Lidice - Stephan D. Yada-Mc Neal - E-Book

Lidice E-Book

Stephan D. Yada-Mc Neal

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Beschreibung

Reinhard Heydrich, der Schlächter von Prag wird zum Ziel eines Attentates, das für die Menschen in und um Prag zu einem schicksalhaften Ereignis wird. Lidice, ein kleiner Ort in der Nähe von Kladno wird im Zuge der Vergeltungsaktion Ziel einer beispiellosen Aktion, bei der alle Männer der Ortes erschossen wurden, die Frauen ins Konzentrationslager Ravensbrück verbracht wurden und von 105 Kindern, wurden 88 in Chelmo durch Gas getötet. Hauptmann von Balzer, deutscher Offizier und Verwalter eines Gutshofes, der neben Lidice liegt, wird in die Ereignisse durch das Verhältnis mit MIrek, einem jungen Bewohner von Lidice, hineingezogen, so wie auch andere Tschechen und Deutsche. Obwohl Ritterkreuzträger, ist von Balzer nicht ein Freund des Nazi-Regimes und versucht auf seine Weise, das Leben, sowohl seiner Landarbeiter, als auch der Bewohner von Lidice in friedlicher Weise zu gestalten. Doch mit dem Attentat und seinen Folgen überschlagen sich die Ereignisse. Die Attentäter verstecken sich in einer Kirche, der Exil-Präsident Benes hadert mit sich und seinem Gewissen, Männer des SD und der SS fühlen sich als Herren des besetzten Landes und verbreiten Angst und Schrecken. Männer des Widerstandes arbeiten unerkannt auf dem Gutshof und die Liebe des Hauptmannes und seines Untergebenen werden auf eine harte Probe gestellt.

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Umschlagsentwurf: Steve Shaw©

Gewidmet den Opfern und Überlebenden von

Lidice – 10. Juni 1942

Distomo – 10. Juni 1944

Oradour – 10. Juni 1944

sowie

Emelie Frejova und Vaclav Hanf

ohne deren Erzählungen dieses Buch nit entstanden wäre

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

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Kapitel

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Kapitel

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Kapitel

Kapitel

Prolog

Der alte Mann ging langsam seinen Weg, über die weißen Granitplatten, hinter sich, hoch aufragend, jenes Denkmal, dass in seinen Augen noch lange nicht dem entsprach, für was es eigentlich gedacht war.

Langsam, schlurfend, in seinen tiefen Gedanken verloren, suchten seine Füße den Weg, vorbei an dem leeren Wasserbecken, hin zu dem Abgang. Aber erst verweilte er noch einige Momente auf der Terrasse, lies seinen Blick schweifen, blickte noch rasch zu seinem Enkel, der neben ihm ging, ebenso schweigsam, auf das ihm vollkommen Unbekannte sah.

Und sein Enkel, er hatte den Blick seines Großvaters bemerkt, war mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt und dem schweigsamen Verhalten des alten Mannes neben ihm. Seit sie von dem Hotel in Prag losgefahren waren, hatte der Großvater kein Wort mehr gesprochen. Starr aus dem Autofenster sehend, von Zeit zu Zeit lediglich einen leichten Seufzer von sich gebend, nicht darauf achtend, was der Fahrer in seinen unablässigen Redefluss von sich gegeben hatte, saß er einfach nur da, die faltigen Hände in den Schoss gelegt, gefaltet wie zu einem innigen Gebet; eine Haltung, die der junge Mann noch nie zuvor so an ihm gesehen hatte.

Und im Inneren des alten Mannes brodelte es, Erinnerungen stiegen empor, ergriffen von ihm langsam Besitz. Wieder setzte er sich in Bewegung, nicht darauf achtend ob sein Enkel ihm folgte, so stieg er langsam die nach unten führenden Treppen hinunter.

Er kannte dies alles und doch war es so anders, so unbeschreiblich, für ihn nicht in Worte zu fassen, so sehr er auch darum bemüht gewesen wäre. Hier spürte er mit einem Schlag seine einundachtzig Jahre, sein langes Leben, mit all seinen Freuden, aber noch mehr mit all dem tiefen Leid, das ihm begegnet war.

Der lang gezogene, asphaltierte Weg schien unendlich zu werden, ohne ein Ende, obgleich das angestrebte, jenes schon vom weiten sichtbare Holzkreuz, sein Ziel war. Jeder Schritt ließ ihn noch mehr altern, wurde schwerer, zur Qual, zehrte an seinen Kräften und eine innere Stimme wollte ihn zur Umkehr bewegen.

Gerne hätte er jetzt nach der Hand, oder dem Arm seines Enkels gegriffen, um wenigstens dort etwas Halt zu finden, doch dafür war er einfach zu stolz. Diesen Weg wollte, nein, er musste ihn ganz alleine, ohne die Hilfe eines anderen Menschen gehen, auch wenn es ihm sehr schwer fiel.

Wie aus einer weiten Ferne, nicht wirklich real, nicht hierher gehörend, drang das störende Geräusch eines motorbetriebenen Rasenmähers an sein Ohr. Einsam, stur, nicht um sich blickend, nur der Maschine folgend, lief ein junger Mann über die weite Fläche, die fast alles bedeckte, mit ihrem saftigen, jungen Grün. Ohne wirkliches Interesse beobachtete der alte Mann das Ganze, folgte mit seinem Blick den Bewegungen, vielleicht auch nur, um einfach eine Rast einlegen zu können, die er so dringend benötigte.

Gefangen in seinen schmerzlichen Gedanken, setzte er sich auf die Reste eines niedergerissenen Hauses, wohl wissend wem dieses Anwesen einst gehörte. Tastend, suchend fuhren seine Hände über das offen liegende, rissige Mauerwerk, leise darauf hoffend, dass es zu ihm sprach.

Doch auch hier nur dieses Schweigen. Raue Oberfläche, feiner, von der Verwitterung hervorgerufener Staub überdeckte das Mauerwerk, ohne dass der alte Mann etwas empfangen konnte. Und was konnten diese Reste eines einstmals schönen Gebäudes schon erzählen; nicht mehr, aber auch nicht weniger, als er schon wusste und in all den langen Jahren mit sich herum trug, als das große Geheimnis seines Lebens.

Zum ersten Mal hatte er nun auch das Gefühl, als er sich langsam wieder erhob, den mitgeführten Stock, eigentlich bislang nur als eine Zierte seines Alters, wirklich zu benötigen. Und die Sonne, die schon hoch am Himmel stand, jetzt an diesem vierzehnten Juni, sie brannte unerbittlich auf ihn hernieder, gerade so, als wollte sie zusätzlich die letzten verbliebenen Reserven aus dem alten Körper ziehen.

Fuß vor Fuß setzend, Schritt um Schritt sich quälend, eingebettet in einer schauderhaften Leere, den Blick wieder starr, auf das nicht näher kommen wollende Holzkreuz gerichtet, setzte er seinen Weg fort. Wie gerne hätte er jetzt aber auch mit seinem Enkel gesprochen, ihm alles erzählt von dem was er eigentlich über diesen scheinbar friedlichen Ort hätte hinaus schreien wollen. Jedoch, seine Lippen blieben stumm, nur ein feiner rötlicher Strich in seinem alten, faltigen Gesicht, aus dem jenes, sonst so fröhlicher Ausdruck verschwunden war.

Ohne sich dessen bewusst zu werden, lenkten seine Schritte den Körper nach rechts, durch den frisch gemähten Rasen mit seinem unverkennbaren Duft, hin zu einer großen Statuengruppe, die dort mitten auf der Wiese stand. Kindergesichter starrten in die Leere und doch, ein jedes mit einem besonderen Ausdruck, in das sanfte Tal blickend.

Immer noch in seinem Schweigen verharrend, streckte der alte Mann seinen linken Arm und berührte sanft, fast schon liebevoll, zärtlich einige dieser Figuren, streichelte über die fein gearbeiteten Gesichter und plötzlich war es da, dieses Gefühl, das er gesucht hatte, brauchte, um seinen Weg fortsetzen zu können.

Obwohl es eigentlich vollkommener Unsinn, irrational war, doch in den Gesichtern dieser Bronzefiguren konnte er Kinder erkennen, wie sie vor seinem inneren Auge Gestalt annahmen, durch die Gassen, über die Wege des Ortes liefen, spielten, ihren Unfug trieben, von noch nicht sichtbar gewordenen Erwachsenen, zurecht gewiesen wurden, oder ihren morgendlichen Weg zur Schule gingen.

Der kleine Pavel tauchte auf. Jener verschmitzt dreinschauende Junge, der nie ohne aufgeschlagenen Knien anzutreffen war. Miroslav, obwohl klein von Statur, rennen konnte wie kein Anderer, Hacken schlug, wenn wieder einmal die Größeren ihn fangen wollten. Die kleine Suzanna, die nie ohne ihre reichlich ramponierte Puppe anzutreffen war, jene Puppe mit den aus Pferdehaaren geflochtenen, struppigen Haaren, die fast schon das Ebenbild des Mädchen darstellen konnte. All diese unterschiedlichen Gesichter zogen an ihm vorbei, schreiend, lachend, weinend, oder, das unablässige Reden von Honsa, mit der dicken Hornbrille, drang an das Ohr des alten Mannes.

Sanft und mit Widerwillen lösten sich seine Fingerspitzen von dem Haupt des ganz vorne stehenden bronzenen Kindes, das seinen Blick traurig auf die, das Standbild umfassenden, Blumen richtete. Auch er, der alte Mann, blickte an die vermeintliche Stelle, während er sich umdrehte. Weniger um dort etwas zu suchen, als vielmehr, dem fragenden Blick seines Enkels auszuweichen, dessen Verwirrung immer mehr zu nahm. Je länger er seinen Großvater beobachtete.

