Liebe beginnt, wo Pläne enden - Sandra Poppe - E-Book
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Liebe beginnt, wo Pläne enden E-Book

Sandra Poppe

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Beschreibung

Das Leben mischt die Karten, spielen musst du selbst.

Kristin entdeckt beim Brötchenholen, dass ihr Mann eine Geliebte hat. Um Abstand zu gewinnen und sich zu sortieren, nimmt sie kurz entschlossen an dem Projekt "Gelebte Geschichte" teil und zieht mit ihren zwei Töchtern für die Sommerferien ins Freilichtmuseum. Sechs Wochen leben wie im 18. Jahrhundert - Einschränkungen und harte Arbeit inklusive. Dafür kein Termindruck, kein Stress, kein Handy. Kristin gewinnt eine ganz neue Perspektive auf ihr Leben. Zudem sorgen ihre Mitbewohner:innen im Museum für emotionalen Tapetenwechsel und machen den historischen Alltag viel bunter als erwartet. Kristin lernt skurrile, aber auch sehr liebenswerte Menschen kennen und vor allem einen Mann, der ihr Herz höher schlagen lässt. Obwohl die Liebe nun wirklich nicht in Kristins Pläne passt ...

Charmant, witzig und romantisch!

Ein Roman wie ein leckeres Schokotörtchen: macht einfach glücklich!



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Seitenzahl: 514

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Inhalt

Cover

Über das Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

Prolog

Flugbrötchen

Warm-up

Reif fürs Museum?

Zeitschleuse

Zeitreise

Akklimatisierung

Bullerbü

Ausstellungsobjekte

Sahneschnittchen

Waschtag

Alltagsroutinen

Unruhige Beine

Le coq est mort

Beichtstunde

Heimurlaub

Lagerköllerchen

Das 21. Jahrhundert

Fort Knox

Kater anno 1756

Bullerbü auf Abwegen

Kostümwechsel

Feng-Shui

Quarantäne

Frauengespräche

Emanzipation

Bittere Erkenntnisse

Betty greift ein

Begegnung

Abschiede Volume 1

Gott sei Dank, nun ist’s vorbei mit der Übeltäterei!

Zurück auf Los

Mia san mia

Über das Buch

Das Leben mischt die Karten, spielen musst du selbst. Kristin entdeckt beim Brötchenholen, dass ihr Mann eine Geliebte hat. Um Abstand zu gewinnen und sich zu sortieren, nimmt sie kurz entschlossen an dem Projekt »Gelebte Geschichte« teil und zieht mit ihren zwei Töchtern für die Sommerferien ins Freilichtmuseum. Sechs Wochen leben wie im 18. Jahrhundert – Einschränkungen und harte Arbeit inklusive. Dafür kein Termindruck, kein Stress, kein Handy. Kristin gewinnt eine ganz neue Perspektive auf ihr Leben. Zudem sorgen ihre Mitbewohner:innen im Museum für emotionalen Tapetenwechsel und machen den historischen Alltag viel bunter als erwartet. Kristin lernt skurrile, aber auch sehr liebenswerte Menschen kennen und vor allem einen Mann, der ihr Herz höher schlagen lässt. Obwohl die Liebe nun wirklich nicht in Kristins Pläne passt … Charmant, witzig und romantisch! Ein Roman wie ein leckeres Schokotörtchen: macht einfach glücklich!

Über die Autorin

Sandra Poppe, geboren 1975, lebt mit ihrer Familie (2 Kinder) in Bonn.

Nach dem Geschichtsstudium arbeitet sie heute bei einer NGO, die sich der fairen Mode verschrieben hat. Wenn sie nicht an ihrem nächsten Roman sitzt, arbeitet sie gerne mit den Händen: nähen, Gartenarbeit oder kochen. »Ich liebe es, wenn man am Ende etwas hat, was man anfassen, anschauen oder aufessen kann.« Sie hat unter Pseudonym bereits zwei Frauenromane veröffentlicht.

SANDRA POPPE

Liebe beginnt, wo Pläne enden

ROMAN

Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Originalausgabe

Copyright © 2022 by Bastei Lübbe AG, KölnLektorat: Melanie Blank-SchröderTextredaktion: Heike Brillmann-EdeTitelillustration: © shutterstock.com: SurUmschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, MüncheneBook-Erstellung: two-up, Düsseldorf

ISBN 978-3-7517-1010-7

luebbe.delesejury.de

Prolog

Gleich nach der Geburt meiner Tochter nahm ich mein ICH, betrachtete es ein letztes Mal melancholisch und packte es anschließend in ein Schatzkistchen. Dieses wiederum verstaute ich an einem Platz tief in meinem Inneren. Dort ruht es als eine Erinnerung daran, wer ich einmal war. Denn mit der Geburt des ersten Kindes gebar ich gleichzeitig ein neues ICH. Eines, das mich stolz machte. Eines, das das Leben eines anderen Menschen in den Mittelpunkt rückte und nur noch wenig mit meinem alten, oft ein wenig egoistischen ICH zu tun hatte.

Die Kinder wurden größer und selbstständiger, und es gab Augenblicke, in denen ich mich fragte, wie es meinem alten ICH wohl geht. Passt es noch zu mir? Oder geht es ihm wie der alten Lieblingsjeans, die seit Jahren im hintersten Winkel des Kleiderschranks schlummert? Immer hat man die Hoffnung, sie könne eines Tages wieder passen. Doch selbst wenn es so wäre – der Körper hat sich im Laufe der Jahre verändert und es wird nie mehr die alte Lieblingsjeans sein. Vermutlich verhält es sich mit meinem ICH nicht anders. Also blieb das Kästchen, wo es war: im hintersten Winkel meiner Seele.

Die Kinder fangen an, sich zu lösen, mein Freiraum wird größer und mir schwant, dass mein zweites ICH seine Schuldigkeit bald getan hat.

Ich krame das Kästchen hervor, blase andächtig den Staub von der Oberfläche des fein geschnitzten Deckels, öffne ihn und betrachte den Inhalt. Das also ist mein altes Ich. Vieles fühlt sich vertraut an, aber das meiste, so stelle ich fest, will ich nicht mehr sein.

Ist es also an der Zeit, ein drittes ICH zu finden?

Flugbrötchen

»Ins Museum? Mit dir und Liv?«

Maja schaut mich entgeistert an. So, als hätte ich ihr gerade eröffnet, sie möge bitte ab morgen wieder zur Grundschule gehen. »Du bist bescheuert. Das kannst du total vergessen. Da mach ich auf keinen Fall mit.«

Ich habe versucht, es attraktiv zu verpacken. Aber die Abneigung meiner älteren Tochter ist elementar. Dabei weiß sie noch nicht einmal, dass das Handy zu Hause bleiben wird.

Mein Nesthäkchen Liv sagt gar nichts, aber es rattert in ihrem Kopf.

»Schatz, sieh es so: Nach Rügen wollt ihr nicht ohne Papa. Das verstehe ich. Aus dem Reiturlaub wird auch nichts. Ich habe in den letzten Tagen alles durchforstet, es ist nichts mehr frei. Willst du die kompletten Sommerferien zu Hause hocken?«

»Aber was soll ich denn da machen?«

»Es gibt dort andere Kinder. Ihr werdet neue Freundschaften schließen und tolle Wochen verbringen. So eine Gelegenheit bekommt man nur einmal im Leben.«

Ich krame in meiner Handtasche und reiche Maja ein Faltblatt. Leben wie anno dazumal steht vorne drauf. Seit fast zwei Jahren plant mein alter Studienfreund Daniel die wohl aufwendigste Ausstellung, die ein Freilichtmuseum je gesehen hat. Daniel van Berg ist der Direktor eines über die Grenzen der Eifel hinaus bekannten Freilichtmuseums und sein Vorhaben ein wahres Mammutprojekt. Sechs Wochen lang verwandelt er sein Freilichtmuseum in ein belebtes Dorf. Während der Sommerferien werden dort fast hundertfünfzig Menschen aller Altersgruppen leben und arbeiten und den Museumsbesuchern einen Eindruck des Lebens in früheren Jahrhunderten vermitteln. Living History lautet der Fachbegriff – die möglichst realistische Darstellung historischer Lebenswelten. Und wir haben die Möglichkeit teilzunehmen.

Maja löst ihre verschränkten Arme und nimmt mir den Flyer aus der Hand. Ein erstes Entgegenkommen. Ich wittere meine Chance. Schließlich kenne ich meine Tochter seit dreizehn Jahren. Vielleicht hilft es ja, zuerst Liv zu überzeugen. Mit ihren zehn Jahren ist sie deutlich begeisterungsfähiger und lugt schon neugierig in den Flyer, den Maja mit gekrauster Stirn studiert.

»Liv, was meinst du? Hast du Lust auf ein paar Wochen wie in alten Zeiten?«

»Schon. Aber nur, wenn Maja mitfährt.« Sie blickt ihre Schwester mit großen Kulleraugen an. Es fehlt nur noch, dass sie klimpert. Damit kriegt sie ihren Vater immer rum. Sie ist eben das Nesthäkchen und weiß genau, wie man sich als solches benimmt.

Ich schaue meine Älteste an und ihr Gesichtsausdruck lässt mich innerlich schon fast Bingo! schreien, als sie zielsicher fragt: »Gibt es in dem Museumsding überhaupt WLAN?«

Mist, Mist, Mist. Blöde Teenager!

Abends lege ich Maja den Flyer wortlos auf den Nachttisch. Sie registriert es, sagt aber nichts, was ich positiv bewerte. Ohne lautstarken Protest sehe ich wenigstens minimale Chancen. Vielleicht arbeitet ja die Zeit für mich.

Letztendlich hilft mir nicht die Zeit, sondern Liv.

Beim Mittagessen am nächsten Tag verkünden meine Töchter mir die frohe Botschaft.

»Von mir aus können wir in das Museum ziehen«, verkündet Maja beiläufig.

