Liebe auf Altgriechisch - Amy P. Fleming - E-Book

Liebe auf Altgriechisch E-Book

Amy P. Fleming

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Beschreibung

Laura war immer ein braves Mädchen. Und klug. Heute studiert sie Geschichte, macht ihre Hausaufgaben und verdient sich ihren Lebensunterhalt mit Nachhilfe. Sonntags - nein, in die Kirche geht sie sonntags nicht. Auch Birk studiert Geschichte. Er weiß sogar, was Hausaufgaben sind. Er hat überdies schon gehört, dass gewisse Sprachen wie Latein und Altgriechisch für ein Geschichtsstudium hilfreich sein können. Doch Laura ist hübsch. Und Birk ein Jäger, den nichts mehr reizt als ein mindestens ebenbürtiger Gegner. Er beherrscht alle erotischen Tricks und die Frauen laufen ihm nach, doch das langweilt ihn, er will Laura, die er nicht haben kann. Wird er sie schließlich doch erobern oder sich nur bei dem Versuch verletzen, sein eigenes Herz verlieren, gar ganz übel zugerichtet im Krankenhaus enden?

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Seitenzahl: 411

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Table of Contents

Warum gerade Laura?

Mätzchen und Methoden

Kannst du Hexameter, Birk?

Im Georgengarten

Ich bin nicht schön!

Den Zorn besinge, oh Muse

Ein Waffenschein

Besuche

Der Meister des Bluffs

Weder der Bundesrat, noch der Bundestag, höchstens der Ex-Bundeskanzler

Impressum

Warum gerade Laura?

Er starrte sie schon wieder an. Damit musste er unbedingt aufhören, sonst bemerkte sie das noch und er würde sich auch die letzte Mikrone einer Chance vererben, ihr näher zu kommen. Aber glücklicherweise hörte sie wieder dermaßen interessiert auf das, was der Dozent sagte, dass sie ihn nicht ansah, ja sie sah ihn überhaupt nicht. Wie in der ganzen Zeit, in der sie jetzt schon gemeinsam im Seminar saßen.

Aber sie war immer so konzentriert und sah nur den Dozenten an, außer, wenn sie sich Notizen machte, manchmal schrieb sie auch ausführlicher mit, oder wenn sich ein anderer Student zu Wort meldete. Dann sah sie denjenigen genauso aufmerksam an, wie vorher den Dozenten. Aber nie schweifte ihr Blick mal in die Runde, wie es üblich war, die Kommilitonen mit einem Blick oder Nicken zur Kenntnis zu nehmen. So dass sie seine Existenz nie bemerkte. Das war das eine Problem.

Das andere war ihr Fanclub. So hatte er die Gruppe von Studenten genannt, die sie immer umgaben, so dass es ihm unmöglich war, sie mal allein zu sprechen, um irgendeine Art von Kontakt in Gang zu bringen. Es war wie verhext. Da war dieser Azubi, – musste der nicht eigentlich mal zu seiner Lehrstelle? – der immer zwei Plätze von ihr entfernt saß, und dann die beiden, die neben ihr saßen, ein Biologe und ein Philosoph (!), die sie förmlich einrahmten und nicht zuließen, dass irgend jemand sonst mit ihr auch nur sprach.

Einmal hatte er versucht, sich neben sie zu setzen, weil der Biologe noch nicht da war, aber das war natürlich schief gegangen: Sie hatte ihn sehr freundlich gebeten, sich woanders hinzusetzen, weil dort immer ein bestimmter Kommilitone säße und ihm war überhaupt keine Wahl geblieben, als genau das zu tun, wenn er nicht gerade als Rowdy dastehen wollte, und das wollte er nun gewiss nicht.

Blieb also die Frage: Was tun? Welche Möglichkeiten blieben ihm? Er könnte vielleicht einfach nach Seminarende ein bisschen trödeln und herausfinden, wie sie nach Hause kam. Blieb nur zu hoffen, dass sie nicht draußen anfing, mit ihrem Fanclub über das Seminar zu reden, das konnte dann nämlich dauern, soviel hatte er schon festgestellt. Die drei hatten offensichtlich immer genau so viel Zeit wie sie, denn wenn sie ging, war das Landsthing aufgehoben, das war jedes Mal so gewesen.

Irgendwie vergingen die Seminare, an denen sie teilnahm, schneller als andere. Er hatte gerade noch Zeit, sich die Hausaufgaben zu notieren, da verabschiedete sich der Dozent auch schon. Die Studenten verließen plaudernd den Seminarraum, auch sie und ihr Fanclub. Dann gingen sie auf den Hof, auf dem die Fahrräder standen, und dort standen sie dann auch und wieder einmal dauerte es. Zum Glück war das Wetter schön und so setzte er sich auf eine Bank und las einen kopierten Artikel, wobei er sie nicht aus den Augen ließ. Als sie schließlich ihr Fahrrad bestieg, löste sich die kleine Gruppe auf, er warf eilig seine Unterlagen in seinen Rucksack und folgte ihr.

Es war verblüffend einfach herauszufinden, wo sie wohnte. Sie fuhr gemächlich und verkehrsregelkonform, sie fuhr auf den Radwegen, sie hielt bei allen roten Ampeln und zeigte vorschriftsmäßig an, wenn sie abbog, es war fast, als wollte sie sich für einen Fahrschulprospekt bewerben. Vor einem ganz normalen Mietshaus bremste sie und fuhr durch einen Torbogen zu einem Hinterhaus, während er schnell in eine Seitenstraße abtauchte, damit sie ihn nicht doch noch bemerkte. Er wartete eine Weile, bis sie im Haus verschwunden war und las dann das Klingelschild, tatsächlich, da war ihr Name, Laura Heine, sie wohnte also wirklich hier. Da er meinte, sein Glück für heute genug strapaziert zu haben, klingelte er nicht, sondern fuhr die umliegenden Straßen ab, um festzustellen, wo sie wohl einkaufte. Er fand zwei passende Supermärkte und einen griechischen Gemüsehändler, blieb nur die Frage, wann sie wohl immer einkaufte.

Da diese Frage zunächst unbeantwortet bleiben musste, fuhr er nach Hause, stellte sein Fahrrad unter, legte seinen Rucksack ab und begab sich in seine Lieblingskneipe, in der schon einige seiner Freunde Pool spielten.

Sie begrüßten ihn mit einem grinsenden: „Na, Birk, was macht die Göttin?“, woraufhin seine Gesichtsfarbe in ein wenig schmeichelhaftes Orange changierte, das sich unerfreulich mit dem Blond seiner Haare und dem Grün seines T-Shirts biss. Zu seinen blauen Augen passte es jedoch hervorragend. Aber wie immer schilderte er ihnen seine letzten Schritte.

