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Nach einem Streit erkennt Debbie Russel, dass ihre langjährige Ehe mit Clark vor dem Aus steht. Sie verlässt London, um in Ruhe über ihre Zukunft nachzudenken. Im romantischen Dartmoor gerät sie in einen Sturm und verunglückt. Der Hotelier Richard Huntington bietet ihr spontan Hilfe an. Hals über Kopf verlieben sich Debbie und ihr Gastgeber. Schmetterlinge flattern im Bauch und wecken Gefühle, die die Mittvierzigerin schon längst vergessen hat. Da taucht ihr Ehemann Clark auf. Er ist Inspektor bei Scotland Yard und jagt Englands meistgesuchtesten Serienbankräuber. Die Spur des in den Medien als Gentleman-Bankräuber bezeichneten Verbrechers führt direkt ins Dartmoor und dort in Richards Hotel. Debbie überkommen Zweifel und sie fragt sich, ob Richard der gesuchte Bankräuber ist, der mit der Beute aus den Überfällen sein Hotel saniert? Ist sie gerade dabei, sich in einen eiskalten Verbrecher zu verlieben? Was wird aus ihrer Ehe mit Clark? Ist sie endgültig vorbei oder sollen es beide noch einmal miteinander versuchen? Fesselnde Spannung und romantische Liebe vermengen sich grandios im südenglischen Flair.
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Seitenzahl: 346
Veröffentlichungsjahr: 2019
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„Wenn Liebe in Freundschaft übergeht, kann sie nicht sehr groß gewesen sein.“
Katherine Hepburn
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Debbie ist immer noch außer sich vor Wut. In den 21 Jahren ihrer Ehe mit Clark ist es natürlich hin und wieder mal zu einem Streit gekommen. Das gehört wohl zu jeder Ehe und ist ein mehr oder weniger unnötiger, aber vorhandener Bestandteil des Zusammenlebens zweier Menschen.
Zur Nordsee gehören Ebbe und Flut, zu einer Ehe Streit und Versöhnung, rast es durch ihren Kopf.
Bisher ist das immer so gewesen. Man zankte sich, dachte darüber nach, grinste sich ein paar Minuten später an und vertrug sich wieder. Aber diesmal ist es anders. Diesmal ärgert sich Debbie nachhaltig über Clarks komplett fehlendes Verständnis für ihr Vorhaben. Diesmal fehlt der Bestandteil: Versöhnung. Worte sind wie Torpedos abgeschossen worden, haben direkt ins Herz getroffen und es zerfetzt. Mit verletzten Seelen, wild, unsicher und ängstlich zugleich, wurde mit Wut geantwortet und auch das ist nicht klug gewesen. Dennoch plagen Debbie keine Schuldgefühle. Es ist eher wie ein Erkennen; ein Begreifen der Situation.
„Er ist eindeutig zu weit gegangen. Das hätte er nicht sagen dürfen“, grummelt sie vor sich hin.
Innerlich immer noch sehr aufgewühlt, streckt sie ihre Hand aus und schaltet das Radio ein. Sie muss sich abzulenken und endlich auf andere Gedanken kommen.
Er hätte den Streit von gestern Abend nicht beim Frühstück ansatzlos fortsetzen sollen. Das ist wie ein Hauch von Trennung.
Bekannte Töne dringen aus den Lautsprecherboxen. Es läuft ein Oldie von den Kinks. Debbie dreht etwas lauter und trällert den Refrain von Lola mit. Sie lacht über den Songinhalt und dennoch funktioniert das mit der Ablenkung nicht so richtig. Erst durch das Aufblinken der Reservewarnleuchte wird sie vollends aus ihren Gedanken an Clark gerissen.
„Verdammt“, flucht sie.
Zum ersten Mal seit ihrer Abfahrt, versucht sie sich zu orientieren.
Wo bin ich überhaupt hingefahren?
Sie rollt über eine einsame Landstraße. Die Tachonadel schwankt dauerhaft zwischen 55 und 60 Meilen hin und her. Das letzte Dorf hat sie zwar erst vor ein paar Minuten durchquert, kann sich aber nicht erinnern, dort eine Tankstelle gesehen zu haben.
Nein, überlegt sie zum wiederholten Mal und schüttelt dabei leicht den Kopf. Definitiv gab es dort keine Möglichkeit zu tanken.
Fünf Meilen später rollt sie in die nächste Ortschaft ein. Ihr sticht sofort die uralte Leuchtreklame einer Tankstelle ins Auge und sie setzt erleichtert den Blinker. Debbie lenkt den Rover an eine freie Zapfsäule, hält an, zieht den Schlüssel ab, öffnet die Fahrertür und steigt aus. Sie geht um den Rover herum und öffnet den Tankdeckel. Ein kurzer Blick zur Zapfsäule, ein Griff zum richtigen Hahn und das Benzin fließt in den fast leeren Tank.
Sieht richtig vintage aus. Hier ist die Zeit stehen geblieben. Das ist der Flair, den ich liebe, denkt sie und atmet tief durch.
Debbie ist bislang noch nie in dieser Gegend gewesen, dabei gefallen ihr die weite Landschaften und die teils malerisch, kleinen Dörfer sehr gut. Es ist der Kontrast zur Großstadtmetropole, die für Erholung sorgt.
Vor drei Stunden hat sie London verlassen und ist immer Richtung Westen gefahren. Ziellos. Hauptsache weg von zu Hause.
Debbie weiß, dass Abstand das einzig Richtige ist. Sie braucht Zeit und Ruhe, um sich darüber klar zu werden, wie ihr Leben weiter gehen soll. Sie möchte ihre Seele heilen, das zerfetzte Herz wieder zusammenfügen und um Abstand zu gewinnen, ihre Gedanken baumeln lassen.
Sie fühlt sich zu jung, um als Hausmütterchen nur noch für waschen, kochen und den täglichen Einkauf zuständig zu sein.
„Ich kann nicht dasitzen und warten bis ich alt bin und das Leben vorbei ist. Ich möchte jetzt leben! Noch etwas tun, etwas erleben, weißt du, was ich meine?“, hat sie ihm gesagt und dabei das Wort jetzt extrem betont.
Debbie ist immer noch äußerst attraktiv und fühlt sich voller Energie. Energie, die sie gerne in einen Job einbringen möchte. Genau dieses Thema wollte sie mit Clark besprechen, doch er hat sofort abgeblockt und dabei fast ein wenig gelangweilt, gemeint, dass das nicht nötig sei und er genug Geld verdiene. „Wenn du zu Hause bleibst, sind wir komplett unabhängig und wenn ich mir mal unter der Woche einen Tag frei nehme, können wir etwas unternehmen. Arbeitest du, können wir nicht mehr so gut planen“, sind seine Argumente gewesen.