Ich ziehe eine Augenbraue hoch. »Woher der Sinneswandel?«

Maja ziert sich ein bisschen und verpackt ihre Antwort schließlich so unaufgeregt wie möglich. »Ach, ich wollte doch eh später Geschichte studieren, da ist es doch praktisch, da mitzumachen.« In etwas vorwurfsvollem Ton setzt sie hinterher: »Auf die Idee hättest du auch kommen können, Mama.«

»Dabei war es meine Idee, Maja mit dem Geschichtsdingsbums zu überzeugen.« Meine Kleine strahlt wie die Sonne über Mallorca. Obwohl – dieses Jahr kann man Mallorca getrost weglassen. Deutschland braucht den Vergleich nicht scheuen.

»So toll ist die Idee auch nicht«, würgt Maja ihre Schwester ab. »Ich wäre noch alleine draufgekommen.«

Livs Gesichtsausdruck wechselt binnen einer Millisekunde zu muffelig. Ich rette die Stimmung gerne. »Aber so haben wir das Problem früher gelöst. Ihr fahrt also wirklich mit mir ins Museum?«, vergewissere ich mich. Die beiden nicken einmütig, und ich freue mich, wie einfach alles zu sein scheint.

Jetzt muss ich es nur noch meinem Mann Carsten sagen. Wie wird er reagieren? Er hat den Stein ins Rollen gebracht, wegen ihm fällt der Familienurlaub aus. Weshalb genau, das weiß bisher allerdings nur ich …

***

Fünf Wochen zuvor

In unserer grünen Brotkiste herrscht gähnende Leere. Ein Abendessen ohne Brötchen gestaltet sich schwierig, also stapfe ich die Treppe hoch, werfe einen Blick in die Kinderzimmer, stelle fest, dass meine Töchter beschäftigt sind, und informiere sie über meinen Ausflug zum Bäcker. Anschließend schnappe ich mir die Haustürschlüssel, stolpere fast über den um diese Uhrzeit gerne im Weg herumlungernden Kater (es ist Essenszeit und effektvolles Im-Weg-Rumstehen kündigt seinen dringenden Bedarf an hochwertigem Nassfutter an), verlasse unser schmuckloses Reihenendhaus Baujahr 1982, schwinge mich aufs Fahrrad und radle durch eine kleine Wohngebietsstraße des Aachener Westens. Drei Minuten dauert die Fahrt zum Bäcker, zwei der Brötchenkauf und schon bin ich wieder auf dem Rückweg. Einhändig, weil ich meine Fahrradtasche vergessen habe, steuere ich das Rad nach Hause.

Auf der Hälfte der Strecke entdecke ich meinen Mann Carsten. Er radelt gemütlich vor mir her, und ich trete in die Pedale, um ihn einzuholen. Ich freue mich, ihn zu sehen, denn das bedeutet, dass wir endlich einmal wieder gemeinsam zu Abend essen können. Seit Monaten stöhnt er unter der Last seiner Arbeit und der ständigen Dienstreisen, und es gibt Wochen, in denen ich das Gefühl habe, die Kinder alleine zu erziehen. Dennoch habe ich Verständnis, er steht an einem wichtigen Punkt seiner Karriere. Eine Beförderung liegt in Griffweite und danach beruhigt sich die Lage sicher wieder. Es wäre unfair, ihm deswegen Vorwürfe zu machen.

Ich habe ihn fast eingeholt und will gerade mit einem lockeren Spruch auf mich aufmerksam machen, als sein Handy klingelt. Routiniert fischt er es aus der Hosentasche, während er weiterradelt.

»Hey, du«, begrüßt er den Anrufer, »ja, ich bin auf dem Weg nach Hause. Hm. Ja, morgen klappt.«

Was klappt morgen? Er ist doch auf Geschäftsreise.

»Alles gut. Kristin denkt, ich fahre zu einem Meeting nach Hannover. Ich freu mich total auf dich. Ja. Ich dich auch.«

Ich bremse abrupt, die Brötchen fliegen in hohem Bogen auf die Straße. Mein Mann säuselt weiter, entfernt sich, und ich starre ihm hinterher, ohne einen klaren Gedanken fassen zu können. Kreuz und quer fliegen sie mir durch den Kopf. Irren hierhin, irren dorthin. Jeder einzelne weigert sich beharrlich, Platz zu nehmen.

In Zeitlupe steige ich vom Rad, sammle die Brötchen auf, stopfe sie mit zitternden Händen zurück in die Tüte und befestige diese akribisch auf dem Gepäckträger. Anschließend betrachte ich gewissenhaft das Ergebnis meiner Mühen. Hält die Tüte? Kann man die Brötchen überhaupt noch essen? Und dann kriege ich den einen merkwürdigen Gedanken zu fassen. Habe ich das gerade richtig verstanden? Mein Mann hat eine Geliebte?

Es ist der erste Gedanke, der geruht, Platz zu nehmen. Und der offensichtlichste. Der zweite ist ebenso sonderbar. Es ist so weit! Genau das denke ich. Jetzt ist eingetreten, womit ich seit Langem rechne. Je mehr Sand in unser Ehegetriebe geriet, desto öfter malte ich mir dieses Szenario aus: Streit, Missverständnisse, fehlende Zeit, mangelnder Sex. Die Liste schien endlos. Doch mit den Jahren verlor die Vorstellung, Carsten könne fremdgehen, ihren Schrecken. Soll er doch eine Geliebte haben, wenn er nur bei mir und den Kindern bleibt. So dachte ich. Nüchtern, praktisch, lebensnah. Bis ich vor drei Minuten mit der Realität konfrontiert wurde.

Und jetzt?

Ich klettere wieder aufs Rad, atme tief durch, radle nach Hause. Ich schließe das Rad an unseren Fahrradständer, nehme die Brötchentüte, betrete das Haus, begrüße meinen Mann. Wie immer. »Hi, Schatz. Wie war dein Tag?«

»Gut. Hast du meine Hemden abgeholt?«

Das ärgert mich jetzt doch. Arschloch, denke ich, trete an die Pinnwand, nehme den Abholzettel und drücke ihm diesen entschieden in die Hand. Den verdutzten Blick ignorierend, marschiere ich in den Keller und hänge Wäsche auf. Liebevoll und voller Konzentration. Nicht, dass ich aus Versehen eine Socke falsch herum aufhänge.

Was soll ich tun? Was soll ich tun? Was soll ich tun?

Nichts. Ich muss in Ruhe nachdenken. Als die letzte Socke hängt, gehe ich mit mulmigem Gefühl im Bauch nach oben. Carsten steht tief gebeugt an der Arbeitsplatte in der Küche und überfliegt den Sportteil der Zeitung.

»Was gibt’s zum Abendessen?«, fragt er, als ich an ihm vorbeigehe, um Gläser aus dem Schrank zu holen.

»Brötchen. Aber ich habe nur sechs gekauft. Ich wusste ja nicht, dass du heute zum Abendessen da bist.«

»Muss ich das vorher ankündigen?«, fragt er, ohne von der Zeitung aufzusehen.

»So oft, wie du in letzter Zeit NICHT mitgegessen hast, wäre das vermutlich eine gute Idee«, kontere ich.

»Warum so patzig?« Carsten ist immer noch tief über die Zeitung gebeugt. »Hast du deine Tage, oder was?«

»Sehr witzig«, antworte ich schnippisch, »natürlich sind es die Hormone, die für schlechte Laune bei uns Frauen sorgen.«

»Krieg dich ein.«

»Und wenn ich das gar nicht will?«

Seine Erwiderung bleibt mir erspart, denn in diesem Augenblick vibriert unsere Holztreppe. Ein langsames Poltern ertönt, kurz danach ein schnelles. Das teenagerige Bummelpoltern gehört Maja, das flotte Polterstakkato Liv in ihrem immerwährenden Enthusiasmus. Sie ist es auch, die jetzt stürmisch um die Ecke biegt. Der Teenie scheint vorher abgebogen zu sein.

»Papa! Du isst ja heute mit.«

»Nun fängst du auch noch damit an«, brummt Carsten.

»Nur noch zwei Monate Schule«, verkündet Liv fröhlich. »Dann hab ich’s geschafft.«

»Dann sind endlich Ferien«, sagt Carsten.

»Nee. Dann habe ich das Schuljahr geschafft, ohne einen Tag krank zu sein. Viel besser als Maja. Die war mindestens fünfzig Mal krank.«

»Na, jetzt übertreibst du aber«, necke ich sie. »Maja war höchstens vier- oder fünfmal krank.«

»Ist doch total egal«, erwidert Liv trotzig. »Auf jeden Fall öfter als ich.«

»Stimmt auch wieder«, gebe ich ihr recht. »Komm, wir decken den Tisch.«

Liv gehorcht bereitwillig. »Was gibt’s denn?«

»Brötchen.«

Ihre Unterlippe schiebt sich augenblicklich nach vorne. »Ich mag keine Brötchen. Nie sind Sachen zum Drauftun da, die ich mag.«

»Wie wäre es mit Rührei?«, schlage ich beschwichtigend vor, weil ich gerade nicht die Nerven habe, die Diskussion auszuhalten.

»Okay. Aber ich mach das.«

»Dann leg los«, antworte ich freundlich und gebe ihr einen liebevollen Klaps.

Liv geht augenblicklich ans Werk. Meine kleine Hausfrau. Schule, Lesen und Malen sind nicht ihr Ding. Dafür alles Praktische. Handwerken, Kochen, sogar Putzen gehören zu ihren liebsten Beschäftigungen. Ein bisschen macht sie dadurch wett, dass Maja, wenn möglich, kein Fitzelchen freiwillig tut. Im Gegensatz zu Liv hätte sie nichts gegen Personal.

Ich decke den Tisch, stelle fest, dass Liv das Rührei ohne meine Hilfe hinbekommt, und suche nach dem Teenager.