„Du willst ihr also beim Einkaufen auflauern?“

„Ich würde ihr überall auflauern, wenn ich nur wüsste, wo sie zu der Zeit jeweils ist.“

„Aber lohnt sich dieser ganze Aufwand überhaupt? Ich meine, es gibt doch jede Menge hübscher Mädchen an der Uni. Du kannst fast alle umsonst haben, ohne dies Theater.“

„Und das hast du ja auch schon reichlich ausgekostet.“

„Schon, aber sie ist anders. Sie sieht mich nicht einmal.“

„Ach, ja, daher weht der Wind. Unser Robert Redford fühlt sich nicht genug beachtet. Da gibt es doch wirklich ein Mädchen an der Uni, das ihn nicht schmachtend anblickt, und ergeben vor ihm in die Knie sinkt, und schon sieht er rot! Dear boy, das nennt sich gekränkte Eitelkeit. Mit der Frau hat das gar nichts zu tun, da geht es nur um dich.“

„Quatsch, ich habe euch gesagt, sie ist eine Göttin. Die Dozenten himmeln sie an, und dann erst ihr Fanclub.“

„Wahrscheinlich macht sie das bei denen genauso, sie ignoriert sie einfach, und sie rennen alle hinter ihr her.“

Als sich das allgemeine Gelächter wieder gelegt hatte, sagte er: „Das stimmt ja nicht. Sie ist die ganze Zeit mit denen zusammen und verteidigt sogar ihre Sitzplätze im Seminar, also hat sich's was mit ignorieren.“

„Tja, dann muss das Fräulein wohl doch magisch begabt sein. Erzähl uns doch noch mal von ihrer überirdischen Schönheit.“

„Ach, halt doch endlich die Klappe und gib mir den Queue.“

Seine Freunde sahen sich an und grinsten verschwörerisch. Er wusste auch, was sie dachten: „Den hat es wohl richtig erwischt.“ Und möglicherweise hatten sie damit sogar Recht. Und vielleicht geschah ihm damit auch ganz recht, mahnte sein schlechtes Gewissen, so, wie er mit seinen letzten Freundinnen umgegangen war. Vielleicht war es wirklich so, dass er sie nicht mehr wollte, weil sie ihn wollten. Vielleicht war er despotisch und arrogant geworden, weil sie das duldeten, auch wenn sie damit nicht glücklich waren.

Plötzlich drängte sich wieder eine Stimme in sein Bewusstsein: „Vielleicht wäre es besser für sie, wenn du sie in Ruhe ließest, denk doch mal daran, wie unglücklich die Mädchen sind, wenn du sie fallen lässt, was bekanntermaßen spätestens nach zwei Monaten passiert.“

Nachdem er sechs Spiele verloren hatte, ging er nach Hause. Er versuchte, noch einige Texte zu lesen, konnte sich aber nicht konzentrieren und begann statt dessen, seine nächsten Schritte zu planen. Allerdings war ihm auch damit kein Erfolg beschieden, ein Plan war haarsträubender als der andere, so kam er nicht weiter.

Aber wenn es an ihm lag, und sie gar nicht so toll war und er sich das alles nur einbildete, was war dann mit den Dozenten? Sie verhielten sich ihr gegenüber völlig anders als den anderen Studenten gegenüber. Neulich traf Friesing sie an der Eingangstür, es war absolut unglaublich: Plötzlich war aus dem alten Bücherwurm ein perfekter Gentleman geworden. Er begrüßte sie in aller Form, wies ihr den Weg (als ob sie den nicht wüsste), geleitete sie zur Treppe, lies sie vorgehen und umrundete sie geschickt, so dass er ihr schließlich auch noch die Tür zum Seminarraum öffnen konnte. Und regelmäßig, wenn er alle Seminarteilnehmer nach Strich und Faden zusammenstauchte – entschuldigte er sich bei ihr dafür.

Das war doch alles nicht möglich! Während er so grübelte, schlief er auf seinem Zweisitzersofa ein. Als er gegen vier Uhr morgens erwachte, verfluchte er sich dafür, es gekauft zu haben, und für die unlauteren Absichten, die er beim Kauf damals gehegt hatte. Er schwor sich, nie wieder ein Zweisitzersofa! Bei seiner Größe von gut einem Meter und neunzig gab es jetzt so gut wie keinen Muskel mehr, der nicht verspannt war. Er schleppte sich zum Bett, konnte aber nicht wieder einschlafen. An diesem Tag würde er sie nicht treffen, das nächste gemeinsame Seminar war erst am darauffolgenden Tag, immer dienstags und donnerstags, am Wochenende sah er sie gar nicht, obwohl, er hatte ja jetzt ihre Adresse. Und während seine Gedanken mal links und mal rechts um das Thema kreisten, schlief er doch wieder ein.

Sein Mittwoch war vollgestopft mit Seminaren und Vorlesungen, so dass er keine rechte Gelegenheit hatte, bestimmte Maßnahmen zu ergreifen. Abends konnte er sogar wieder Pool spielen, ging dann von vornherein in sein richtiges Bett, ohne Zwischenakt auf dem Sofa. Er schlief gut, wachte aber sehr früh auf und seine Gedanken begannen wieder zu kreisen. So kam er auch viel zu früh ins Seminar. Ein Ereignis, das er nachher als glückliche Fügung pries, denn er konnte eine unglaubliche Beobachtung machen und so langsam wurde ihm klar, warum die Dozenten sie so behandelten, als wäre sie etwas ganz anderes als eine normale Studentin. Sie war eine unberechenbare kleine Hexe!

Normalerweise kam sie immer sehr früh, mindestens eine Viertelstunde vor Seminarbeginn, oft auch vor den Dozenten, die ihrerseits oft früh kamen, um noch Vorbereitungen zu treffen. An diesem Tag kam sie für ihre Verhältnisse spät, genau vier Minuten vor Seminarbeginn. Das war an sich überhaupt kein Problem, eine ganze Reihe Seminarteilnehmer fehlte noch, und es kamen auch immer einige zu spät, aber der Dozent freute sich offensichtlich, sie zu sehen und sagte scherzend: „Guten Tag, Frau Heine. Sie sind aber spät dran heute!“ Ihre Reaktion war irre, total durchgeknallt und brachte ihn völlig aus der Fassung, aber, wie er trotz allem bemerkte, den Dozenten auch.

Sie senkte den Kopf, demütig, und sagte: „Ja.“ Dann hob sie den Kopf wieder, anmutig, sah den Dozenten schuldbewusst an und fuhr fort: „Es tut mir leid, bitte entschuldigen Sie. Der Nachbarsjunge hat sich mein Fahrrad ausgeborgt und es nicht rechtzeitig wieder zurückgebracht, und da musste ich die Bahn nehmen.“ Das alles brachte sie in einem solch flehenden Ton vor, als hinge von der Vergebung des Dozenten ihr Leben ab. Der befand sich dann auch sogleich in gewaltigen Schwierigkeiten, denn er hatte die Bemerkung ja ohnehin nur scherzhaft gemeint und mit einer solchen Reaktion überhaupt nicht gerechnet. Er ruderte dann auch sofort mit voller Kraft zurück und sagte: „Ach, nein, Frau Heine, das spielt doch überhaupt keine Rolle, es ist ja auch gerade erst 13 nach.“ Zurückhaltend lächelte sie ihn an und senkte dann wieder den Blick. Der Dozent, ein emeritierter Professor, atmete auf und begann sich von seinem Schreck zu erholen. Er hatte mit allen möglichen Reaktionen gerechnet, in den vielen Jahren seiner Lehrtätigkeit hatte er schon alles Mögliche erlebt, eine solche Reaktion aber schon sehr lange nicht mehr, 30 Jahre vielleicht? Heutige Studenten sahen auf ihre Atomarmbanduhr oder auf ihr Handy und konterten eine solche Bemerkung, das Höchste der Gefühle wäre ein grummelnd gemurmeltes „Tschuldigung“, mehr war nicht drin, und das schon bei einer echten Verspätung, aber sie war gar nicht zu spät, und er hatte nur gescherzt!

Auch Birk versuchte, sich zu beruhigen. Wow, das war der Hammer! Er versuchte, gleichzeitig das Strahlen von seinem Gesicht zu verbannen und das plötzliche Spannen seiner Hose zu ignorieren. Nebenbei versuchte er zu ergründen, wie ihr Fanclub auf ihre Antwort reagierte, und das war die nächste Überraschung. Er reagierte überhaupt nicht, ganz so, als wäre eine solche Handlungsweise ihrerseits ganz normal. Die drei saßen da, plauderten und warten auf den Beginn des Seminars. Machte sie das immer so?