„Unternehmen?“, hat sie zurück geschossen. „Was denn? Einmal in der Woche zum Essen gehen, alle vierzehn Tage zum Bowling mit Anne und Pete? Und einmal im Monat ins Kino und das auch nur, wenn ein Film angelaufen ist, der dir gefällt?“
So hat ein Wort zum nächsten geführt und fertig war der große Streit. Debbie regt sich immer noch extrem über die altmodische Einstellung ihres Mannes auf.
Sicher, Clark hat als Chief Inspektor bei New Scotland Yard ein gutes Einkommen. Ihr Londoner Reihenhaus ist durch eine kleine Erbschaft fast abbezahlt und sie können problemlos zweimal im Jahr verreisen.
Debbie hat versucht ihm zu erklären, dass es nicht um das zusätzliche Einkommen geht. Sie möchte Abwechslung. Raus aus dem Alltag. Es allen anderen, aber auch sich selbst nochmal zeigen und beweisen, dass sie immer noch im Berufsleben mithalten kann. Sie möchte nicht zwischen bügeln und abwaschen, einkaufen und kochen hin und her pendeln und das Kreuzworträtsel in der Zeitung als größte Herausforderung des Tages betrachten.
Also hat sie, ohne Clarks Wissen, die Stellenanzeigen durchforstet, sich bei drei interessanten Arbeitsangeboten beworben, bei zwei Firmen vorgesprochen und schließlich eine vielversprechende Zusage bekommen. Probearbeit mit Bezahlung. Besser geht’s nicht, hat sie sich gedacht.
Als sie ihren Mann gestern damit überraschen wollte, ist es zum Streit gekommen. Dabei hatte Debbie alles so gut geplant. Sie bereitete Spaghetti mit Garnelen zu und öffnete eine gute Flasche Wein. Nicht irgendeinen Wein, sondern einen Lugano vom kleinen Weinhändler um die Ecke. Der Wein, den Clark so liebt. Der Tisch war hübsch dekoriert und zwei Kerzen brannten im Leuchter.
Sie hat gelacht, als Clark grübelte, ob er den Hochzeitstag vergessen hat. Er hat so hübsch hilf- und ratlos ausgesehen. Doch als sie ihm, fast ein wenig euphorisch, den Grund dieser kleinen Feier mitgeteilt hat, ist er völlig unerwartet ausgerastet und ihre Träume sind wie Seifenblasen zerplatzt. Es hat plopp gemacht und alles war weg.
Das Essen ist fast unberührt zurück in den Kühlschrank gewandert und der gute Wein wurde hinuntergekippt, als wäre er Leitungswasser. Immer wieder haben sie sich gegenseitig angegeifert. Später herrschte eisige Stille. So sind sie auch eingeschlafen.
Beim Frühstück ist der Streit fortgesetzt worden. Clark hat überhaupt kein Verständnis gezeigt und war sogar grußlos außer Haus gegangen. Debbie hat danach den Termin für das Probearbeiten bestätigt und sich spontan dazu entschieden, das Wochenende allein zu verbringen.
Abstand gewinnen, sich sammeln und eine wichtige Entscheidung allein fällen und über Trennung nachdenken. Das sind die ersten Schritte, hat sie sich beim Packen der Reisetasche gedacht, ist ihren alten Rover gestiegen und weggefahren. Lediglich einen Zettel hat sie für ihren Mann zurückgelassen.
Bin übers Wochenende weg. Debbie
Er wird allein sein. Ihre beiden Kinder sind erwachsen. Sarah ist 20 Jahre alt und studiert in Cambridge Rechtswissenschaften, Glenn ist letzten Monat volljährig geworden, hat die Schule beendet und trampt mit zwei Freunden durch Europa. Er möchte die sechs Monate bis zu seiner Einstellung bei der Londoner Polizei genießen und die Welt kennenlernen. Clark war erst gegen Glenns Reise, aber Debbie überzeugte ihren Mann, da sowohl ihr Sohn als auch dessen beiden besten Freunde sehr vernünftige Jungs sind.
Clark, du wirst dich sehr einsam fühlen und hast genug Zeit zum Nachdenken!
Ein metallisches Klicken reißt sie aus ihren Gedanken. Die gelöste Arretierung des Zapfhahns verrät Debbie, dass der Tank voll ist. Sie hängt den Zapfhahn zurück an die Säule, lässt ihn einrasten und geht in den kleinen Verkaufsraum der Tankstelle.
„Guten Abend“, wird sie von älteren Dame begrüßt, die strickend hinter der Kasse sitzt und Debbie sofort an die Miss Marple Darstellerin Margret Rutherford erinnert. Die Kassiererin zählt noch zwei Maschen ab, legt das Strickzeug beiseite und schielt über den Rand ihrer Brille.
Debbie erwidert den Gruß. „Guten Abend!“
„Heute wird es noch regnen. Den ganzen Tag sagen sie im Radio schon ein gewaltiges Unwetter voraus. Es zieht von der See herein.“
„Ich hatte die Nummer drei“, entgegnet Debbie und versucht nicht auf das Gespräch der freundlichen Dame einzugehen. Ihr ist nicht nach Smalltalk zumute. Die sympathische Ausstrahlung der betagten Tankstellenbetreiberin stimmt sie jedoch um. Debbie lächelt höflich und fragt „Wo sind wir hier eigentlich?“
Die Kasse springt auf, Debbie legt einen Geldschein auf den Tresen.
„In Shillingford, nähe Exeter“, kommt die Antwort. „Wo wollen Sie denn hin?“, schiebt die nette Frau, halb aus Neugier und Hilfsbereitschaft, gleich nach.
„Oh, ich habe kein Ziel. Ich wollte nur mal raus aus London. Ich dachte mir, dieser Landstrich hier ist sehr schön und auf jeden Fall eine Reise wert.“
Die Dame nimmt den Geldschein, steckt ihn in die Kasse und reicht Debbie das Wechselgeld. „Da muss ich Ihnen zustimmen. Sie befinden sich hier am Rand des Dartmoors. Eine herrliche Gegend. Sie kennen doch den Dartmoor Nationalpark, oder?“
Debbie überlegt kurz und erinnert sich augenblicklich an ein paar alte Kriminalromane, die sie mal gelesen hat. „Natürlich“, antwortet sie. „Sagen Sie mal, spielen hier nicht auch die Geschichten von Edgar Wallace?“
Sie trifft damit genau auf den wohl leidenschaftlichsten Punkt der Tankstellen-Miss-Marple. Mit einem metallisch klingendem Klack wird die Kasse geschlossen. Das Gesicht der alten Dame strahlt richtig.
