grauen, dünnen Haaren passte. Alles grau in schwarz.

«Na, da schau an!», sagte er vergnügt. «Ich wollte nur einmal schauen, ob denn auch alles in Ordnung ist.»

Liam beeilte sich, zu nicken. «Ich ... ich ... mir war nur nicht gut. Ich hab’ mich draußen hingesetzt und dabei ... bin ich ... hab ich die Zeit vergessen», stammelte er.

Es war schön und gut, dass der Professor, der ein Freund seines Großvaters war, sich für ihn einsetzte. Aber musste er ihn wirklich kontrollieren?

«Komm rein», hörte er den Großvater rufen. Professor Seful beeilte sich, der Einladung nachzukommen.

«Hm, riecht gut hier», sagte der zur Begrüßung. «Ich habe versucht, dich auf der Muschel anzurufen», sagte er und deutete auf eine wunderschöne große Trompetenschnecke auf dem Kaminsims.

Der Großvater war schon aufgestanden und hatte einen Teller und Löffel geholt.

«Hab’ wahrscheinlich mit Richard telefoniert», sagte er. «Und jetzt iss, ich schätze, Liam ist froh, wenn es das morgen nicht noch einmal aufgewärmt gibt.» Und so setzte er sich und Liam nahm daneben Platz.

«Was führt dich hierher, alter Freund?» fragte sein Großvater.

Liam blickte erschrocken und beeilte sich, Professor Seful nicht zu Wort kommen zu lassen.

«Ach, Opa, weißt du, ich ... habe nur ... mir war heute einfach schlecht, weißt du? Ich hab’ mich rausgesetzt und Zauberpropädeutik verpasst.»

«Ja, und mein leckeres Essen fast auch noch», sagte der Großvater.

Zum Glück beließ er es dabei und wendete sich wieder an seinen Freund, der angesichts des unerwarteten Mittagessens strahlte.

«Was macht die Schule?», fragte der Großvater.

«Prima», sagte der Professor, «ganz prima. Seit nur noch Zauberer an unserer Schule unterrichten, bin ich sehr entspannt. Ich muss keine verschreckten Lehrer und Lehrerinnen davon überzeugen, dass alles mit normalen Dingen zugeht, nur weil ein Schüler ihnen aus Versehen Flammen vor die Füße zaubert oder ihre Stiefel am Boden festklebt. Ich habe nicht ständig Eltern da, die davon berichten, dass ihre Kinder seltsame Dinge gesehen haben. Und muss dann die Eltern und die Kinder mit komplizierten Vergessenszaubern heilen und hoffen, dass sie es noch nicht herumerzählt haben. Alles ist jetzt locker und flockig.»

Er schaufelte weiter verkochte Möhren und Kartoffeln in sich hinein, als wäre es ein Festessen.

«Ja», sagte der Großvater, «das war wirklich eine überfällige Entscheidung des Magischen Magistrats. Natürlich ist es auch verständlich, dass sie sich so lange gewehrt haben. Schließlich ist es echt schwer, die ganzen alten Lehrer loszuwerden und es noch so aussehen zu lassen, als sei alles reiner Zufall.»

«Aber nötig», sagte Professor Seful und zwinkerte Liam zu. «Du weißt ja, dass das hier alles geheim ist, ja?»

Liam beeilte sich, zu nicken. Hochinteressant, dachte er. Und schade eigentlich um die Ohmie-Lehrer. Bestimmt war es lustiger gewesen mit ihnen.

«Was hat eigentlich diese Deutschlehrerin mit den roten Haaren gemacht, die immer diese ultralangen Strickjacken anhatte?», wollte der Großvater wissen. «Die hab’ ich auch nie mehr gesehen.»

Professor Seful lachte. «Frau Mager verdient sich jetzt ihre Brötchen damit, dass sie ihre Erlebnisse an der Schule in einer Jugend-Fantasyreihe verarbeitet, in welcher glupschäugige Geister und grüngesichtige Ghule in einer kleinen Dorfschule ihr Unwesen treiben.»

Liam musste auch lachen. «Und wo haben Sie die ganzen magischen Lehrer so schnell herbekommen?», wollte er wissen.

«Wir haben uns mal an der Universität für Magie umgehört. Erst wollte keiner in so eine Dorfschule. Ganz ehrlich, natürlich dachte jeder, die wird ohnehin geschlossen. Aber als sie gehört haben, dass ihnen eine <Beförderung> nach Filigri in Aussicht gestellt wurde, kamen dann doch ein paar davon. Und das mit der Schule – na ja – das ging natürlich auch nicht ganz mit rechten Dingen zu.» Er machte eine theatralische Pause und schaute in die Runde. «Natürlich wäre sie geschlossen worden. Schulen in dieser Größe müssen überall schließen. Aber die leitenden Beamten des Kultusministeriums vergessen jedes Jahr diese Schule. Warum nur?», fragte er und legte schelmisch den Kopf zur Seite.

«Was für ein Glück, dass es so viele vergessliche Menschen gibt», sagte der Großvater. Er blickte ernst, aber Liam hatte es trotzdem um seinen Mund zucken gesehen.

«Und gehen dieses Jahr auch Lehrer nach Filigri?»

War das jetzt nicht gemein? Sogar Lehrer wollten nur dorthin. Es musste eine großartige Schule sein. Und Liam durfte nicht.

«Oh, das ist natürlich ultra-mega-geheim.» Der Professor zwinkerte.

«Natürlich», sagte der Großvater. «Ich frag dich dann am Freitag nochmal. Wenn du deine vier Blaubier intus hast.»

«Vergiss es! Nicht mal mit zehn Blaubier sag’ ich was. Danke für das Essen, Gustav. Wenn du so weitermachst, kannst du bald für die Kupferkanne kochen. Wir sehen uns am Freitag. Und du, Liam, fragst am besten mal deine beiden Freunde, was wir in Zauberpropädeutik gemacht haben. Ich will nicht zu viel verraten, aber es ging um die Magie der Hohlen Hand. Das möchtest du sicherlich nachholen. Nächste Woche will ich dich wiedersehen, okay?»