Während des Seminars hatte Birk genug zum Nachdenken, anschließend fuhr er wieder kurz an ihrer Wohnung vorbei und kehrte dann in seiner Kneipe ein. Dort schilderte er in leuchtenden Farben die Vorkommnisse des Seminars und wartete gespannt auf die Reaktionen seiner Freunde.

„Ganz schön abgefahren. Die Frau ist eindeutig merkwürdig.“

„Was soll das? Ich meine, warum macht die das?“

„Aber wenn man so überlegt, hat sie den Dozenten mit seiner Bemerkung ganz schön fertig gemacht. Glaubt ihr, dass er jemals wieder eine solche Bemerkung machen wird?“

„Wahrscheinlich nicht, aber wen kümmert das?“

Auf der anderen Seite war das vielleicht der Grund, warum die Dozenten sie so anders behandelten. Wenn sie öfter dermaßen unerwartet handelte und die Dozenten das wussten, war eine gewisse Vorsicht ihr gegenüber schon verständlich. Aber er hatte nie den Eindruck gehabt, dass sie ihr misstrauten, sondern eher, dass sie sie mochten und respektierten.

„Aber es ist ja nicht so, dass sie sie wie eine wandelnde Zeitbombe behandeln, ich verstehe das nicht!“

„Vielleicht ist sie einfach nur gerissen. Wenn man sich dich so ansieht, hat sie dich ja auch ganz schön am Haken.“ Die Spekulationen und der Spott gingen noch eine ganze Weile so weiter, bis sie sich schließlich wieder in ihr Spiel vertieften.

Der nächste Tag war ein Freitag, er hatte morgens zwei Veranstaltungen und nachmittags Zeit. Er fuhr also zu ihrer Wohnung und suchte sich einen Beobachtungsposten. Er fand ein kleines Café, von dem aus er ihre Haustür einsehen konnte, wenn er seinen Stuhl ganz dicht an das Fenster schob und sich schräg auf die Heizung quetschte. Die Haltung war zwar nicht gerade bequem, aber immerhin konnte er so feststellen, ob sie ihre Wohnung verließ. Hoffentlich war sie nicht gerade unterwegs und er musste stundenlang hier ausharren!

Nach anderthalb Stunden, als er schon glaubte, er brauchte einerseits eine Rückenprothese und andererseits eine Falltür oder eine Tarnkappe oder etwas Ähnliches, um den ungläubigen Blicken der Kellnerin zu entgehen, wurde er schließlich belohnt. Sie kam mit ihrem Fahrrad aus der Toreinfahrt ihres Hauses und fuhr los. Sehr zur Erleichterung der Kellnerin verließ er das Café und folgte ihr. Sie fuhr zu einer Nachhilfeschule ein paar Straßen weiter. Er sah auf die Uhr: 14:20. Er fuhr in die nächste Seitenstraße und wartete, ob sie wieder herauskam; tat sie aber nicht. Also arbeitete sie wahrscheinlich hier. Das kann dann wohl dauern, dachte er und fuhr erst einmal nach Hause, um etwas zu essen und Hausaufgaben zu erledigen. Um 17:00 machte er sich wieder auf den Weg. Ihr Fahrrad stand noch vor der Tür der Nachhilfeschule, also war sie noch drin. Er lehnte sich mit seinem Fahrrad an eine Hauswand in der Nebenstraße und wartete wieder. Vielleicht hatte er sich für den falschen Beruf entschieden, und er sollte nicht Historiker werden – vermutlich wäre es ohnehin eine brotlose Kunst – sondern lieber Privatdetektiv, da gab es ja genug zu tun. Er begann schon, sich richtig gut zu fühlen – cool wie Philip Marlowe, intelligent wie Sherlock Holmes und raffiniert wie Hercule Poirot. Aber diese Warterei!

Um 18:15 verließ sie endlich das Gebäude und – welche Überraschung! – fuhr schnurstracks nach Hause. Naja, er würde ihren Lebenswandel schon auf Trab bringen. Vielleicht sollte er sich über ihren Tagesablauf Notizen machen und ein Dossier anlegen, das klang zumindest schon mal gut. Irgendwie begann ihm die Sache Spaß zu machen, auch wenn er ihr selbst noch keinen Zentimeter näher gekommen war.

Also fuhr er erst einmal zu einem kleinen Schreibwarenladen und besorgte sich ein hübsches Din A5 Buch mit karierten Seiten, er schrieb am liebsten auf Karos. Zurück in seiner Kneipe begann er gleich mit den ersten Eintragungen: Auf die erste Seite kamen ihr Name, ihre Adresse, die Telefonnummer fehlte noch und ihre Personenbeschreibung. Die folgende Doppelseite verwandelte er in eine Art Stundenplan, in den er gleich die Termine eintrug, von denen er schon wusste: Dienstags von 9:00 bis 11:00 das Seminar bei Dr. Friesing: „Die Fahrten des Odysseus – Mythos oder Wahrheit?“, donnerstags 9:00 bis 11:00 bei Prof. Weißbrich: „Die Ideenlehre des Platon“ und freitags etwa von 14:30 bis 18:00 Arbeit in der Nachhilfeschule.

Möglicherweise arbeitete sie noch öfter dort, das würde er durch einen Anruf bei der Schule am Montag Morgen herausfinden. Was sie wohl am Wochenende tat? Na, er konnte sich ja morgen oder übermorgen wieder auf die Lauer legen.

Ab zehn Uhr am Sonntagmorgen saß er wieder in seinem Café – genauer hing er schräg über der Heizung, ein Segen, dass sie aus war! Er hoffte einfach, dass Laura auch keine Frühaufsteherin war, die morgens in aller Herrgottsfrühe joggen ging oder etwas ähnlich Anstrengendes tat, dann würden sie ohnehin nicht zusammen passen.

Um elf Uhr verließ sie ihre Wohnung, ihren Rucksack auf einer Schulter, den sie überall mit hinzunehmen schien, in der anderen Hand einen Korb. Natürlich konnte er auf die Entfernung nicht sehen, was darin war. Vielleicht ein Picknick? Leider konnte er schlecht zu ihr hingehen und sich selbst dazu einladen, eigentlich schade, aber reizvoll war der Gedanke schon. Er stellte sich vor mit ihr auf einer einsamen Waldlichtung, beide spärlich bekleidet, ach Quatsch, natürlich wären sie beide gar nicht bekleidet, und was er dann mit ihr tun würde...

Seine Hose spannte schon wieder, als er sich zusammenriss, aufsprang und losmarschierte. Dass sie zu Fuß ging, erwies sich als Komplikation bei der Verfolgung. Er konnte ja schließlich nicht hinter irgendwelche Autos springen, um Deckung zu suchen, falls sie sich mal umdrehte, und die Gefahr, dass sie das tat, war wesentlich größer als auf dem Fahrrad, da sie sich dabei auf den Verkehr konzentrieren musste – oh, wie gern würde er sich auf den Verkehr konzentrieren, den mit ihr...

Als sie in eine Seitenstraße einbog, wurde es noch schwieriger. Hier war überhaupt nichts mehr los, und so blieb er zunächst an der Straßenecke stehen, so dass er sich mit nur einem einzigen Schritt um die Hausecke aus ihrer Sichtweite bringen konnte. Als sie etwa drei Viertel der Straße abgeschritten hatte, blieb sie stehen, kramte in ihrem Rucksack, holte einen Schlüssel hervor und schloss ein dort stehendes Auto auf. Sie hatte ein Auto?