»Maja? Wir essen gleich. Wo bist du denn?«

»Sitze auf dem Klo und lese.«

Das wundert mich nicht. Maja geht seit einigen Wochen ausschließlich mit Harry Potter aufs Klo. Sie liest die Bände zum gefühlt hundertsten Mal. Ich warte schon fast sehnsüchtig auf den Tag, an dem der junge Mann endlich von richtigen Jungs abgelöst wird. Hätte ich auch nie gedacht.

»In fünf Minuten gibt’s Abendessen.«

»Hm«, tönt es aus den Tiefen des Gästeklos.

Wir sitzen am Essenstisch, als wäre nichts passiert. Es ist ein stiller Sturm, der in mir wütet. Unauffällig betrachte ich Carsten und versuche das, was ich erfahren habe, mit meinem Bild von ihm in Übereinstimmung zu bringen. Wie lange geht die Affäre schon? Wie oft treffen sie sich? Wer ist sie? Wo hat er sie kennengelernt? Und wie kann er mit seiner Familie hier sitzen ohne ein Zeichen von Verunsicherung oder Reue? Ich mustere meine Töchter, betrachte sie aus einem anderen Blickwinkel. Sie haben einen Vater, der fremdgeht. Was bedeutet das für sie? Es wäre eine Katastrophe.

»Mama?« Liv reißt mich aus meinen Überlegungen.

»Ja, Schatz, was ist denn?«

»Können wir mal wieder ins Phantasialand fahren?«

»Hm«, murmle ich, »wie kommst du darauf?«

»Mathilda hat dort ihren Geburtstag gefeiert. Und Jakob auch. Außerdem waren wir schon lange nicht mehr da.«

»Das stimmt«, mischt sich Maja ein, »ständig feiern andere da ihren Geburtstag. Warum dürfen wir das nicht?«

»Ich finde es total überzogen, eine Horde Kinder für mehrere Hundert Euro durch einen Vergnügungspark zu zerren«, begründet Carsten unsere ständige Weigerung, einen solchen Geburtstag für sie auszurichten. »Wo soll das enden? Beim Karibikurlaub mit den Freunden zum achtzehnten Geburtstag?«

»Au ja.« Majas Augen leuchten. »Das wäre super. Costa Rica soll schön sein.«

»Träum weiter«, sage ich lachend, »zum Achtzehnten bekommst du ein Besteckset für vierundzwanzig Personen, und dann erwarten wir, dass du zügig ausziehst.«

Maja grinst. Etwas, das sie seit geraumer Zeit tunlichst zu vermeiden sucht.

»Wie war deine Mathearbeit?« Carsten besitzt ein Talent dafür, eine unbeschwerte Stimmung binnen Sekunden zu zerstören.

»Geht so.« Majas gute Laune ist dahin.

Blödmann. Musste das jetzt sein?

»Das ist kein Wunder, so wenig, wie du gelernt hast«, setzt er nach.

Maja muffelt in ihr Brötchen und das Gespräch ist gestorben. Ich habe keine Lust auf schlechte Stimmung und lenke ab. »Wir könnten wirklich mal wieder ins Phantasialand fahren. Es ist mindestens zwei Jahre her, dass wir da waren.«

»Für mal eben zweihundert Euro?«, fragt Carsten brummig. »Das sehe ich überhaupt nicht ein.«

Ich werde wütend. Normalerweise gäbe ich nach. Um des lieben Friedens willen. Doch heute habe ich keine Lust. Nicht nach dem Brötchendesaster. Der Herr geht fremd, da kann er den Kindern doch wenigstens einen schönen Tag gönnen. Natürlich ist ihm dieser Zusammenhang nicht bekannt, aber sollte sein schlechtes Gewissen ihn nicht dazu treiben? Und wieso darf er das überhaupt alleine entscheiden? Mein Ton ist zickiger, als ich möchte. »Nein, nicht mal eben, sondern weil wir lange nichts mehr unternommen haben und das eine schöne Gelegenheit wäre. Außerdem«, setze ich nach einer bedeutungsvollen Pause nach, »nagen wir nicht am Hungertuch.«

Carsten kaut ohne Antwort weiter, doch die Augen der Mädels leuchten und sie fangen an, Pläne zu schmieden.

»Ich will unbedingt mit der Achterbahn im Dunkeln fahren«, sagt Maja, »denn da ist es dunkel und dann sieht man nichts. Wobei, das ist ja logisch, wenn es dunkel ist.«

Ich muss lachen. »Da hast du wohl recht.«

»Und ich will in dieses Hotel, in dem alles falsch ist. Das verwirrt so schön«, meldet Liv den nächsten Wunsch an.

»Jetzt hört auf zu planen, keiner hat gesagt, dass wir fahren«, nölt Carsten.

»Doch! Mama!«, klärt Liv ihn auf.

»Hat Mama nicht!« Sein Ton ist scharf.

Ich versuche, den herannahenden Familienstreit zu entschärfen, ärgere mich aber gleichzeitig darüber, wie Carsten meine Argumente ignoriert. »Papa hat recht, ich habe noch nicht Ja gesagt.«

»Wenn du Nein sagst, dann nur wegen Papa.« Majas Gesicht zeigt die Enttäuschung ungeschönt. Dabei hat sie ja recht.

»Lasst Papa und mich in Ruhe darüber sprechen. Wir können das jetzt nicht aus einer Laune heraus entscheiden, aber wir haben euren Wunsch vernommen. Okay?«

Die Kinder nicken unwirsch und akzeptieren die Vertagung, doch Carsten kann nicht anders, als seiner Ablehnung ein weiteres Mal Nachdruck zu verleihen. »Es ist zu teuer und ich bin absolut dagegen.«

Ich schweige, werfe ihm einen bösen Blick zu und lenke die Kinder ab, indem ich nach ihren Plänen für morgen frage. Das Abendessen endet mit nur noch mäßig gelaunten Töchtern, einem Ehemann, der sich hinter seiner Zeitung versteckt, und einer Ehefrau, die versucht, sich normal zu verhalten, obwohl kaum eine halbe Stunde zuvor ihr Leben eine nicht vorhersehbare Wendung genommen hat.

Mit vorgeschützten Kopfschmerzen verziehe ich mich nach dem Essen ins Schlafzimmer.

Warm-up

Einige Tage nach unserer Entscheidung für die Ferien im Museum fahre ich zu der Einführungsveranstaltung für unser Historienprojekt »Sechs Wochen gelebte Geschichte«. Ich bin spät dran. Erst kam ich nicht aus dem Büro, dann hatte Maja zu allem Überfluss gleich drei meiner guten Gläser von der Anrichte gefegt und ich musste die ganze Küche saugen.

Vorsichtig setze ich den Wagen in eine der letzten freien Parklücken, hechte vom Fahrersitz, schnappe meine Handtasche und eile in das Hauptgebäude des Museums. Bereits nach wenigen Metern läuft der Schweiß. Dieser Sommer bringt mich noch um. Totenstill liegt das Gebäude, kein Mensch ist zu sehen und die Tür des Vortragssaales ist bereits geschlossen. Leise öffne ich sie, sehe Daniel am Rednerpult stehen, entschuldige mich mit einem leichten Kopfnicken, ignoriere die Köpfe, die sich neugierig nach mir umdrehen, und bin erleichtert, einen freien Platz außen in der letzten Reihe zu entdecken. Ich schleiche hin und lasse mich mit einem leisen »Puh« neben ein wirres Lockenköpfchen plumpsen. Ich atme tief durch, fächle mir Luft zu und wende endlich meine Aufmerksamkeit Daniel zu. Er ist gerade beim Thema Kostüme angelangt.

»… besonders viel Mühe haben wir uns nicht nur bei der Ausstattung der Häuser gegeben, sondern auch bei den Kostümen. Hier möchte ich explizit meiner Frau Betty danken, die uns als Kostümbildnerin bei der historisch einwandfreien Gestaltung der Kleidung eine große Stütze war. So wurden die Stoffe zwar maschinell, aber aus den Materialien der jeweiligen Zeit hergestellt, und sie sind, darauf sind wir besonders stolz, von Kopf bis Fuß authentisch.«

Wie üblich garniert Daniel seine atemraubenden Bandwurmsätze mit wilden Gesten. Seine Art zu gestikulieren ist im Freundeskreis legendär und allzeit für einen albernen Spruch gut. Manchmal wirkt es, als habe er eine eigene Gebärdensprache erfunden.

Die Hand einer Frau aus der ersten Reihe schnellt nach oben.

»Ja, bitte?«, fordert Daniel sie auf.

»Gilt das auch für Schuhe und Unterwäsche?«

»Aber selbstverständlich«, bekräftigt er und zeichnet in die Luft, was wohl ein Mieder sein soll.

Ernsthaft? Ich bin froh, dass er nicht auch noch Schuhe und Unterhosen pantomimisch darstellt. Seine Akribie ist ebenfalls legendär und deshalb überrascht mich die zeitgemäße Unterwäsche nicht, die versammelte Menge schon. Ungläubiges Gemurmel, vor allem heller Stimmen, erfüllt die Reihen.

»Es ist doch so, meine Damen«, insistiert Daniel, »nur mit einem zeitgemäßen Korsett können wir Ihnen zu der Haltung verhelfen, die für Ihre Rollen essenziell ist.«

»Aber ist es nicht total egal, was wir drunter tragen?«, fragt eine junge Frau mit roten Haaren und unzähligen Sommersprossen. »Das fände ich viel praktischer.«

Zustimmendes Gemurmel von allen Seiten.

»Es ist schrecklich heiß und soll die nächsten Wochen so bleiben, ich fände es besser, wenn wir schnell trocknende und bequeme Wäsche tragen dürften«, unterstützt sie eine hagere Blonde.

»Und ob die Haltung beim Wäscheschrubben so wichtig ist, wage ich zu bezweifeln.« Die Dame, die diesen Satz sagt, kann ich nicht ausmachen.

