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Beschreibung

Für Sie zur Information, liebe Leserin, lieber Leser: Die Lichtungen sind in den sogenannten Sozialen Medien derzeit nicht zu finden. Wir wollen und können ein System, das unmenschlich Reiche noch reicher macht und einzig dazu beiträgt, die Welt ein wenig schlechter zu machen, nicht mehr unterstützen. Trotzdem können Sie: die Lichtungen lesen, abonnieren, auf dem E-Book-Reader herunterladen, unsere Veranstaltungen besuchen oder unseren Newsletter bestellen. Möglich ist das alles auf unserer Website (auf der Sie sich, wie es der Zufall will, gerade befinden). Wir bleiben gerne: gedruckt oder digital ein Ort für laute oder leise Literatur, ein Produkt zum Entschleunigen und Aus-der-Zeit-Fallen, ein Anti-Doomscrolling-Behelf. Wir hoffen, Sie haben an dieser Ausgabe genauso viel Freude wie wir!

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
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Seitenzahl: 178

Veröffentlichungsjahr: 2025

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181

In den Lichtungen finden Sie Gegenwartsliteratur aus dem deutschsprachigen Raum und internationale Literatur in Übersetzung als Erstveröffentlichung.

Jede Ausgabe wird durch einen von der Akademie Graz kuratierten, zeitgenössischen Kunstteil ergänzt. Eine Kolumne von Clemens J. Setz zu „Poesie an unvermuteten Stellen“ ist eines unserer Highlights. Essays und Kolumnen runden jede Ausgabe ab. Die Lichtungen erscheinen viermal im Jahr als Printmedium und seit der Ausgabe 176 auch als E-Book (kompatibel mit allen handelsüblichen Geräten).

Bestellmöglichkeiten und unsere Termine finden Sie auf unserer Website:www.lichtungen.at

Editorial

Für Sie zur Information, liebe Leserin, lieber Leser: Die Lichtungen sind in den sogenannten Sozialen Medien derzeit nicht zu finden.

Wir wollen und können ein System, das unmenschlich Reiche noch reicher macht und einzig dazu beiträgt, die Welt ein wenig schlechter zu machen, nicht mehr unterstützen.

Trotzdem können Sie: die Lichtungen lesen, abonnieren, auf dem E-Book-Reader herunterladen, unsere Veranstaltungen besuchen oder unseren Newsletter bestellen.

Möglich ist das alles auf unserer Website www.lichtungen.at.

Wir bleiben gerne: gedruckt oder digital ein Ort für laute oder leise Literatur, ein Produkt zum Entschleunigen und Aus-der-Zeit-Fallen, ein Anti-Doomscrolling-Behelf.

Wir hoffen, Sie haben an dieser Ausgabe genauso viel Freude wie wir!