„Nicht ganz“, entgegnet sie voller Begeisterung. „Das Dartmoor ist zwar Kulisse für einige Filme, aber Edgar Wallace Filme wurden hier nicht gedreht“, erklärt sie voller Stolz. „Aber einmal, da waren sie alle für ein Wochenende hier. Sie haben sich erholt und die Landschaft angesehen. Alle Schauspieler haben hier getankt oder sich Zigaretten gekauft. Wissen Sie“, sagt mit sie leicht gedämpfter Stimme und vorgehaltener Hand, als wären noch mehr Leute im Verkaufsraum, „damals war rauchen noch schick und modern. Heutzutage weiß man, wie schädlich dieses Zeug ist.“ Sie zeigt auf ein paar Zigaretten, die hinter dem Tresen aufgestapelt in einem Regal stehen. „Jedenfalls habe ich von fast allen Schauspielern Originalautogramme“, kommt sie zum Ursprungsthema zurück. „Die sind in einem Album, oben in der Wohnung.“
„Schön“, lächelt Debbie, steckt das Wechselgeld ein und wirft die Geldbörse in die Handtasche.
„Wenn Sie eine Landkarte benötigen, kann ich Ihnen helfen. Gestern war ein Vertreter hier und überreichte uns ein paar kostenlose Karten von dieser Gegend. Da ist hinten lauter Werbung drauf. Er sagte, die Landkarten sind durch die Werbeanzeigen finanziert und ich solle sie an gute Kunden verteilen. Das Schnäppchen habe ich mir natürlich nicht entgehen lassen.“
Die nette Dame greift unter den Tresen und zieht eine der Faltkarten hervor. „Natürlich wollte er, dass ich für nächstes Jahr auch eine Anzeige schalte, aber ich habe gesagt, dass ich gar nicht weiß, ob wir die Tankstelle dann noch betreiben. Wissen Sie, mein Eddie ist schon 86 Jahre alt und ich feiere nächstes Jahr …“
„Darf ich die mitnehmen“, unterbricht Debbie und hofft so, die redselige Verkäuferin zufrieden und vor allem auch ruhig zu stellen.
„Möchten Sie eine Quittung haben?“
„Vielen Dank, ich brauche keinen Beleg. Aber wenn Sie mir sagen könnten, wo ich einen Geldautomat finde? Ich benötige noch etwas Bargeld.“
„Hier nicht, aber ich kann Ihnen helfen. Ich ziehe Ihre Karte durch und gebe Ihnen das Geld aus der Kasse. So spare ich mir den Weg zur Bank. Die Gebühr …“
„Die Gebühr zahle ich gern.“
Debbie holt noch einmal ihre Geldbörse aus der Tasche, reicht der Dame die Kreditkarte und nimmt das Bargeld entgegen. Sie legt einen Fünfer Trinkgeld hin und fragt: „Reicht das?“
Mehr als zufrieden nickt die Miss Marple Doppelgängerin. „Das ist viel zu viel.“
„Das geht schon in Ordnung.“
„Sehen Sie zu, dass Sie zu Ihrem Hotel kommen. Es wird nicht mehr lange dauern, dann ist das Unwetter hier.“
„Danke für den Tipp.“
Debbie ist jetzt besser gelaunt als vor dem Tanken. Der Kontakt mit der alten Dame hat ihr gut getan. Als sie wieder im Rover sitzt, wirft sie einen Blick auf die Karte, orientiert sich und findet schnell die kleine Ortschaft Shillingford. Dann schweift ihr Blick über die ausgebreitete Karte.
Dartmoor. Warum nicht? Ich suche mir ein schönes Hotel und unternehme ein paar Wanderungen. Clark wird mich sicher vermissen, aber mein Handy bleibt aus.
Sie legt einen Finger auf Shillingford und lässt die andere Hand über der Karte kreisen. „Wo geht die Reise hin?“, haucht sie leise aus und schließt die Augen. Sie senkt schnell ihren Zeigefinger und zack, landet er auf der Landkarte. Debbie öffnet die Augen und starrt auf den Punkt, den ihr Finger markiert.
„Mitten ins Moor getroffen“, lacht sie. „Debbie, du bist ein Pechvogel“, fügt sie hinzu, bleibt aber bei der zufällig entschiedenen Wahl. Sie sucht den nächst gelegenen Ort zu dem Punkt, auf dem ihr Finger gelandet ist, findet ihn schnell und liest, obwohl sie allein ist, laut vor. „Die Reise geht nach: Widecombe in the Moor.“
Sie nickt zustimmend.
„Alles klar, Widecombe in the Moor, ich hoffe, dass du eine Unterkunft für mich hast. “
Es dämmert bereits und Debbie schaltet beim Losfahren das Licht an. Kurz darauf fallen erste Tropfen vom Himmel und klatschen in unregelmäßigen Abständen gegen die Windschutzscheibe. Erst sind es nur ein paar wenige, dann häufen sich die Tropfen und schließlich beginnt der Regen seine Kraft zu entfalten. Der Wischrhythmus der Scheibenwischer ist auf langsam eingestellt, doch als es binnen kürzester Zeit immer stärker regnet, schaltet die Londonerin den Intervall der Wischblätter schneller. Sie verlässt Shillingford und fährt mit angepasster Geschwindigkeit die Landstraße entlang.
Das Prasseln auf dem Autodach hört sich an wie Applaus. Das Wetter gratuliert zu meiner Entscheidung, denkt sie. Ihr positives Gemüt lässt sie lächeln. „Bravo! Ich reise ins Moor“, murmelt Debbie.
Wind kommt auf, der Regen wird heftiger. Debbie verringert ihr Tempo. Ihr fällt ein, was Miss Marple gesagt hat: von der See zieht ein Unwetter auf
Der Griff zum Radio folgt. Aus den Lautsprecherboxen dringt nur ein Rauschen. Debbie betätigt den automatischen Sendersuchlauf, der keine drei Sekunden später fündig wird. Ein Werbejingle ist gerade zu Ende. Über die Anzeige des Touchscreen läuft der Hinweis auf den Sender.
… Dartmoor Radio – immer für Sie da ... die besten Hits der letzten 50 Jahre …
„Ein Lokalsender, prima. Vielleicht erfahre ich etwas über die Gegend.“
Es werden Oldies gespielt. Ricky King zupft gerade noch die letzte Gitarrenseite seines Hits Verde, als er nahtlos von Bob Dylan´s Klassiker Blowing in the Wind abgelöst wird.
Gute Musik, denkt Debbie und schaltet den Scheibenwischer auf die höchste Stufe. Der Regen ist zwischenzeitlich so heftig geworden, dass die Sicht nur noch wenige Meter beträgt.
Mistwetter, schimpft sie im Stillen. Sie hasst es bei Regen oder Schneewetter zu fahren. Bei solchen Wetterlagen war Debbie stets froh, wenn Clark am Steuer saß.
„Clark“, seufzt sie.
Warum warst du nur so ekelhaft und unnachgiebig in dieser Sache? Ein paar Tage ohne mich werden dir sicherlich gut tun!
Debbie erkennt das Reh auf der Fahrbahn fast zu spät. Als ihre Scheinwerfer das scheue Tier erfassen, tritt sie mit ganzer Kraft auf die Bremse. Ihre Hände umklammern das Lenkrad, die Finger scheinen sich förmlich in den Kunststoff einzugraben.