Nun waren seine Schritte leichter geworden, sogar der Versuch, nicht mehr so gebeugt, so Alt zu gehen, war dem Mann anzusehen, als er über die stark duftende Fläche, zurück zum asphaltierten Weg ging. Jetzt endlich waren sie wieder bei ihm, all die Gesichter, die er längst, für immer verloren glaubte.

Häuser mit ihren verschiedenen Umfassungsmauern, hinter denen sich die Schuppen und Remisen ebenso duckten, wie manch anderes, hinter denen die Hühner pickend ihren Weg über den Hof zogen, die kleinen, verspielten Katzen, mit ihren Tollereien das Herz erfreuten, die großen, fetten, weißen Gänse schnatternd und die einzelne Kuh im Stall sich mit ihrem Gemuhe, bemerkbar machte. All das war wieder da. Schemenhaft zuerst, dann, aber nur für ihn, immer deutlicher werdend, säumten wieder Häuser den Weg. Verschwunden war der Asphalt, gewichen dem sandigen, von Fuhrwerken hinterlassenen Furchen übersäten Dorfstraße

Der kleine Trafikladen erschien und wie selbstverständlich davor die beiden Frauen, Šroubek und Podgemsky, bei ihrem täglichen Gespräch. Um sie herum, rannten die Enkel der Studnićkos im wildem Spiel, änderten ihre Richtung hinauf zu der Kirche, verschwanden hinter der hohen Mauer, rasch durch das stets offene Tor des Kirchgartens, bis sie die raue Stimme von dem alten Kovàrovsky, dem Totengräber, wieder vertrieb.

Obwohl weit voneinander gelegen, so hatte der alte Mann doch das untrügerische Gefühl, aus jedem der drei Wirtshäusern, Stimmen, Lachen und Streiten zu hören. Irgendwo schien Vojtech Husiak mit seiner Bergmannskapelle zu üben und vor einem der beiden Metzgereien stand der stark beleibte Besitzer, dessen Namen ihm nicht mehr einfallen wollte. Aus Kogels Gasthaus traten zwei, sich gegenseitig haltende Gestalten, wankten ihren Weg, vorbei an Frau Houboras Metzgerei, die ihre Hände an ihrer Schürze abwischend, dem ganzen Treiben, kopfschüttelnd zuschaute.

Real für ihn und doch nur Schemen, Eindrücke, Geheimes, das immer blasser wurde, je näher er dem aufgestellten Kreuz kam. Die Realität umfing ihn wieder, doch auch die längst verloren geglaubten Erinnerungen, blieben vorhanden, wichen nicht mehr, begleiteten ihn, nahmen den Druck von deinem Herzen, machten den ohnehin schon schweren Weg endlich um ein Vielfaches leichter.

Sanft, in einen abschüssigen Hang eingebettet, von einer hohen Hecke umgeben, ragte nun das Kreuz vor dem alten Mann auf. Unter seinen Füßen knirschte der Schotter, der den Weg bedeckte. Schlicht, ohne großem Pomp, einfach und doch so feinfühlig, war das Grab gestaltet, wie es hätte besser nicht sein können.

Ganz zum Entsetzen seines Enkels ließ sich der alte Mann auf seine Knie nieder, nicht darauf achtend, das die kleinen Steinchen, schmerzhaft, gegen die alten Kniescheiben drückten. Er musste dies tun und nichts und niemand, hätte ihn von dieser Handlung abbringen können. Nicht einmal die Sonne, die ihm nun direkt in die Augen schien, als er seinen Blick zu dem Kreuz erhob, konnte ihm mehr was anhaben.

Mit einer bedächtigen Bewegung, vorher seinen Stock neben sich legend, griff der alte Mann in seine rechte Jackentasche. Langsam wieder hervor ziehend hatte er eine kleine blaue Schachtel in der geöffneten Hand. Merklich zitterten seine Hände, als er den Deckel öffnete, diesen links neben sich legte, ohne den Blick abzuwenden, dann, die weiß leuchtende Watte entfernte, mit der selben bedächtigen Bewegung auf den umgedrehten Deckel legte und mit noch zittrigeren Fingern, eine goldene Kette zum Vorschein brachte. Diese in der linken Hand haltend und mit der Rechten den anderen Teil der Schachtel neben sich legend, bot der alte Mann ein Bild von unendlicher Traurigkeit.

Um sich herum die gesamte Welt vergessend, nahm er nun mit beiden Händen die Kette, küsste mit glasigen Augen, das in dem Sonnenlicht glänzende Kreuz und legte die Kette sanft, liebevoll, auf das Grab.

„Es tut mir unendlich leid, Miro“, kam es mit stockender Stimme aus dem Mund des alten Mannes. „Aber leider konnte ich das Versprechen, das ich dem Hauptmann gegeben habe, erst jetzt erfüllen. Aber wie ich euch beide kenne, habt ihr euch dort oben, “ er erhob seinen Blick zum Himmel, „sicherlich wieder gefunden. Und wenn, was ich doch hoffe, Suzanna bei euch ist, sagt ihr, ich liebe sie noch immer und habe sie nie vergessen. Oh mein Gott. Es ist schwer euch zu sagen, was ich jetzt und hier fühle, denn ich war wie Herr Hauptmann doch wissen, nie sehr gut mit Worten, aber ich wünschte ich hätte viel früher mein gegebenes Versprechen einhalten können. Jetzt, bin ich ein alter Mann, doch habe ich euch meinen Enkel mitgebracht und, ich hoffe ihr habt nichts dagegen, das er eure beiden Vornamen trägt.“

Langsam erhob sich der alte Mann, nachdem er die ausgebreitete Schachtel fein säuberlich zusammensteckte und wieder in seiner rechten Jackentasche verschwinden ließ. Tränen waren in den Augen des alten Gesichtes deutlich zu erkennen und gleichzeitig wirkte er unendlich erleichtert von der Last seines gegebenen Versprechens befreit. Er ließ sich sogar von seinem Enkel helfen, als es ihm reichlich schwer fiel, sich zu erheben. Ein sanftes Lächeln huschte über seine Lippen, als er direkt in die Augen seines Enkels blickte.

„Komm Daniel Miroslav, jetzt ist es wirklich Zeit, dir alles über diesen Ort zu erzählen und warum wir hierher kommen mussten. Mein Versprechen habe ich nun erfüllt.“

Langsam, sich bei seinem Enkel einhängend, verließ der alte Mann das Grab von Lidice.

1. Kapitel

„Bei allem gebührendem Respekt, Herr Hauptmann“, Obergefreiter Stefan Saule ein sonst immer lustiger Vogel und immer zu Späßen aufgelegter Mensch, verzog bei diesen Worten wieder einmal sein Gesicht in seiner unverwechselbaren Art, so dass es Hauptmann Daniel von Balzer wahrlich sehr schwer fiel, nicht in ein Lachen auszubrechen. „Ich will ja nicht meckern, nicht nörgeln, aber muss das mit dem Ausreiten denn schon wieder sein? Wir sind doch erst gestern fast den ganzen Morgen durch die Gegend geritten, habe mir dabei die Äste ins Gesicht schlagen lassen, bin von Mücken zerstochen worden, dass ich heute aussehe wie ein Streuselkuchen und bin dreimal fast zu Tode gekommen, weil mich das Pferd unbedingt abwerfen wollte.“

Daniel von Balzer, Hauptmann der Wehrmacht und Vorgesetzter von Stefan, betrachtete seinen Gegenüber mit einem nicht ganz ernsten Blick. Nein wirklich, dieser junge Mann ist bei Gott kein richtiger Soldat und wird es wahrscheinlich auch nicht mehr, dachte er sich im Geheimen. Schon alleine wie er seine grüne Mütze wieder auf diesem Kopf trägt, würde jeden Spieß, in jeder Armee auf dieser Welt, zur reinsten Weißglut bringen. Und die blonden, lockigen Haare stehen wieder ab, gerade so, als sei er gerade erst aus dem warmen Bett gefallen. Das einzige auf das man sich bei ihm mit Sicherheit verlassen konnte, war die immer saubere eng anliegende Uniform, mit den Bügelfalten in der Hose, an denen man ein Brot hätte durchtrennen können.

„Mir tut jetzt noch der Hintern weh, ganz zu schweigen von den Dingen über die ich hier nicht reden möchte, vom gestrigen Ritt“, wurde der Hauptmann aus seinen Betrachtungen gerissen. „Und ehrlich, ganz unter uns gesagt, das Reiten ist wirklich nicht meine Sache. Sie wissen doch wie sehr ich das Reiten hasse. Mir tun alle Knochen noch weh. Ich bin einfach ein unverbesserlicher Stadtmensch und nicht dazu geboren, auf dem Rücken eines Pferdes zu sitzen. Lieber gehe ich fünfzig Kilometer mit schwerem Marschgepäck, als das hier. Und trotzdem verlangen sie das immer wieder von mir, als ob es ihnen einen richtigen Spaß bereiten würde.“

Übertrieben, wie man es von Stefan Saule gewohnt war, rieb sich der junge Mann mit beiden Händen die hinteren Oberschenkeln, dann das Gesäß und sein zur Schau gelegter Gesichtsausdruck hätte wohl jedes andere Herz erweichte, nur nicht das von Hauptmann Daniel von Balzer, denn dieser kannte seinen Obergefreiten, der ihm vor mehr als einem Jahr als Bursche zugeteilt wurde, zur Genüge, um nicht zu wissen, dass dieser die Theatralik sehr gut beherrschte.