Liam nickte und begleitete Professor Seful zur Tür. Der schaute ihn noch einmal an und sagte: «Ich weiß ja nicht, warum dir heute plötzlich so übel war, Liam. Aber wir geben nicht auf, okay? Nicht, bis die Einladungen aus Filigri wirklich da sind.»

Liam hatte plötzlich einen großen Kloß im Hals. Er konnte nur noch nicken. Aber da war Professor Seful schon draußen.

Der Großvater hatte sich in der Zwischenzeit eine Tasse Tee gemacht. Die fünf Minuten, in denen der Tee zog, reichten ihm immer, die Küche aufzuräumen. Liam beobachtete ihn, wie er mit dem Rücken zu ihm gewandt an der Spüle stand. Es war tatsächlich schon vorgekommen, dass Besucher ihn für Liams Vater gehalten hatten. Kein Wunder. Einen Opa stellte man sich wohl eher mit grauem Haar vor. Ob da ein Zauber dafür sorgte, dass die Haare so dick und braun blieben? Vor allem aber war er schlank und breitschultrig und sah wie eine ehemalige Sportskanone aus.

Gerade zog er etwas in der Größe eines Mini-Bleistiftes aus der Hosentasche. Vor Liams Augen wuchs es in einer Millisekunde zu einem stattlichen Zauberstab heran. Der Großvater blickte über seine Schultern und als seine Augen Liams trafen, zuckte er ein wenig zusammen.

Liam seufzte. Er hatte den wunderschönen Zauberstab aus Kupfer mit dem geprägten Knauf schon oft genug gesehen, und trotzdem versuchte sein Großvater, ihn vor Liam zu verstecken. Nur wenn es ums Aufräumen ging, nahm seine Bequemlichkeit überhand. Wenn sich die Teller, Messer und Gläser wie von Geisterhand in die Luft erhoben und Richtung Spüle schwebten, dann war ihm klar, dass sein Großvater keine Lust auf die lästige Hausarbeit hatte. Und das war immer einer jener Momente, in denen er daran erinnert wurde, dass er ein Ohmie inmitten von Zauberern war. Es war einer jener Momente, die ihn daran erinnerten, dass er im Leben einfach Pech hatte. Und deshalb hasste er diese Momente.

Liam half seiner Großmutter auf und führte sie zum Sofa.

«Ich würde wirklich gerne noch die Schlange sehen!», flüsterte sie ihm ins Ohr und lächelte verschmitzt.

Liam blickte sich unwillkürlich um. «Welche Schlange, Oma?»

«Na, die Schlange von Mädchen, die später mal ansteht, um dich zu heiraten!» Sie streichelte ihm durch die Haare und tätschelte seine Wange. «Mein hübscher Bub. Wo ist nur die Zeit geblieben?»

Liam lächelte. Sie mochte verwirrt sein, aber manchmal blitzte ihr alter Humor durch, und immer zeigte sie ihm, wie sie ihn vergötterte. Das hatte ihr ihre Vergesslichkeit noch nicht rauben können. Das waren die Momente, in denen sie fast so war wie früher.

Er sah sie an und fand sie schön. So, wie eine Großmutter ausschauen musste. Sie bestand darauf, ordentlich angezogen, frisiert und geschminkt zum Frühstück zu erscheinen.

«Auch ein alter Pfau zeigt gern seine Federn», pflegte sie dazu zu sagen.

Und tatsächlich war sie so farbenfroh wie ein Pfau. Liam hatte sie noch nie in Schwarz oder Grau gesehen. Heute trug sie Hellgrün mit Pink und die weißen Haare, mit einem grellen pinken Haarband zu einem lockeren Dutt zusammengesteckt, leuchteten mit den Farben ihrer Kleidung um die Wette. Eine kleine Kinderhaarspange mit einem Sternchen hielt eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Sie musste bestimmt dreißig solche Sternen-Kinderhaarspangen in allen möglichen Farben haben. Er lächelte und sah an sich herab. Seine Jeans und Hoodies waren richtig schäbig dagegen.

Er holte das dicke, in wunderbar weiches dunkelrotes Leder eingebundene Märchenbuch, das auf dem Kaminsims lag, und machte es sich neben seiner Großmutter auf dem Sofa bequem. Das Lesezeichen steckte dort, wo «Das Märchen vom Spiegel der Seelen» zu finden war, das Lieblingsmärchen seiner Großmutter.

«In den alten Zeiten, in denen das Wünschen noch geholfen hat, lebten ein König und eine Königin», begann Liam, das Märchen fast auswendig vorzusagen.

Doch die Großmutter unterbrach ihn. «Heute ein anderes, Liam. Heute ist der Tag für ein anderes Märchen. Lies mir <Das Märchen vom raffgierigen Raben> vor, ja? Würdest du das für mich tun?»

Liam schaute verwundert vom Buch hoch. Die vergangenen Wochen hatte er stets das gleiche Märchen vorgelesen, Was war heute nur anders? Aber natürlich suchte er «Das Märchen vom raffgierigen Raben» und begann.

«In einem kleinen Ort lebten vor langer, langer Zeit mit ihren Eltern zwölf Kinder ein schönes, sorgenfreies Leben. Und wie es Kinder nun einmal so tun, spielten sie oft miteinander. Sie spielten mit großen goldenen Bällen und noch größeren silbernen Reifen. Am meisten liebten sie es jedoch, wenn eines der Kinder sein Instrument mitbrachte, denn dann begannen alle anderen, zu den lieblichen Klängen zu tanzen und zu singen und eine große Fröhlichkeit war unter ihnen.

Eines Tages brachte ein Junge seine kleine Flöte mit und spielte so vortrefflich und bezaubernd, dass alle Kinder um ihn hemm so ausgelassen tanzten und sangen und jubilierten wie noch nie zuvor. Die Vögel saßen auf den Bäumen und vergaßen selbst zu singen, so angetan waren sie von diesem Schauspiel.