Ganz offensichtlich. Sie stellte ihren Korb auf den Beifahrersitz, warf ihren Rucksack davor auf den Fußboden, stieg ein und fuhr los. Schlagartig wurde ihm klar, dass er, wenn er seiner neuen Berufung als Privatdetektiv folgen wollte, unbedingt noch ein schnelles Auto brauchte, um Verfolgungen absolvieren zu können. Aber er müsste sich auch noch so ein anderes Vokabular zulegen „Verfolgungen absolvieren“, das klang irgendwie nicht privatdetektivisch, nicht cool, sondern – tja, dumm gelaufen, dämlich, nach Student, Latein, langweiliger Ausdruckweise eben. Absolvere – loslösen, befreien, was noch? Er grübelte, freisprechen, ähm, erledigen. Ja, erledigen wäre es dann wohl, es ginge also schon, aber es war so was von unspannend! Alles in ihm kribbelte, bei so einer Verfolgungsjagd, da musste man um die Ecke heizen, das musste kacheln, was gab es noch? Ernüchterung keimte in ihm auf und wurde von Frustration abgelöst (absoluta, sozusagen). Er beherrschte nicht einmal den einfachsten Slang, wie es sich für einen echten Marlowe gehörte. Dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen: Er war ja noch bescheuerter als Matula!

Diese Erkenntnis war zuviel. Er zog sein Handy aus der Tasche und rief seine Mutter an.

„Was gibt es bei euch heute zum Mittag?“

„Ich habe einen Braten im Ofen und einen Kartoffelgratin. Als Nachtisch habe ich Erdbeeren mit Zabaione, natürlich noch keine eigenen, aber sie sind in Ordnung, auch wenn dieser volle Aroma-Flush von Mara des Bois natürlich nicht vorhanden ist.“

„Okay, dann komme ich.“

„Soll Papa dich abholen?“

„Nein, danke, ich fahre mit dem Fahrrad zu euch raus, ich muss mich bewegen.“

„Fahr vorsichtig, bis nachher.“

Er fuhr kurz in seine Wohnung, um seinen Fahrradhelm zu holen und startete dann. Mit aller Gewalt stieß er in die Pedale, obwohl er in der Stadt noch zuviel Rücksicht auf den Verkehr nehmen musste, so dass er nicht wirklich schnell werden konnte. Als er aus Anderten heraus war, beschleunigte er; dies war der angenehmste Teil der Strecke. Es gab noch überall Radwege, so dass er nicht auf Autos achten musste und so schnell fahren konnte, wie er eben konnte. Weiter draußen auf den Landstraßen war es schwieriger, die Straßen waren teilweise sehr schmal, kurvig und zu schnell gefahren wurde immer, denn Polizeikontrollen waren selten. Bei dem geringen Verkehrsaufkommen zwischen den kleinen Dörfern lohnte sich das einfach nicht.

Nach einer Dreiviertelstunde war er da und hatte damit seine persönliche Bestzeit unterschritten; auch seine Frustration war wie weggeblasen, als er schließlich durch den Garten zur Verandatür stakste, noch etwas steif von der Tour. Wie er erwartet hatte, war auch seine Mutter im Garten, es lag ihr nicht, bei solchem Wetter drinnen zu sein, schon gar nicht in der Küche. Deswegen gab es ja auch die praktischen Gerichte aus dem Ofen, die nicht die ganze Zeit beaufsichtigt werden mussten. Seine Mutter ging das Kochen sehr pragmatisch an: Sie arbeitete ein Rezept genau aus, inklusive der Programmierung des Herdes und des Backofens in Minuten und auf das Grad genau, und wenn sie es dann ausführte, verließ sie sich hundertprozentig darauf, dass das alles klappte. Tatsächlich funktionierte diese Methode ganz hervorragend, weil sie damit den menschlichen Faktor, der ja bekanntlich Fehler macht, ausschaltete, insbesondere ihre eigene Ungeduld, weil sich nicht in der Küche herumstehen wollte. Nach dem Essen kam alles – einzige Ausnahme waren der Herd und die Küchenschränke - in den Geschirrspüler. Er hatte schon immer vermutet, dass es einfach nur die physikalische Unmöglichkeit war, die den Herd und die Schränke schützte – also die Tatsache, dass sie einfach nicht hinein passten, sonst wären sie auch in den Geschirrspüler gewandert.

Wenn jemand ihr dabei zusah und sie darauf ansprach, dass sie doch dieses oder jenes nicht in den Geschirrspüler tun konnte (die Holzmesser!, den großen Topf!, die Tortenplatte!, das Stövchen!, die Bodenvase!), lachte sie nur und meinte: „Ich sage es den Sachen ja immer: Kannst du den Geschirrspüler nicht überstehen, darfst du nicht in meine Küche gehen! Wenn sie nicht hören, ist das ihr Problem.“

Während er durch den Garten schritt, wirkte schon der Zauber. Überall blühte es, jetzt, Mitte Mai, war die beste Jahreszeit. Überall wucherte blau das Vergissmeinnicht, der Goldlack, der Flieder, die Tulpen standen in voller Blüte und die Luft war erfüllt vom Summen der Bienen und Hummeln. Als seine Mutter ihn sah, stand sie vom Rasen auf und strahlte ihn an: „Fein, dass du heute kommst. Ist es nicht herrlich?“

Er nickte: „Ja, das ist es.“ Er war ihr dankbar dafür, das so empfinden zu können. Anders als viele seiner Freunde hatte er eine intensive Beziehung zur Natur, zu den Pflanzen und auch zu den Tieren, denn sie hatte ihn von klein auf gelehrt, das alles zu schätzen. Sie waren immer im Garten gewesen, ob es regnete, schneite oder die Sonne so heiß brannte, dass man glaubte zu verglühen, war völlig irrelevant gewesen. Dabei hatte sie ihm immer alles erklärt, so dass er schon als ganz kleiner Knirps gefüllte Schneeglöckchen von ungefüllten unterscheiden konnte, und beide natürlich von Märzenbechern, Winterlingen, Krokussen oder Maiglöckchen, das war aber ohnehin leicht, weil die später blühten.

Als sie ihn betrachtete, fing sie plötzlich an zu lachen. „Willst du vielleicht erst duschen?“

Völlig verschwitzt, wie er war, nahm er gern an und bemerkte im Badezimmerspiegel den Grund ihrer Heiterkeit. Er war von oben bis unten mit weißlich-gelbem Staub (Blütenpollen, Straßenstaub, Saharasand?) verklebt und sah etwa so aus wie ein Alien.

Nach der Dusche ging er in sein Zimmer und suchte sich etwas Sauberes zum Anziehen heraus. Das Mittagessen nahmen sie drinnen ein, weil sein Vater großen Wert darauf legte, unbehelligt von Insekten zu essen, danach ging er mit seiner Mutter in den Garten, um die Blütenpracht zu bewundern, was ihr die Gelegenheit gab, in allen Einzelheiten zu schildern, wie es jeder Pflanze gerade privat so ging, natürlich wurden auch alle Hummeln und Bienen persönlich begrüßt. Die Wespen, so erfuhr er, waren noch nicht da, wurden aber wie jedes Jahr um diese Zeit schon sehnsüchtig erwartet, weil sie die einzigen waren, die die Blattläuse in Schach halten konnten. Es verstand sich von selbst, dass im Garten seiner Mutter keinerlei Gift angewandt wurde, so etwas stand außerhalb jeglicher Diskussion.

Er verbrachte einen herrlichen Tag zu Hause, abends grillten sie im Garten und später brachte sein Vater ihn mit dem Wagen zurück, das Fahrrad passte mit ein wenig Mühe in seinem Kombi.