Es war immer das gleiche Spiel mit den beiden deutschen Soldaten. Der eine, der Vorgesetzte, ließ einen Befehl oder Anordnung von sich und der Andere versuchte mit seinem Mienenspiel, oder mit Argumenten, dem Ganzen etwas dagegen zu steuern. Und nicht immer, das musste der Hauptmann sich selbst zugestehen, blieb er dabei der Sieger.

„Das beste Mittel gegen den Muskelkater, eine alte Weisheit, die nicht von mir stammt, ist auf das nächste Pferd zu steigen und durch,“ sagte der Hauptmann und hätte Stefan Saule ihn genauer angesehen, er hätte sicherlich bemerkt, dass dies nicht ganz ernst gemeint war, bei dem Funkeln das in des Hauptmanns Augen zu sehen war.

„Der Satz hätte von der alten Schwester Oberin Wilhelmine aus dem Waisenhaus stammen können, so wie sie das gerade gesagt haben, Herr Hauptmann!“

„Stefan Saule, sehe ich heute denn so alt aus? Ich habe zwar noch nicht in den Spiegel geschaut, aber trotzdem finde ich deine Bemerkung schon etwas sonderlich, um nicht zu sagen, sehr befremdend.“

„Ich, ich, ich“, stammelte Stefan los. „Ich meinte doch nur.“

Jetzt konnte der Hauptmann sich beim besten Willen nicht mehr zurück halten. Sein ansteckendes, weit hörendes Lachen hallte über den großen viereckigen Hof des Gutes, fing sich in den umgebenden Mauern, verstärkte es auf eine sonderbare Weise, so dass sich alle im Hof befindlichen Personen nach den beiden deutschen Soldaten umdrehten.

„Lass es gut einfach gut sein Stefan. Hole lieber die Pferde. Der alte Pavel,“ Daniel von Balzer wies auf den alten Pferdeknecht, der zwei wunderschöne Pferde, einen Hengst und eine Stute an den Zügeln hielt und vor dem Stall stand. „Er wartet schon mit großer Ungeduld. Der möchte heute sicher auch noch seinen Spaß haben, mit dem lieben Obergefreiten Saule.“

Himmel, Arsch und Wolkenbruch, wenn dieser verrückte Offizier nicht ein so feiner Mensch wäre, dachte sich Stefan in diesen Sekunden, als er betont langsam über den Hof schlenderte, den Blick auf den Boden gerichtet, dann könnte ich ihm jetzt wirklich kalt lächelnd den Kragen umdrehen. Und diese verdammten, störrischen Pferde können mich auf den Tod nicht ausstehen. Aber das ist mal wieder typisch Adel, die sind mit den Pferden groß geworden, wie unsereins mit der Rute von Schwester Mathilda und nun glauben sie doch ehrlich, dass jeder Mensch auf dieser Welt über Pferde das Gleiche denken würde wie sie. Nee, nee, nee, wenn jetzt ich bloß daran denke, tut mir alles noch mehr weh. Wie kann man nur so darauf versessen sein, sich mit diesen Viechern abzugeben. Das ist und bleibt mir ein Rätsel.

„Nun, der Herr Obergefreiter machen aber ein wüstes Gesicht, als sei der leibhaftige Deibel an ihm vorbei gelaufen,“ rief Pavel Stefan aus dessen Gedanken, mit jenem melodischen Dialekt, wie viele Tschechen das Deutsch auszusprechen pflegten.

„Ach Pavel, was ist denn eigentlich so schön an den Pferden“, sagte Stefan fast schon resigniert. „ Gut, sie sehen gut aus, aus der Ferne, aber sie sind einfach launisch, unberechenbar, machen nie das was man von ihnen will, von ihnen erwartet und nach einer Stunde auf dem Rücken von diesem Etwas, fühlt man sich, wie ein Fakir auf dem Nagelbett. Aber, es ist immer, das gleiche verfluchte Spiel, der Hauptmann von Balzer findet es überaus toll und ich, sein armer Bursche bin dazu gezwungen da mitzumachen. Ich bin Infanterist und kein Ulan oder Husar“

Pavel zuckte nur kurz mit seinen alten Schultern, schaute dabei den jungen deutschen Soldat mit einem merkwürdigen, strafenden Blick an, so als wollte er sagen, er weiß nicht von was er spricht und überreichte dann Stefan mit einem verschmitzten Lächeln die Zügel, um dann, weiß der Himmel wo er sie diesmal versteckt hatte, seine alte, abgegriffene Pfeife, genüsslich in den Mund zu stecken, was für jeden auf dem Gutshof immer das untrügerische Zeichen war, das der alte Pferdeknecht, wieder einen seiner redefaulen Momente hatte und es besser war ihm so schnell wie möglich aus dem Wege zu gehen.

Kaum hatte Stefan die Zügel in der Hand, als die beiden edlen Pferde, wie auf ein vereinbartes Kommando hin, sofort anfingen unruhig auf ihren Hinterläufen zu tanzen; allem voran, jener Mistgaul, wie ihn Stefan nannte, der natürlich für ihn bestimmt war, gerade so als würde es ihm ernstlichen Spaß bereiten, dem Mann der sowieso einen großen Respekt vor den Tieren hatte, eines auszuwischen. Steil standen die beiden dunklen Ohren nach oben, in des Menschen Richtung gedreht und mit einem solch frechen Ausdruck in den großen, braunen Augen, als würde der Obergefreite, von allem anderem, nur nicht von einem Pferd, einen Tier betrachtet.

Hinter ihm erscholl wieder dieses herzhafte Lachen seines Hauptmannes und Stefan musste sich nicht einmal umdrehen um genau zu wissen, dass sich Daniel von Balzer fast bog vor Lachen. Ihm war es sogar als hörte er das deutliche Klatschen, das Auftreffen einer Hand auf einem Oberschenkel, eine der vielen seltsamen Eigenschaften seines Vorgesetzten, an die sich der Obergefreite längst gewöhnt hatte.

Jetzt nur dich nicht umdrehen, keine Blöße zeigen dachte sich Stefan, bringe diese blöde Situation einfach irgendwie unter Kontrolle, sonst macht der Hauptmann noch den ganzen Tag seine Witze darüber und dazu habe ich heute nicht die geringste Lust, ganz im Gegenteil. Mistvieh, elendes! Dir scheint dieses Spiel richtigen Spaß zu bereiten. Da warte, dir werde ich helfen!

Hart und entschlossen für das unruhige Pferd vollkommen überraschend griff Stefan rasch an die Kandare, riss sie mit einem heftigen Ruck nach unten, so dass der Kopf des Pferdes dieser Bewegung folgen musste, bis die Ohren des verwirrten Tieres auf der Augenhöhe des Obergefreiten sich befanden.

„So du Mistkerl, ich sage dir das nur einmal, “ flüsterte er dem erschrockenen Tier in das linke Ohr. „Wenn du weiter eine Stute besteigen möchtest, dann wirst du dich jetzt benehmen, schön artig sein, sonst...“ leicht zwinkerte Stefan mit dem rechten Auge, „ schnipp, schnapp, ist er ab.“

Die Ohren nach hinten gelegt, aufhörend mit den Hinterläufen seinen Tanz zu veranstalten, stand der so angesprochene Hengst wie eine Eins, was sich sofort auf das Reittier des Hauptmannes übertrug. Langsam lockerte Stefan seinen harten Griff, gab dem braunen Hengst mit seiner weißen Stirnblässe, etwas mehr Bewegungsfreiheit.

„Ich warne dich“, zischte er nochmals in die Richtung des Pferdes, bevor er sich umdrehte und mit den beiden edlen Rössern auf den Hauptmann zuging, der sichtlich erstaunt dem ganzen Treiben zugesehen hatte. Ein skeptischer Blick des Daniel von Balzer beantwortete Stefan mit einem immer breiter werdenden Grinsen, je näher er seinem Vorgesetzten kam. Denn er hatte das Gefühl, das diese Runde eindeutig zu seinen Gunsten entschieden war.

„Alle Achtung, Herr Obergefreiter“, sprach Daniel seinen Burschen mit anerkennender Stimme an. „Jetzt bin ich aber wirklich erstaunt, um nicht zu sagen, etwas was mehr als überrascht! Langsam scheinen sie etwas von Pferden zu verstehen. Vielleicht wird aus ihnen doch noch ein begeisterter Reiter.“

„Ich habe mir erlaubt, dem störrischen Gaul, ein paar ernste, nette Worte in die Ohren zu flüstern,“ antwortete der Angesprochene mit einem immer noch breiter werdenden Lachen im Gesicht, das so richtig zu den strahlend blauen Augen des jungen Mannes passte. „Und was die Begeisterung betrifft, so machen sie sich keine allzu großen Hoffnungen, Herr Hauptmann. Ich werde nie ein Freund von diesen vierbeinigen Ungeheuern.“

„Ich sollte lieber nicht fragen, was es war, das er dem armen Pferd in das Ohr geflüstert hatte. Auf jeden Fall erschrak das arme Tier dermaßen, dass ich schon befürchtete, es sei zu einer Marmorstatue geworden.“

„Mit Verlaub, aber die Worte möchte ich hier lieber nicht wiedergeben. Sie hätten keinen guten Klang in den Ohren des Herrn Hauptmann!“

„Das kann ich mir allerdings lebhaft vorstellen.“

Nach dem ihm gereichten Zügel greifend, führte der Hauptmann nun sein Pferd etwas zur Seite und schwang sich mit einer Leichtigkeit, und das bewunderte Stefan jedes Mal auf das Neuste, auf den Rücken des Pferdes, das leicht tänzelnd auf das nun zu tragende Gewicht reagierte.