Es saß allerdings ein großer schwarzer Rabe auf einem Baum, der war gerade zurückgekommen von einem seiner Raubzüge und hatte einen rotglänzenden Ring in seinem Schnabel, und als er über das Dorf und die Kinder geflogen war, hatte ihn die Melodie so bewegt, dass er innehielt und ebenfalls zuhörte.

Nun liegt es in der Natur der Raben, alles Glänzende besitzen zu wollen, und lange schaute er die kleine, goldene Flöte an und überlegte hin und her, wie er diese nebst dem Ring noch in seinen Schnabel bekommen könne, doch fiel ihm keine Lösung ein. So ließ er wütend den Ring fallen.

Der Junge aber sah den Ring. Er hörte auf zu spielen, ließ seine Flöte im Gras zurück und rannte zu der Stelle. Als er ihn aber aufhob, verbrannte er sich die Hände daran. Kein anderes Kind wollte den Ring aufheben aus Angst, es würde ihm genauso damit ergehen.

Der Rabe indes hatte die kleine, goldene Flöte ergriffen, war eilends damit in sein Nest geflogen und schenkte sie seinen kleinen Rabenkindern. Nun hoffte er, dass die Raben, die ja nur fürchterlich krächzen können, damit endlich auch wunderschön und betörend zu spielen lernten. Er verbot seinen Kindern, zu krächzen, und übte tagein, tagaus mit ihnen, die Flöte zu spielen.

Nach vielerlei Versuchen gelang es den kleinen Raben, schöne Töne aus der Flöte zu zaubern, auch wenn ihnen die Kunst der Melodie versagt blieb.

Als der Junge nach seiner Flöte suchte und sie nicht fand, wurde er sehr traurig. Die Vögel in den Bäumen, die alles beobachtet hatten, zwitscherten den Kindern die Wahrheit zu, aber keines verstand sie. So brach unter allen Kindern eine große Traurigkeit aus, denn keines wagte mehr, zu spielen, aus Angst, der Rabe werde auch ihr Instrument stehlen. So gab es keinen Gesang mehr und keinen Tanz und die Kinder verloren sogar die Lust am Ball- und Reifenspiel. Jedes blieb für sich allein.

Die Vögel, die ihren Gefallen am Kinderspiel gehabt hatten, berieten sich und beschlossen, dass, wenn schon niemand ihre Sprache verstand, sie den Jungen zum Rabennest locken müssten. Sie hoben den Ring, der schon lange nicht mehr glühte, aus dem Gras auf, banden ihn an einer kleinen, leichten Schnur fest und flogen vor dem Jungen auf und ab. Sie winkten mit ihren Flügeln und zeigten ihm, dass er ihnen folgen sollte.

Das Zwitschern hatte der Junge nicht verstanden, aber das Winken verstand er wohl, und so nahm er allen Mut zusammen und lief den Vögelchen nach. Sie führten ihn immer weiter in den Wald bis hin zu einem hohen Baum, auf dem der Rabe saß und seine Kinder die Flöte spielen hieß. Der Junge verbarg sich hinter einem Busch. Dann zeigten die Vögel dem Raben den Ring und weil der Rabe gar so begierig war, flog er ihnen eifrig nach.

Der Junge hörte die Laute aus seiner Flöte, kletterte geschickt auf den Baum und nahm sie aus dem Schnabel eines jungen Raben, mochten die anderen auch noch so auf ihn einpicken.

Die Rabenjungen krächzten so laut sie konnten, doch da sie es nie geübt hatten, kamen nur ein paar jämmerliche Töne aus ihren Kehlen. Der Rabe aber war so weit weggeflogen, dass er die leisen Rufe nicht vernahm. Erst als der Junge längst wieder zuhause war, beendeten die Vögelchen das Spiel und verbargen sich mit dem Ring in einer Baumhöhle. Der Rabe musste nach Hause fliegen und sehen, dass er auch die Flöte verloren hatte. Das ungeübte Gekrächze seiner Rabenkinder war für ihn die größte Strafe und weil er es nicht ertrug, dass sie tagein, tagaus fürchterlich krächzten, stieß er seine Kinder alsbald aus dem Nest, um seine Ruhe zu haben.

Der Junge aber achtete gut auf seine Flöte und wenn er nun zu Tanz und Gesang für alle Kinder aufspielte, dann hatte er sie sich mit einem schönen Band um seinen Hals gebunden. Am Anfang eines jeden Spiels flötete er: T)ank euch lieben Vögelein, dass ihr besiegt habt den Raben, nun lasst uns zusammen fröhlich sein, wie schön, dass wir euch haben>. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann tanzen und singen sie noch heute alle zusammen.»

Liam blickte auf und begegnete den wachen Augen seiner Großmutter. Sie schaute sich um, und als sie den Großvater in sicherer Entfernung werkeln sah, beugte sich zu ihm und sagte langsam: «Der Junge mit der Flöte, Liam, das bist du. Du sollst deine Flöte zurückbekommen!»

Liam zuckte zusammen. Das war der Grund gewesen, dass sie heute dieses Märchen hatte hören wollen. Er wusste, dass sie verwirrt war und häufig Dinge verwechselte. Namen, Wochentage, Monate, Geburtstage, Kochrezepte, alles schien in ihrem Gehirn durcheinandergeraten zu sein. Aber das gerade hatte sie so eindringlich und deutlich gesprochen, als wäre sie vollkommen bei sich. Er hatte manchmal das Gefühl, dass die Demenz sich wie ein Schleier vor ihre Augen legte, doch im Moment waren ihre Augen klar. Was hatte das nur zu bedeuten?

Seine Großmutter griff seine Hand und streichelte sie. Sie nickte wie zu sich selbst, und sagte leise, sodass Liam sich vorbeugen musste, um sie zu verstehen: «Es muss bald etwas geschehen, Liam! Es ist höchste Zeit. Du wirst gehen müssen. Du musst die Flöte wiederfinden!»