Das Reh bleibt stehen und blickt der Autofahrerin mit sanften, aber dennoch erschrockenen Augen entgegen. Das ABS verhindert ein Blockieren der Reifen. Dennoch kommt es Debbie so vor, als schlittere sie hilflos frontal gegen das Tier. Binnen Sekundenbruchteilen entscheidet sie sich für ein Ausweichmanöver. Sie lässt die Bremse los, reißt das Lenkrad herum und möchte das Wildtier umfahren. Sie lenkt ein wenig zu hastig und der Rover gerät auf der nassen Fahrbahn ins Schlingern. Instinktiv steuert Debbie dagegen, doch der Wagen dreht sich bereits um die eigene Achse. Im Augenwinkel erkennt sie, dass das Reh wegläuft.
Der Rover schlittert unaufhaltsam zum Fahrbahnrand und rutscht seitlich in den Straßengraben. Debbie hat Angst, sie könnte sich überschlagen und klammert sich so fest ans Lenkrad, dass das Weiße an ihren Knöcheln zu sehen ist. Die Reifen fräsen sich regelrecht in die aufgeweichte Erde. Krachend wird die Grabenfahrt ruckartig beendet, als der Rover frontal gegen einen großen Findling stößt. Das Geräusch von zusammengepressten Metall und berstenden Plastik klingt hässlich.
Crash – Zack - Plopp
Der Sicherheitsgurt hält die Fahrerin im Sitz. Der Airbag bläht sich in Millisekunden auf und verhindert, dass Debbies Kopf gegen das Lenkrad knallt.
Die Sicherheitssysteme haben funktioniert und Schlimmeres verhindert. Debbie ist leicht benommen und benötigt eine Zeitlang, um sich wiederzufinden und den anfänglichen Schock des Unfalls zu verdauen.
Oh nein, schießt es ihr durch den Kopf.
Sie versucht ruhig zu bleiben und atmet ein paarmal tief durch. Gedanklich sucht sie sich nach Verletzungen ab. Erleichtert registriert Debbie, dass sie keine Schmerzen verspürt. Nach und nach realisiert sie ihre Lage und je mehr sie wieder die Kontrolle über die Situation bekommt, desto heftiger schwillt Wut über den Unfall an. Debbie beginnt laut zu fluchen: „Fuck! Verdammter Mist! Verfluchtes Reh! Nächstes Mal fahre ich dich über den Haufen!“
Adrenalin schießt durch ihre Blutbahn. Verzweiflung löst den ersten Wutanfall ab, doch der selbstbewussten Frau ist vollkommen klar, dass Hilflosigkeit fehl am Platz ist. Wut kehrt zurück. Nach dem ersten Wechselbad der Gefühle beginnt Debbie logisch über ihre Situation nachzudenken.
Erst jetzt bemerkt sie, dass sie immer noch das Lenkrad umklammert, als wäre es ein Rettungsreifen. Sie lässt los und ballt eine Hand zur Faust. Dann hämmert sie zweimal gegen das Lenkrad.
„Fuck, fuck, fuck!“, wiederholt sie mehrfach und schnallt sich mit zitternden Händen ab.
Okay, was hat Clark immer gesagt? Ruhe bewahren und Überblick verschaffen.
Debbie spürt, wie ihre Fassung langsam zurückkehrt. Noch einmal sucht sie sich nach Verletzungen, vor allem nach blutenden Wunden ab. Außer einem leichten Zittern in den Knien, kann sie nichts finden.
Sehr gut! Das mit dem Gurt wird vielleicht ein paar blaue Flecken an Schulter und Oberkörper geben, aber das ist mir egal. Zum Glück sind die Scheiben heil geblieben, so habe ich keine Schnittwunden davongetragen.
Sie atmet kräftig und vor allem erleichtert durch.
Was jetzt? Ich muss raus aus dem Wagen.
Es regnet immer noch in Strömen. Das Prasseln auf dem Autodach hört sich schrecklich an. Der Sturm scheint seinen Höhepunkt erreicht zu haben. Debbie beschließt ein paar Minuten zu warten und zieht ein Resümee.
Ihr ist klar, dass sie ohne fremde Hilfe nicht aus dem Graben herauskommen wird. Der Straßengraben ist etwa einen Meter tief und ihr Rover liegt mit leicht eingedrückter Front in Schräglage am Abhang. Der Unterboden sitzt womöglich auf, die Reifen dürften sich tief in den vom Regen aufgeweichten Boden eingegraben haben.
Ich brauche einen Abschleppwagen und eine Werkstatt. Hoffentlich ist nicht zu viel kaputt.
Innerlich hört sie Clark schimpfen. „Kannst du nicht Autofahren? Du warst viel zu schnell! Wie kann man bei so einem Sauwetter nur so rasen?“
Andererseits hatte er damals, nach ihrem großen Unfall, auch nicht verärgert reagiert. Sie hatte vor vier Jahren seinen Saab gegen einen Baum gefahren. Eisglätte! Damals ist Clark ganz cool geblieben. „Hauptsache, dir ist nichts passiert, Darling. Für den Rest haben wir eine Versicherung“, hat er besorgt zu ihr gesagt.
Komisch. Sie wollte Abstand von Clark gewinnen und ist dafür extra aufs Land gefahren, und kaum hat sie einen Wildunfall, denkt sie wieder nur an ihren Ehemann. Scheinbar liebt sie ihn doch mehr, als sie beim Losfahren gedacht hat. Noch in London ist ihr klar gewesen, dass dies auch ein Abschied für immer werden kann.
Und jetzt?
„Blödes Gedankenkarussell. Vergiss es Debbie, du musst raus hier und den Rover abchecken.“
Debbie atmet einmal tief durch, dann öffnet sie die Fahrertür. Sie spürt den Druck des Windes. Regen klatscht gegen ihren Körper und der heftige Sturm peitscht das Regenwasser regelrecht ins Fahrzeuginnere. Sofort zieht sie die Tür wieder zu.
„Puh“, stößt sie aus.
Vielleicht geht es in ein paar Minuten besser, schießt es ihr durch den Kopf.
Debbie möchte die Innenbeleuchtung anschalten.
Klick
Nichts.
Verdammt.
Sie überlegt. Was kann passiert sein? Entweder ein Not-Aus der Batterie oder eine Klemme hat sich durch den Unfall gelöst.
Keine Batterie, kein Licht.
Sie grübelt.
Das Handy! Das hat doch eine Taschenlampe. Außerdem muss ich sowieso den Pannendienst anrufen.
Debbie verflucht sich in diesem Moment, an der Tankstelle auf eine Quittung verzichtet zu haben.
Da würde die Adresse und Telefonnummer drauf stehen. Ich hätte Miss Marple angerufen, und die hätte sicher einen seriösen Abschleppdienst gekannt.