Andrea Stift-Laube

POESIE AN UNVERMUTETEN STELLEN

Clemens J. Setz

Folge 22: Pallo, der erste Astronaut

LITERATUR

Jérôme Ferrari

Die Nacht des Zweifels

Aus dem Französischen von Helmut Moysich

Sigune Schnabel

Russenkind

Michael Hillen

Gedichte

Norbert Maria Kröll

Manchmal passt in einen Atemzug die ganze Welt

Soňa Uriková

Der schönste Ort auf der ganzen weiten Welt

Aus dem Slowakischen von Stefanie Bose

Evelyn Bubich

Miniaturen

Laraina Joller

Das Karussell

Mercedes Spannagel

Endless Wellness

ZEITKRITIK / ESSAY

Florian Neuner

Jonas Kaufmanns Gummistiefel oder Singen, bis die Kühe nach Hause kommen

Richard Schuberth

Petar Petrović Njegoš – Der erste Byron’sche Held, der aus der Wildnis kam

ABSPANN

Irene Diwiak

Entspannende Langeweile oder die gemütlichen Massenmörder von Midsomer

KURZBIOGRAFIEN

& Impressum

Poesie an Unvermuteten Stellen – Eine Serie

Clemens J. Setz

Folge 22: Pallo, der erste Astronaut

1

Norman Mailer war empört. Es war im Jahr 1969, kurz nach einer der letzten Pressekonferenzen mit jenen drei Astronauten, die in wenigen Wochen mit der Apollo-11-Rakete zum Mond fliegen würden, und Neil Armstrong, der Mann, der die ersten Schritte auf dem Mondboden machen würde, hatte nicht einen einzigen poetischen Satz von sich gegeben. Es war zum Verrücktwerden. Mailer konnte es nicht fassen: Da bot sich diese einmalige Gelegenheit für die Menschheit und wen wählte man aus? Einen scheuen, wortkargen, sich betont unemotional und technisch gebenden Mann, der im Gespräch mit den anwesenden Journalisten nicht einmal so etwas wie Humor aufbringen wollte. Mailer versuchte alles, um aus den starren Antworten des jungen Astronauten irgendeinen versteckten poetischen Sinn herauszulesen. Vielleicht war Armstrongs Dichtertalent ja lediglich ein verborgenes, das sein Geheimnis durch extremes Understatement ausdrückte. Endlich stellte einer der versammelten Fachjournalisten eine provokante, die Fantasie anregende Frage: „Werden Sie ein Stück Mond für sich selbst behalten?“ Mailer musste sofort an das abgedunkelte Wohnhaus der Armstrongs denken, wo ein Stück Mondgestein „lautlos zu seiner weit entfernten Herrin emporheulte“. Aber Armstrong? Der hörte sich die Frage an und sagte lediglich: „Zum gegenwärtigen Zeitpunkt bestehen keine Pläne …“

Da fragte ein anderer Journalist, ein österreichischer oder deutscher Korrespondent mit starkem Akzent: „Haben Sie in letzter Zeit irgendwelche Träume gehabt?“ Mailer jubelte. Jetzt musste es funktionieren. Eine brillante Frage. Denn Armstrong konnte nun buchstäblich irgendwas sagen, ganz egal was, und es wäre automatisch Poesie.

Armstrong schien sogar zu lächeln.

Aber dann sagte er: „Tja, also, nach zwanzig Stunden im Simulator habe ich vielleicht manchmal von Computern geträumt, sonst eigentlich nichts.“

Es war alles zwecklos. Nicht einmal die von den Journalisten mehrmals angesprochene Möglichkeit des Todes während der Mission beflügelte Armstrong zu irgendeiner Form sprachlicher oder gedanklicher Anmut. Was denn in dem Fall geschehen würde, wenn die Landefähre nicht mehr von der Mondoberfläche abheben konnte, wollte jemand wissen. Darüber denke er ungern nach, lautete Armstrongs schlichte Antwort.

Nein, es war klar: Es würde diesmal kein Dichter zum Mond fliegen.

Allerdings halten einige Neil Armstrongs erste Worte auf dem Mond, das berühmte „It’s one small step for a man, one giant leap for mankind“, für einen ganz passablen Versuch eines poetischen Ausdrucks. Aber dummerweise versprach er sich und sagte: „It’s one small step for Man, one giant leap for mankind.“ Also „man“ ohne den unbestimmten Artikel, was im Englischen auch „Menschheit“ bedeutet. Er sagte also, aus Versehen: „Ein kleiner Schritt für die Menschheit, aber ein großer Schritt für die Menschheit.“ Akustikexperten haben die Aufnahme des Spruchs seither mehrmals daraufhin untersucht, ob sich nicht vielleicht doch ein „a“ irgendwo verbirgt. Einige wollen es in den Tiefen des statischen Rauschens gehört haben. Aber ich glaube, der Mann war einfach nervös und verhaspelte sich. (Was freilich wiederum eine gewisse Art von Poesie erzeugt. Mich persönlich regt ein enigmatischer Satz wie „Ein kleiner Schritt für die Menschheit, aber ein großer Schritt für die Menschheit“ viel mehr zum Denken an als die ursprünglich intendierte Formulierung.)