Wieder in seiner Wohnung beschloss er nachzusehen, ob Laura auch wieder zurück war. Das war natürlich relativ schwierig, da er nicht genau wusste, welche Fenster zu ihrer Wohnung gehörten, wo also Licht brennen musste. Das Stockwerk war aufgrund des Klingelschildes klar, sie wohnte im ersten Stock, die Frage war nur, ob links oder rechts. Als er dort war, stellte er fest, dass das ganze Stockwerk dunkel war – wo trieb sie sich eigentlich herum? Ob sie sich mit einem Typen traf? Eifersucht kochte in ihm hoch: Sie hätte wirklich besser mit ihm picknicken sollen, statt sich von irgendwelchen krummen Typen begrapschen zu lassen!

Am Montag hatte er zu viel zu tun, um zu ihrem Haus zu fahren, allerdings schaffte er es in einer Pause, bei ihrer Nachhilfeschule anzurufen – als besorgter Vater, der dringend Nachhilfe in allen möglichen Fächern für seine Tochter brauchte und dem gerade Laura empfohlen worden war – und herauszufinden, dass sie jeden Nachmittag von 14:30 bis 18:00 dort arbeitete, nur nicht am Wochenende.

Langsam aber sicher begann er an ihr zu zweifeln. Was hatte denn das zu bedeuten? In der Uni eifrig wie sonst etwas und dann auch noch jeden Nachmittag Arbeit? Dazu ihre extrem regelkonforme Art Fahrrad zu fahren und ihre unauffällige Kleidung, war sie etwa Amish oder was?

Und während er so grübelte und sich über sie ärgerte, sei es aus schlechtem Gewissen, weil er ihr mit seiner Arbeitseinstellung bei Weitem nicht das Wasser reichen konnte, sei es, dass er seine Chancen schwinden sah, weil sie gar so zielstrebig und fleißig war, erwachte in ihm der Kampfgeist. Das wäre doch gelacht, wenn er es nicht schaffen würde, zu beweisen, dass sie auch nur aus Fleisch und Blut und so faul wie die anderen war!

Am Dienstag traf er sie wieder im Seminar, genau wie sie war er sehr früh gekommen, so dass er sie noch ein Weilchen beobachten konnte. Ihr Fanclub war noch nicht da und so saß sie über ihrem Odysseus – natürlich im altgriechischen Original – und las lautlos vor sich hin, während sich aber ihre Lippen bewegten. Mit einem Bleistift machte sie kleine Zeichen in das Buch, sie war also wieder einmal dabei, Hexameter auszuklamüsern. Was fand sie nur daran? Sie alle hatten die Regeln dafür gelernt, auch er kriegte mit etwas Glück so einen Hexameter in den Griff, aber sie sah dabei glücklich aus, als ob sie sich gar keine schönere Beschäftigung denken könnte. Es war ein Vergnügen ihr zuzusehen: Sie las sich einen Vers vor, überlegte, las ihn noch einmal, schüttelte den Kopf und las ihn wieder; dann machte sie ein paar Striche und las den Vers noch einmal, dann wieder ein paar Striche. Wenn sie noch nicht zufrieden war, radierte sie alles wieder aus und begann von vorn und die ganze Zeit lächelte sie vor sich hin. Wenn sie zufrieden war, ging auf ihrem Gesicht die Sonne auf und ihr Strahlen schien das Papier zu erleuchten.

Dann betrat Friesing den Raum, der sich langsam auch mit weiteren Studenten füllte. Auf Friesings Gruß hob sie den Kopf und lächelte ihn an, das Strahlen war noch nicht ganz aus ihrem Gesicht gewichen: „Guten Morgen, Herr Friesing.“ So eine freudige Begrüßung konnte er nicht ignorieren: „Na, Frau Heine, basteln Sie wieder an den Hexametern?“ Erneut ging die Sonne auf ihrem Gesicht auf: „Ja, es klappt immer besser.“ „Sie können das doch längst im Schlaf,“ sagte er, nun seinerseits lächelnd. Sie wusste das, und Friesing wusste es also auch, das Strahlen wurde zu einem Grinsen: „Naja, es gibt immer noch den einen oder anderen Vers, der nicht auf Anhieb hinhaut, und außerdem – es macht doch solche Freude!“

Nun, dass es ihr Freude machte, konnte wohl jeder sehen. Inzwischen war auch ihr Fanclub erschienen und das Seminar begann. Und plötzlich ergab sich für Birk endlich die Gelegenheit, in ihr Bewusstsein vorzudringen.

Nach der neuen Studienordnung musste man für einen Schein drei Studienleistungen erbringen, wie Klausuren, Hausarbeiten, Referate, Bibliographien, Kurzreferate usw. Bei der geringen Anzahl an Teilnehmern wurden in den Seminaren kaum Klausuren geschrieben, so dass üblicherweise ein Referat mit Hausarbeit als Studienleistung für den Schein verlangt wurde. Die dritte erforderliche Leistung legte jeder Dozent selbst fest. Friesing nun verlangte als dritte Leistung zwei kleinere Hausaufgaben, die Fragen beantworteten, die im Seminar aufgetreten waren. Das war eine sehr angenehme Sache, denn die Aufgaben, die er verteilte, hielten sich, was den Umfang betraf, durchaus im Rahmen, sie waren in zwei bis drei Stunden zu erledigen, und er teilte dem jeweiligen Studenten auch gleich mit, wo er nachlesen musste, so dass die übliche, elende Sucherei wegfiel.

In dieser Stunde nun war es wieder so weit, dass eine Frage aufkam, die an dieser Stelle nicht ausführlich behandelt werden konnte. Wie verwendete Homer den Hexameter zur Stützung des Inhaltes? Als Friesing diese Frage als Hausaufgabe anbot, meldete sich zunächst niemand – die Aufgabe klang kompliziert.

Das konnte Laura natürlich nicht lange mit ansehen und meldete sich. In der Sekunde erkannte Birk seine Chance und meldete sich ebenfalls. Friesing blickte von ihr zu ihm und war etwas irritiert; Laura brauchte die Aufgabe nicht, sie hatte schon mehrere erledigt, natürlich jeweils perfekt, Birk hatte noch nichts getan, hätte also die Aufgabe eher zugewiesen bekommen müssen. In dem armen Dozenten kämpfte es: Er würde die Aufgabe lieber Laura geben, zumal er dann in der nächsten Woche ein perfektes Ergebnis hätte und ihrer Begeisterung über den Hexameter lauschen könnte, was ein besonderes Vergnügen zu werden versprach, aber eigentlich müsste er die Hausarbeit Birk geben, das gebot die Gerechtigkeit, auch wenn er dann vielleicht doch alles selbst erklären müsste. Da bot Birk ihm einen einfachen Ausweg; er lächelte Laura an, sah zum Dozenten und wieder zu ihr und sagte: „Wir können es ja zusammen machen.“

Für den Dozenten war das ein angenehmer Ausweg, auch wenn er dann zuließ, dass Birk sich um einen Teil der Arbeit herumschummelte. Aber immerhin würde er von Laura eine ganze Menge lernen, und darum ging es ja letzten Endes.

Sie hingegen sah wenig begeistert aus und sagte schnell: „Du kannst die Aufgabe ruhig haben, das macht mir nichts.“

Aber Birk hatte nicht vor, die herrliche Chance, die sich ihm geboten hatte, so einfach verstreichen zu lassen und antwortete ebenso schnell: „Oh, wir können das gern zusammen machen, das ist doch in Ordnung, Herr Friesing?“

Der Dozent, der jetzt mit seinem Seminar weiter machen wollte sagte: „Ja, machen Sie das ruhig zusammen,“ gab noch Sekundärliteratur an, die sie für die Hausaufgabe verwenden sollten und fuhr dann im Thema fort.

Laura sah jetzt Birk an, wenig begeistert, fand sich dann aber offenbar mit dem Unvermeidlichen ab und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Dozenten zu.