Ein suchender Blick und sie findet schnell, was sie sucht. Ihre Handtasche. Sie ist bei dem Unfall vom Beifahrersitz in den Fußraum geschleudert worden und dort liegen geblieben. Debbie bückt sich nach vorn, bekommt einen Griff zu fassen und zieht die Tasche nach oben. Sie öffnet sie, kramt nach dem Mobiltelefon und zieht es heraus.
Aus, stellt sie fest. Ach ja, war ja meine Idee. Kein Kontakt zu Clark.
Ein leichter Druck an den seitlichen Schalter und das Display leuchtet. Leicht aufgeregt tippt sie die PIN ein. Entsetzt liest Debbie die Anzeige: Falsche PIN! Sie haben noch zwei Versuche!
Sie denkt kurz nach.
Nicht die übliche Sperr-PIN, sondern die, wenn ich das Handy hochfahre.
Wieder tippt sie eine Zahlenkombination ein. Diesmal bewusst langsam. Die Spannung steigt in dem Moment, als sie auf das OK-Tastenfeld drückt.
Der Begrüßungstext erscheint. Debbie stößt ein erleichtertes: „Ja!“ aus. Das emporschießende Hochgefühl ebbt augenblicklich wieder ab, als die Netzsuche-Anzeige dauerhaft stehen bleibt.
„Kein Empfang. Ich werde hier noch verrückt“, zischt sie entnervt und wirft das Handy wütend auf den Beifahrersitz, wo es, trotz der leichten Schräglage des Fahrzeuges, liegen bleibt.
Debbie lehnt sich zurück und beginnt ihre Situation neu zu ordnen. Mit leicht aufkeimender Panik analysiert sie ihre Lage erneut.
Es regnet in Strömen und es ist längst stockfinster geworden. Kein Licht, kein Stern, kein Mond ist zu sehen. Sie befindet sich mutterseelenallein mitten in einem fast menschenleeren Nationalpark, das Auto ist nicht mehr fahrbereit und ihr Mobiltelefon nutzlos.
Was würde Clark tun?
Debbies Gehirn rattert. Sie muss auf sich aufmerksam machen.
Aber wie?
Es gibt nur eine Lösung. Sie muss es versuchen. Aussteigen, Motorhaube öffnen und hoffen, dass sich durch den Aufprall beim Unfall wirklich nur eine Klemme von der Batterie gelöst hat.
„Okay“, sagt sie laut, um sich Mut zu machen. „Dann wollen wir mal.“
Sie beugt sich nach unten, findet den gesuchten Hebel und entriegelt die Motorhaube. Debbie blickt sich um, sieht nur Dunkelheit, fasst Mut und öffnet die Fahrertür. Wieder klatscht ihr heftiger Regen entgegen. Diesmal nimmt sie in Kauf, nass zu werden, hält sich aber für etwas Schutz ihren Mantel über den Kopf. Nachdem sie ausgestiegen ist, geht sie um das Fahrzeug herum. Etwas umständlich sucht sie den Entriegelungshebel der Motorhaube, findet ihn, schiebt ihn zur Seite und hebt die Motorhaube hoch.
Im Lichtkegel des Handys findet sie schnell die Batterie. Das Kabel am Pluspol hat sich durch den Aufprall tatsächlich gelöst. Debbie nimmt es und streift es über das Anschlussteil der Batterie. Jetzt prüft sie durch ein kurzes Rütteln, ob das Kabel hält und schließt schnell die Motorhaube. Sie eilt zurück zur Fahrerseite, öffnet die Tür und steigt ein. Energisch streicht sie das nasse Haar aus dem Gesicht und schüttelt so gut es geht, das Wasser aus der Kleidung.
Debbie greift zum Zündschloss, bekommt den Schlüssel zu fassen und dreht ihn um. Erleichtert stellt sie fest, dass die Armaturenbeleuchtung funktioniert. Sie schaltet die Innenraumbeleuchtung an und danach den Warnblinker. Sicherheitshalber verriegelt sie das Auto. Das Blinken in der Dunkelheit wirkt beruhigend.
Jetzt sieht man mich! Vielleicht kommt ja noch ein Einheimischer vorbei oder noch besser, eine Polizeistreife.
Danach schaltet sie das Radio an und hört die sonore Stimme eines Nachrichtensprechers: „… wie New Scotland Yard in London mitteilte, hat der Gentleman Bankräuber wieder zugeschlagen. Heute Nachmittag überfiel der als äußerst charmant bezeichnete Mann die siebte Bank innerhalb eines Jahres. Noch immer hat die Polizei keine heiße Spur …“
„Wen interessiert das schon?“, schimpft Debbie und schaltet ab.
Plötzlich wird ihr heiß und kalt zugleich. Sie weiß, dass Clark mit dem Fall betraut ist. Er spricht zwar nur wenig über seine Arbeit, aber er hat neulich erwähnt, dass er die Leitung einer Sonderkommision übernommen hat, die sich um den Gentleman Bankräuber kümmert. Nach Clarks Angaben hat es dieser Serientäter innerhalb kürzester Zeit geschafft, sich an die Spitze der Liste der meistgesuchten Verbrecher Großbritanniens zu setzen. Die Hinweise aus der Bevölkerung sind trotz einer hohen Belohnung sehr spärlich und die Presse hat den Straftäter zu einer Art Robin Hood gemacht, obwohl er das Geld nicht unter den Armen verteilt.
Wenn der Typ heute wieder zugeschlagen hat, wird Clark bestimmt noch im Büro sein. Er weiß vermutlich noch gar nicht, dass ich weg bin, durchfährt es sie.
Der Sturm bäumt sich noch einmal auf. Wind pfeift um den Rover und presst unaufhörlich Regen gegen die sich beschlagenden Scheiben. Debbies Bekleidung ist durchnässt und sie beginnt zu frieren.
Kein Wunder! Wie sollen meine Klamotten hier trocknen? Ich hätte lieber klatschnasse Haare in Kauf nehmen sollen und den Mantel anziehen, ärgert sie sich.
Während sie überlegt, noch einmal auszusteigen, um ihre Reisetasche aus dem Kofferraum zu holen, sieht sie im Rückspiegel Licht schimmern. Debbie dreht sich um und erkennt Scheinwerferlicht. Ein Fahrzeug nähert sich. Angst und Hoffnung halten sich die Waage. Binnen Sekunden trifft die selbstbewusste Frau eine Entscheidung. Sie kramt aus ihrer Handtasche das Pfefferspray, das ihr Clark zur Selbstverteidigung gekauft hat und greift nach ihrem Handy. Dann steigt sie aus, schlüpft in ihren Mantel, schiebt das Pfefferspray in die Manteltasche und schaltet die Taschenlampen-App an. Dann beginnt Debbie zu winken.
Das Fahrzeug nähert sich langsam. Die Scheinwerfer erfassen und blenden sie. Der Fahrer schaltet das Fernlicht ab und reduziert die Geschwindigkeit. Schließlich hält der Wagen neben Debbie an.