2

Wenige Tage nach der Challenger-Katastrophe am 28. Januar 1986 wurde der weltraumbegeisterte Dichter James Dickey von dem Journalisten Don Swaim am Telefon interviewt. Dickey wiederholte dabei noch einmal mit Nachdruck den in seiner langen Karriere häufig geäußerten Wunsch, ins Weltall zu fliegen. Die Explosion des Space Shuttles, die Bilder der grauenvollen, in Form eines Kirschblütenzweigs quer durch den Himmel ragenden Rauchspur schreckten ihn nicht im Mindesten ab, denn es sei schlicht und einfach die Pflicht eines Menschen, ja vor allem die Pflicht eines Dichters, in den Weltraum und, falls möglich, auch auf den Mond zu fliegen. Das habe er begriffen, als er einmal aus dem Fenster eines Passagierflugzeugs den Ausbruch des Mount St. Helens gesehen habe. Der Pilot habe die Fluggäste in einer Durchsage darauf hingewiesen, dass man hier etwas sehen könne, was man normalerweise nicht sehe. Und nur darauf komme es in der Lyrik an. Er habe schon vor längerer Zeit einen offiziellen Antrag gestellt, um, ähnlich wie die nun bedauerlicherweise im Space Shuttle verglühte Lehrerin Christa McAuliffe, als Zivilist mitfliegen zu dürfen. Er sei weiterhin dazu bereit, auch wenn er, sein fortgeschrittenes Alter bedenkend, einen tatsächlichen Flug inzwischen für nicht sehr wahrscheinlich halte.

Dickey schrieb im Leben mehrere begeisterte Gedichte über die Apollo-11-Mission. Eines davon, aus der Sicht eines Astronauten auf dem Mond, wurde sogar kurz vor der Mission im LIFE Magazine abgedruckt, zusammen mit einem Porträt von Armstrong, Aldrin und Collins. Dieses Gedicht („The Moon Ground“) ist, ganz unter uns, ziemlich mittelmäßig, aber das macht ja nichts. Man hätte James Dickey durchaus erlauben sollen, in den Weltraum zu fliegen. Leider kam es dazu nicht mehr. Noch in sehr hohem Alter meldete sich Dickey, einigen Berichten zufolge, am Telefon gern mit „Apollo“, dem Namen der Mondmission (und natürlich zugleich dem Namen des griechischen Gottes der Dichtung).

3

Werner Herzog, neben seiner Haupttätigkeit als Filmemacher auch ein außerordentlich begabter Verfasser poetischer Prosa (vor allem in seiner magischen Reiseerzählung Vom Gehen im Eis und dem fiebertraumhaften Drehbericht Die Eroberung des Nutzlosen), äußerte noch bis in die Achtzigerjahre hinein seinen Wunsch, auf den Mond zu fliegen. In einem Gespräch mit Alexander Kluge beklagte er: „Warum schicken die immer nur so farblose Kretins hinauf?“ Er selber wolle gerne auf dem Mond filmen, und es sei überhaupt notwendig, Dichter in den Weltraum zu schicken, sonst werde das Ganze nie etwas.

4

All diese Männer kamen um Jahrzehnte zu spät mit ihrer Beschwerde. Denn vor ziemlich genau hundert Jahren existierte bereits die Antwort auf ihre Klage, mitten in Europa. Deutschland war gerade von einer verheerenden Wirtschaftskrise erschüttert worden. Und wie reagierte es? Es begann das Weltraumzeitalter. Schon 1923 war das erste Grundlagenwerk zur Raketentechnik erschienen, Hermann Oberths Die Rakete zu den Planetenräumen. Danach dauerte es bloß sieben weitere Jahre bis zur Gründung des ersten Raketenflugplatzes in Berlin-Reinickendorf durch den Unternehmer Rudolf Nebel. An vielen anderen Orten arbeiteten deutsche Köpfe fieberhaft an der Frage, wie man unseren Planeten am schnellsten verlassen könnte. Nebel war technischer Assistent Oberths gewesen und hatte am Weltkrieg teilgenommen, als „Kriegspilot mit elf Abschüssen“, wie er es in seinem Bewerbungsschreiben formuliert hatte. Seiner Überzeugungskraft verdankt sich, zumindest zum Teil, dass der erste bemannte Raketenflug der Geschichte in derart beeindruckender Schnelligkeit geplant und ausgearbeitet wurde. Auch die Stadt, von der aus die Menschheit ihre Hand nach dem uns umgebenden Vakuum ausstrecken würde, war bald gefunden: Magdeburg. Die „Magdeburger Pilotenrakete“ beschäftigte die Leserschaft der Zeitungen. Man hatte wieder ein gemeinsames Ziel, man dachte wieder vertikal.1

1929 kam der Ufa-Film Die Frau im Mond in die Kinos und lieferte erste konkrete Fantasiebilder, mit denen die weltraumhungrig gewordene Bevölkerung im Kopf hantieren konnte. Oberth baute eigens für den Film eine Reklamerakete.