»Genau! Wen interessiert es schon, welche Schlüpfer wir tragen?« Der Satz kommt von meiner Nachbarin und ich sehe sie mir genauer an. Sie sieht nett aus, wenn auch für mein Empfinden einen Tick zu blumig. Sie nestelt an den Troddeln ihrer Rüschenbluse, wechselt zu ihren Haaren, einer beneidenswert lockigen und dunklen Mähne, sucht nach Spliss, findet keinen und wechselt wieder zu den Troddeln. Es scheint ihr schwerzufallen, still zu sitzen.

Immer mehr Kommentare werden in die Runde geworfen, einzelne sind kaum mehr auszumachen, und das Gemurmel im Saal klingt wie ein Schwarm aufgescheuchter Bienen. Auf meinem Gesicht hat sich ein breites Grinsen festgetackert. Der arme Daniel. Er weiß überhaupt nicht mehr, was er sagen soll. Immer wieder fährt er sich durch sein kurzes Haar, der Mund klappt auf und zu, als wäre er ein an Land gehüpfter Fisch. Aber was soll er auch sagen? Historische Korrektheit zieht bei dem aufgebrachten Frauenmob nicht.

Der quirlige Lockenkopf beugt sich zu mir. »Der arme Kerl kann einem fast leidtun. Bestimmt muss er uns jetzt noch verklickern, dass wir unsere Tampons aus selbst geschorener Wolle zusammenklöppeln müssen. Das verkraftet er nie.«

Ich kann nicht anders, ich lache schallend. Auch der Lockenkopf prustet los. Wir halten uns den Mund zu und gleichzeitig bringt uns Daniel mit einem strengen Oberlehrerblick zur Raison. Reiß wenigstens du dich zusammen. Ich bin brav und beiße mir fest in die Wangeninnenseiten. Meine Nachbarin kneift sich in die Oberschenkel. Als wir uns endlich beruhigt haben, raune ich ihr zu: »Das Schlimme ist, ich kenne ihn und würde es ihm sogar zutrauen. Ich bin übrigens Kristin und freue mich schon aufs gemeinsame Tamponklöppeln.«

»Janine«, erwidert sie breit grinsend, und dann schauen wir lieber in entgegengesetzte Richtungen, damit wir nicht wieder losgackern.

Mittlerweile ist meine Freundin Betty ihrem armen Mann zur Seite gesprungen und beendet mit gekonnten Armbewegungen die Unterwäschemeuterei. »Ich möchte Ihnen einen Vorschlag machen. Wir haben viel Arbeit in die Kleidung gesteckt. Deshalb bitte ich Sie, das Tragen der Unterkleidung wenigstens auszuprobieren. Wenn Sie sich unwohl fühlen, können Sie immer noch auf Ihre eigene Unterwäsche zurückgreifen. In einem muss ich meinem Mann jedoch recht geben: Die langen Kleider sitzen mit Korsett einfach besser. Probieren Sie es aus. Ich habe mir sagen lassen, dass man sich durchaus wohl darin fühlt.«

Weibliche Stimmen zu Dutzenden murmeln einvernehmlich, die Meuterei ist abgewendet.

»Gut, dann hätten wir das geklärt.« Sie übergibt ihrem Mann das Mikro und geht von der Bühne. Daniel sieht ein bisschen bedröppelt aus. Von der eigenen Frau vor einem aufgebrachten Frauenmob gerettet zu werden, ist bestimmt kein schönes Gefühl.

Wir lauschen weiter seinen Ausführungen und erfahren, dass sich Schneiderinnen am Ankunftstag um den letzten Schliff der Kleidungsstücke kümmern werden.

»Wie wird die Kleidung gewaschen?«, fragt eine agile Mittsechzigerin, die schräg vor mir sitzt.

»Das ist selbstverständlich Teil Ihrer täglichen Arbeit«, verkündet Daniel, »aber Genaueres erfahren Sie, wenn Sie die jeweiligen Häuser beziehen.«

»Fünf Kilo«, raunt Janine, »sind wir alle hinterher leichter.«

»Das wäre dann wohl die berühmte Historiendiät.« Wir giggeln verschwörerisch, und ich hoffe, Janine noch öfter über den Weg zu laufen.

Fast eine Stunde dauert es, bis Daniel grob umrissen hat, wie wir arbeiten, essen, uns kleiden und schlafen werden. Am Ende haben wir eine gute Vorstellung von dem, was uns erwartet. Es verspricht, spannend zu werden, auch wenn es wohl ein paar Tage dauern wird, ehe wir den Herausforderungen der täglichen Arbeit gewachsen sind. Eines ist auf jeden Fall sicher: Wir werden schwitzen.

»Und nun kommen wir zum vermutlich interessantesten Teil des Abends. Wir bilden jetzt die Hausgemeinschaften für die nächsten sechs Wochen.«

Die Hand eines älteren, etwas spießig gekleideten Herrn zwei Reihen vor uns schnellt nach oben.

»Ja, bitte?«

»Bedeutet das, Sie haben die Hausgemeinschaften gebildet, ohne nach den konkreten Wünschen der Teilnehmenden zu fragen?«

»Ja, denn wir benötigen ganz unterschiedliche Fähigkeiten für die verschiedenen Höfe. Die Arbeiten müssen bestmöglich erledigt werden. Das könnten wir sonst kaum gewährleisten.«

Wieder schnellt die Hand des Herrn nach oben.

»Ja, bitte?«, fordert Daniel ihn ein zweites Mal auf.

»Aber ich möchte doch hoffen, dass Ehepaare und Familien zusammenbleiben«, so der Herr.

»Kinder werden wir nicht von ihren Eltern trennen, bei Paaren allerdings haben wir uns bewusst dazu entschieden, sie aufzuteilen. Wir sind der Meinung, es vereinfacht das Zusammenwachsen der Hausgemeinschaften.«

Diesmal spart sich der penetrante Senior das Heben der Hand. »Das hätten Sie uns aber vorher mitteilen müssen, ich bin damit absolut nicht einverstanden.« Die Frau an seiner Seite, gewandet in himmelblauem Tweed, flüstert ihm beschwichtigend ins Ohr, doch er schüttelt vehement den Kopf.

Daniel versucht, die Diskussion auszubremsen. »Lassen Sie uns bitte erst mal weitermachen, wir können Ihr Anliegen im Anschluss gerne bilateral klären.«

»Ich glaube nicht, dass ich der Einzige bin, der unzufrieden mit Ihrer eigenmächtigen Vorgehensweise ist«, intoniert der Herr vorwurfsvoll.

Daniel seufzt. »Nun gut. Sollte es Fragen bezüglich der Zuordnung geben, möchte ich Sie bitten, sich hinterher an mich oder einen unserer Mitarbeiter zu wenden. Doch seien Sie sich bewusst, dass jeder Sonderwunsch einen großen Organisationsaufwand bedeutet.«

Keine Reaktion. Hier und da sehe ich allerdings ratloses Schulterzucken und verständnislose Blicke.

»Ich hoffe, ich habe mich Ihres Themas angemessen angenommen«, sagt Daniel hoffnungsvoll. »Sind Sie damit einverstanden?«

»Ja«, konstatiert der Herr mit pikierter Stimme und hält endlich den Mund.

»Schon doof, wenn sein Frauchen ihm nicht sechs Wochen lang den Hintern abwischt«, raunt mir Janine zu und wieder gackern wir leise vor uns hin.

Daniel fährt fort: »Ich möchte Sie nun in den Saal nebenan bitten. Links neben dem Eingang hängen Listen mit der Zuordnung. Begeben Sie sich bitte anschließend zu der entsprechenden Stellwand. Ein Mitarbeiter des Museums wird Sie dann über das weitere Prozedere aufklären und danach ist dieser Abend offiziell beendet. Ich freue mich, Sie alle am 15. Juli hier im Museum willkommen zu heißen.«

Es wird geklatscht, die Zeitreisenden erheben sich und strömen durch eine weit geöffnete Flügeltür in den Nachbarsaal. Janine und ich mischen uns unter die Menge und entdecken unsere Namen fast zeitgleich.

»Sieben«, sage ich.

»Genial!«, ruft Janine. »Ich auch.«

Wir strahlen uns an und dackeln gemeinschaftlich zu der Stellwand mit der großen Sieben, vor der sich bereits eine kleine Truppe versammelt hat. Wir nicken uns alle zu, dann übernimmt ein Mitarbeiter des Museums die Regie. Ich mustere derweil die anderen Bewohner meiner historischen WG.

Da ist dieser bärtige Berg von einem Mann. Er ist bestimmt 1,90 groß und Anfang, Mitte dreißig. Was mir besonders auffällt, sind seine Augen. Sie leuchten freundlich, sind von unzähligen Lachfältchen umgeben und suggerieren: Wirf dich in meine Arme, Baby, ich halt dich fest und kümmere mich um ALLES. Daniel sagte mir im Vorfeld, jeder bringe etwas mit, das für den Aufenthalt von Nutzen sei, daher tippe ich ad hoc auf Handwerkliches. Er verkörpert den Holzfällerlook par excellence. Ihn bei der Arbeit, am besten mit freiem Oberkörper, zu beobachten, könnte interessant werden. Und heiß genug wird’s ja in den nächsten Wochen, da sind sich Deutschlands Wetterfrösche einig. Hallo? Welche Gedanken fliegen denn da? Ach ja, er sieht gut aus und gucken kostet nix. Nicht mal in meinem Alter. Ein bisschen fühle ich mich, als habe jemand einen Schalter umgelegt. Raus aus der Ehehölle, rein in die Welt der amüsanten Fleischbeschau.