Sein Herz pocht wie wild. Er hat das Gefühl, als würden Hunderte Trommeln im Takt schlagen. Sein Puls rast, Adrenalin schießt blitzartig durch seine Adern. Er spürt, wie die Anspannung immer größer wird. Sie ist beinahe unerträglich. Alles fühlt sich an wie ein Vulkan, in dessen Inneren glühende Lava nach oben steigt, um eruptionsartig ausgestoßen zu werden. Die Innenflächen seiner Hände sind längst feucht geworden. Im Unterbewusstsein hat er sie bereits mehrfach an den Hosenbeinen trocken gerieben. Ein letzter Blick auf die Armbanduhr. Der Moment ist günstig, wenn nicht sogar perfekt. Seit etwas mehr als dreißig Minuten beobachtet er die schon vor Wochen ausgespähte Bankfiliale. Die letzte Kundin verlässt soeben die Geschäftsräume und eine Angestellte lauert mit dem Schlüssel, um die Filiale abzuschließen. Jetzt muss er schnell handeln.
Die rechte Hand wandert nach oben und er zieht den breitkrempigen Borsellino-Hut tief ins Gesicht. Der Kragen des Rollis wird bis zur Nasenspitze ausgerollt. Dann holt er eine überdimensionale Sonnenbrille, deren Design an die wilden Zeiten der 1970er Jahre erinnert, hervor und setzt sie auf. Mit einem weiteren Handgriff stellt er den Kragen seines Mantels nach oben. Jetzt fährt die rechte Hand unter den Mantel und als er sie wieder hervorzieht, hält er einen kurzläufigen Revolver der Marke Smith & Wesson in der Hand.
Er atmet tief durch, macht ein paar schnelle Schritte und stößt die Eingangstür der Geschäftsstelle der Royal Bank of Scotland auf. Die Angestellte, die gerade absperren wollte, erschreckt, zuckt zusammen und weicht mit weit aufgerissenen Augen zurück.
„Ich wünsche Ihnen allen einen wunderschönen Nachmittag, meine Damen und Herren. Sollte ich Sie erschreckt haben, möchte ich mich aufrichtig dafür entschuldigen. Es ist nicht meine Absicht, Ihnen auch nur den kleinsten Schaden zuzufügen. Nun, damit ich Ihre Zeit nicht allzu lange in Anspruch nehme, möchte ich mein Anliegen vortragen. Wie Sie sicherlich erkennen können, handelt es sich hier um einen Überfall.“
Die Stimme des Bankräubers klingt ruhig, sanft und vor allem sehr höflich. Kein bisschen Aufregung, geschweige denn Bedrohung ist heraus zu hören. Dennoch spricht er bestimmt und lässt an seinem Vorhaben und der Ernsthaftigkeit seines Handelns keinen Zweifel erkennen.
„Darf ich Sie bitten, sich zu ihren Kollegen zu begeben?“, sagt er höflich, greift, ohne sich umzuwenden nach hinten zu dem Schlüssel, der im Türschloss steckt und sperrt ab, bevor er zügig zum Bankschalter geht.
Neben der jungen Bankangestellten befinden sich noch zwei weitere Mitarbeiter der Royal Bank of Scotland im Raum. Er weiß, dass diese drei Personen alle Beschäftigen sind, die hier arbeiten. Der Mann sitzt für gewöhnlich hinter dem Kassenschalter, die junge Frau bedient die Laufkunden und bei der älteren Dame handelt es sich um die Filialleiterin, die meistens in ihrem Büro sitzt und dort terminierte Kundenberatungen durchführt.
„Oh mein Gott!“, würgt die Filialleiterin ängstlich hervor. In ihrer Stimme schwingt Angst mit. „Bitte tun Sie uns nichts!“
„Nur keine Angst, Madam. Ich möchte lediglich etwas Geld mitnehmen, dann bin ich wieder weg. Ich bitte höflichst darum, die Finger vom Alarmschalter zu lassen, dann gibt es auch keine Probleme! Und damit ich sehen kann, dass Sie meinen Anweisungen Folge leisten, bitte ich Sie, die Hände zu heben und sich nebeneinander hinzustellen.“
Die drei Bankangestellten kommen der Aufforderung sofort nach. Der Mann legt einen beigen Jutebeutel mit einem kaum mehr erkennbaren Werbelogo einer Drogerie-Kette auf den Tresen und deutet mit dem Revolver auf den männlichen Mitarbeiter. „Mister, wenn Sie so freundlich wären und mir den gesamten Bargeldbestand, ohne Münzen, hier hinein legen würden.“
Der junge Mann senkt eine Hand und greift langsam nach der Stofftasche.
„Ihnen ist völlig klar, dass ich weder markierte Scheine, noch Safty-Packs wünsche. Sollten Sie mit dem Gedanken spielen, mir etwas davon einzupacken, werde ich Sie zu Hause aufsuchen. Was dann passiert, spreche ich nicht aus. Haben wir uns verstanden?“
„J .. ja ..“, stottert der Bankangestellte. „Keine Safty-Packs!“
„Und ich erinnere Sie noch einmal, nicht den Alarmknopf zu betätigen.“
„Tun Sie, was er sagt, Mr. Forbs“, fordert die ältere Dame.
„Und zwar etwas schnell, ich habe es eilig“, fügt der Bankräuber hinzu.
Während der junge Mann den Kassenraum betritt und das Bargeld in die Jutetasche stopft, betrachtet der Bankräuber die beiden Frauen. „Meine Damen, sie sehen bezaubernd aus“ sagt er uns spricht die junge Bankangestellte zusätzlich an. „Das Blau der Bluse unterstreicht die Farbe Ihrer Augen und der Glanz in Ihrem Haar erinnert an das Leuchten der Sterne.“
Ein Lächeln huscht über ihr Gesicht.
„Und Ihnen muss ich ein riesiges Kompliment machen“, wendet er sich der Filialleitern zu. „Sie wissen haargenau, wie sie sich kleiden müssen, um blendend hübsch auszusehen. Ihr Modegeschmack ist vorzüglich auf Sie abgestimmt. Ich wette, wenn Sie durch die Straßen Londons schlendern, drehen sich viele Männer nach Ihnen um.“
Am Gesichtsausdruck der älteren Dame kann der Bankräuber erkennen, dass sein Kompliment angekommen ist. Er blickt zur Kasse. Der Bankangestellte verlässt gerade den Kassenraum und reicht ihm den Stoffbeutel. „Es befindet sich kein Safty-Pack in der Tasche und ich habe keinen Alarm ausgelöst“, sagt er.