Manch Einer, der den Obergefreiten Saule aus Augsburg kannte, hätte sicherlich einen großen Batzen Geld dafür gegeben, um diesen nächsten Moment verfolgen zu können, wie sich der Ungeübte auf den hohen Rücken des Pferdes mühsam quälte. Nicht dass das Pferd angefangen hätte, irgendwelche unergründlichen Faxen zu machen, nein, es blieb wie angewurzelt stehen, kein Muskel regte sich, abwartend, vielleicht auch darauf hoffend, das der auf ihn steigen Wollende, es sich im letzten Moment doch noch überlegte und auf der anderen Seite herunter fallen würde, stand das Pferd auf seinem Platz. Es waren die ungelenken, unsicheren Bewegungen von Stefan, der sonst wirklich ein sportlicher Mensch war, die jeden Betrachter dieser Szene ein sicheres Schmunzeln hervor gelockt hätte.

Endlich, auf dem Rücken des Pferdes sitzend, konnte es natürlich nicht ausbleiben, das der Hauptmann wieder seinen Senf zu der ganzen, für Stefan peinlichen Situation hinzufügen musste.

„Dachte schon, ich müsste bis morgen früh darauf warten. Ich glaube wir sollten das mal einen ganzen Nachmittag exerzieren, bis mein Obergefreiter es endlich schafft in einer schnelleren Zeit auf das Pferd zu steigen.“

Seine leicht verschobene Mütze, auf dem blonden, lockigen Kopf, zurecht rückend, lediglich seinen Hauptmann wieder einen jener seltsamen Blicke zuwerfend, unterließ er es diesesmal, zu antworten, auch wenn ihm so manches auf der Zunge gelegen war. Lediglich in seinen Gedanken fluchte er wie ein Rohrspatz vor sich hin und hoffte inständig dass sein Vorgesetzter das eben gesagte nicht in die Wirklichkeit umsetzen wollte.

Obwohl der Hauptmann das gesamte Personal des großen Gutshofes sehr oft darum gebeten hatte, dies endlich zu unterlassen, so zogen doch fast alle erwachsenen Männer ihre Kappen vom Kopf und die Frauen machten einen leichten Knicks, als das ungleiche Reiterpaar aus dem Gutshof ritt.

Für Daniel von Balzer, selbst aufgewachsen unter Bauernvolk, war diese Gestik jedes Mal aufs Neuste mehr als peinlich. Denn für ihn, selbst nach den vier Monaten seines Aufenthaltes hier auf diesem Gutshof, war dieses unnütze Kappen ziehen und Knicksen der Frauen wie ein Relikt aus vergangenen, feudalistischen Zeiten und zeigte es ihm doch allzu deutlich, dass er nicht wirklich der Treuhänder, sondern nur der aus dem Zwang geborene Besatzer dieses Gutshofes war.

„Der Herr Hauptmann schaut mal wieder drein, als sei ihm eine Laus über die Leber gelaufen“, unterbrach Stefan das längere Schweigen, das entstanden war, seit sie den Gutshof verlassen hatten. Nur das monotone, fast im Gleichklang ertönende Hufgetrampel beider Pferde war auf dem zum nahe gelegenem Wald führenden Weg zu hören. „Ist es wieder wegen dem was die Leute auf dem Gutshof machen. Ich meine das mit der Kappe vom Kopf ziehen?“

„Wie oft habe ich es den Leuten schon gesagt, sie sollen diese Albernheiten, wie das verfluchte Kappen ziehen endlich bleiben lassen. Aber nein, sie machen es immer wieder und ich habe dann immer ein schlechtes Gewissen, ohne was getan zu haben und das ärgert mich einfach. Wieso will das denn einfach nicht in ihre Köpfe hinein, dass ich das auf den Tod nicht ausstehen kann? Das ist zum wirklich langsam aus der Haut zu fahren.“

„Daran ist einzig und allein ihr toller Vorgänger Schuld, Herr Hauptmann. Vor dem hatten die armen Leute hier, wie ich schon mitbekommen hatte, regelrecht Angst, kuschten wenn er nur in ihrer Nähe schon auftauchte, so dass diese Sache wahrscheinlich ihnen schon so in das Blut gegangen ist, das es sehr schwer sein wird, dieses wieder heraus zu bekommen.“

„Ja, den Leuten große Angst machen, sich benehmen wie ein despotischer Lehnsherr gegenüber seinen Leibeigenen und dabei allerdings zwei Missernten einfahren, das konnte der Trottel, mehr aber auch nicht.“ Daniel schüttelte leicht verärgert seinen Kopf und lies seinen Blick über die an manchen Stellen schon grün werdenden Äcker schweifen. „Man muss sich das einmal so richtig bildlich vorstellen. Da hat man wunderbare fruchtbare Äcker, saftige Wiesen wohin das Auge reicht, dazu gutes, gesundes Vieh im Stall und Leute die wirklich was von ihrem Handwerk verstehen, nicht faul sind, im Gegenteil und dann wird noch nicht einmal Zweidrittel, ich wiederhole, Zweidrittel des zu erwartenden Ertrages eingebracht. Ich Sag`s ja, Parteifritzen, von Nichts eine Ahnung und davon auch noch sehr viel. Wie viel der wohl in die eigene Tasche gewirtschaftet hat, möchte ich erst gar nicht wissen. Aber das da was gelaufen ist, kann ich jetzt schon erkennen. Nur den Beweis habe ich leider immer noch nicht, “

Die letzten Wort hatte der Hauptmann in jenem Tonfall ausgesprochen, bei dem Stefan Saule immer wieder klar wurde, was sein Vorgesetzter von Männern mit dem goldenen Parteiabzeichen am Revers letztlich hielt, nämlich nichts, was er allerdings auch nie wirklich zeigte, denn dazu war die Zeit einfach zu gefährlich. Nur ihm gegenüber, dem kleinen Obergefreiten, der die gleiche Einstellung hatte, wie sein Vorgesetzter, rutschten gelegentlich solche Äußerungen über die Lippen.

Weiter ging der langsame Ritt, schweigsam, einfach dem Weg folgend, hinein in den großen Mischwald, mit seinem uralten, doch gut gepflegten Baumbestand. Vorbei an den verschiedenen Arten von Bäumen, wie Tannen, Fichten, aber auch Birken und Eichen, die das zarte Grün der ersten Blätter schon trugen, oder ihre frühe Blütenpracht den Insekten und Bienen zur Bestäubung darboten. Der Klang verschiedener unsichtbarer Vögel, hoch über ihnen bildete die Hintergrundmusik dazu, nur unterbrochen von dem seltsamen Knarren und Quietschen, dass die hohen Bäume verursachten, wenn der sanfte Wind, der an diesem Morgen über das Land blies, durch ihre Kronen säuselte. Irgendwo, rechts neben ihnen, kaum hörbar, raschelte es unter dem am Boden liegenden, der Fäulnis preisgegebenen abgefallenen Blätter; an dem Stamm einer alten, knochigen Eiche hing ein Eichhörnchen, beäugte die beiden Reiter neugierig, fast schon ohne Scheu, so als wüsste es genau, dass von diesen beiden Vertretern der Gattung Mensch keine Gefahr ausging.

Daniel genoss solche Ausritte, denn nur hier konnte er über die viele Dinge nachdenken, die ihn bewegten. Diese gleichmäßigen, rhythmischen Bewegungen des Pferdes, untermalt mit den dazugehörigen Tönen, regten seine Gedanken an, ließen ihnen freien Lauf, halfen ihm, mit seinen eigenen Ängsten und Erlebnissen einigermaßen zurecht zu kommen. Und so schweiften seine Gedanken umher, formten sich, drängten sich nach vorne.