Weiter geht es mit der Betrachtung meiner zukünftigen Mitbewohner. Neben dem Hünen steht eine bildhübsche Mittzwanzigerin mit alabasterfarbener, fast aristokratisch wirkender Haut ohne jede Pore. Niemand sollte so eine Haut haben dürfen, nicht einmal in ihrem Alter. Dazu kommt, natürlich, seidig glattes blondes Haar. Doch trotz dieser körperlichen Perfektion sieht sie weder arrogant noch überheblich aus, sondern wirkt eher zurückhaltend und schüchtern. Sie ist schlicht gekleidet, trägt eine Jeans und ein weißes T-Shirt und verzichtet auf Schmuck und Schminke. Aber bei diesem Gesicht würde Schminke auch eher wirken, als habe sie jemand in einen Farbkasten geschubst.

Mein Blick fällt auf die letzte Dame in unserer Runde. (By the way: nur EIN Mann? Was soll das denn? Wo bleibt die Männerquote?) Diese Dame geht gar nicht. Nicht auf den ersten Blick und auch nicht auf den zweiten. Ich verorte sie zwischen Anfang bis Mitte sechzig. Kerzengerade steht sie da, zweifelsohne damit beschäftigt, sich ihre diversen Popöchenstöcke nicht aus Versehen in die Eingeweide zu rammen. Ihre schmalen Lippen sind kritisch geschürzt, die zahlreichen Fältchen ober- und unterhalb des Mundes zeugen davon, dass dies ein beliebter Gesichtsausdruck ist. Außerdem trägt sie dieses schreckliche Tweedkostüm. Bei dem Wetter? Sind Tweedklamotten überhaupt noch erlaubt? In ihren Kreisen bestimmt. Genau. Solche Frauen verkehren in Kreisen! Die Betonfrisur der Dame ist auch nicht schlecht. Ich bezweifle, dass Daniel Haarspray als zeitgemäß durchgehen lässt, und freue mich jetzt schon darauf zu beobachten, wie sie das Problem in den kommenden Wochen bewältigen wird.

Überhaupt wird es spannend, wie wir alle wirken, wenn wir unsere Kleidung und damit auch einen Teil unserer Identität ablegen und zu historischen Personen werden.

Dies ist also meine WG. Jetzt muss ich aber aufpassen, sonst bekomme ich vor lauter Schubladendenken nicht mit, was der Museumsheini über unsere Unterkunft erzählt.

Wir werden in einen Bauernhof aus dem Jahr 1756 geschickt. Ich versuche, mich zu erinnern, welcher Hof das sein könnte, wir waren ja oft genug hier, habe aber kein Bild vor Augen. Kurz und knapp klärt uns der beflissene Mann darüber auf, wie der erste Tag abläuft und wo die Informationen stehen, die wir zum Leben und Überleben benötigen. In jeder Wohneinheit gibt es ein umfassendes Handbuch, die sogenannte Kladde, zudem stehen Mitarbeiter und Experten in den ersten Tagen zur Verfügung, um uns mit allem vertraut zu machen.

»Und nun ermuntere ich Sie zu einer kleinen Vorstellungsrunde«, beendet er seinen Vortrag.

Och nee. Ich hasse Vorstellungsrunden.

Am schwierigsten ist es immer für denjenigen, der anfängt. Der hat nichts, woran er sich orientieren kann, denn in der Regel folgen alle anderen dem, was der Erste von sich gibt. Ist er geistreich, kann so eine Vorstellungsrunde amüsant werden. Ich beneide Menschen, die einfach drauflosplappern und denen es völlig egal ist, was irgendwer über sie denkt. Ich dagegen bin jedes Mal heilfroh, wenn ich meinen Part in halbwegs vernünftigen und vollständigen Sätzen hinter mich gebracht habe.

»Wer möchte anfangen?«

Stille. Schuhe werden plötzlich interessant. Welche habe ich heute an? Ach die. Auch typisch für solche Runden. Es gibt nur eine Stille, die noch unangenehmer ist. Nämlich die, wenn die Grundschullehrerin auf dem Elternabend fragt, wer Protokoll führen möchte. Man glaubt gar nicht, was es dann plötzlich auf dem Fußboden zu bestaunen gibt.

»Wenn sich niemand freiwillig meldet – es ist keine Pflicht. Sie können sich auch am Einzugstag gegenseitig vorstellen«, bietet uns der Museumsmitarbeiter großzügig an.

Janine seufzt genervt. »Das ist ja wohl total beknackt, wenn wir diese dusselige Runde nicht hinkriegen. Wie sollen wir denn dann sechs Wochen unter einem Dach wohnen? Also, ich bin Janine Fleckner und Mitte dreißig. Ich komme mit meinem vierzehnjährigen Sohn Ole, bin Floristin und habe vor, mich exzessiv um die Gärten zu kümmern. Und da die Hälfte meinen Namen wahrscheinlich schon wieder vergessen hat: Ich bin Janine. Hab mal gelesen, es klappt besser, wenn man ihn zweimal hört.«

Ich fange erneut an zu gackern. Sie gefällt mir einfach. Unser Quotenmann grinst feist, das Alabastermädchen lächelt wie Botticellis Venus – und die alte Schachtel? Nun, sie verzieht keine Miene. Janine stupst mich in die Seite. Ich bin dran. Durch mein Gegacker habe ich nicht einmal mehr Zeit, aufgeregt zu sein. »Ich bin Kristin Petersen, zweiundvierzig, arbeite als Projektreferentin und komme mit meinen Töchtern Liv und Maja. Ich bin außerdem ziemlich gespannt, was mich erwartet.«

»Das sind wir wohl alle«, entgegnet Janine und grinst mich wissend und mit einem fast unauffälligen Seitenblick auf die alte Schachtel an.

»Mein Name ist Edeltraud von Eschenbach«, sagt diese prompt, verliert kein weiteres Wort und nickt dem letzten Mädel in unserer Historienclique zu. Interessanter Name. Passt zur Schublade, in der sie schon hockt.

»Ich bin die Elisa Binninger und ich bin fünfundzwanzig Jahre alt. Ich studier’ Ethnologie und komm mit meinem kleinen Bruder, dem Linus. Der ist zehn.«

Ach du liebes bisschen, wie süß! Breiter könnte das Badische der Alabasterschönheit nicht sein. Wo hat Daniel die denn gecastet? Die glockenklare Stimme passt zu ihrer engelsgleichen Ausstrahlung, und ich bin fast froh, dass ihr badischer Singsang diese allzu perfekte Erscheinung ein wenig stört. Sie scheint einer der Menschen zu sein, die einfach jeder gernhaben MUSS.

»Gut, dann bin ich wohl dran«, tönt der Hüne. »Timo Müller, zweiunddreißig und Bauernsohn. Ich schreibe langweilige Projektanträge für eine Umweltorganisation und schätze, die Tiere sind meine Aufgabe. Einen zweiten Mann hätte ich nett gefunden, aber ich nehme auch die Rolle als Hahn im Korb.«

Alle lachen. Fast alle. Die Madame macht lieber ein spitzes Mündchen und alle Falten sind im Einsatz.

Weiter kommen wir nicht, denn in diesem Augenblick bimmelt eine schrille Glocke. Ich zucke zusammen. Eine Sekunde lang starren wir einander ratlos an, ehe einer im Saal brüllt: »Feueralarm!«

Es wird hektisch. Alle strömen gleichzeitig nach draußen, und ehe ich mich versehe, stehe ich auf dem Vorplatz. Alleine. Von meinen Mitbewohnern ist weit und breit niemand zu sehen. Ich schaue mich suchend um, entdecke Daniel und schlängle mich zu ihm durch.

»… soweit ich es im Augenblick ermessen kann, handelt es sich um einen Fehlalarm. Sicher sind wir jedoch nicht. Ich würde daher vorschlagen, die Veranstaltung an diesem Punkt abzubrechen, und möchte Sie bitten, nach Hause zu fahren. Das Wichtigste haben wir ja geklärt.«

Über Mund-zu-Mund-Propaganda verbreitet sich Daniels Bekanntgabe und die Menschenschar schiebt sich dem Ausgang entgegen. Schade, ich hätte zu gerne genauer gewusst, mit wem ich sechs Wochen unter einem Dach verbringe. Doch der erste Eindruck ist positiv. Und so fahre ich trotz des abrupten Abbruchs der Veranstaltung beschwingt nach Hause.

Reif fürs Museum?

Drei Wochen zuvor

Ich weiß es nun seit zwei Wochen. Mein Mann schläft mit einer anderen Frau. Oder, um es anders auszudrücken, er hat eine Geliebte. Eine Geliebte! Was ist das überhaupt für ein Wort? Abgedroschen und ein Klischee durch und durch. Doch diesmal betrifft es mich – und das macht es so neu, als wäre es gerade erst erfunden worden.

Achthundertzweiundachtzig Euro. Mit Todesverachtung blicke ich auf den Schmierzettel, der vor mir liegt. Das bleibt übrig. Auf den ersten Blick sieht es gar nicht so übel aus, aber da ist keine Musikschule dabei, kein Ballett, kein Urlaub. Mit wildem Herzklopfen sitze ich am Küchentisch. Schwarz auf weiß steht geschrieben, wie erledigt ich bin. Denn selbst wenn das Geld zum Leben reicht – meinen Kindern kann ich das nicht antun. Ich kann ihnen nicht den Vater nehmen UND sie zu einem Leben am Existenzminimum verdammen.

Und dann heule ich. Mal wieder. Selbstverständlich nur, wenn ich alleine bin. Contenance ist seit zwei Wochen mein zweiter Vorname.

Einiges ist seitdem klarer geworden. Vieles aber auch nicht. Soll ich ihm verzeihen? Was passiert, wenn er uns verlässt oder ich ihn vor die Tür setze? Unsere Leben sind so miteinander verflochten, müssen wir das wirklich alles aufdröseln? Gewohnheit, Geschichte, Verbundenheit. Das ist alles da. Aber was ist mit Liebe? Wenn die noch da wäre, hätte mir die Erkenntnis, dass er eine Geliebte hat, den Boden unter den Füßen weggezogen. Dass sie das jedoch nicht getan hat, habe ich mir eingestehen müssen. Nicht Liebe verbindet uns noch, sondern elterliche Pflicht und eine gemeinsame Vergangenheit. Oft stehe ich seitdem vor dem Bücherregal im Wohnzimmer und blättere in den Fotoalben.