„Wenn das der Wahrheit entspricht, werde ich in einer Stunde vergessen haben, wo sie drei wohnen. Versprochen. Ich kann mir Adressen ohnehin nicht lange merken. Und Sie werden mich auch nicht wiedersehen. Ich besuche meine Objekte nur ein einziges Mal. Ich möchte mich noch einmal aufs herzlichste entschuldigen, sollte ich Ihnen auch nur eine Spur Angst eingeflößt haben.“
Er bewegt sich rückwärts in Richtung Tür. „Mir ist klar, dass Sie mit dem Auslösen des Alarms keine Stunde lang warten können, aber ich wäre ihnen um zwei oder drei Minuten sehr dankbar. Denken Sie einfach daran, dass ich zurückkommen könnte, wenn der Alarmknopf zu früh gedrückt wird oder mich vielleicht bei Ihnen zu Hause verstecke und dann …“, er lässt das Ende des Satzes offen, dreht sich um, geht ohne Eile zu Tür, schließt sie auf und verlässt die Bank.
Die Überfallenen starren sich an. „Das war er! Das war der Gentleman Bankräuber!“, ruft der junge Bankangestellte seinen Kolleginnen zu. Er läuft zum nächsten Alarmknopf und verharrt davor. „Chefin?“, fragt er und blickt die ältere Dame an.
Diese sieht erst der jungen Mitarbeiterin in die Augen, dann dem Bankangestellten. „Warten Sie noch einen kleinen Moment. Unsere Sicherheit geht vor. Ich möchte eine Geisellage vermeiden. Ich habe Angst, dass der Kerl noch vor der Tür steht und zurückkommt.“
„Chefin, das ist ein stiller Alarm!“
Qualvolle Sekunden vergehen.
„Er weiß, wo Sie wohnen, Mr. Forbs“, presst die junge Frau hervor.
Der Mann zieht die Hand zurück. Sie zittert. „Meinen Sie wirklich, dass er das weiß?“
„Er ist Profi.“
„Dann warten wir genau eine Minute.“
„Einverstanden.“
„Ich auch“, bestätigt die Geschäftsstellenleiterin.
„Aber ich werde nach draußen gehen und nachsehen, wohin er flüchtet. Vielleicht kann ich der Polizei ein paar Hinweise geben.“
„Als Angestellter der Royal Bank of Scotland sind Sie von der Belohnung ausgenommen.“
„Ist mir egal. Bitte drücken Sie den Alarmknopf“, entscheidet der Bankkaufmann, springt über den Tresen, hetzt zur Tür und läuft auf die Straße.
Die Filialleiterin löst in dem Moment, als ihr Mitarbeiter durch die Glastür die Geschäftsräume verlässt, den Alarm aus.
Die Blicke des jungen Mannes huschen über Autos und Menschen. Sie streifen an Gebäuden entlang, verweilen an Ladeneingängen und bei der nächsten Bushaltestelle für Sekundenbruchteile und schwenken schließlich erneut über die Masse der Passanten. Das Leben in den Straßen Londons pulsiert.
„Nichts! Verdammt, er muss doch irgendwohin geflüchtet sein!“
Jagdfieber packt den jungen Mann. Schnell hastet er zur nächsten Seitenstraße. Wieder überfliegen seine Augen die Passanten, doch keine Person passt auf das Aussehen des Bankräubers. „Wo ist der Kerl nur hin?“
Gerade, als er sich dazu entscheidet wieder zur Bank zurück zu gehen, erkennt der Bankangestellte, wie ein Mann mit gleichem Mantel und Borsellino-Hut aus dem ihm gegenüber liegenden Starbuck-Coffe-Shop heraus kommt, ein paar Schritte geht, in einen geparkten dunklen Geländewagen steigt und den Blinker setzt.
„Das war er doch!“, murmelt Mr. Forbs leise vor sich hin und starrt dem Geländewagen nach. „Der hat Nerven. Kauft sich noch einen Espresso oder Coffee to go oder sonst irgendetwas und fährt dann in aller Seelenruhe weg.“
Zweifel kommen auf.
War er das gar nicht? So gelassen kann er nicht sein. Oder doch? Verflucht, das muss er gewesen sein. Die gleichen Klamotten. Zumindest von hinten. Bestimmt war er das.
Gebannt starrt Forbs auf den Geländewagen, der sich ohne Eile in den Verkehr einfädelt.
Zulassung merken, hämmert es im Kopf des Beobachters, und nur keinen Fehler machen! Was fällt mir noch auf. Aufkleber. Die kenne ich. Das ist Dartmoor und Newton Abbot.
Der aufmerksame Mitarbeiter der Bank hört bereits, während er sich das Teilkennzeichen des möglichen Fluchtwagens einprägt und ständig wiederholt, um es nicht zu vergessen, die erste Sirene eines Polizeiwagens.
Keine Minute später hält ein Streifenwagen mit quietschenden Reifen vor der Bank an. Zwei Polizisten springen heraus. Die Filialleiterin winkt heftig, redet unentwegt und zeigt auch auf ihren Mitarbeiter, Mr. Forbs. Weitere Sirenen heulen durch Londons Straßen. Ihre Signallichter spiegeln sich in den Schaufenstern der Geschäfte wider. Passanten bleiben stehen und beobachten die Szenerie.
Noch während die Überfallenen vernommen werden, läuft die Großfahndung nach dem Bankräuber an. Immer wieder werden ergänzende Angaben über Funk durchgegeben.
Clark Russel ist gerade in Begriff zu gehen, als das Telefon läutet und zeitgleich einer seiner Mitarbeiter aufgeregt ins Büro stürmt. „Auf Leitung zwei ist der Einsatzleiter eines Banküberfalls. Alles sieht nach dem Gentleman-Räuber aus!“
Clark stellt die Aktentasche zurück auf den Schreibtisch und greift sofort zum Hörer. „Russel, New Scotland Yard!“
Es folgt ein Redeschwall seines Gesprächspartners. Der Leiter der Sonderkommission hört aufmerksam zu und macht sich nebenbei Notizen.
„Ja, ich verstehe … Stimmt, das ist absolut seine Vorgehensweise. Wurden die Bilder der Überwachungskameras schon ausgewertet?“
Während die Frage beantwortet wird, setzt sich Clark hin.