Sie zwinkerte noch einmal und drückte kurz und kräftig seine Hand. Dann blickte sie über die Schulter und sagte in normaler Lautstärke: «Und nun werde ich ein bisschen schlafen, mein guter Junge. Danke dir, dass du dir die Zeit genommen hast. Es ist immer der Höhepunkt meines Tages, wenn du mir meine Märchen vorliest. Weißt du, wenn man an die Märchen glaubt, so wie ich es tue, dann können sie einem viel beibringen. Denn sie berichten uns aus einer Zeit, die noch ganz und gar magisch war. Wenn die Menschen nur alle daran glauben würden! Es könnte uns allen helfen!»

Liam stand auf, um ihr Platz auf dem Sofa zu machen. Er schaute sie an, wie sie sich hinlegte und genießerisch die Augen schloss. Er liebte seine Großmutter über alles. Sie hatte für ihn gesorgt, sie war immer auf seiner Seite gewesen und selbst jetzt, da sie immer verwirrter wurde, begegnete sie ihm mit so viel Liebe. Er brauchte sie. Es machte ihm Angst, dass sie so klar wirkte und doch offensichtlich heute noch verwirrter war als sonst.

Lustlos saß Liam über seinen Hausaufgaben. Besondere Mühe gab er sich meist sowieso nicht. Seine Zukunft lag rabenschwarz vor ihm, nichts konnte ihn dazu bringen, sich für Dinge wie Mathematik und Deutsch zu interessieren, während ihm all die Fächer im Kopf herumspukten, die er nie belegen würde. Weil Kay recht hatte. Er durfte nicht nach Filigri. Das bisschen Zauberpropädeutik hier an der Schule würde alles sein, was er je über die Zauberkunst erfahren würde. Doch in Filigri wurde das gelehrt, wofür er sich wirklich anstrengen würde: Magie. Stattdessen würde er diese lästigen Matheaufgaben bis an das Ende seines Schülerlebens nicht loswerden. Meistens machte er Mathematik nur deshalb, weil Frau Bernil eigentlich ganz in Ordnung war. Weder behandelte sie ihn so herablassend wie Professor Barthelmess, noch benachteiligte sie ihn immer Kay gegenüber, wie Herr Klein es tat, und sie testete auch nicht immer wieder, ob er nicht doch noch unentdeckte magische Talente besäße, wie es Frau Merz hin und wieder probierte.

Wenn er mit seinen Hausaufgaben nicht weiterkam, hatte er in Rob den besten Mathematikschüler der ganzen Schule als Freund. Rob, der sonst lieber die anderen reden ließ, konnte durchaus einmal eine halbe Stunde über Mathe dozieren, ohne auch nur einen Punkt oder ein Komma zu setzen.

Liam versuchte verzweifelt zum wiederholten Mal, eine lineare Gleichung durch Äquivalenzumformung zu lösen, als ihn der Großvater erlöste. Er roch nach Pfeifenrauch. Liam mochte den Geruch, er wusste dann immer, dass der Großvater sein Räuschen genossen hatte und jetzt gut gelaunt in die zweite Tageshälfte startete.

«Na, hast du deine Hausaugaben fertig?» fragte der Großvater, und wie jeden Tag nickte Liam, unabhängig davon, ob die Hausaufgaben tatsächlich fertig oder noch nicht einmal angefangen waren.

«Na dann, raus mit dir! Neela wartet!»

Das musste er nicht zweimal sagen. Liam stopfte Buch und Heft in seinen Rucksack, pfefferte ihn ins Eck und rannte aus dem Zimmer.

Er war schon vor der Haustür, als ihn die kalte Luft daran erinnerte, dass er wohl doch noch einmal die Winterjacke mitnehmen sollte. Sie hing am Haken im Flur neben einem Spiegel, der, das wusste Liam, ein magischer Spiegel war. Nur seine Jacken hingen dort, denn all die anderen Bewohner und Besucher des Hauses bevorzugten es, die Jacken auf der anderen Seite aufzuhängen, in sicherer Entfernung vom Spiegel. Sein Vater sagte, dass es ein Erbstück seiner Mutter gewesen war. Auch deshalb durfte ihn wohl keiner abnehmen. Und das, obwohl die Zauberer alle Angst vor ihm hatten.

Als Liam sich ihm näherte, begannen die im Rahmen eingelassenen Edelsteine zu glitzern. Er strich mit der Hand über den Rahmen, wischte die leichte Staubschicht weg und betrachtete die Inschrift.

Willst du dich quälen, dann schaue hinein

In den Spiegel der Seelen, doch tu es allein.

Liam erschauderte. Schon immer hatte er sich gefragt, was die Zauberer hier sahen. Etwas Schreckliches aus ihrer Vergangenheit? Ihren Tod? Ihr Scheitern? Wie dem auch sei, sie alle machten einen großen Bogen um den Spiegel und starrten angestrengt in die andere Richtung. Nur die Großmutter schien ihre Angst vor dem Spiegel schon vergessen zu haben. Was sah sie darin? Konnte er sie fragen?

Liam sah nur sich selbst: Einen Jungen mit hellbraunem Haar, das überall ein bisschen zu lang war. Er mochte es so, weil das ganz anders war als die kurzen, stacheligen Schweineborsten von Kay.

Er strich sich ein paar Strähnen aus der Stirn und musterte seine Augen. Viele Menschen sagten ihm, dass dieses Hellgrau ungewöhnlich sei. Aber wie ungewöhnlich? Ungewöhnlich kalt, traurig oder gleichgültig? Oder ungewohnlich interessant und schön? Das hatte niemand dazu gesagt. Liam mochte es trotzdem, etwas Ungewöhnliches an sich zu haben. Denn das war für ihn gleichzusetzen mit toll, mit eindrucksvoll, mit magisch. Seine Welt war zweigeteilt. Die «ungewöhnlichen», aber tollen und mächtigen Zauberer und die «normalen» Ohmies. Und er war der größte Pechvogel aller Zeiten. Oder wie sollte man jemanden nennen, der mit Zauberkräften geboren wurde und dann plötzlich doch nur Ohmie war? Frustriert machte er sich endlich auf den Weg nach draußen.