Ja, es steht viel auf dem Spiel. Aber keine Liebe.

Carstens Affäre hat aufgedeckt, was ich schon lange spüre. Die Wolken, aus denen ich fiel, hingen tief. Ich war auf den Betrug vorbereitet. Hey, wer vertraut seinem Mann schon zu hundert Prozent, wenn man der Grundauffassung ist, eine (andere) Frau müsse nur zur richtigen Zeit die richtigen Knöpfe drücken? Damit will ich die Schuld gar nicht auf uns Frauen schieben. Es ist eher so, dass ich die meisten Männer nicht für besonders widerstandsfähig halte. (Sorry, Männer!) Und meinen eigenen auch nicht. Zumindest an dem Punkt der Ehe, an dem wir gerade stehen. Das ist traurig, aber realistisch.

Es kam also nicht gänzlich unerwartet. Dennoch habe ich keine Ahnung, wie es nun weitergehen soll. Und trotz aller Vernunft schmerzt es. Mein Notfallplan für den Moment: Mund halten, heimlich heulen, weitermachen! Ich habe ein imaginäres Kehrblech genommen und alle Probleme, Sorgen, Ängste und Ärgernisse unter den Teppich gekehrt.

Gleichzeitig wächst ein harter Knubbel Verbitterung in mir heran. Mit jedem Blick Carstens, den ich versuche zu interpretieren, mit jeder Bemerkung, mit jeder Auseinandersetzung wird dieser Knubbel größer, und langsam bin ich an einem Punkt, an dem ich ihn nicht mehr ignorieren kann. Im Grunde ist das, was ich unter den Teppich gekehrt habe, zum Ärgernis geworden. Es ist, als liefe ich tagtäglich Dutzende Male über diesen Teppich und jedes Mal stolpere ich darüber. Der Knubbel ist der Tiger aus der Silvestersaga Dinner for One, nur bin ich nicht betrunken, sondern bei vollem Bewusstsein.

Und dann kommt der Tag, an dem ich den Betrug und alles, was daran hängt, nicht mehr verdrängen kann.

»Ich kann nicht mitfahren.«

Ich stehe in der Küche und schnipple Rohkost fürs Abendessen. Eine Schale mit Möhrchen steht bereits auf der Anrichte, gerade schäle ich die Gurke. Ich liebe den Gurkengeruch und die kleinen Wasserperlen, die sich auf der nackten Gurke bilden.

»Hä?«, lautet meine erste Reaktion, weil ich keine Ahnung habe, was er mir gerade mitteilt.

»Das Projekt steht auf Messers Schneide. Der Kunde hat uns um eine Verlängerung gebeten, wenn ich jetzt wegfahre, ist alles gefährdet.«

Ich verstehe langsam. In vier Wochen beginnen die Sommerferien und wir wollen in unser Lieblingsferienhaus auf Rügen fahren. Dort haben wir vor allem die Kleinkinderjahre verbracht, die Mädchen haben sich diesen Urlaub ausdrücklich gewünscht. Seit Monaten freuen wir uns darauf, er war das große Ziel, auf das wir hingefiebert haben.

»Wie, du fährst nicht mit?«

»Nach Rügen. Es geht einfach nicht. Tut mir leid.«

Ich lasse das Schälmesser sinken und schüttle ungläubig den Kopf. »Wie stellst du dir das vor? Soll ich mit den Kindern alleine fahren?«

»Darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht. Das musst du entscheiden.«

»Aha.« Ich wende mich wieder der Gurke zu, schäle betont geruhsam den Rest und schneide ihn mit Inbrunst in daumendicke Scheiben. Mit einem sehr scharfen Messer: Zack, zack, zack. Nimm das, Gurke! Stirb, los, stirb!

»Bist du sauer?«

Ich drücke ihm die Schüssel mit der gemeuchelten Gurke in die Hand und gehe ohne Antwort ins Bad. Durchatmen. Und das Zittern meiner Hände in den Griff kriegen.

Was hat Carsten mir gerade mitgeteilt? Vordergründig ist es die geplatzte Teilnahme an unserem Sommerurlaub aufgrund einer Projektverzögerung. Wie aber lautet der Subtext? Tut mir leid, Schatz, aber ich vögle lieber meine Geliebte, anstatt mit Frau und Kindern den Urlaub zu verbringen? Zack, da brauche ich doch gar nicht weiter nachzudenken. Ist ja schnell abgehakt, die Interpretation des Ehegattensubtextes. Ich wasche mir die Hände, wuchte mir einen Schwall Wasser ins Gesicht, trockne mich ab, gehe wieder nach unten und setze mich an den Abendbrottisch, als wäre nichts passiert.

Soll er es doch den Kindern sagen!

»Wir fahren wieder in den Rügenpark, oder?«, fragt Maja, als hätte sie einen siebten Sinn.

Das Thema kommt schneller aufs Tablett als erwartet, und ich ertappe mich dabei, dass mich das diebisch freut. Erwartungsvoll lehne ich mich zurück, verschränke die Arme und blicke Carsten auffordernd an. Der räuspert sich erst mal. Es ist ja das eine, mir die frohe Botschaft zu verkünden. Den Kindern gegenüber sieht das schon anders aus. Und doch haben sie längst kapiert, dass etwas nicht stimmt.

»Was ist mit dem Rügenpark? Fahren wir hin?« Liv schaut ihren Vater hoffnungsvoll an.

»Also …«, wieder räuspert sich Carsten und schenkt mir einen flehenden Blick. Aber das kann er vergessen. »Also, das müsst ihr mit Mama klären. Ich kann leider nicht mit.«

Die beiden starren ihn ungläubig an.

»Ja, nee, is klar«, unkt Maja. »Als ob du freiwillig auf Urlaub verzichtest.«

»Auf diesen schon«, lasse ich mich hinreißen zu sticheln.

»Du fährst echt nicht mit?«, fragt Maja und kann es immer noch nicht glauben.

Carsten umreißt daraufhin seine beruflich unabkömmlichen Pflichten, Maja steht ohne ein Wort auf und verschwindet in ihr Zimmer, Liv bricht in Tränen aus und dackelt schluchzend hinterher. Ich stehe ebenfalls auf und decke den Tisch ab. Carsten kramt sein Handy aus der Hosentasche und liest Arbeitsmails. Was ist nur los mit diesem Mann?

Ich warte, bis die Kinder schlafen, ehe ich mich dreist zwischen Fernseher, Fußball und den Ehemann stelle, um ihm die Leviten zu lesen. Mir ist bewusst, dass allein das ein Affront ist. Aber ihn zu provozieren passt zu meiner Laune. Da muss er durch, Pokalspiel hin oder her.

»Ging es nicht einfühlsamer? Es reicht doch, wenn du mir diese Neuigkeit ohne Vorwarnung vor die Füße kippst. Bei den Kindern hättest du behutsamer vorgehen dürfen.«

Carsten antwortet genervt und versucht ziemlich offensichtlich, das Pokalspiel an mir vorbei weiterzuverfolgen. »So klein sind sie auch nicht mehr. Die schaffen das schon. Es geht eben nicht anders. Ich würde gerne mitfahren, das kannst du mir glauben.«

»Sicher?«, frage ich provokant.

»Wieso fragst du das?«

Jetzt habe ich seine Aufmerksamkeit. Er beäugt mich unsicher. Ja. Da lese ich das schlechte Gewissen in seinen Augen. Wenn er wüsste, was ich weiß … Ich bin geneigt, die Situation zu genießen. »Du hast noch nie einen Urlaub abgesagt. Da kann ich doch mal fragen, ob es keinen anderen Grund gibt.«

»Nein, gibt es nicht.« Lang und breit erklärt er mir, warum es unumgänglich ist, während der heiklen Projektphase vor Ort zu sein. Und jeder Satz, mit dem er sich rechtfertigt, beweist mir, wie wenig das der einzige Grund sein kann. In diesen Minuten hasse ich ihn inbrünstig. Mein Wissen behalte ich dennoch für mich.

Es dauert ein paar Tage, ehe sich die Mädchen an den Gedanken Urlaub ohne Carsten gewöhnt haben. Vor allem Liv trägt es ihm nach.

»Wie sollen wir uns erinnern, wenn nicht alle dabei sind?«, fragt sie ihn immer wieder.

Er gerät regelmäßig ins Schwimmen, die Gespräche sind ihm unangenehm, aber ich finde, sie sind noch viel zu gnädig mit ihm.

Ich plane um und beginne insgeheim, mich auf einen Urlaub ohne ihn zu freuen. Auf drei Wochen ohne Streit, Zank und Kompromisse. Ohne einen Carsten, dem die Ausflüge stets zu kurz oder zu unspektakulär sind. Ohne Zank über den Haushalt, der auch im Urlaub an mir hängen bleibt. Mit jedem Tag erkenne ich mehr Positives. Das gibt mir zu denken. Warum scheint alles, was mit ihm verbunden ist, mit einem Mal in diesem negativen Licht? Wir sind doch kein schlechtes Paar und als Familie funktionieren wir gut, oder nicht? Warum also ist nun alles grau? Warum fällt es mir schwer, die positiven Erinnerungen hervorzuholen? Und warum sehe ich Carsten plötzlich als Belastung und Störenfried?

Die Kluft, die sich zwischen uns in den letzten Jahren aufgetan hat, wird seit jenem Tag immer größer. Ich entferne mich von ihm, ob ich das will oder nicht. Ein Urlaub ohne Carsten könnte eine Art Testlauf sein. Wie fühlt es sich an, wenn er nicht mehr zur Familie gehört?