Viele von uns sagen, so begann es in Daniel, es gäbe keine Wunder mehr. Doch diese gehen wahrscheinlich mit blinden Augen durch die Welt. Wie jene drei bekannten Affen, die nichts hören, nichts sehen, nichts sagen, nur einfach dasitzen, ist ihre allgegenwärtige Lebenseinstellung, obwohl um sie herum ein Wunder nach dem Anderen geschieht. Aber sie haben es verlernt, mit anderen Augen zu sehen, richten ihren Blick einzig und alleine auf jene Sachen, die einfach keine Wunder mehr zulassen. Würden sie aber den starren Kopf nur unmerklich drehen, ihren Blickwinkel leicht verändern, welch eine faszinierende Welt würde sich ihnen auftun! Da schwebt doch in der Unendlichkeit des Universum ein kleiner Blauer Planet, wie ein facettenreich geschliffener Diamant, so herrlich, leuchtend, versehen mit vielerlei Dingen, die allein schon den Atem eines jeden Betrachters zum Stocken bringt. Aber wir haben nichts besseres zu tun, als dieser einzigartigen Kugel eine Scharte nach der anderen zuzufügen, mindern ihren unbeschreiblichen, einzigartigen Wert, vergessen dabei aber immer, das sie nicht uns gehört, sondern wie jemand einmal treffend sagte - sie jeweils nur von unseren Kindern geliehen bekamen. Alles Leben, alles Getier, alle Pflanzen, eigentlich alles was sich bewegt, läuft, fliegt, schwimmt, an den unmöglichen Stellen wächst, ist für sich allein schon ein unbeschreibliches Wunder. Nichts von dem ist selbstverständlich, sondern getragen von einer Schönheit, wie sie seinesgleichen sucht. Und verdammt noch mal, diese Erde ist schön. Sie ist schön, weil auf ihr tausendfaches und aber tausendfaches Leben herrscht, sie ist schön, weil sie unsere wahre Mutter ist. Ohne sie könnte nichts und niemand existieren, was wir als so selbstverständlich ansehen, benutzen, aber leider auch nicht respektieren. Und diese Kugel, diese Mutter Erde ist wie jede liebende Mutter. Sie gibt uns alles was wir brauchen. Blicken wir uns nur einmal richtig um, so erkennen wir ihre große Liebe, ihre Zuneigung, ihre Fürsorge. Doch was sind wir für Kinder, wie benehmen wir uns dieser Mutter gegenüber? Ungehorsam, missachten sie, verletzen sie, nützen sie bis zum letzten aus und wundern uns dann auch noch, das diese Mutter auch mal ein anderes Gesicht zeigt, uns für unsere Unartigkeiten, unsere Lieblosigkeit straft, wie es Mütter nun einmal, bei aller noch so großen Liebe, auch tun müssen. Aber wir wollen nichts von ihr lernen, reagieren auf die Strafen mit einem noch größerem Trotz, mit unserer Unbeherrschtheit, verletzen sie noch tiefer, um dann wieder nicht begreifen zu wollen, das die gerechte Strafe auf dem Fuße folgen musste. Töte ich diese Mutter, so töte ich mich selbst. Langsam frage ich mich ernstlich ob wir, die Menschen, die angebliche Krönung der Schöpfung, nicht doch das niedrigste Lebewesen auf diesem Planeten sind! Und dieser verfluchte Krieg? Was bringt er uns. Nichts, nur Tod und Trauer. Nichts wofür es sich lohnt, den Kopf hin zu halten. Und doch tun wir es und das macht mir umso mehr Angst.

Selbst Obergefreiter Saule, obwohl er das Gefühl hatte das tausend Nadeln in den Oberschenkel und dem Gesäß stachen, konnte dem ganzen Umfeld, manchmal jenes abgewinnen, weswegen der Hauptmann von Balzer diese ständigen Ausritte unternahm. Stille, natürliche Stille umfing sie, hüllte sie ein, gab dem Kopf die Möglichkeit über alles Mögliche und Unmögliche nachzudenken, sich in eine andere friedliche Welt zu begeben, die zur Zeit um die zwei Soldaten herrschte.

Sicher, die Front war weit, weit, sehr weit entfernt und doch so nah, da sie Beide diese mit all ihrem Schrecken, Grausamkeiten kennen gelernt hatten. Das Rattern von Maschinengewehren, die fürchterlichen Schreie, entsetzlichen Schreie der Getroffenen, das seltsame, unter die Haut gehende Pfeifen, der über den Köpfen hinweg fliegenden, todbringenden Granaten, dieser Ohren betäubende Knall eines Granateinschlages, Staub, Dreck, die eigenen, mit Angstschweiß vermischten Gerüche, der Anblick offener Leiber, abgerissener Gliedmaßen, dieser süßliche Geruch von verbrannten, menschlichem Fleisch, die grotesken Leiber im Feuer umgekommenen Freunde und Feinde, das ständige Hoffen, Bangen, erleichtert zu sein, wenn es einen nicht selbst, sondern dem Nebenan getroffen hatte; all diese Bilder waren zwar im Kopf, im Herz, doch konnten sie hier in diesem Wald nicht die Oberhand gewinnen, wurden zurück gedrängt, wichen einem Ideal, das obwohl schmerzlich bewusst, nicht existent war.

Verstohlen betrachtete Stefan seinen Hauptmann von der Seite, der es nie zuließ, das sein Obergefreite hinter ihm ritt. Hier, auf diesen Pferden waren sie auf der gleichen Ebene, nur zu unterscheiden an der Uniform, ihren Rangabzeichen, sonst nichts weiter. Aber nicht nur hier, sondern auch bei vielen anderen Gelegenheiten war diese, in allen Armeen der Welt üblichen Verhaltensregeln, bewusst aufgehoben.

Dieses aristokratische, edle Gesicht, fein geschnitten, ebenmäßig, dem Alter von einunddreißig Jahren in keinster Weise entsprechende, mit zwei wachen, oft melancholischen, aber gütigen Augen, die zwischen grün und blau ständig wechselten, je nach der Stimmung, die Nase, der oft lächelnde Mund, die faltenlose Haut und das dunkelblonde Haar, gaben dem Mann ein Aussehen, um das ihn Stefan manchmal ehrlich beneidete. Der Körper, in der passgerechten Uniform, strotzte von der natürlichen Kraft, die der elegant auf dem Pferd sitzende Hauptmann ohne große Eitelkeit zur Schau stellte. Jede seiner Bewegungen und waren sie noch so bedeutungslos, hatte etwas an sich, die fast jeden zu sich nach ihm umdrehen verleitete.

Aber da war auch die andere, die unbekannte, traurige Seite an diesem Mann die kaum einer kannte, die nächtlichen Schreie des scheinbar immer wieder kehrenden Alptraumes, über den er nie redete, ihn den Obergefreiten, der sich jedes Mal um ihn sorgte, mit unwirschen Worten aus dem Schlafzimmer scheuchte, Tränen in den Augen, schweißgebadet, der inneren Hölle entglitten. Nie sprach er darüber, machte keine Andeutungen, nichts, nur der seltsame, in sich gekehrte Ausdruck am nächsten Morgen.

Seit über einem Jahr war er schon bei ihm, heraus gelöst aus einem Kampfverbandes, der mehrmals durch die Hölle und wieder zurück ging und doch, oder gerade deswegen erschreckte es ihn immer wieder auf das Neuste, wie viel Leid in dem Ausdruck des Hauptmannes dann zu finden war. Ja, er kannte diese andere Seite des Menschen, Daniel von Balzer, die so verschieden war, von dem des Trägers, des Ritterkreuzes, des Eisernen Kreuzes mit Eichenlaub. Aber, so dachte sich Stefan Saule, vielleicht waren es genau diese Unterschiedlichkeiten, die diesen Mann zu seinen Orden brachte, nicht das vermeintliche Heldentum manch anderer, denen man diese Auszeichnung nur noch auf den Sarg legen, oder den Angehörigen feierlich überreichten konnte. Nur das gelegentlich auftretende Hinken, immer dann, wenn sich das Wetter änderte, lies bei dem Hauptmann erkennen, dass dies alles nicht ohne körperliche Blessuren abgelaufen war. Diese Unterschiedlichkeiten seines Vorgesetzten aber hatten in Stefan eine Sympathie entwickelt, die ihn mit dem Hauptmann verband, ihn fast schon wie einen väterlichen Freund betrachtete.

„Nun, wie ist das kritische Urteil des Herrn Obergefreiten Saule über seinen Hauptmann denn heute?“ unterbrach Daniel das lange Schweigen der Beiden. „So wie mich der Obergefreite gerade mustert.“

Erstaunt blickte ihn Stefan an. „Sagen sie mal, Herr Hauptmann, bemerken sie eigentlich alles?“

„Nein nicht alles“, ein leises Lachen folgte. „Ich frage mich jetzt schon die ganze Zeit, wie es das alte Schlitzohr von Pavel es immer wieder schafft, seine Pfeife irgendwo hervorzuholen, ohne dass man es bemerkt.“

„Der Alte ist mir manchmal richtig unheimlich.“

„Ein kleiner Hinudin“

„Ein bitte, wer, Herr Hauptmann?“

„Ein bekannter Zauberer. Er verblüffte auch mit scheinbar undenkbaren Dingen.“ Der Hauptmann zügelte sein Pferd, lies es sanft zum stehen kommen und wartete bis auch Stefan mit dem Seinigen zum stehen kam. „Und, Herr Obergefreiter, was ist jetzt, mit dem Urteil über meine Person?“

Stefan Saule lief wieder einmal rot an, denn es war ihm wirklich mehr als peinlich, so auf dem falschen Fuß erwischt zu werden. Sollte er ihm ehrlich sagen, was er jetzt wirklich und hier dachte, einfach frei heraus, wie es sein Hauptmann eigentlich ständig von ihm wünschte, eher schon verlangte, auch wenn sie dem Vorgesetzten manchmal die Sprache verschlug; oder sollte er sich schnell etwas banales, unwichtiges ausdenken, dem ausweichen, ohne den wunden Punkt des ihm Gegenüber zu erwähnen?"

„Sie sehen heute etwas Müde aus, so als hätten sie wieder die ganze Nacht über gearbeitet“, war die, auch für ihn selbst überraschende Antwort.

„Du bist heute aber ein schlechter Lügner“, grunzte Daniel ihn an. „Nur gut das du nicht zu mir gesagt hast, das ich heute so alt aussehe, wie die Mutter Oberin.“

„Herr Hauptmann haben da wohl etwas wieder falsch verstanden.“

„Lass gut sein, mein Freund, wollte dich nur mal etwas den Arm nehmen. Du bist mir viel zu ernst geworden in der letzten Zeit. Genieße doch diesen sonnigen Tag, die Ruhe um uns herum, einfach das Leben.“

„Auf dem Rücken eines Pferdes, Herr Hauptmann?“ kam als zaghafte, fragende Antwort. „Sie belieben zu scherzen!“

„Hättest du ein nettes Mädchen, könnte sie dich dort verwöhnen, wo es dir ja sooooo weh tut.“

Wie zwei eingeschaltete Glühbirnen leuchten die beiden Ohren von Stefan in einer Röte, die den Hauptmann erstaunte. Den Blick nach unten gerichtet, vermeidend seinen Vorgesetzten direkt anzusehen, saß der Obergefreite wie ein begossener Pudel auf seinem Pferd, nicht fähig, eine Antwort auf diese letzte Bemerkung zu machen. Aber was hätte er denn schon antworten sollen?