Neela balgte gerade ausgelassen mit Baiun, dem Kater der Nachbarsfamilie aus dem Haus rechts neben ihnen, im Gras. Wer nicht wusste, dass die beiden spielten, hätte geglaubt, gerade habe das letzte Stündchen des graugetigerten Katers geschlagen. Liam schaute ein paar Sekunden amüsiert zu, wie ein weißgraues Fellbündel mit vier Augen und acht Beinen durch das Gras rollte. Neela liebte Katzen über alles und Liam hatte tatsächlich noch keine Katze gesehen, die vor ihr Angst gehabt hätte. Er pfiff und Neela war sofort an seiner Seite. Bajun trottete beleidigt hinter ihnen her.

Auf dem Weg zur Gartentür stolperte er über einen hässlichen Gartenzwerg, der sich ihm direkt in den Weg gestellt hatte. Liam fing sich gerade noch, doch der Gartenzwerg fiel um. Ärgerlich lief er weiter, doch Neela blieb stehen und leckte dem Zwerg über das ganze Gesicht.

«Neela!», rief er sie. Sie rührte sich nicht vom Fleck. Genervt ging er zurück und stellte den Zwerg wieder auf.

«Zufrieden?», quetschte er zwischen den Zähnen hervor. Neela antwortete mit einem freudigen Fiepen.

«Ja», sagte Liam. «Du kriegst immer, was du willst, oder?»

Und damit waren sie endlich draußen. Er überquerte die Straße und betrat die Grünfläche, die man hätte Park nennen können, wenn sie nur annähernd eine solche Größe gehabt hätte. Das grüne Oval war von Straßen eingerahmt und man konnte locker von einem bis zum anderen Ende der Anlage sehen. Früher musste es hier einen Dorfweiher gegeben haben, denn bei den Einheimischen war dieser Platz heute noch als «Weiherdamm» bekannt.

Nicht dass es ein offizielles Schild gegeben hätte oder dass die Straße danach benannt worden wäre ... Es war eines jener Dinge, die man eben als Ortsansässiger wusste.

Zwei riesengroße, verknorpelte Eichen warfen jetzt, um halb fünf, lange Schatten, in denen es an diesem Märztag fast noch zu kalt war, um dort zu sitzen. Gleichzeitig boten die Bäume ein bisschen Schutz vor den unliebsamen Blicken der Nachbarschaft. Ein Kriegerdenkmal stand mahnend in der Mitte des Weiherdamms, rechts und links davon waren aus Holz geschnitzte Kunstwerke platziert worden, die so schön und farbenfroh verziert waren, dass sie fast zu schade waren, um nur als Sitzfläche zu dienen. Es gab ein großes Kanu und einen hohen Thron mit zwei niedrigeren Thronen an seinen Seiten, es gab Sitzschlangen und einen riesigen, hölzernen Adler, dessen ausgebreitete Flügel reichlich Platz für die Kinder boten.

Der Weiherdamm war die Mitte der Ortschaft und bei den Kindern viel beliebter als der eigentliche Spielplatz am Rand der Ortschaft. Wenn Liam mit Rob und Roxy allein sein wollte, mussten sie daher auf eines ihrer Verstecke außerhalb des Dorfes zurückgreifen.

Doch im Moment war von Kay und seinen Konsorten weit und breit nichts zu sehen, nur ein paar Erstklässler führen mit den Fahrrädern ihre Runden. Liam sah ihnen nach. Er beneidete sie. Klar, sie waren auch Ohmies. Aber sie wussten ja gar nicht, dass es Zauberer gab. Er warf einen kurzen Blick nach rechts.

Wenn man an diesem Ende des Weiherdamms die Straße überquerte, gelangte man auf den Schulhof mit seinen alten Bäumen. Die Kastanie vor dem Eingang, die er von hier aus sehen konnte, war Neelas Lieblingsbaum. Außer im Herbst, wenn die Kastanien herunterfielen. Dann bevorzugte sie eine alte Eiche.

Das Schulgebäude lag friedlich inmitten des Hofes in der Nachmittagssonne und sogar die Wasserspeier, die die riesige, eichene Eingangstür bewachten, schienen einen schläfrigen Gesichtsausdruck aufgesetzt zu haben. Inmitten der kleinen, hübschen Häuser, die sich um den Weiherdamm reihten, nahm sich die Schule wie ein Koloss aus.

«Im Tudor-Stil», nannte sich das offiziell, wie er seit den allerersten Geschichtsstunden bei Herrn Schneider wusste.

Der einzige Geschichtslehrer der Schule zeigte das Gebäude voller Stolz jedem Besucher Aeriburgs und konnte eine halbe Stunde am Stück über den Bau schwafeln. Was er leider auch in Vertretungsstunden wieder und wieder tat.

«Ein ganz wunderbares Beispiel des Einflusses der englischen Architektur auf Deutschland» war definitiv sein Lieblingssatz. Früher war es wohl mal das prunkvolle Schloss einer Adelsfamilie gewesen. Aber jetzt war es nur eine hässliche Schule.

Was hätte Liam dafür gegeben, nicht so nah an diesem Koloss zu wohnen, um nicht ständig an die Schulstunden und Kays Feindseligkeiten denken zu müssen. Links von der Schule ging es zum Glummerla, dem einzigen Laden in ganz Aeriburg, der definitiv die besten Käsezungen und Apfeltaschen auf der Welt hatte.

Hinter der Schule erstreckte sich die Wüste Weite. Nicht einmal Rasen wuchs dort, es war eine sandige, ebene Fläche, auf der locker fünf Mehrfamilienhäuser Platz gefunden hätten, und obwohl sie nicht abgesperrt war, war noch kein Kind auf die Idee gekommen, dort zu spielen. Die Wüste Weite wäre für Neela ein idealer Platz zum Toben und Rennen gewesen, aber auch Neela kehrte ihr lieber den Rücken. Es war, als ob eine unsichtbare Barriere sie vom Rest der Ortschaft trennte.