Leider gehen die Kinder auf die Barrikaden. Hochoffiziell halten sie mir eine Liste unter die Nase, auf der die Gründe aufgelistet sind, warum sie nicht nach Rügen, sondern lieber auf einen Reiterhof wollen. Ich verstehe sie, es verletzt mich dennoch.

»Warum wollt ihr denn nicht mit mir alleine wegfahren?«

»Weil es ein Erinnerungsurlaub werden sollte und ohne Papa ist es keiner«, lautet ihr wichtigster Punkt.

»Und was soll ich in der Zeit machen?«, frage ich vorsichtig. Ich stehe auf der Terrasse und hänge Wäsche auf. Carstens Lieblingsjeans ist als Nächstes an der Reihe.

»Du kannst die Zeit ohne uns genießen und in Ruhe viele Bücher lesen«, antwortet Maja großzügig.

»Ich möchte aber viel lieber mit euch auf Rügen am Strand liegen«, sage ich enttäuscht.

»Ach, das holen wir nach. Und guck mal, ich habe sogar schon recherchiert. Eine Reitwoche kostet viel weniger als der Rügen-Urlaub.«

»Aber darum geht es mir doch gar nicht.«

»Aber Papa«, erklärt Liv. »Und wenn wir Geld sparen, können wir im Herbst alle zusammen nach Rügen fahren.«

»Das ist in der Tat ein Argument, schade fände ich es trotzdem.«

»Du kannst doch auch reiten«, schlägt Liv gönnerhaft vor.

»Och nee«, wendet Maja ein und verdreht die Augen, »das wäre ja voll doof.«

Ich kann nicht anders. Obwohl es eine völlig normale Teeniereaktion ist, verletzt sie mich. Ich fühle mich gerade sehr alleine. »Ich denke drüber nach, okay?«, vertröste ich sie.

Abends springe ich über meinen Schatten, recherchiere Angebote und schreibe ein Dutzend Reiterhöfe an, in der Hoffnung, keinen Platz mehr zu bekommen. Meine Laune ist auf dem Tiefpunkt und der Sommer wird zu einem Schreckgespenst. Der Frustknubbel ist binnen eines Tages auf die doppelte Größe angewachsen und ich kann ihn nicht länger ignorieren.

Betty kenne ich seit dem ersten Tag an der Uni. Wir haben zusammen Volkskunde im Nebenfach studiert, ehe sie nach zwei Semestern das Studium abbrach, um eine Schneiderlehre anzufangen.

»Ich will mir nicht länger diesen theoretischen Kram in den Kopf hämmern. Ich gehe abends ins Bett und habe das Gefühl, nichts geschafft zu haben. Ich werde Schneiderin.« Sie teilte uns diesen legendären Satz inmitten einer Vorlesung über die Sterbebräuche europäischer Kulturen mit, stand auf und verschwand. Ihr jetziger Mann Daniel und ich starrten uns fassungslos an, gackerten ein wenig hilflos und nahmen sie kein bisschen ernst. Doch Betty erschien nie wieder, blühte stattdessen in ihrer Schneiderlehre am Theater auf und ist heute hochgeschätzte Kostümschneiderin an der Oper.

Daniel bestand sein Volkskundestudium mit Bravour, hängte den Doktor dran und leitet seit einigen Jahren das über die Grenzen der Region hinaus bekannte Freilichtmuseum. Und ich? Ich studierte ebenfalls zu Ende, mit mäßigem Erfolg und der Erkenntnis, dass Wissenschaft nicht mein Ding ist. Inzwischen arbeite ich als Referentin beim Akademischen Austauschdienst, Fachbereich Nordamerika, habe nette Kollegen, einen flexiblen Arbeitgeber und bin mehr als zufrieden. Zumindest beruflich.

Betty, Daniel und ich blieben ein eingeschweißtes Trio. Wir verbrachten viel Zeit in Bettys bunter kleiner Wohnung, tranken Unmengen Wein, und nach fast drei Jahren schaffte es der strukturierte und immer ein bisschen steife Daniel endlich, Betty seine Liebe zu gestehen. Sie belohnte ihn mit den Worten: »Ich dachte, ich muss warten, bis meine Möpse über den Boden schleifen.« Er errötete bis in den kleinen Zeh, sie küsste ihn stürmisch und wich ihm nie wieder von der Seite.

Die Geschichte zwischen mir und Carsten begann ein gutes Jahr später. Unser Kennenlernen verlief allerdings schrecklich öde: Der Ort war eine Disco kurz vorm Morgengrauen, der Boden klebte und nur noch eine übersichtliche Menge bevölkerte die Tanzfläche. Er sprach mich an, ich fand ihn gut und eine Stunde später küsste er mich zum ersten Mal. Ende der Geschichte. Wenigstens gab es damals noch keine Onlineportale. Sonst hätte ich meinen Ehemann vermutlich per Fragebogen gefunden.

Die ersten Wochen behielt ich ihn für mich, dann führte ich ihn in unser Trio ein. Während sich Daniel und Carsten recht gut verstanden, ist zwischen ihm und Betty der Funke nie übergesprungen. Sie tolerieren einander. Carsten ist Betty zu überheblich und er hält Betty für eine überdrehte Trulla. Im Kern haben sicher beide recht. Bettys kritische Grundeinstellung meinem Ehemann gegenüber ist mir gerade jedenfalls sehr, sehr recht.

»Du sitzt das aus?«

Betty ist fassungslos. Wir haben uns auf der Terrasse ihres altehrwürdigen Einfamilienhauses niedergelassen. Sie haben das über hundert Jahre alte Haus von Daniels Oma geerbt, wunderschön hergerichtet und in einen Ort verwandelt, wo man sich einfach wohlfühlen muss. Der Abend ist lauschig, schon seit Mai ist es fast durchgehend warm und trocken, und wir fläzen uns auf einem dieser modernen Loungesofas. Die Kissen hat Betty direkt nach Anlieferung natürlich neu bezogen und sie leuchten nun im bunten Betty-Style.

»Wie lange weißt du schon, dass er diese Trulla vögelt?« Eine Frau der klaren Worte. Noch heute zuckt Daniel zusammen, wenn sie allzu deutlich sagt, was sie denkt.

»Seit einem Monat«, erwidere ich kleinlaut. Ich hätte nicht gedacht, dass der Einlauf, den Betty mir verpasst, so deutlich ausfallen wird.

»Kristin! Warum lässt du dir das gefallen? Ich würde Daniel die Hölle heißmachen und ihn an den Ohren von der Tante runterziehen. Das kannst du mir glauben.«

»Das sagst du nur, weil du genau weißt, dass er zu so etwas gar nicht fähig ist. Er betet dich an.«

»Das stimmt allerdings« – und sogleich huscht dieses versonnene Lächeln über ihr Gesicht, das immer dann auftaucht, wenn sie an ihren Mann denkt. Nach all den Jahren. Ihre Beziehung ist wirklich bemerkenswert. Natürlich haben auch sie ihre Probleme, aber das Grundgefühl, das war und ist da. Es ist die absolut aufrichtige Nähe zweier Seelen zueinander. Insgeheim beneide ich sie darum.

»Auf jeden Fall brauchst du jetzt was zu trinken. Und dann analysieren wir Carstens Fehlverhalten in aller Ruhe.«

Betty tappt in die Küche. Ich höre Schranktüren, das Klimpern von Glas, dann kommt sie zurück. Mit Wein, Grappa und passenden Gläsern. Forsch stellt sie alles auf den Tisch. »So, jetzt hole ich noch Knabberzeug und gebe Daniel Bescheid, damit er uns allein lässt. Linda und Jonas sind bei Freunden und kommen so schnell nicht nach Hause. Wir sind also unter uns.«

»Grappa? Ehrlich?«

»Klar. Gibt es eine bessere Begründung für ein ordentliches Frauenbesäufnis als einen Ehemann, der sich eine Geliebte hält?«

»Da hast du auch wieder recht.«

»Siehste.« Sie grinst, wirft mir einen Luftkuss zu und entschwindet erneut. Ich kann nicht anders. Ich freue mich auf die nächsten Stunden. Geteilter Frust ist halber Frust, und jetzt kann ich endlich alles rauslassen, was ich in mich reingefressen habe.

»Was habe ich am ersten Abend gesagt, als du uns Carsten vorgestellt hast?«, fragt sie, noch ehe sie wieder neben mir sitzt.

»Der taugt nix«, antworte ich kleinlaut.

Betty nickt so vehement, ich habe Angst, der Kopf fliegt gleich von ihren Schultern.

Ich stöhne. »Ich wusste, der Satz wird mir eines Tages auf die Füße fallen.«

»Du meinst ungefähr so wie seine schlechte Laune oder seine Überheblichkeit Menschen gegenüber, von denen er meint, sie haben die falsche Einstellung oder hören die falsche Musik?«

»Puh. Jetzt packst du aber alle Carsten-Vorurteile aus.«

»Das sind keine Vorurteile, das sind Tatsachen. Sicher, auch er hat seine guten Seiten, aber ich fand schon immer, dass ein kleiner Kotzbrocken in ihm steckt. Den er vor anderen Menschen durchaus zu verbergen weiß. Aber ich habe ihn von Anfang an durchschaut.«

Sie hat recht. Die meisten Menschen finden Carsten eloquent, locker, witzig und charmant. Der Alltag sieht anders aus. Es gibt diese zweite Seite, die er nur zu Hause auslebt oder bei Menschen, die er nicht leiden kann. Und da Betty dazu gehört, kannte sie immer schon diese andere Seite.