Auch in politischer Hinsicht kamen Raketen Deutschland in dieser Zeit sehr gelegen, denn im Versailler Vertrag wurde ihre Erzeugung nicht explizit untersagt. 1919 hatten Raketen noch nicht existiert. Man konnte sie nun also nach Herzenslust entwickeln und testen. 50.000 RM jährlich flossen in die Raketenforschung. Alle durften mitmachen, selbst blutjunge, unerfahrene Burschen wie der achtzehnjährige Wernher von Braun. In Frank-E. Rietz’ Monografie über die Magdeburger Pilotenrakete lesen wir: „Eine Anekdote aus dem Jahre 1930 [...]: Gegenüber Oberth erwähnten die jungen Mitglieder der Gruppe, Wernher von Braun und Klaus Riedel, dass sie zwar enthusiastisch an die Zukunft der Raumrakete glaubten, jedoch über keinerlei Erfahrung verfügten. Der Raketenprofessor zerstreute ihre Bedenken mit der Bemerkung, dass er selbst keine Erfahrung habe, und er bezweifle sogar, dass überhaupt jemand diese besäße.“ Als eine der Raketen aus Versehen auf dem Dach der Polizeikaserne Berlin landete, erschien der Polizeipräsident persönlich auf dem Testgelände und untersagte jeden weitere Raketenflug. Aber Rudolf Nebel lud ihn ein, sich einen solchen einmal anzusehen. Der Polizeipräsident tat es – und war von dem Anblick so tief im Herzen getroffen, dass er weitere Testflüge von Raketen erlaubte, mochten sie bruchlanden, wo sie wollten.

Die bemannte Rakete lockte auch Exzentriker an, die in ihr ihre Träume verwirklicht sahen. So etwa den Unternehmer Franz Mengering, der in der „weltweit ersten Vertikalreise“ eine perfekte Gelegenheit sah, die von ihm geglaubte Hohlwelttheorie zu beweisen, welche besagt, die Menschheit wohne nicht auf, sondern in einer Kugel. Wenn man mit einer Rakete also nach oben fliege und immer schnurgerade weiter, komme man logischerweise irgendwann (wenn man nicht mit der im Zentrum des invertierten Universums sitzenden Sonne kollidiere) wieder auf die Erde.2 Quod erat demonstrandum. Mengering wusste auch schon, von wo aus die Rakete ihren Hohlweltbeweisflug antreten würde: Magdeburg. Man setzte sich zusammen, diskutierte. Die Gruppe um Nebel konnte mit der Hohlwelttheorie nichts anfangen, wohl aber mit dem Geld, das Mengering bereit war, in das Projekt zu stecken.

Und so wurde die Entscheidung verlautbart. Die Presse kündigte den ersten bemannten Raumflug an. Kurz darauf, im Dezember 1932, erreichte ein Brief die Magdeburger Stadtverwaltung:

An die Stadtverwaltung der Stadt Magdeburg in Deutschland!

Da ich die Adresse des Ingenieurs Herrn Nebel nicht besitze, wende ich mich an die Magdeburger Stadtverwaltung und bitte Folgendes Herrn Nebel mitzuteilen.

Da ich in einer estnischen Zeitung von Ihrer Stratosphärenrakete gelesen habe, die im Bau sein soll, melde ich mich zur Fahrt, wenn Sie mir einen Vorschlag machen und die Bedingungen mir zusagen. Ich bin 25 Jahre alt, von Beruf Dichter. Über meine Kaltblütigkeit können Sie Näheres von der größten hiesigen Zeitung „Päevaleht“erfahren.

Unterzeichnet ist der Brief mit „Vater [sic] Pallo“ und in einem PS wird erklärt:

Da Herr Pallo selbst kein Deutsch spricht, hat er mich, seine Frau, seinen Brief übersetzen lassen. Ich, freilich, wäre mit seiner Fahrt nicht einverstanden.

Halten wir das fest: Der erste Mensch, der sich freiwillig meldete, um mit einer Rakete in die Stratosphäre geschossen zu werden, war also von Beruf Dichter. Take this, Norman Mailer. Ein Mann ganz nach dem Geschmack von Werner Herzog und James Dickey. Valter Pallo wollte mit der Rakete hinauf zu den Planetenräumen und von dort mit dem Fallschirm wieder zur Erde zurückspringen. Ich wusste natürlich, was ich zu tun hatte. Ich musste seine Gedichte finden und lesen.