Liam ließ sich unter einer der Eichen nieder, darauf bedacht, nicht in Richtung der Schule zu schauen, und bedeutete Neela, vier Mal zu bellen. Er grinste. Ein Hund, der auf Kommando nur durch Zeigen einer bestimmten Fingerkombination zwei-, drei- oder viermal bellte, war sicherlich ungewöhnlich.

Neela hatte schnell gelernt. Sie war ein ganz besonderer Hund. Mit ihr an seiner Seite fühlte sich Liam auch besonders, denn viele seiner Mitmenschen beneideten ihn um Neela. Sogar Unbekannte fragten ihn oft nach ihr und begannen, ihre eigenen Theorien über ihre Rasse darzulegen. Sie könnte eine Art weißer Deutscher Schäferhund sein, aber nein, die Schnauze erinnerte doch eher an einen Berner Sennenhund, wenn auch etwas schmaler, aber auf jeden Fall steckte doch ein bisschen Retriever drin, und die Größe sei doch sehr unüblich. Das sei doch kein normaler Hund, hatte einer gesagt, das sei ja ein Riesenschaf. Liam war es egal. Neela war einfach ein Unikat und dieses Unikat gehörte nur ihm.

3

Es dauerte nicht lange und Rob und Roxy kamen angerannt. Sie hatten ihre zwei kleinen Schwestern dabei, welche beide einen Puppenwagen vor sich herschoben. Roxy hatte drei Kirschtaschen in der Hand und reichte Liam eine.

«Mama hat dir die mitgeschickt. Ach, und natürlich liebe Grüße, wie immer. Wir müssen ein bisschen auf Vivi und Nica aufpassen! Mama will zum Einkaufen und Oma Clara geht es heute gar nicht gut», erklärte Roxy.

«Schon in Ordnung», sagte Liam. «Hätte auch gerne mal eine kleine Schwester! Na gut, zwei nicht unbedingt, aber eine wäre schon in Ordnung. Nica würd’ ich nehmen.»

Roxy lachte. «Überleg es dir gut! Sie ist zwar erst vier, aber ein kleiner Teufelsbraten.»

«Ich würde lieber Vivi nehmen, wenn ich du wäre», sinnierte Rob. «Die ist wenigstens schon acht. Man muss nur noch jeden zweiten Tag mit ihr Puppe spielen.»

«Du spielst sowieso nie mit ihnen. Du erzählst nur, was du alles mit ihnen machen musst.» Roxy blickte ihn entrüstet an.

Rob setzte ein schuldbewusstes Gesicht auf, aber Roxy hatte sich längst von ihm abgewandt und sprach nun mit Liam.

«Wenn wir später mal heiraten, wird sie ja fast deine Schwester».

Stimmt. Liam grinste. Natürlich wusste er, dass dieses Gerede nur Kinderspielereien waren. Und dass er langsam zu alt dafür war. Roxy wusste das auch. Aber sie hatten einfach offiziell immer daran festgehalten und sich mit einem Augenzwinkern versichert, dass sie einmal heiraten würden. Im Spiel hatten sie das früher bestimmt schon hunderte von Malen getan.

«Okay, ich heirate dich!», hatte sie immer seufzend gesagt, dabei hatte er doch gar nicht gefragt. Dann hatte sie sich zurückgezogen, um sich schick zu machen.

In der Zwischenzeit hatte er mit Rob so getan, als ob sie ein paar Gin Tonic trinken würden – um sein soeben besiegeltes Schicksal zu betrauern. Roxy hatte den grellblauen Lidschatten ihrer Oma geklaut und viel zu dick aufgetragen, was zu ihren grünen Augen in eher komischem Kontrast stand, und einen knallroten Lippenstift auf oder eher neben und um ihre sowieso vollen Lippen herum gepinselt, sodass sich Liam nach dem ersten Kuss erst einmal die Wangen abwaschen gehen musste. Die wilden braunen Locken hatte sie mit Wäscheklammern zu einer Art Dutt drapiert. Darüber hatten sie dann den Vorhang des Kinderzimmers mit den Äffchen und Giraffen gelegt, und der arme Rob musste die Schleppe zum Altar tragen. Mangels anderer Mitspieler hatte Rob immer alle anderen Rollen spielen müssen, was stressig gewesen war, weil beide Brautleute ihn herumdirigierten. Hol den Ring, spiele den Pfarrer, trag die Schleppe, fotografiere, mach dies, mach das! Rob hatte es geduldig über sich ergehen lassen.

Es waren schöne Erinnerungen. Immer, wenn Liam daran dachte, fühlte er sich so, als ob er jetzt mit seinen zwölf schon erwachsen wäre und an die Kindheit damals, vor so unendlich vielen Jahren dachte.

Liam leckte sich den Zuckerguss von den Fingern. Er liebte Kirschtaschen und er liebte Rob und Roxys Eltern, die ihn nie vergaßen, wenn sie etwas Leckeres gebacken oder gekocht hatten.

Wieder einmal wunderte er sich darüber, dass sich die Mirwalds überhaupt mit ihm abgaben. Rob und Roxy könnten mit all den «wichtigen» Kindern des Dorfes befreundet sein, wenn sie nur wollten. Schließlich waren sie Zauberer. Aber sie waren mit ihm befreundet. Und zwar hoffentlich für immer und ewig. Auch wenn sie weggehen würden. Auch wenn sie nach Filigri kein Handy mitnehmen durften. Auch wenn es ihnen verboten sein würde, mit ihm über Filigri zu sprechen. Aber trotzdem würden sie ja wiederkommen, in den Ferien, und dann wäre alles so, wie es schon immer gewesen war. Sie drei und kein Millimeter dazwischen. Und natürlich Neela. Die bekam die Hälfte von Liams Kirschtasche und schmatzte laut vor sich hin.