»Die erste Frage ist leicht, fangen wir doch damit an.« Sie hebt mir ihr Glas entgegen und wir stoßen an. »Liebst du ihn noch?«

Vor Schreck verschlucke ich mich. Ich huste und Betty kichert. Als ich mich beruhigt habe, antworte ich: »Liebe … tjaaa, das frage ich mich die ganze Zeit. Was ist davon noch übrig? Nicht mehr viel, fürchte ich, was es aber nicht leichter macht. Natürlich könnte ich ihn mit meinem Wissen konfrontieren und vor die Tür setzen, doch es hängt einfach so viel dran. Ich kann diese Entscheidung im Moment nicht treffen.«

»Das verstehe ich, aber wenn es mit der Liebe nicht mehr so weit her ist, bleibt dir wenigstens die größte Seelenpein erspart. Das ist schon mal was.«

Ich gebe ihr recht und in den nächsten zwei Stunden analysieren wir akribisch meine Gesamtsituation. Schlauer bin ich anschließend nicht. Ich kann sie ignorieren, tolerieren und mein Leben weiterleben. Oder ich konfrontiere Carsten mit meinem Wissen und sehe, was passiert. Oder ich setze ihn direkt vor die Tür. Doch dann nehme ich in Kauf, dass unser Leben in tausend Stücke zerspringt. Egal, wie ich es drehe und wende, im Moment ist jede Entscheidung zu groß.

Schließlich erzähle ich ihr von dem Sommerurlaub.

»Das ist echt ’ne Nummer.«

»Und wenn es wirklich berufliche Gründe sind?«, wende ich ein und höre selbst, wie lahm das klingt.

»Träum weiter. Du kennst doch Carsten. Der würde sich nie einen Urlaub entgehen lassen.«

»Du hast ja recht.« Ich süpple an meinem vierten oder fünften Grappa. Wir sind ordentlich angeschickert, es ist dunkel, allein die Kerzen auf dem Tisch flackern gemütlich vor sich hin. »Aber egal, ob er vögelt oder arbeitet, was mache ich denn nun? Ich habe keine Lust, den Sommer frustriert mit ihm zu Hause rumzusitzen.«

»Und Carsten wird auch nicht glücklich sein. Dann kann er sich nicht mit seiner Geliebten treffen, wie er es mit Sicherheit geplant hat.«

»Was wiederum ein Grund wäre, doch daheim zu bleiben.«

»Quatsch, es ändert ja nichts an seinem Fremdgehen. Und du kriegst nur schlechte Laune.«

»Stimmt. Also, was soll ich tun?«

Betty fixiert mich mit leicht nach hinten gerecktem, angetüddeltem Kopf und denkt nach. Schließlich hellt sich ihre Miene auf und sie streckt wie Wicky den Zeigefinger in die Luft. »Ich hab DIE Idee.«

Ehe ich reagieren kann, springt sie auf und verschwindet.

Betty eben.

Als sie wiederkommt, hält sie mir wortlos ein Faltblatt vor die Nase. »Lies!«

»Hä?«

»Lies!«

»Is ja gut.« Ich schnappe mir das Faltblatt. Leben wie anno dazumal. Ich kenne es, denn seit zwei Jahren haben Daniel und Betty nur dieses eine Thema. Das Leben in früherer Zeit sechs Wochen lang in Daniels Freilichtmuseum. Betty ist Herrin über die Kostüme und hat dafür die letzten beiden Jahre sogar ihre Stundenzahl an der Oper reduziert. In knapp drei Wochen soll das Projekt endlich starten. Daniel steht deswegen extrem unter Strom.

»Was soll ich denn damit?«, frage ich verwundert.

»Einziehen«, antwortet Betty lapidar.

»Einziehen?«

Betty schnappt sich ihr Weinglas und lässt sich erneut neben mich plumpsen. »Einziehen?«, äfft sie meinen leicht dümmlichen Tonfall nach. »Ja, genau. Einziehen!«

»Aha.« Ich verstehe gar nichts.

Betty nimmt die Flasche Wein vom Tisch und schenkt mir nach. »Schatzi, ich erklär’s dir jetzt mal gaaaanz langsam. Extra für dich und deinen beachtlichen Frust- und Alkoholpegel.«

»Danke, seeeehr freundlich.«

»Ja, gell? Also. Die Idee ist so gut, ich könnte mir selbst auf die Schulter klopfen. Pass auf! Daniel hat mir heute erzählt, dass eine seiner Darstellerinnen abgesprungen ist. Er hat mir deswegen schon den ganzen Nachmittag die Ohren vollgeheult. Und zwar, jetzt kommt’s: ausgerechnet eine Darstellerin mit zwei Töchtern. Und da kommt ihr ins Spiel. Ta-da! Was sagst du?«

»Du meinst, wir sollen da mitmachen?«

»Sie hat’s geschnallt. Endlich, sie hat’s geschnallt.« Betty kichert fröhlich. »Und? Ist das eine Idee oder ist das eine Idee?«

Ich kann ihre überschäumende Freude nicht teilen. »Wie stellst du dir das vor? Ich kann doch nicht meinen Job für sechs Wochen an den Nagel hängen, um Wäsche auf alten Waschbrettern zu schrubben. Und dabei soll ich mir auch noch zuschauen lassen? Also nein, irgendwie kann ich mir das überhaupt nicht vorstellen.«

»Nur wegen des Jobs oder prinzipiell nicht?«

»Ich weiß nicht.«

»Du könntest es als therapeutisches Sommerlager betrachten, das dir hilft, dein seelisches Gleichgewicht wiederherzustellen. Es ist doch so. Wenn du alleine mit den Kindern auf Rügen hockst, badest du in deinem Elend und hast viel zu viel Zeit zum Nachdenken. Dasselbe in Grün, wenn du zu Hause bleibst. Im Museum bist du dagegen abgelenkt, lernst neue Leute kennen und immer wäre jemand um dich rum. Du hättest quasi keine Gelegenheit, über deine desolate Ehe nachzugrübeln.« Sie grinst schelmisch.

Ich lasse ihre Argumentation einen Augenblick nachwirken und mustere sie mit zusammengekniffenen Augen. »Ich muss aufs Klo.«

»Du willst nur in Ruhe über eine Antwort nachdenken«, neckt sie mich.

»Ach Mann, echt grauenhaft, wie gut du mich kennst.«

»Na los, geh Pipi machen und anschließend hast du eine Antwort für mich.«

Ich schneide eine Grimasse, stehe auf und wuschle ihr im Vorbeigehen durch die wilde Lockenmähne. Das mag sie überhaupt nicht, und ich tue es gerade dann, wenn ich sie ärgern will. Diesmal lässt sie es mit einem leichten Kopfschütteln über sich ergehen.

Nachdenklich friemle ich am kupfernen Klorollenhalter. Was schlägt sie mir da vor? Sechs Wochen Museum? Eine Auszeit von allem, was mich beschäftigt? Ablenkung durch Arbeit? Und das alles gemeinsam mit meinen Kindern? Ich gebe zu, es klingt verführerisch. Und spannend obendrein. Was aber würden Liv und Maja davon halten? Und Carsten? Ich schelte mich selbst. Warum sollte mich ausgerechnet seine Meinung interessieren? Er hat schließlich auch nicht gefragt, ob wir den Sommer ohne ihn verbringen möchten.

Aber wie soll das klappen? Sechs Wochen Urlaub genehmigt mir mein Arbeitgeber nie. Oder doch? Nachfragen könnte ich ja mal. Dann erledigt sich die Sache entweder von selbst oder ich kann ernsthaft über einen sechswöchigen Historientrip nachdenken.

»Na, das ging aber schnell«, unkt Betty, als ich mich aufs Sofa plumpsen lasse. »Ich habe eher mit einem mehrstündigen Grübelmarathon gerechnet. Und, wie sieht’s aus?«

»Ich frag auf der Arbeit nach, ob es machbar ist, und dann sehen wir weiter.«

Betty schaut mich mit großen Augen an. »Spontan, spontan, die Dame. Ich bin beeindruckt.«

»Ich kann durchaus spontan sein. Wenn ich will.«

»Na dann: Prost! Auf sechs Wochen Museum.«

»Freu dich nicht zu früh«, sage ich lachend.

»Betrinken können wir uns auf Verdacht ja trotzdem weiter.«

Kurzerhand rufe ich am nächsten Tag Daniel an und erfrage die Einzelheiten. Das Telefonat dauert über eine Stunde, anschließend habe ich eine Vorstellung von dem, was uns erwarten könnte. Eine kleine Aufwandsentschädigung würde es mir sogar ermöglichen, zumindest die Hälfte der Zeit unbezahlten Urlaub zu nehmen. Natürlich könnten wir uns einen dreiwöchigen Verdienstausfall auch ohne diese Aufwandsentschädigung leisten – mein Gehalt ist marginal im Vergleich zu dem, was Carsten verdient. Da ich jedoch weiß, dass dies sein Hauptargument sein wird, möchte ich vorbereitet sein.

Am nächsten Tag watschle ich zu meiner Vorgesetzten. Tina ist nur wenig älter als ich und mehr Freundin als Chefin. Natürlich muss auch sie sich die Erlaubnis von oben einholen, aber ich bin guter Dinge.

»Sechs Wochen willst du uns im Stich lassen?«

»Es ist eine einmalige Gelegenheit. Außerdem habe ich so die Gelegenheit, doch noch mal was mit meinem Studium anzufangen.«

»Bei der Heuernte?« Tina kichert. Schon nach den ersten Sätzen wusste ich, sie wird mir keine Steine in den Weg legen.

»Volkskundliche Heuernte. Ich könnte anschließend eine Arbeit darüber schreiben.«

»Dünne Quellenlage, würde ich mal behaupten«, unkt Tina wissend. Auch sie ist Historikerin, hat also wie die Hälfte der Belegschaft ein geisteswissenschaftliches Studium im Gepäck. So viele Historiker, Ethnologen, Germanisten und Kulturwissenschaftler muss man erst mal an einem Platz versammeln und beschäftigen … Tina möchte genau wissen, was es mit dem Projekt Living History