Dummerweise kann ich, bis auf ein paar aus meinen Lieblings-Arvo-Pärt-Clips auf Youtube gelernten Brocken, kein Wort Estnisch. Ich fragte also den renommierten estnischen Übersetzer Cornelius Hasselblatt, ob er vielleicht etwas über diesen tollkühnen Dichter wisse. An einem verregneten Tag trafen wir uns schließlich in Wien in einem kleinen Hotel direkt neben der Strudlhofstiege. Herr Hasselblatt brachte mir einige kopierte Zettel mit. Es waren die Seiten des einzigen zu seinen Lebzeiten publizierten Gedichtbands von Valter Pallo! Der Titel lautet einfach Luuletused, also „Gedichte“. Herr Hasselblatt übersetzte mir eines:

Deine Stimme

Wie zart ist deiner Stimme Ton, Der immer noch mein Ohr bewohnt! Mit ihrem sanften, schönen Klang Schlugst du mich so in deinen Bann, Dass deine Stimme und dein Wort Als einz’ges blühn an meinem Ort.

Das Schweben deiner Stimme lässt Nie und nimmer dich vergessen. Wie eine Kirchenglocke hell Hoch oben in dem Turmgestell Ruft sie herbei mich zum Gebet, Als Pilger, der zum Tempel geht.

Außerdem hatte er einen Artikel in der von Pallo in seinem Brief an die Magdeburger Stadtverwaltung erwähnten Zeitung entdeckt, vom 4. 9. 1931:

Der Mann, der von der Spitze des Krans in Kopli springen will

Zeitpunkt für die Durchführung des Sprungs am Sonntag um 11 Uhr vormittags – Herausforderung anderer Wasserspringer

Donnerstagmittag erschien in der Redaktion des „Päewaleht“ ein Mann und teilte mit, dass er am Sonntag einen Sprung von der Spitze des höchsten Krans in Kopli ins Meer ausführen wird.

Man versuchte dem Mann klarzumachen, dass ein derartiger Sprung lebensgefährlich sei, er könne bei der Durchführung eines derartigen noch nie da gewesenen Sprungs lebensgefährliche Verletzungen davontragen und sein Leben lang invalide bleiben, aber all das blieb ohne Wirkung, was das tollkühne Vorhaben des Mannes betrifft.

Der Mann, der am Sonntag den Kransprung absolvieren will, ist der 24-jährige Walter Pallo, ein Mann von kräftigem Körperbau und Entschlossenheit. Derzeit arbeitet Pallo als Zimmermann auf dem Turm der Olewistekirche.

Wir fragten, ob P. schon früher hohe Wassersprünge absolviert habe und er also auf eine Erfahrung mit solch extrem hohen Sprüngen zurückgreifen könne. Pallo antwortete, dass er bislang zwar höchstens von zehn Metern gesprungen ist, aber das würde seine derzeitige Absicht nicht ändern. Er ist sicher, dass er auch diesmal mit heiler Haut davonkommt, obwohl die Höhe des Krans in Kopli nicht zehn, sondern ungefähr fünfzig Meter beträgt.

– Haben Sie früher schon einmal eine so tollkühne Sache zustande gebracht, fragten wir noch.

– 1928 teilte ich dem Generalstab mit, dass ich den Weltrekord im Fallschirmspringen brechen will. Dazu hätte ich einen Fallschirmsprung aus 10.000 Meter Höhe absolvieren müssen. Ich erbat mir, für die Durchführung eines solchen Sprungs vom Generalstab ein Flugzeug zur Verfügung gestellt zu bekommen. Schließlich erhielt ich die Antwort, dass es nicht möglich sei, ein Flugzeug zu bekommen, weil das mit großen Unkosten verbunden sei.

Den Kransprung vollziehe ich am Sonntagvormittag um 11 Uhr. Zum Sprung lade ich auch A. Laas und Sportler von Kalew ein. Es ist nicht nötig, dass Laas erst springt, das tue ich selbst. Eine Antwort von Laas will ich bis Samstag haben, oder er möge direkt vor Ort erscheinen. Weiter will ich sehen, wo diejenigen sind, die für einen Kransprung eine Million versprechen. Ich bin bereit, diesen Sprung zu tun und für einen Film oder einen anderen Zweck auch für eine viel niedrigere Entlohnung zu wiederholen.