Birk Herz schlug auf einer Frequenz von vermutlich 150 Schlägen pro Minute und er versuchte, ruhig zu atmen, um sich wieder zu beruhigen. Das hatte ja wunderbar geklappt. Dass Laura nicht gerade begeistert war, störte ihn überhaupt nicht. Jetzt durfte er nur nicht zu interessiert an ihr wirken, er musste den Anschein erwecken, dass es ihm nur um die Arbeit ging, die er unbedingt hervorragend absolvieren wollte.

Als das Seminar beendet war, ging er direkt zu ihr, mitten in ihren Fanclub, dessen sechs Augen ihn böse anstarrten. Er fragte sie, wie sie es denn handhaben wollten, er würde sich gern erst einmal die Texte allein durchlesen und in Hinblick auf die Fragestellung durchgehen und dann könnten sie sich ja irgendwo treffen, um ihre Ergebnisse zu vergleichen und zu konsolidieren. Sie nickte und er fügte hinzu: „Wobei, vielleicht nicht in einer Kneipe oder so, das ist zu laut und man kann nicht vernünftig arbeiten.“ Immer nur die Arbeit, das ist wichtig, dachte er bei sich.

Sie nickte wieder und meinte: „Wenn es dir nichts ausmacht, könntest du ja vielleicht zu mir kommen, ich wohne in der Falkenstraße.“ Ob es ihm etwas ausmachte? Er gab sich alle Mühe, die Begeisterung ob seines phantastisch laufenden Planes aus seinem Gesicht zu glätten und sagte: „Kein Problem, da kann ich mit dem Rad hinfahren.“ Sie einigten sich auf den Freitagabend um 19:00. Er sagte noch freundlich Tschüß und verließ dann eilig den Seminarraum, um sich nicht doch noch irgendwie zu verraten.

Auf dem Weg in seine Wohnung wäre er am liebsten vor Freude in Schlangenlinien gefahren, das hatte ja ganz hervorragend geklappt.

Allerdings begann er sich auch langsam zu wundern. Er hatte ihr angesehen, dass sie nicht mit ihm arbeiten wollte und sie hatte ja auch versucht, da wieder herauszukommen, aber sie hatte sich nicht geweigert, oder auch nur einfach gesagt, dass sie lieber allein arbeiten wollte. Also warum hatte sie sich auf diese Sache eingelassen, obwohl sie ganz klar nicht wollte? Er ließ die einzelnen Szenen noch einmal vor seinem inneren Auge Revue passieren und während er fast unter einen LKW geriet, erkannte er plötzlich die Wahrheit: Es ging hier um Höflichkeit, gute Erziehung. Sie hatte nicht abgelehnt, weil es schlicht unhöflich gewesen wäre. Er ging die zahlreichen Lektionen seiner Mutter in Sachen Höflichkeit noch einmal durch, sie hatte viel Zeit damit verbracht, ihm die Regeln des Umgangs mit anderen Menschen nahezubringen. Ein Grinsen stahl sich auf sein Gesicht – es war auch nötig gewesen. Allerdings fühlte er sich an diese Regeln nur bedingt gebunden, seiner Mutter gegenüber natürlich, auch anderen Menschen gegenüber, wenn seine Mutter anwesend war, aber ansonsten benutzte er diese Regeln mehr für seine Zwecke als dass er sich wirklich daran hielt. Und sie waren für ihn außerordentlich nützlich, besonders diesen wohlerzogenen Frauen und Mädchen aus bürgerlichen Kreisen gegenüber: Es war ihnen unmöglich, ihm eine höflich vorgetragene Bitte abzuschlagen, ohne selbst unhöflich zu sein. Und das versuchten sie alle möglichst zu vermeiden. Für ihn ergab das einen beträchtlichen Spielraum, sie mussten schon sehr wütend auf ihn sein, bis sie ihm endlich Paroli boten. Bei Männern klappte diese Methode nicht so gut, genau wie er gingen sie viel eher das Risiko ein, alle Höflichkeit fahren zu lassen.

Da Laura offensichtlich auch zu dieser wohlerzogenen Sorte von Mädchen gehörte, hatte sie ihm quasi nichts entgegenzusetzen. Und das würde er rücksichtslos ausnutzen.

Als Laura in ihrer Wohnung ankam, war sie wütend und frustriert. Sie wollte mit diesem Schönling keine Hausaufgabe machen, und vor allem nicht über Homer. Schon bei dem Gedanken, dass dieser Dummkopf sich in irgendeiner Weise über Odysseus oder Achill, den älteren oder den jüngeren Ajas äußerte, kochte der Zorn in ihr, ihre Hände ballten sich zu Fäusten und ihr ganzer Körper verkrampfte sich. Das könnte sie nicht ertragen. Sie wünschte, dass ihr Poseidon oder Apoll zu Hilfe kämen und es ihm so richtig zeigten, aber natürlich war ihr klar, dass daraus nichts würde. Schade eigentlich. Aber den griechischen Göttern erging es wie den klingonischen – sie waren tot. Plötzlich musste sie an einen Satz aus Star Trek denken und begann zu lächeln, als sie Worf vor sich sah: „Die klingonischen Götter sind tot. Erschlagen von klingonischen Kriegern vor über tausend Jahren. Letztendlich haben sie mehr Ärger als Nutzen gebracht.“ Sie kicherte vor sich hin und überlegte, wie sie mit der Situation fertig werden konnte.

Heute war einer ihrer ruhigen Tage, sie hatte also noch reichlich Zeit, bis sie arbeiten musste. Sie machte sich einen Kakao, stellte zwei Kerzen auf den Fußboden und nahm ihr Tarot-Kartenspiel. Die Frage war klar: Was sollte sie mit diesem Dummling tun? Sie legte ein ganz einfaches Muster aus drei Karten und sprach dabei laut: heute, gestern, morgen.

Sie deckte die Karte für heute auf und fand den Tod 13. Eine ganze Weile saß sie da und grübelte. Natürlich wusste sie, dass das nicht bedeutete, dass ihr der Tod nahe war, aber irgend etwas ging zuende und vielleicht wäre sie danach nicht mehr dieselbe. Und wahrscheinlich lag die Entscheidung dafür nicht bei ihr. Eigentlich hatte sie die Karten legen wollen, um sich zu beruhigen und einen Weg zu finden, mit diesem Schönling die Hausaufgaben zu machen, ohne allzu viel von sich preiszugeben. Das konnte sie offensichtlich abschreiben. Nun, weiter, das Gestern: die Welt 21. Himmel, noch so eine Karte. Die Bedeutung dieses Kerls schien weitaus höher zu sein, als sie vermutet hatte. Sollte er ihr ganzes Leben, das sie so hübsch arrangiert hatte, durcheinanderbringen? Nun, das Morgen (was sollte jetzt noch Kommen): der Ritter der Kelche. Ein Glück – wenn jetzt die Liebenden oder so etwas gekommen wäre, hätte sie sich entweder aus dem Fenster gestürzt oder sich aus gesundheitlichen Gründen von der Hausaufgabe entbinden lassen!

In den folgenden Tagen arbeitete Birk wie der fleißigste vorstellbare Student an seiner Hausarbeit – Friesing hätte seine helle Freude an ihm gehabt, zumindest, solange er nicht den Grund für den Arbeitseifer gekannt hätte. Aber Birk war klar, dass er zwar die ersten Schritte erfolgreich machen konnte, Laura verunsichern und aus dem Gleichgewicht bringen, sie dann wieder etwas entspannen, sie anschließend überraschen und verwöhnen, so dass sie nach dem ganzen emotionalen Trubel beginnen würde, Zuneigung zu ihm zu entwickeln. Aber schließlich mussten sie anfangen, an der Hausaufgabe zu arbeiten und falls er dann nicht knietief, ach Blödsinn, bis zum Hals im Thema steckte, hätte er alle gerade errungenen Vorteile schon wieder verspielt.