An der verfluchten Front, was nicht heißen sollte, dass er sich danach zurück sehnte, war es wesentlich leichter gewesen, das mit den Mädchen. Da rückte doch der gesamte Zug einfach in das nächstliegende Puff, in der Etappe und der Fall hatte sich womöglich erledigt. Unbefriedigend zwar im Nachhinein, doch immerhin! Aber hier, zwar war Prag nur etwas mehr als sechzehn Kilometer entfernt, war man doch mitten in der sogenannten Einöde. Und das, was auf dem großen Gutshof herum sprang, na ja, darüber wollte sich Stefan keine rechten Gedanken machen, weil es einfach niemanden dort gab, mit dem der junge Soldat ein kleines Techtelmechtel hätte anfangen wollen. Und nach dem nur wenige Kilometer entfernten Kladno, hatte es ihn aus unverständlichen Gründen, nie hingezogen. Vielleicht deswegen, weil er im Grunde seines Herzens ein Mädchen haben wollte, das es vielleicht auch nur in seinen Phantasien gab.

„So einfach ist das nicht, Herr Hauptmann“, entgegnete der junge Mann, nach einer Weile. „Die anständigen Mädchen wollen mit mir nichts zu tun haben, was ich manchmal auch wirklich verstehen kann, wenn ich da so manchen von uns Deutschen sehe, dann wird mir übel. Und die Mädchen, die sich an uns heran schmeißen, die kann man getrost den Hasen geben, sind doch nur geldgierige Huren, oder sie hoffen durch die Beziehung zu einem Deutschen bessere Essensrationen zu erhaschen.“

„Den Hasen?“ fragte der Hauptmann verwundert.

„Das sagt man bei uns so. Eine Redewendung halt.“

Eindringlich sah der Hauptmann seinen Obergefreiten an. Es war wieder einer jener durchdringenden Blicke, die Stefan meist sehr unangenehm waren, denn dann hatte Daniel von Balzer irgendetwas auf dem Herzen.

„Wie lange bist du nun schon bei mir“, fragte Daniel nach einer unangenehmen Pause.

„Seit vierzehn Monaten Herr Hauptmann,“

„Und doch weiß ich fast nichts von dir, außer dem, was in deiner dummen Personalakte steht. Ist eigentlich schon seltsam.“

„Was soll denn schon so interessant an meiner Person sein.“

„Ich weiß zwar, dass du aus einem Waisenhaus kommst, aber damit hat es sich auch schon.“

„Da gibt es eigentlich nicht viel zu erzählen. Meine Mutter starb an den Folgen meiner Geburt, als ich gerade vier Wochen alt war und meinen Vater, den habe ich nie kennen gelernt, bin ein Unehelicher.“

Stefan Saule hatte den letzten Satz fast geflüstert, doch wusste er genau, dass sein Hauptmann diesen Satz sicherlich genau gehört hatte. Verstohlen, aus den Augenwinkeln heraus beobachte er seinen Vorgesetzten, doch dieser zeigte keinen Hauch von Entrüstung, wie es sonst immer geschah, wenn seine Herkunft bekannt wurde.

„Erwarte von mir nicht dass ich hier den Moralapostel spiele“, antwortete Daniel, dem die Unsicherheit seines Soldaten nicht unbemerkt blieb. „Du bist wohl der Letzte, dem man einen Vorwurf machen kann.“

„Das sagen sie, Herr Hauptmann. Doch die Anderen denken da ganz anders. Es ist nun mal ein Makel, der an einem haftet, wie eine Klette.“

„Wer frei ist von jeder Schuld, der werfe den ersten Stein.“

„Oh je, dann müssen ja fast alle die reinsten Unschuldsengel sein.“

Der Hauptmann konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. Er hatte eine gewisse Ahnung davon, was die lieben Mitmenschen von sich geben können, wenn es um andere Menschen ging und nicht um sie selbst.

„Erzähl weiter.“

„Dass ich aus dem schönen Augsburg stamme, das wissen sie sicher.“

„Ja, aus deiner Akte. Ist übrigens eine sehr interessante und schöne Stadt.“

„Wie man es nimmt. Für ein Kind aus dem Waisenhaus ist da kein Platz für solche Betrachtungen, schon dann nicht, wenn das Waisenhaus von Nonnen geleitet wird.“

„Du scheinst von den frommen Frauen nicht viel zu halten.“

„Fromme Frauen, das ich da nicht lache. Wenn ich nur daran denke, wie oft ich den Rohrstock auf meinem Hosenboden gespürt habe, sehe ich die Nonnen in einem anderen Licht. Dass ich kein Kind von Traurigkeit war, weiß ich, doch der Stock saß bei den Nonnen immer sehr locker. Aber nicht nur bei mir. Sie glaubten wohl, uns einen Gefallen damit zu tun. Ich für meine Begriffe, halte aber nichts von solchen Methoden, da waren selbst die strengsten Lehrer in der nahegelegenen Schule humaner. Sicher, es gab schon mal die eine oder andere Ohrfeige oder Kopfnuss, doch waren diese auch berechtigt, wie ich heute eingestehen muss. Aber bei den Nonnen gab es schon wegen Geringfügigkeiten eines hinter die Löffel.“

„Und wie lange warst du dort.“

„Bis ich meine Lehre angefangen habe, da war ich gerade vierzehn und das ich dann aus dem Waisenhaus kam, verdanke ich dem Pfarrer von Sankt Georg. Das ist die Kirche, ganz in der Nähe von dem Waisenhaus. Ein feiner Mann, das muss ich schon sagen, das genaue Gegenteil von den Nonnen. Hatte immer ein offenes Ohr für uns Kinder, konnte stundenlang zuhören und ehrlich gesagt, meine Zeit als Ministrant habe ich daher auch sehr genossen. Man kam raus aus dem erdrückenden Haus, weg von den anderen zweihundert Kindern, die dort untergebracht wurden, weg von den großen Schlafsälen und den Gemeinheiten, die dort geschahen. Aber eines habe ich dort gelernt, zu kämpfen, auch wenn ich dabei sehr oft die Prügel einstecken musste. Aber so war das Leben nun mal, kein Zuckerschlecken

Es entstand eine kleine Pause, in der man Stefan anmerkte, dass seine Gedanken in der Erinnerung an dieser Zeit gefangen waren. Sein leerer Blick, die Haltung, wie er auf dem Pferd saß, ließen den Hauptmann schweigen, so sehr er gerne nachgefragt hätte, was sein Obergefreiter damit meinte. Für ihn war diese Welt fremd, denn er war in einem wohlbehüteten Elternhaus groß geworden, wo das schlagen eines Kindes nicht zur Regel, sondern zu absoluten Ausnahme gehörte. Er konnte sich eigentlich nur an zwei Ohrfeigen von seiner Mutter erinnern und diese waren, ebenso, wie es vorhin Stefan geäußert hatte, mehr als berechtigt.

„Aber“, begann Stefan weiter zu reden, „als ich meine Lehre begonnen hatte, da begann für mich auch das wahre Leben, so komisch es sich auch anhören mag, Herr Hauptmann. Mit Hilfe des Pfarrers kam ich bei dem Werkmeister und seiner Frau unter und die Beiden haben mich, da sie ja leider Kinderlos waren, als eine Art von Sohn aufgenommen. Das sind echt patente Leute, bei denen ich mich wohl fühle, bis zum heutigen Tage. Sie sind halt meine Eltern geworden.“

„Du hast noch Kontakt zu ihnen?“ unterbrach ihn der Hauptmann.

„Ja, wie gesagt, ich habe jetzt endlich Eltern, etwas, nach dem ich mich vierzehn Jahre lang gesehnt habe. Können sie das verstehen Herr Hauptmann?“

„Nicht so recht. Ich hatte das Glück in einer Familie groß geworden zu sein, mit zwei Schwestern, die mich manchmal richtig nervten, aber trotzdem vermisse ich sie.“

In seinen Gedanken war der Hauptmann plötzlich in seinem Elternhaus, bei seinen beiden Schwestern, bei seinen geliebten Eltern und plötzlich kam in ihm so etwas auf, wie Heimweh, ein Gefühl, das ihn immer wieder übermannte, wenn er an die glücklichen Zeiten zurück dachte.

„Lass uns weiter reiten.“

Gerade als Stefan dem wartenden Pferd die Haken geben wollte, hielt ihn der Hauptmann nochmals auf. „Wie ist das jetzt mit dem See und den Karpfen?“

„Liegt trüben bei Lidice. Klares Wasser und Fische, Herr Hauptmann, ich sage ihnen, die wahre Pracht. Solche Dinger, “ mit beiden Händen versuchte er eine entsprechende Bewegung zu machen, was das Pferd, als es bemerkte, das sich die Zügel gelockert hatten, sofort mit einem tänzelnden Schritt, zunichtemachte.

„Dein Pferd scheint dem Ganzen keinen rechten Glauben schenken zu wollen!“

„Mistgaul, Elender! Hast wohl vergessen was ich dir vorhin gesagt habe.“

Ganz zu seinem Erstaunen funktionierte es. Wieder stand das Pferd wie eine Eins auf dem Waldweg, starr, lediglich leicht nervös die beiden Ohren in die Richtung des sich wieder gefassten Obergefreiten gerichtet.