Mit dem Versprechen, auf eine Antwort zu warten, verließ der Mann die Redaktion.

Auf dem Umschlagblatt des Gedichtbändchens steht 1932, also wurde es kurz darauf publiziert. Vermutlich sind die Gedichte auch um die Zeit seines tollkühnen Sprungversuchs entstanden. Also war er, als er gerade die romantisch-gefühlsreichen Zeilen über die Stimme seiner Angebeteten verfasste, schon der Valter Pallo, der in den Weltraum geschossen werden wollte.

Der Name seiner Frau lautete Ottilie Elvine Eudoxia Lukk. Sie war Baltisch-Deutsche und von Beruf Übersetzerin, vor allem von russischer Literatur ins Estnische. Aus der Ankündigung einer Veranstaltung im Revaler Boten erfahren wir, dass sie selbst ebenfalls Dichterin war.

Sonntag den 22. April 1923 Lieder-, Arien- und Poesie-Abend von Ottilie Luck unter Mitwirkung von Theodor Lemba. Im Programm: F. Schubert, R. Schumann, A. Dargomyshski, P. Tschaikowski, N. Rimski-Korssakow, A. Arenski, S. Rachmaninow, J. Sibelius, A. Kopp, M. Lüdig, A. Lemba und Gedichte von OTTILIE LUCK. Am Klavier: S. J. Mamontow. Anfang 7*8 Uhr abends. Preise der Billette v. 50–250 Mk., Schüler 55 Mk.

Die beiden hatten 1932 geheiratet und waren Eltern einer kleinen Tochter geworden. Pallo war also fünfundzwanzig, als er zum ersten Mal Vater wurde, seinen ersten Gedichtband veröffentlichte – und aus großer Höhe möglichst spektakulär zurück auf die Erde zu springen versuchte. Zweifellos ein ereignisreiches Jahr. Bis zu seinem 21. Lebensjahr hatte er noch in verschiedenen Getreidemühlen gearbeitet. Ottilie Lukk war die Tochter des wohlhabenden Eigentümers des Tallinner Konservatoriums. Nachdem ihm der Ruhm durch Weltraumflüge und Sprünge von Baukränen verwehrt worden war, setzte Pallo sein Studium am Gymnasium und an der Tallinn Electrical Technical School fort und schrieb für mehrere Zeitungen.

Ein anderes von Valter Pallos Gedichten aus dieser Zeit geht so:

Im Sturm

Höre,

Warte,

Halt ein!

Beruhig dich, mein Herz!

– Was ist? –

Ein Sturm ist ausgebrochen!

– Wo? –

Im Herzen.

Herz,

Lausche dem Pochen des Herzens!

Höre

Den pochenden Glucksern zu!

Herz,

Hör zu!

Höre mein Gebet!

Dich bitte ich.

Herz, öffne dich

Wenigstens für einen Moment!

Dich bittet doch

Ein Herz.

Öffne dich

Dem Herzen!

Der Päevaleht berichtet im September 1931 von Pallos Ersteigung des Turms der Olaikirche in Tallinn. Er stellte sich ganz oben auf dem Kreuz des Kirchturms auf und platzierte dort eine estnische Flagge. Auf den abgedruckten Fotos sieht man, wie er sie befestigt. – Dann, einen Monat später, wird sein Name wieder genannt. Diesmal versucht ein gewisser V. Pallo, einen Rekordsprung mit einem neu entwickelten Fallschirm zu absolvieren. Pallo, der bekannte Flaggenheld von der Olaikirche, sei bereit für einen Sprung aus einer Höhe bis zu 10.000 Metern.

Pallo wurde nämlich von den Turmumbauern entlassen, nachdem er auf eigene Initiative die estnische Flagge auf die Turmspitze gebracht hatte.

Der Mann blieb ohne Einkünfte. Später erschienen vier Männer in seiner Wohnung und verlangten die Flagge zurück, die Pallo vom Hausmeister der Olaikirche bekommen hatte. Pallo erwiderte, er habe die Flagge dem Bund der Freiheitskämpfer geschenkt, weil es eine Nationalflagge war, die auf dem höchsten Gebäude Estlands geweht hatte. Um eine Arbeit zu finden, nahm Pallo Verhandlungen mit „Urania Film“ auf, indem er versprach, für einen Film aus Rekordhöhe zu springen. Das Problem ist nur, dass wir kein einziges Flugzeug mit Sonderausrüstung haben, das auf zehn Kilometer Höhe steigen könnte. Die maximale Aufstiegskraft unserer Flugzeuge beträgt bis zu 6000 Metern. Möglicherweise wird Pallos Tollkühnheit doch für Filmaufnahmen genutzt, wenn auch von einer geringeren Höhe aus.