Am späten Freitag Nachmittag startete er seinen Coup, indem er zunächst einmal einkaufen fuhr. Dann stand er planmäßig eine Stunde zu früh mit seinem Fahrradkorb und seinem Rucksack, der vor Material fast barst, vor ihrer Haustür und wartete.

Ein kleiner Torbogen befand sich vor dem Eingang zu ihrem Haus. Wenn man durch in hindurchging befand man sich in einer Art Hof, von dem zwei Eingänge abgingen und ein schmaler Weg in einen kleinen Garten hinter dem Haus. Stand man auf der Straße vor dem Torbogen, blickte man direkt auf die Hauswand und konnte weder die Eingänge noch den Weg zum Garten sehen. Sehr angenehm, dachte er, denn so würde sie ihn erst erblicken, wenn sie direkt vor ihm stand.

Als sie um 18:20 endlich kam, lächelte er sie entschuldigend an: „Ich weiß, ich bin zu früh. Entschuldige, ich war einkaufen, und irgendwie dauerte alles viel länger als gedacht und ich habe befürchtet, dass, wenn ich noch nach Hause fahre, um die Sachen wegzubringen, dass ich dann zu spät komme. Ich wusste nicht,“ - ein bisschen Stammeln war immer gut - , also ich wusste nicht, dass du solange arbeitest, aber das hast du ja gesagt. Ich bin schon ein Trottel, aber ich habe mich so darauf gefreut, dass wir die Hausaufgabe zusammen machen wollen, da wollte ich mich nicht gleich unbeliebt machen und zu spät kommen!“

„Oh, ja, hallo. Also, weißt du, ich bin ziemlich kaputt...“

„Ja, du hast Recht, gehen wir erst mal rein. Kann ich meinen Korb vielleicht bei dir in der Küche abstellen? Ich möchte ihn nicht so gern hier draußen lassen.“

Erschöpft und ohne Idee, wie sie ihn abwimmeln könnte, erwiderte sie nur: „Ja, klar,“ und schloss die Haustür auf. Er folgte direkt hinter ihr. In ihrer Wohnung ließ er sich zuerst die Küche zeigen und brachte seinen Fahrradkorb dorthin, während sie ihre Jacke an die Garderobe hängte.

Wieder zurück stellte er sich vor sie, sah sie an und sagte: „Du siehst total erschossen aus. Vielleicht solltest du dich erst mal hinsetzten.“ Dabei bugsierte er sie zu ihrem Sofa, auf das sie sich mit einem Seufzen mehr fallen ließ als setzte. Er setzte sich vor sie und das Sofa auf den Fußboden, griff nach ihrem Fuß und streifte ihren Schuh ab. „Ich kenne da ein paar gute Griffe aus der Reflexzonentherapie, die werden dir helfen,“ sagte er, während er schon mit der Massage begann.

Allerdings entsprach das nicht gerade ihren Vorstellungen. Sie versuchte, ihm ihren Fuß zu entziehen und protestierte: „Nein, lass das mal. Ich mache uns jetzt einen Kaffee, und dann geht es schon.“ Allerdings ließ er ihren Fuß nicht los, sondern massierte weiter. Normalerweise hätte sie jetzt darauf bestanden, dass er aufhörte, aber sie war einfach zu geschafft, und gab auf, während er sie beruhigte: „Das mit dem Kaffee nehme ich gern an, aber ich bin hier schließlich viel zu früh hereingeplatzt, sonst hättest du dich ja noch ein bisschen erholen können, wenn ich gekommen wäre, wie geplant.“ Er bemerkte, wie ihr Puls ruhiger wurde und sie sich langsam entspannte. Als er den Fuß in seinen Schoß legte und nach ihrem anderen Fuß griff, lehnte sie ihren Kopf zurück an das Polster des Sofas und schloss die Augen. Nach einer Weile nahm er wieder den ersten Fuß und wechselte schließlich ein letztes Mal, als er sah, dass ihr Puls jetzt so weit gesenkt war, dass sie gleich einschlafen würde. Dann legte er ihre Beine auf das Sofa und schob auch ihren Oberkörper in eine waagerechte Position. Sie hätte zwar gern aufbegehrt, hatte aber aus einem ihr unbekannten Grund nicht die Kraft dazu. Er nahm eine Decke von einem Sessel, deckte sie zu und schlich sich aus dem Wohnzimmer in die Küche.

So weit, so gut. Bis hierhin hatte sein Plan wie am Schnürchen geklappt. Jetzt machte er sich in der Küche zu schaffen. Glücklicherweise hatte sie eine ganz normale Kaffeemaschine mit einer Thermoskanne und keine von diesen modernen Pad-Dingsbums-Automaten, die immer nur eine Tasse Kaffee erzeugten, und das auch nur nach erheblichem Überzeugungsaufwand. Während der Kaffee durchlief, holte er aus seinem Fahrradkorb zwei Packungen Erdbeeren, einen Liter Bio-Milch und ein Päckchen Vanillezucker. Er wusch die Erdbeeren und begann in der Küche nach verschiedenen Utensilien zu stöbern, eine Glasschale, Dessertschälchen, ein Milchkännchen, Löffel, Kaffeetassen, Zucker. Als er alles beisammen hatte, putzte er die Erdbeeren und gab eine gehörige Portion Zucker dazu (der Zucker war nötig, weil die Erdbeeren noch nicht so toll waren, es war ja erst Mitte Mai), er füllte die Milch in das Kännchen und rührte den Vanillezucker hinein. Dann sah er auf die Uhr. Die halbe Stunde, die er sie hatte schlafen lassen wollen, war fast um.

Er ging zurück ins Wohnzimmer und deckte rasch den Tisch: die gezuckerten Erdbeeren, der Kaffee, die Milch, Schälchen, Tassen, Löffel. Dann kniete er sich neben das Sofa und ergriff ihre Hand. „Aufwachen, Laura, Homer wartet. Und Odysseus. Und Telemach leider auch.“

Durch diese Worte, oder den Duft des Kaffees und das Aroma der Erdbeeren wurde sie schneller wach als gewöhnlich und rappelte sich mühsam in eine sitzende Position auf. Etwas verwirrt zunächst, weil sie es nicht gewohnt war, von jemandem außer ihrem Radiowecker geweckt zu werden, schlug sie die Augen auf, sah Birk und den gedeckten Tisch und ihre Verwirrung begann sich in Bestürzung zu verwandeln.

Fröhlich plauderte er los, um ihr ihre Befangenheit zu nehmen: „Naja, ich hatte doch ein ziemlich schlechtes Gewissen, dass ich hier so einfach viel zu früh hereingeplatzt bin und du hattest mir ja Kaffee angeboten, und den konnte ich ja auch selbst kochen. Und dann dachte ich, dass du bestimmt noch nichts zu essen hattest...“

Hätte sie ihn jetzt freundlich angelächelt, wäre er zu Kennenlern-Stufe zwei übergegangen: Robert Redford Lächeln und Flirt-Stufe eins: „Wie die meisten Mädchen („hübschen Mädchen“ erst in Flirt-Stufe zwei!) magst du bestimmt Erdbeeren.“

Tat sie aber nicht. Sie starrte ihn weiter entgeistert an, so dass er nur locker weiter plauderte, ohne zu flirten: „Und um das wieder gut zu machen, habe ich dann eben beschlossen, mein Abendessen mit dir zu teilen.“ Dass er genau wie seine Freunde ein wesentlich proteinreicheres Abendessen bevorzugte, brauchte sie noch lange nicht zu wissen. Spiegeleier mit Schinken, gebraten in einer schönen Menge Fett auf getoastetem Brot und zum Nachtisch eine Tüte Kartoffelchips war so das, was er sich „anfertigte“, aber wahrscheinlich enthielt eine seiner Portionen ihren gesamten Tagesbedarf an Kalorien...