„Lass es gut sein“, meinte der Hauptmann in seiner lächelnden Art. „Zeig mir jetzt lieber den See, bevor du mir noch von dem Pferd fällst.“

Wäre vielleicht ganz nett, dachte sich Stefan, könnte mich dann für einige geruhsame Tage in das warme Bett legen, hier etwas übertrieben humpeln, dort das Gesicht elendig verziehen und einmal richtig auf Kranken Mann machen.

„Versuch es nicht“, kam es von Daniel von Balzer, ohne dass dieser seinen Blick zu Stefan richtete.

„Himmel, “ entfuhr es dem so Angesprochenen, „können sie jetzt auch schon Gedanken lesen?“

„Nein, das nicht, aber dein Gesicht sprach Bände. Unschwer abzulesen, was sich mein Obergefreite Saule da ausmalte.“

Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, setzten sie sich wieder in Bewegung, jeder wieder bei seinen Gedanken, umgeben von den Lauten des Waldes. Bei dem Hauptmann waren es friedliche, an die Zukunft gerichtete Gedanken, Gedanken an die Aussaat des Getreides, seinen Versuch auf einem der brachliegenden Feldern Zuckerrüben zu pflanzen und mit all den Dingen, die mit dem Gutshof zu tun hatte.

Und bei Stefan waren es Gedanken an ein reizvolles, gutaussehendes, weibliches Wesen, deren Körper und all den Dingen, die zwischen zwei Menschen in dieser Lage geschehen könnten. Nun ja, so musste er sich selbst zugeben, schossen hier seine Gedanken über das Ziel hinaus und so war er auch froh, als sie auf einer weiten Anhöhe angekommen waren und ihr Blick auf ein sanftes Tal fiel, in dem sich ein kleiner Ort fast liebevoll hinein schmiegte.

Ein langgezogener Fahrweg, sanft den Hügel hinunter führend, gesäumt von Mauern umgebenen Höfen, die sich wie selbstverständlich, fast schon natürlich zu beiden Seiten des Weges, in die Landschaft einfügten, unaufdringlich, dazugehörend zur umliegenden Natur, ohne zu stören. Am tiefsten Punkt des kleinen Tales, eingesäumt von gerade in der vollen Blüte befindlichen Hecken und Bäumen, verlief ein ruhiger Bach, über den eine kleine hölzerne Brücke führte. Auf der Gegenseite wieder sanft ansteigend, sich hie und da in kleine Seitenwege verzweigend, an denen wiederum die gleiche Art von Häusern standen, führte der Fahrweg auf der anderen Seite wieder einen Hügel empor, um dahinter zu verschwinden. Eine Kirche im barocken Stil, mit seinem schön geformten Kirchturm aus dem gerade wohlklingende Töne an die Ohren der Betrachter drangen, bildete den Mittelpunkt des Ortes. Daneben, dahinter gruppierten sich weitere Häuser, nicht abgegrenzt, trotz der Umfassungsmauern, eine Einheit bildend. Vor der Schule, selbst auf dieser beträchtlichen Entfernung waren sie zu erkennen, spielten Kinder ihre Spiele, ausgelassen, scheinbar frei von den Sorgen dieser unruhigen Zeit. Geschäftiges Treiben war nicht nur im Ort zu erkennen, auch auf den umliegenden, an den sanften Hängen befindlichen Feldern und Gärten gingen Menschen ihrem Tagwerk nach. Hier wurde mit einem, hinter einem alten Gaul eingespannten, Pflug die dicke, dunkle, fruchtbare Krumme unbewegt, dort im Garten mit dem Spaten das Beet umgegraben und an einer anderen Stelle mit der Harke und dem ständigen Bücken, Unkraut gejäht. Ein Bild wie es hätte überall sein können, hier, in Deutschland, in Polen oder den weiten Ebenen von Russland.

„Das ist Lidice, Herr Hauptmann“, sprach Stefan nach geraumer Zeit, denn er hatte diesen bestimmten Blick in den Augen von Daniel geschehen, der es eigentlich nicht duldete, gestört zu werden.

„Ein schöner Ort.“

„Nun ja, Herr Hauptmann. Mit Verlaub, aber hier sagen sich Fuchs und Hase gute Nacht.“

„Gerade deswegen.“

Langsam drehte Daniel von Balzer seinen Kopf in die Richtung seines Burschen, der ihn mit einem fragenden Blick antwortete.

„Ich bin nun einmal ein hoffnungslos, romantischer Kerl.“ Stefans Blick, auf die Uniform seines Gegenüber gerichtet, zog die Augenbrauen nach oben.

„Ja, ich weiß, das will gar nicht so recht zu dieser Uniform passen, magst du wohl denken. Aber ich war ja nicht immer ein Soldat, oder hast du das schon vergessen.“

„Mit Nichten, mit Nichten, Herr Hauptmann, aber es verwundert mich immer wieder.“

„Aber wo ist jetzt der See? Ich kann keinen entdecken.“

Stefan hob seinen rechten Arm. „Hier rechts. Sehen sie die Baumgruppe, dort am Hang, dahinter liegt er, etwas verborgen.“

„Ein ungewöhnlicher Ort für einen See“, antwortete der Hauptmann. „Hätte ihn eher unten in der Talsenke vermutet.“

„Hat mich am Anfang auch gewundert. Doch der alte Pavel hat erklärt, dass er künstlich angelegt wurde.“

„Eine Fischzucht also?“

„Mag schon sein, Herr Hauptmann, aber trotzdem sind die Fische.....“

„Riesig, ich weiß. Ist ja auch kein Wunder.“

Eigentlich wollte Stefan noch etwas sagen, doch gab ihm der Hauptmann nicht mehr die entsprechende Gelegenheit. Ein kurzer Zug am rechten Zügel, ein sanfter Haken in die Flanke des Pferdes und schon ritt der Offizier los, so dass Stefan Mühe hatte, dem eingeschlagenem Tempo zu folgen.

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Es war wirklich Frühling geworden, dachte sich Daniel, als er mit seinem Pferd an den Sträuchern angelangt war. Und die lästigen Mücken sind auch schon da, fast wie Zuhause. Ob die wohl auch so Blutrünstig sind, wie die Schnaken am Altrhein? Na ja, wenigstens etwas, das wie Zuhause ist, auch wenn es diese Plagegeister sind.

Eine ungewohnte Bewegung in einem weiter entfernten Buschwerk, lies ihn unvermittelt aus seinen Gedanken reißen, weckten den Instinkt des erfahrenen Frontsoldaten, richteten seine ganze Aufmerksamkeit auf diesen einen Punkt. Der Obergefreite schien nichts zu bemerken, was allerdings nicht stimmte. Auch er fixierte, allerdings aus dem Augenwinkel heraus, den gleichen Punkt. Er schien Gleichgültig auszustrahlen und doch hätte ein erfahrener Beobachter sicherlich bemerkt, wie ganz beiläufig die rechte Hand des Soldaten, nach dem Karabiner griff, der an der Seite des Sattel angebracht war. In der selben Gleichgültigkeit brachte er sein Pferd so vor dem Hauptmann zum stehen, das er diesen mit seinem Körper abdeckte, falls ein unerwarteter Angriff erfolgen sollte. Schon umfasste die rechte Hand, von dem Busch aus nicht zu bemerken, das Gewehr derart, dass eine einzige Bewegung genügt hätte, um das tödliche Instrument in den richtigen Anschlag zu bringen.

„Warten“, flüsterte der Hauptmann.

Auch die von ihm ausgeführten Bewegung wirkten so harmlos und doch so effektiv. So, als wollte er seinem Pferd zwischen die Ohren kraulen, beugte er sich nach vorne, während die rechte Hand, verdeckt durch den Oberkörper, den Verschluss seiner Pistolentasche, öffnete und die schwarze Lugger, leicht aus dem Holster zog.

„Ich habe kein gutes Gefühl, Herr Hauptmann, flüsterte jetzt Stefan zurück. „Mir juckt die Nase und das ist kein gutes Zeichen.“

„Wir reiten hin. Aber ganz langsam. Nur nicht nervös werden, es kann doch auch ganz Harmlos sein. Geschossen wird erst, wenn wir angegriffen werden. Hast du das verstanden?“

Statt dem Hauptmann zu antworten, was seiner Meinung nach ihn abgelenkt hätte, nickte Stefan leicht mit seinem Kopf, während sich der Griff am Karabiner noch mehr verstärkte. Scheinbar Sorglos schon, wirkten die beiden deutschen Soldaten, wie sie da den Weg entlang ritten, der um den friedlich in der Landschaft liegenden See herumführte, rechts die offenen, weiten Felder und links begrenzte das Buschwerk, durch das in einiger Entfernung das untrügerische Weiß eines Kleidungsstückes durchschimmerte.

Noch waren sie mehr als fünfzig Meter von der angestrebten Stelle entfernt, als ein lautes Knacken, ein durch die Büsche brechen, die Stille des Morgens unterbrach. Was nun folgte, verwirrte die beiden Soldaten. Anstatt, wie sie doch angenommen, ja selbst in dieser Situation vielleicht gemacht hätten, die Büsche als ein undurchdringliches Hindernis für die Pferde auszunutzen, so rannte der Unbekannte auf den offenen Feldweg, schlug einen gewaltigen Hacken nach links und rannte mit schnellen, hektischen Schritten um den See herum, in Richtung Lidice.