„Das ist sehr gut. Endlich haben wir so etwas wie eine heiße Spur! Haben Sie das Kennzeichen überprüft?“
Die Stimme des Einsatzleiters klingt etwas blechern. „Wir haben leider nur ein Teilkennzeichen. Der Bankangestellte war zu nervös und konnte sich nicht alles merken.“
„Nun, besser als nichts. Auch mit einem Teilkennzeichen können wir arbeiten. Das wird für einige Leute Überstunden bedeuten. Bleiben Sie dran!“
„Möchten Sie selbst mit den Geschädigten sprechen?“
„Nein, wenn Sie die Bankangestellten schriftlich vernehmen, reicht mir das völlig aus. Aber ich möchte alle Vernehmungen und einen ersten, vorläufigen Bericht, zusammen mit den Aufzeichnungen aus der Überwachungskamera, so schnell wie möglich auf meinem Schreibtisch haben.“
„Ich werde die handschriftlichen Aussagen sofort abtippen lassen und die Aufzeichnungen speichern. Ich sende alles per Mail an das Yard.“
„Sehr gute Arbeit. Ich warte. Vielen Dank für den Anruf.“
Clark Russel legt auf. „Ausgerechnet heute“, schimpft der Polizist und sieht dabei seinen Kollegen an, der immer noch im Türrahmen steht. Dieser runzelt die Stirn und fragt: „Haben Sie einen wichtigen Termin?“
„Das liegt im Auge des Betrachters, Sergeant Collins. Ich wollte Debbie, meine Frau, mit Blumen überraschen. Wir hatten einen dummen Streit. Ich wollte mich für mein Benehmen entschuldigen und sie zum Essen ausführen. Und jetzt schlägt dieser Gentleman wieder zu.“
„Das kenne ich zur Genüge. Meine Lora und ich sind seit 27 Jahren verheiratet. Da bleibt so mancher Sturm nicht aus. Das wird schon wieder.“
„Danke für Ihr Mitgefühl.“ Clark schnauft kräftig durch. „Wie es aussieht, wird es heute länger. Ich hoffe, Ihnen kommt es gelegener als mir.“
Sergeant Collins schmunzelt. „Sir, heute passt es bei mir perfekt. Bei uns zu Hause findet eine Tupper-Party statt und ich habe überhaupt keine Lust auf das Geschnatter der ganzen Damenrunde“, grinst Clarks Mitarbeiter.
„Sehr gut. Trommeln Sie bitte so viele Leute wie möglich zusammen und werfen Sie einen Blick auf die Sofortmaßnahmen der Kollegen. Ich möchte an allen Ausfahrtsstraßen Sperren und alle verfügbaren Helikopter über der Stadt.“
„In Ordnung.“
Collins verlässt das Büro und Clark zieht sein Smartphone aus der Hosentasche. Ein Blick auf das Display verrät ihm, dass sich Debbie nicht gemeldet hat. Weder ein Anruf, noch eine WhatsApp-Nachricht.
Stures Weib, denkt er und drückt auf die Kurzwahltaste ihrer Nummer.
Eine Computerstimme ist zu hören. Der gewünschte Gesprächspartner ist zur Zeit …
Clark legt auf.
Nicht an? Absicht oder Zufall, überlegt er. Sie hat das Handy nicht angeschaltet, was absolut untypisch ist. Debbie hat das Telefon immer an. Vielleicht befindet sie sich auch in einem Funkloch und hat lediglich keinen Empfang.
Es folgt ein Wisch mit dem Daumen über das Display des Smartphones, dann ein sanfter Fingerdruck auf die Shortcut-Taste für zu Hause anrufen.
Das Telefon läutet. Clark lässt es sehr lange anklingeln, bevor er auflegt. In kurzen Zeitabständen folgen noch zwei weitere Versuche, doch es bleibt dabei. Seine Debbie nimmt kein Gespräch an.
Hm, sie wird wohl unterwegs sein. Ich muss es später noch einmal versuchen. Ob ich ihr eine WhatsApp senden soll? Nein, erst muss ich mit ihr sprechen. Eine virtuelle Entschuldigung ist nicht zielführend. So etwas muss einfach eine persönliche Note haben.
Eine Dreiviertelstunde später sitzt Clark mit zwei seiner Kollegen und seinem Vorgesetzten, Superintendent Smith, im Videozimmer von New Scotland Yard. Ein Techniker hat die Aufnahmen der Bank am PC bearbeitet und startet die Vorführung. Ein Beamer strahlt den Schwarz-Weiß-Film an die Wand. „Die Aufnahmen sind recht gut geworden. Leider nicht in Farbe. Ich würde mich freuen, wenn die Banken künftig mehr Geld in ihre Überwachungstechnik investieren würden“, kommentiert er und lehnt sich zurück.
Bereits in dem Moment, in dem der Täter die Tür aufstößt, ist Clark sicher, dass es sich um den Gentleman-Räuber handelt. „Das ist er! Das ist zweifelsfrei unser Mann!“
„Sind Sie sich völlig sicher, Mr. Russel?“, hakt der Abteilungsleiter nach.
„Ganz sicher, Mr. Smith. Ich erkenne den Gentleman an der Bewegung.“ Clark deutet nach vorn. „Jetzt können Sie es gleich sehen. Sein Gang ist leicht federnd und er dreht einen Fuß ganz minimal nach innen. Wenn er rückwärts geht ist es am besten zu erkennen. Ich habe alle Aufnahmen, die über ihn existieren immer wieder angesehen. Ich weiß haargenau, wie er sich bewegt. Wenn Sie diesen Film mit den vorhandenen anderen fünf Aufzeichnungen abgleichen, werden Sie dieses Merkmal überall erkennen.“
„Waren es nicht sechs Raubüberfälle, die er vor dem Heutigen begangen hat?“
„Ja, Sir“, mischt sich Sergeant Collins ein, „aber eine der überfallenen Banken hatte Probleme mit der Technik. Deren komplette Überwachungsanlage war zum Zeitpunkt des Bankraubs ausgefallen.“
„Was gibt es vom bewaffneten Raub auf die Royal Bank of Scotland von heute sonst noch zu berichten?“, möchte der ranghohe Vorgesetzte nun wissen.
Clark übernimmt das Wort. „Wie alle anderen Banken zuvor, liegt auch diese Filiale in der Nähe einer Schnellstraße. Während es sich bei den vorhergehenden Banken jeweils um größere Filialen handelte, überfiel unser Serientäter heute eine der kleinsten Filialen der Royal Bank of Scotland. Die Bank hat relativ wenig Laufkundschaft und ist in der Regel mit drei Mitarbeitern besetzt. Die Tatbeute beträgt etwas mehr als 8.000 Pfund“, erklärt der Chefermittler der Sonderkommission und blickt zu seinem Mitarbeiter. „Wurde die Höhe der Beute zwischenzeitlich bestätigt, Collins?“
„Ja, Sir. Er hat diesmal genau 8.325 Pfund Sterling geraubt.“
Der Abteilungsleiter notiert etwas, indem er es in sein Smartphone tippt. „Das werde ich bei der Pressekonferenz erwähnen“, sagt er leise vor sich hin und grübelt kurz. Dann hebt er den Kopf, sieht Clark an und fragt: „Das ist nicht viel. Ich glaube, die früheren Banküberfälle brachten dem Gentleman höhere Beträge ein, oder?“
„Richtig, Sir. Die höchste Beute betrug 75.000 Pfund, die geringste lag bei ca. 25.000 Pfund Sterling. Je nach Höhe des erlangten Geldbetrages konnte man ungefähr errechnen, wann der Gentleman wieder zuschlagen wird“, berichtet Clark.
„Mr. Russel, eine Sache interessiert mich brennend. Weshalb befanden sich nie präparierte Scheine oder Safty-Packs, die nach einer gewissen Zeit das Geld und den Träger des Geldes explosiv bunt einfärben, unter der Beute?“
„Mit einem Wort ausgedrückt: Angst