„Hoffentlich bist du nicht böse, dass ich einfach so in deiner Küche herumgewirtschaftet habe, aber du brauchst keine Angst zu haben: Das Aufräumen ist mir grundsätzlich viel zu lästig, als dass ich eine große Unordnung anrichten würde, deine Küche liegt also nicht in Trümmern und versinkt auch nicht im Schmutz. Außerdem warst du so kaputt und hast -“

Er verstummte plötzlich. Für „Du sahst so süß aus im Schlaf“ war es noch viel zu früh, aber ihrem Blick nach zu urteilen, käme auch „Du hast so schön geschlafen“ noch nicht gut an. Also lieber die Arbeits-Variante:

„Ich dachte, wenn du dich etwas ausgeruht und gegessen hättest, wärst du bestimmt besser in der Lage, dich auf unseren Hexameter zu konzentrieren.“

Die Erstarrung war aus ihrem Gesicht gewichen, sie war immer noch erstaunt, aber er sah auch eine Freude aufkeimen, die ihr Gesicht von innen heraus zum Leuchten brachte.

Nun war es an ihm zu staunen. Sie sah auf einmal wunderschön aus. Dabei machte es gar nichts, dass ihre Haare aus ihrem Zopf gerutscht waren, ihre Bluse zerknittert und das Make-up nicht mehr vorhanden.

Sie strahlte ihn an: „Das ist ja total nett. Ich liebe Erdbeeren.“ Er lächelte in sich hinein - das taten sie doch immer.

Sie stand auf: „Ich gehe mir nur eben mal die Hände waschen.“

Als sie zurückkam, setzte sie sich und fragte grinsend: „Gibt es jetzt Erdbeeren?“ Er grinste zurück und antwortete: „Nichts wie ran.“

Nachdem sie sich gestärkt, die Tisch abgeräumt und abgewischt hatten, begannen sie zu arbeiten. Birk zeigte Laura einen Computerausdruck, auf dem er schon einmal einige grundlegenden Angaben zum Hexameter zusammengefasst hatte. Sie war positiv überrascht, seine kleine Zusammenfassung war trotz ihrer notwendigen Kürze gut gelungen.

„Das war der einfache Teil,“ bemerkte er. „Den konnte ich leicht aus verschiedenen Grammatiken zusammenschreiben. Aber jetzt anhand bestimmter Stellen die Verwendung des Hexameters nachzuweisen, das fällt mir wirklich schwer. Ich habe auch schon hin und her überlegt, welche Stellen man nehmen könnte, aber ich bin mir da sehr unsicher.“

Nun war ihre Stunde aufzutauen. Sie liebte Homer, sie liebte die Ilias, die Odyssee, den Hexameter, ja sogar die etwas altertümliche Ausdrucksweise Homers, die Formen, die schon zu seinen Zeiten im siebten vorchristlichen Jahrhundert eigentlich veraltet waren. Sie begann zu strahlen und zu erzählen und dabei begann sie, vor Glück zu leuchten.

Nachdem sie etwa zwei Stunden gearbeitet hatten, bemerkte er, dass sie wieder müde wurde, während er gerade begann, sich für das Thema zu erwärmen. Langsam verstand er, was sie so begeisterte und wurde angesteckt. Aber er durfte auch seinen Plan nicht vernachlässigen, schließlich ging es ihm nicht um Homer, oder inzwischen vielleicht doch ein bisschen, aber hauptsächlich wollte er sie. Und dafür war zunächst einmal ein weiteres Treffen nötig. Also schlug er vor: „Ich glaube, wir sollten für heute Schluss machen. Du bist müde und ich muss mir die ganzen Sachen, die du mir heute abend erzählt hast, erst einmal durch den Kopf gehen lassen und sortieren. Wir sollten uns einfach in ein paar Tagen noch einmal treffen.“

Noch vor einigen Stunden hätte sie dieser Vorschlag mit Entsetzen erfüllt – ein zweites Treffen mit ihm! Aber er war so nett und schien so ehrlich am Thema interessiert, dass sie gern dazu bereit war. „Okay, wann machen wir das denn? Ich arbeite nachmittags immer, das wird zeitlich etwas eng.“

„Und abends bist du dann kaputt, du führst ein echt anstrengendes Leben. Vielleicht am Wochenende?“

„Sonnabends kaufe ich immer ein und mache hier sauber und so, aber das würde schon gehen.“

„Ja, könnten wir machen, oder auch Sonntag.“ Er musste unbedingt noch herausfinden, was sie sonntags trieb.

„Sonntags fahre ich meist weg, zu meiner Mutter, oder zu meiner Tante, aber ich könnte früher zurückkommen, dann könnten wir es abends machen.“

Ihre Mutter oder ihre Tante, also kein geheimnisvoller Lover! Hoffentlich stimmte das auch! Allerdings schien sie so ehrlich und offen, so ganz ohne Täuschung, dass er ihr nur allzu gern glaubte. Irgendwie schien sie überhaupt nicht lügen zu können, zumindest sah ihr Gesicht so aus. Allerdings – gab es so etwas überhaupt? Jemanden, der nicht log? Sagte nicht die Wissenschaft, dass jeder x-mal am Tag log? Für seine Person stimmte er dem von Herzen zu, das Leben wurde dadurch viel einfacher, aber wie war das mit ihr? Das musste er unbedingt herauskriegen, aber wie? Er könnte sich schlecht an einen Lügendetektor anschließen, zumal er ja keinen hatte. Jetzt hätte er gern solche Fähigkeiten wie der Mentalist, hatte er aber auch nicht.

„Warum guckst du so komisch?“ fragte sie plötzlich. Da wurde ihm klar, dass sie immer noch auf seine Anwort wartete. „Ich habe mich gerade gefragt, ob du überhaupt lügen kannst,“ platzte er heraus und verdammte sich im selben Moment. Die Worte „Scheiße, ich Idiot“ äußerte er glücklicherweise nicht mehr laut, sie hallten nur verstärkt in seinem Kopf wider.

„Warum sollte ich lügen?“ fragte sie verblüfft und sah ihn verständnislos an.

„Ach, ich dachte nur. Du siehst so ehrlich aus, als ob du das gar nicht könntest.“ Dazu ein Lächeln, dass jeder anderen Frau die Sinne schwänden – aus welchem Grund nannten ihn seine Freunde schließlich Robert Redford!

Ganz ernst antwortete sie: „Also eigentlich lüge ich wirklich nicht. Ich finde, das nützt ohnehin nichts. Außerdem vergesse ich so leicht, was ich gesagt habe und bringe mich dann selbst in Schwierigkeiten.“

Nun war es an ihm, sie verblüfft anzusehen. Sie log also tatsächlich nicht? Aus praktischen Erwägungen? An diesem Hobbit ist mehr dran, als man auf den ersten Blick sieht, wiederholte er Gandalfs Aussage in Gedanken, nur dass Laura nicht gerade wie ein Hobbit aussieht, fügte er noch hinzu.

Laut wiederholte er: „Also, du lügst aus praktischen Erwägungen nicht?“

„Ja, ich sage ja, das lohnt sich einfach nicht, ich habe nichts als Ärger davon, also lasse ich es.“

Darüber musste er auf jeden Fall nachdenken, nicht dass er eine solche Handlungsweise für sich selbst in Betracht zog.

„Interessant,“ sagte er nur, „also Sonnabend oder Sonntag?“