Im Juni 1932 dann nur mehr eine knappe Erwähnung seines Namens, in einem Artikel über eine von zehntausend Menschen besuchte Flugschau. Der mit der illegalen Befestigung der estnischen Nationalflagge bekannt gewordene Valter Pallo habe vergeblich versucht, eine Fallschirmsprungerlaubnis zu bekommen.

Unermüdlich bemühte sich der erste Astronaut der Geschichte darum, sein eigentliches, sein eigenes Gedicht zu schreiben. Er war Dichter, das wusste er, auch wenn seine dem strengen Wortsinn nach identifizierbaren „Gedichte“ heute lediglich wie gefühliges Pathos klingen. Er dichtete anders: vertikal.

5

Die meisten großen Dichter schreiben bekanntlich gar keine Gedichte im engeren Sinn, sondern durch im Alltag bewusst gesetzte Handlungen. H. C. Artmann nannte das den „poetischen Act“. Die Acht-Punkte-Proklamation des poetischen Actes aus dem Jahr 1953 beginnt mit der simplen und einleuchtenden Feststellung: „Es gibt einen Satz, der unangreifbar ist, nämlich der, dass man Dichter sein kann, ohne auch irgendjemals ein Wort geschrieben oder gesprochen zu haben.“ Besonders relevant für die Einordnung Valter Pallos als Dichter in diesem Sinn ist Punkt 6 der Deklaration: „Zu den verehrenswürdigsten Meistern des poetischen Actes zählen wir in erster Linie den satanistisch-elegischen C. D. Nero und vor allem unseren Herrn, den philosophischmenschlichen Don Quijote.“

Jawohl, niemand wird den starken Einfluss des heiligen Don Quijote auf Valter Pallos Verhalten leugnen können. Mit einigem Glück hätte er seine edlen und absurden Versuche, in den Himmel zu klettern, vielleicht sogar mit sprachlicher Poesie verbinden können, so wie es auch Neil Armstrong hätte tun können, hätte er sich nur ein klein wenig mehr Mühe gegeben, god dammit.

6

Aber dann kam, so wie für die meisten Menschen irgendwann, der Krieg. Unser armer Freund Valter Pallo, der erste Astronaut der Geschichte, meldete sich freiwillig zur Arbeit im deutschen Militärkrankenhaus Nr. 161 in Tartu, weil er während seines Dienstes beim estnischen Militär bereits medizinisch ausgebildet worden war. Das Lazarett wurde 1944 nach Berlin evakuiert, wo Pallo an der Berliner Militärmedizinischen Akademie eine ärztliche Prüfung ablegte und weiterhin als Arzt und Assistent im Rang eines Leutnants im Militärdienst dienen durfte. Auch nach der Kapitulation Deutschlands arbeitete er weiter im Lazarett und geriet schließlich in russische Kriegsgefangenschaft. Zwei Monate war er in einem Lager bei Bernau interniert, dann weitere drei Monate in Biesenthal. Im Kriegsgefangenenlager in Leuenburg erkrankte er an Typhus, die Genesung zog sich bis Herbst 1945. Man schickte ihn weiter nach Wrocław, von dort gelangte er zurück in sein Heimatland. Im Juni 1946 wurde er in Riga offiziell seines Dienstes enthoben.

Er kam nach Tartu und begann als einfacher Müllergehilfe in der Kiidjärve-Mühle zu arbeiten. Aber er durfte nicht zu lange am selben Ort bleiben, da er jederzeit von sowjetischen Sicherheitskräften als deutscher Kollaborateur verhaftet werden konnte. In den Jahren 1947 bis 1949 versteckte er sich zwischen Tsooru und Viitina im Kreis Võru, zog von einem Bauernhof zum nächsten, behandelte die Einheimischen und besonders die antideutschen sowie antisowjetischen, „Waldbrüder“ genannten Partisanen und erhielt dafür Essen und Unterkunft.