Stefan war, als die ersten Geräusche und Bewegungen zu vernehmen waren, in einer, dem antrainiertem Instinkt folgenden Bewegung, die ihn selbst mehr als überraschte, vom Pferd abgesessen, den Karabiner, kaum mit den beiden Beinen auf dem festen Erdreich stehend, schon im Anschlag, das sich von ihnen weg bewegende Ziel, über Kimme und Korn, fest fixiert und nicht aus den Augen gelassen.

Auch der Hauptmann, seinen linken Fuß über den Kopf des Pferdes werfend, an der Flanke des Reittieres abgleitend, dieses, zwischen sich und dem Flüchtenden stellend, hatte mit einer schnellen, tausendfach geübten Bewegung seine Waffe gezogen, diese jedoch mit dem Lauf auf den Boden richtend, gewartet, was als nächstes geschehen würde.

„Stefan, Waffe runter! Ich möchte hier kein Blutbad, “ bellte er den Befehl, nachdem er eingesehen hatte, dass von der flüchtenden Person keine Gefahr mehr aus gehen konnte. Interessiert, ja schon mit einem Hang zur Neugierde, registrierte er das längliche, blonde Haar, das bis zu den Schultern hinab zufallen schien, ein weißes, weites, flatterndes Hemd, wohl aus Leinen gefertigt, wie er selbst vermutete, ein Hosenträgerpaar, nicht über die Schultern gespannt, sondern bei jedem Schritt auf die dunkle, schon fast schwarze Hose klatschend und dunkles Schuhwerk, das bei jedem Berühren auf dem sandigen Weg, eine feine Staubwolke hervorrief.

Obergefreite Saule, etwas mehr als enttäuscht, dass dieses Ereignis so schnell ein Ende finden sollte, fragte bitter:“ Soll ich den Hasen einfangen, Herr Hauptmann, “ wohlwissend das dieser keinen solchen Befehl geben würde.

„Lasse es gut sein. Ich glaube wir haben ihm bestimmt einen solchen Schrecken eingejagt.“

„Würde mich nicht wundern, wenn dessen Hose jetzt unangenehme Gerüche von sich geben würde!“

Nicht umsonst hatte der Obergefreite dies gesagt, denn auch er hatte in dieser Hinsicht seine leidigen Erfahrungen machen müssen. Kaum an die Front geschickt, gerade zwei Stunden bei der ersten Einheit, nach der vermaledeiten Grundausbildung, gerieten sie in der Nähe von Dijon in einen Artillerieangriff. Und er, keinerlei Ahnung, keinen Hauch von Wissen, was für Höllen sich aufmachen können, konnte seine Gedärme nicht unter Kontrolle bringen, musste zum eigenen Entsetzen, diese haltlosen Momente über sich ergehen lassen. In einem Granattrichter, sich voller Angst an die sandigen, nach Pulver riechenden Wände gedrückt, sich klein machend, mit beiden Händen die Ohren zuhaltend und alle Gebete, die er vom Waisenhaus her kannte, aufsagend, war er nur noch ein kleines Häufchen Elend, wimmernd und doch hoffend, wie ein Jeder. Sekunden wurden zu unendlichen Zeiten, wollten kein Ende nehmen, zogen, dehnten sich aus; Minuten, im Zustand des Glücks, nur ein Wimpernschlag der Zeit, hatten sich nun, hier, in diesem Krater, zu Monster ihrer Zeit entwickelt. Aber auch diese Monster zogen vorüber, zurück blieb ein kleines, stinkendes Häufchen Elend, unfähig sich auch nur einen Millimeter zu bewegen.

Ja, Obergefreite Stefan Saule konnte den Flüchtenden verstehen, wie eigentlich Jeden, den der vermeintliche Tod in das Gesicht spuckte und sich an den Ängsten des Menschen labte. Ein Jeder starb seinen Teil, wenn ihn die Hölle wieder entließ, zurück zu dem Leben, das sich von nun an verändert hatte. Einsamer, tausend, hunderttausendfaches Sterben von Körpern, Seelen die schon tot sind, ohne es zu merken, weil noch Leben in ihnen ist, zum Weiterleben gezwungen, zwischen Hoffen und Bangen, begleitet von dem Stakkato der Gewalt.

Und dieses rennende, menschliche Wesen, was mochte es wohl denken? Welche Bilder des Schreckens waren aus dem Gedanken geboren, ausgemalt zu unvorstellbaren Szenerien der Phantasie, schoss es dem Obergefreiten durch den Kopf. Und vor seinem inneren Auge entstanden wieder jene Bilder von Freund und Feind, die durch die gleichen Pforten des Infernos geblickt hatten.

Das typische Geräusch einer in das lederne Holster zurück beförderter Pistole, riss den Obergefreiten aus seinen Gedanken, zurück, zu dem neben ihm stehenden Hauptmann, der ihn mit einem sonderbaren Blick betraute, als hätte er eine Ahnung von dem, was er gerade gedacht hatte.

Und er, der Offizier, hätte sich auch nicht wohl gefühlt, bei dem Gedanken, auch einen Menschen schießen lassen zu müssen, obwohl, oder gerade, weil er diese Handlung schon so oft vollführen müssen, gegen seinen wirklichen Willen, zum eigenen, vermeintlichen Schutz.

Unwirsch über sich selbst, seinen abschweifenden Gedanken, schüttelte Daniel von Balzer kurz, aber heftig seinen Kopf, die aufkommende Wallung vertreibend, zurück an den See, der ungeachtet der vergangenen Ereignisse, friedlich in der Landschaft lag, einen Gegensatz zu zwei menschlichen Gedanken bildend.

„Komm, lass uns einmal nachsehen, was der rassendes, dort getrieben hat.“

Eigentlich mehr zu sich, als zu Stefan gerichtet, hatte Daniel den letzten Satz von sich gegeben. Schweigend, ohne wirkliche Aufforderung, nahm der so Angesprochene die Zügel beider Pferde und trottete ohne jedoch seinen Karabiner, der noch immer sich in seiner rechten Hand befand, zurück zu stecken, dem Hauptmann hinterher, der mit großen Schritten auf das Buschwerk zulief.

An dem Gebüsch angekommen, noch immer klopfte beiden Männern die Herzen bis zum Hals, das ausgestoßene Adrenalin wirkte im Körper, gab der Obergefreite, wie selbstverständlich dem Hauptmann die Zügel seines eigenen Pferdes.

„Herr Hauptmann haben wohl nichts dagegen, wenn ich zuerst hineingehe. Wer weiß denn schon, was noch dahinter verborgen ist, außer dem Hasenfuß.“

„Mach das. Aber, “ kurz stockte der junge Offizier und blickte seinen Soldaten dabei eindringlich an, „sei bitte vorsichtig.“

„Worauf sie sich verlassen können. Habe noch lange nicht den Wunsch, die Radieschen von unten mir zu betrachten.“

Vorsichtig, den Karabiner, gerade so wie er es gelernt, nein, schon eher verinnerlicht hatte, stieg der Obergefreite langsam in das langsam grün werdende Buschwerk. Hier knackte ein kleiner Ast, dort vernahm man das typische, singende Geräusch eines zurück gebogenen Astes, nachdem seine Spannung verloren ging, aber alles zeugte von den vorsichtigen Bewegungen des jungen deutschen Soldaten.

„Herr Hauptmann“, kam es nach einer geraumen Zeit der Stille aus dem Gebüsch, „ das müssen sie sich einmal ansehen.“

„Ich bin gleich da.“

Mit raschen Handgriffen band der Hauptmann die beiden Pferde an den nächsten Busch und betrat nun auf demselben Weg, wie zuvor der Obergefreite ihn genommen hatte, das Gestrüpp. Allerdings und das musste er sich innerlich zugeben, hatte er wesentlich größere Schwierigkeiten, sich durch das Astwerk zu arbeiten, wie Stefan. So undurchdringlich es schien, so unvermittelt war dieses natürliche Hindernis zu Ende, machte einem leicht abfallenden Uferstreifen, Platz.

Und dort auf dem jungen Grün, jeder Betrachter konnte sehen, dass jemand in regelrechter Panik diesen Ort verlassen hatte, standen eine aus Holz gefertigte Staffelei, mit einem bereits begonnenen Bild, daneben, ordentlich abgelegt, einige Kohlestifte, eine typische Malerpalette, mit verschiedenen Farbmischungen, von denen der unverkennbare Geruch von frischer Ölfarbe an die Nase drang, verbunden mit jenem, leicht beißenden Gestank von Terpentin, der von einem halb gefüllten Einweckglas ausging, in dem sich verschiedene Pinsel befanden. All diese Ordnung oder aber auch Unordnung, wie auch immer man dies sehen wollte, war dem Hauptmann Daniel von Balzer mehr als vertraut.

„Also Herr Hauptmann, ich bin zwar nur ein einfacher Soldat und Zeichnen habe ich in der Schule immer gehasst, so dass ich eigentlich vom Zeichnen und Malen keine Ahnung habe, aber das hier,“ er wies mit seiner Hand auf eine am Boden liegenden Mappe,“ das sind verdammt gute Bilder.“

Langsam drehte sich Daniel zu Stefan und dieser, tief in der Hocke, beugte sich über eine vor ihm geöffnete, große Mappe, wie sie gerne von Malern genommen wurde. Mit fast lässigen und doch hektischen Bewegungen, blätterte der junge Soldat in den Zeichnungen, was Daniel sofort die Haare zu Berge stehen ließ.

„Kann ich mal sehen?“ War die kurze Bemerkung von Daniel, der mit wenigen Schritten bei seinem Burschen war und sich ebenfalls in die Hocke begab.