Eine Bewegung über ihnen zog seine Aufmerksamkeit an. Der riesige Adler von Aeriburg drehte weit oben seine Kreise.

Da wäre ich auch gerade gerne, dachte Liam bei sich. Dort oben, frei und ungebunden. Das wäre es.

«Du wärst manchmal auch gerne wie er, oder?» Robs Blick war seinem gefolgt.

«Ja, Adoryn hat es gut!»

«Ja, finde ich auch», antwortete Rob. «Keine Schule, keine Hausaufgaben, keiner sagt dir, was du tun und lassen sollst.»

Roxy schaute skeptisch. «Aber Adoryn hat doch den ganzen Tag Schule. Er sitzt doch in seinem Horst auf dem Schulturm.»

«Von da oben aus betrachtet ist Schule bestimmt gar nicht so schlimm», sagte Rob und lachte.

«Er hat es auf jeden Fall gut», ergänzte Liam. «Und wenn ihm jemand dumm kommt, kackt er ihm auf den Kopf.»

«Und er kommt näher ran an die Sterne», sinnierte Rob. «Das würde ich auch gerne. Ich würde so hoch fliegen, wie es geht.»

Roxy schüttelte den Kopf. «Das soll mal einer verstehen. Du hast ein Teleskop, Rob! Ein richtig teures Teil. Damit kannst du bequem vom Warmen aus Sterne anschauen. Und was tust du damit? In die Fenster der anderen Leute gucken. Und jetzt setzt du dich hierhin und erzählst uns was von Sternen.»

Rob blickte wieder ein bisschen schuldbewusst drein. «Trotzdem hat es der Adler besser», sagte er trotzig.

«Ihr spinnt», sagte Roxy. «Der Adler hat kein so warmes Haus, keiner kocht ihm das Essen, keiner kümmert sich um ihn.»

«Du denkst aber auch immer nur ans Essen und Schlafen», sagte Rob.

Liam lachte. Aber dann wurde er wieder ernst.

«Aeriburg», sagte er, «warum muss ich gerade hier wohnen? In einem von vielleicht zehn Orten im ganzen Land, wo es eine Menge Zauberer gibt. Und Adler. Zauberpropädeutik. Zauberertreffen. Und was weiß ich für magische Sachen. Immer werde ich daran erinnert. Jeden Tag in der Schule sitze ich neben Zauberern. Manchmal wünschte ich, wir würden wegziehen. Weit weg. Neu anfangen.».

Rob und Roxy schauten ihn betreten an. Roxy öffnete zweimal den Mund und schloss ihn wieder. Liam wusste, dass sie sehr bemüht war, nichts Falsches zu sagen. Beide vermieden es tunlichst, irgendetwas über Zaubern, Magie, Filigri oder auch nur im Geringsten damit Verbundenes zu sagen. Nicht, weil er es nicht hätte wissen dürfen. Zwar war es strikt verboten, mit Ohmies über Magie zu sprechen und vor ihnen zu zaubern.

Aber Liam war die Ausnahme. Mit ihm durfte man reden. Weil er ja mit Magie geboren worden war. Weil er nur aus Versehen in die Ohmie-Welt hineingeraten war. Nein, sie sprachen nicht über Magie, weil Rob und Roxy wussten, dass das ein heikles Thema für Liam war. Es hätte ihn brennend interessiert, wann wohl die Einladung käme, wann sie ihre Zauberstäbe bekommen würden und was sie alles für Fächer haben würden, aber er fragte nie, weil er wusste, dass jede Antwort ihn ärgern würde. So ignorierten beide Seiten in gegenseitigem Einverständnis alles, was Liam an seinen wunden Punkt erinnerte. Oder an das ganze Areal wunder Punkte, um genauer zu sein.

Nica und Vivi spielten friedlich mit ihren Puppen, als Chloë mit ihrem Puppenwagen angetrabt kam und sich dazugesellte. Chloë war Kays kleine Schwester und eigentlich war sie gar nicht so schlimm, fand Liam, wie sie es hätte sein müssen angesichts der Tatsache, dass sie die Schwester eines Vollidioten war. Nica konnte ihre Puppe ein bisschen schweben lassen und sie tat das leider auch ausgiebig, um vor Chloë damit anzugeben.

«Nica», rief Roxy, sprang auf und rannte zu ihr hinüber. «Lass das! Du weißt ganz genau, dass du das nicht tun darfst. Nicht hier!»

In diesem Moment öffnete sich die Tür des Hauses, welches gegenüber von Rob und Roxys und neben Liams Haus gelegen war, und eine hagere Frau mit strengem Haarknoten und einer karierten Schürze über dem geblümten Kleid steuerte zielsicher auf sie zu. Liam seufzte innerlich und Rob und Roxy verdrehten die Augen. Die nächsten zehn oder auch dreißig Minuten würde kein normales Gespräch mehr möglich sein.

Cecilia war ein Ohmie. Aber einer von der weniger netten Sorte. Ihr einziger Sohn war längst weggezogen und nur die alte, boshafte Schwiegermutter namens Marah lebte mit ihr im Haus. Die Kinder der Nachbarn auszuhorchen, schien der Höhepunkt ihres Tages zu sein.

«Ja, hallo Nie-coo-la und Vivi-aaa-ne, was spielt ihr denn Schönes?», fragte sie, Chloë komplett ignorierend.

«Wie sieht es denn aus?», murmelte Rob. «Antwort A: Sie spielen Verstecken, Antwort B: Sie spielen Puppe oder Antwort C: Sie spielen Fangen.»

«Sie hätten besser Verstecken gespielt», flüsterte Roxy.

«Und du bist wohl die Chloäää? Oder wie man diesen neumodischen Namen ausspricht?»

Chloë starrte Cecilia mit offenem Mund an.

«Na, hat man dir denn nicht beigebracht, Erwachsenen zu antworten? Wo sind denn deine Eltern?»

«Wo sind denn deine Eltern? Was für eine doofe Frage», wisperte Roxy. «Chloës Vater dreht wahrscheinlich gerade die fünfhundertste Runde mit seinem neuen Spielmobil und die Mutter lackiert schätzungsweise mal wieder ihre Fingernägel.»

«Wir passen auf sie auf», sagte Liam laut und deutlich in der Hoffnung, Cecilia würde weiterziehen.

«Ach, hallo, Li-aaam, hallo, Rob-iin und Rox-aaa-nne, ja, das ist aber schön von euch. Ihr habt wohl heute nichts zu tun?»

Rob und Roxy blickten sich genervt an. Cecilia war die Einzige weit und breit, die «Liam» nicht richtig aussprechen konnte oder wollte und die Namen der vier Mirwald-Geschwister vollkommen falsch betonte.

Aber Cecilia war noch nicht fertig mit ihnen.

«Na, habt ihr denn schon Hausaufgaben gemacht? Das scheint ja heutzutage schnell zu gehen. Wir mussten damals ganze Aufsätze zuhause schreiben. Und auf deine Großmutter musst du nicht aufpassen, Li-aaam? Jaja, die Hera. Schlimm. Diese Demenz. Einfach so.» Cecilia schüttelte ausgiebig und theatralisch den Kopf.

Liam lag es auf der Zunge, zu sagen, dass seine Großmutter definitiv noch mehr Tassen im Schrank hätte als Cecilia, aber er verbiss es sich und blickte nur finster.

Roxy ergriff das Wort für ihn. «Hera geht es gut, Cecilia, danke der Nachfrage! Und wie geht es denn eigentlich dir? Ich habe gehört, du hast gestern versucht, mit dem Staubsauger den Rasen zu mähen?»

Cecilia blickte ärgerlich und setzte gerade an, etwas zu sagen, doch da öffnete sich ein Fenster ihres Hauses. Marah schaute heraus und rief: «Ihr ungezogenen Gören, lasst meine Cecilia in Ruhe! Belästigt sie nicht ständig, sie will nur zum Einkaufen gehen! Ich warte schon auf mein Stück Kuchen!»

Cecilia machte sich hastig davon, ohne den Kindern auch nur auf Wiedersehen zu sagen.

Die alte Marah mit ihren Schimpftiraden hatte durchaus ihre guten Seiten, dachte sich Liam gerade und wollte sich wieder entspannt zurücklehnen, als er ein Lachen hinter seinem Rücken hörte und sich ruckartig umdrehte. Kay! Unbemerkt hatte er sich mit seinen ständigen Begleitern Eric und Jakob genähert.

«Ja, ihr ungezogenen Gören», äffte Kay. «Müsst ihr immer die erwachsenen Leute ärgern?»

Liam starrte Kay an und wusste nicht, ob er lieber weit weg wäre oder ob er froh sein sollte über die Chance, sich für heute früh zu rächen.

Sein Nacken spannte sich an. Nica, Vivi und Chloë hatten ihr Spiel komplett vergessen. Chloë rannte zu Kay und umarmte ihn, und Liam bemerkte, wie peinlich dies Kay in der Öffentlichkeit war.

«Nerv mich nicht», fuhr Kay seine Schwester an und schubste sie von sich. Chloë schaute ihren Bruder entsetzt an. Sie tat Liam richtig leid.

Roxy stand auf und setzte ein höhnisches Grinsen auf. «Na, Kay, ich hoffe, du hast deine Sachen für Filigri noch nicht gepackt!», sagte sie spöttisch.

«Wieso sollte ich nicht?» äffte Kay ihren Ton nach.

«Ich habe gehört, dass die Mindestanforderung ein zweistelliger IQ sein soll. Na ja – selbst wenn man deinen IQ potenziert, kommt man nicht auf zwei Stellen!»

Rob stand jetzt ebenfalls auf. «Ja, da kannst du wieder auspacken! 1,5 zum Quadrat ist leider nur 2,25. Jeder von deinen beiden Schnürsenkeln ist intelligenter!»

«Also, bevor du dich über Liam lustig machst, würde ich lieber mal zuschauen, dass du selbst diese hohe Hürde schaffst», sagte Roxy und Liam sah dieses gefährliche Funkeln in ihren Augen, das er heute schon einmal bei Rob gesehen hatte. Wenn Kay meinte, dass er mit zwei Jungs als Adjutanten im Vorteil war, dann lag er leider falsch. Roxy war im Kampf mindestens zwei Erics wert. Und wenn ihre Augen so funkelten wie gerade eben, dann würde sie es auch mit zwei Kays aufnehmen.

Kay war puterrot im Gesicht. Er kniff die Augen bedrohlich zusammen und reckte das Kinn nach oben. Die Beleidigung hatte gesessen. Jakob stieß ihm auffordernd in die Seite und zeigte mit einer Kopfbewegung an, dass es für ihn jetzt losgehen konnte. Er hatte die rechte Hand zur Faust geballt und schlug, wie als ob er sich aufwärmen wollte, mit der Faust in die linke Hand. Nur Eric stand daneben und blickte nicht wirklich glücklich drein.

Liam stand langsam auf. Er spürte ein ungutes Kribbeln im Bauch. Dass Kay gerade beim Sportlehrer der Schule Privatstunden im Boxen bekam, wusste jeder in der Schule. Würde Kay es wirklich auf eine Schlägerei ankommen lassen?

Kay war größer als er und breitschultrig dafür, dass er gerade erst dreizehn geworden war, und Liam hatte sich schon lange nicht mehr geprügelt. Das letzte Mal war für ihn nicht gut gelaufen. Kay hatte damals seine Faust in Liams Magengrube versenkt und Liam sich anschließend im Klo in der Schule ausgiebig übergeben.

Aber dann schaute er Rob und Roxy an und sah die Kampfeslust in ihren Augen. Die beiden wollten ihn rächen. Ihn, nur um ihn ging es hier. Und außerdem hatten sie geübt. Heimlich. Abwehrschubsen, Fassen mit Kopfstoß, Unterarme herunterschlagen und Angriff auf die Nase, hunderte von Malen!