Liebe in Lourdes - Sophie von Maltzahn - E-Book

Liebe in Lourdes E-Book

Sophie von Maltzahn

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Beschreibung

Von der wunderbaren Unmöglichkeit, unberührt zu bleiben. Jahr für Jahr pilgert der Adel in Ordensformation nach Lourdes. Diese spirituelle Reise im Dienste der Bedürftigen ist ein wichtiger Teil der aristokratischen Erziehung – und gleichzeitig ein idealer Heiratsmarkt. Neu dabei ist Kassandra, Ende dreißig und nur bedingt erlösungswillig – doch die Tage im »Heiligen Bezirk« werden sie alles andere als unberührt lassen. Sophie von Maltzahn schickt ihre Heldin mit herrlich ungläubigem Blick auf das Abenteuer Lourdes. Die Reise wird für Kassandra zu einem Selbstversuch mit offenem Ausgang – sie gibt sich komplett dem abstrusen Kosmos der Wallfahrtstätte hin. Aber was macht ein solcher Overkill an christlicher Mystik, tiefer Gläubigkeit und uralten liturgischen Abläufen mit einem modernen Stadtmenschen? Wie findet man sich zurecht in einer strengen Ordenshierarchie – die von allen Beteiligten beunruhigend ernst genommen wird? Und kann man in einer Umgebung, die sich derart hingebungsvoll in den Dienst der Kranken stellt, skeptisch, distanziert und unberührt bleiben? Natürlich kann man das nicht! Und so lässt der Verlust der »ethnologischen Distanz« nicht lange auf sich warten – und die Liebe bricht sich Bahn. Sophie von Maltzahn erzählt mit messerscharfer Beobachtungsgabe und großem Humor von einer Expedition in ein unbekanntes Reich. »Liebe in Lourdes« ist eine wunderbare Milieustudie eines sehr speziellen Pilgerkreises, seiner uralten Regeln und Gebräuche und ein fein komponierter Roman über die Frage, wie anfällig wir sind für die Verheißung der Erlösung – egal ob gläubig oder nicht.

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Seitenzahl: 217

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Sophie von Maltzahn

Liebe in Lourdes

Roman

Kurzübersicht

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Titelseite

Über Sophie von Maltzahn

Über dieses Buch

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

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Über Sophie von Maltzahn

Sophie von Maltzahn, geboren 1984, studierte Betriebswirtschaft, Kunstgeschichte und Ägyptologie und schrieb als freie Mitarbeiterin für Die Welt und die Berliner Morgenpost. Sie war Redakteurin der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und führte den Blog Ding und Dinglichkeit. Mit 24 Jahren fuhr sie zum ersten Mal nach Lourdes. Seit dem war sie sieben Mal dort. Sie lebt in Berlin.

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Über dieses Buch

Jahr für Jahr pilgert der Adel in Ordensformation nach Lourdes. Diese spirituelle Reise im Dienste der Bedürftigen ist ein wichtiger Teil der aristokratischen Erziehung – und gleichzeitig ein idealer Heiratsmarkt. Neu dabei ist Kassandra, Ende dreißig und nur bedingt erlösungswillig – doch die Tage im »Heiligen Bezirk« werden sie alles andere als unberührt lassen.

Sophie von Maltzahn schickt ihre Heldin mit herrlich ungläubigem Blick auf das Abenteuer Lourdes. Die Reise wird für Kassandra zu einem Selbstversuch mit offenem Ausgang – sie gibt sich komplett dem abstrusen Kosmos der Wallfahrtstätte hin. Aber was macht ein solcher Overkill an christlicher Mystik, tiefer Gläubigkeit und uralten liturgischen Abläufen mit einem modernen Stadtmenschen? Wie findet man sich zurecht in einer strengen Ordenshierarchie – die von allen Beteiligten beunruhigend ernst genommen wird? Und kann man in einer Umgebung, die sich derart hingebungsvoll in den Dienst der Kranken stellt, skeptisch, distanziert und unberührt bleiben? Natürlich kann man das nicht! Und so lässt der Verlust der »ethnologischen Distanz« nicht lange auf sich warten – und die Liebe bricht sich Bahn.

Sophie von Maltzahn erzählt mit messerscharfer Beobachtungsgabe und großem Humor von einer Expedition in ein unbekanntes Reich. »Liebe in Lourdes« ist eine wunderbare Milieustudie eines sehr speziellen Pilgerkreises, seiner uralten Regeln und Gebräuche und ein fein komponierter Roman über die Frage, wie anfällig wir sind für die Verheißung der Erlösung – egal ob gläubig oder nicht.

Inhaltsverzeichnis

Einführungsveranstaltung

Aufbruch

Abfahrt

Advent

Zwischen dem Kofferteam

Bahnsteig

Abteil I

Abteil II

Aufbegehren I

Beichte I

Draußen steht der Weizen still

Fünf Minuten zuvor im Raucherabteil

Aufbegehren II

Stoßgebet

Aufbegehren III

Dienstschluss

Erleuchtung

Ankunft in Lourdes

Sakramentsprozession I

Accueil – ein Jahr zuvor

Sakramentsprozession II

Dienstschluss

Terrasse I

Terrasse II

Terrasse III

Nachtwache

Nachtwache II

Audienz

Gebetshaltung

Mutter der Barmherzigkeit

Lazarus

Die Zahl 23

Post-Verklärungs-Psychose

Maria lactans

Immaculata conceptio

Harry, das Medium

Am Waldaltar

Beichte II

Läuterung

Lichterprozession I

Dienstschluss auf der Hotelterrasse

Wort des lebendigen Gottes

Piscine I

Piscine II

Ernüchterung

Piscine III

Sakraments-Prozession

Protestanten-Prozession

Soldaten-Prozession

Erscheinung

Abendgebet

Lichterprozession II

Rückfahrt

Frischlingsbesprechung

Herrschaftskritik

MDNA

Ankunft

Abschiedssegen

Zuhause

Maculata conceptio

Einführungsveranstaltung

Der Reiseleiter, den man hier Zugchef nennt, sitzt mit seiner Partnerin an einem Tisch vorm versammelten Team und zählt Regeln auf, die für die Pilger in der nächsten Woche wichtig werden. Dazu gehört, dass keiner den Dresscode verletzt, schwarze Schuhe sind auf dieser Wallfahrt ein Muss. Einer stöhnt auf, weil er nur braune mithat.

»Das ist schlecht, denn in Lourdes sind wir das Aushängeschild des Ordens, deshalb zeigt euch bitte mit besten Manieren. Wenn man zum Beispiel den lieben Tanten begegnet, dann springt ihr auf und gebt Handkuss und bietet selbstverständlich euren Stuhl an, das gilt insbesondere für die Herren.«

Handkuss bei jeder Gelegenheit, notiert sich Kassandra schmunzelnd.

»Die Herren«, sagt der Zugchef, »tragen bitte jeden Tag Krawatte und die Damen ausschließlich flache Schuhe und keine Pumps.«

Wie auf ein Stichwort übernimmt jetzt die Zugchefin und schenkt ihrem Partner ein bezirzendes Lächeln. »Im Zug sind Turnschuhe noch erlaubt, danach aber nicht mehr. Wir laufen nämlich gleich am ersten Tag bei der Sakramentsprozession mit, und ihr werdet bis zum Abend nicht an euer Hotelgepäck kommen. Deshalb ein Tipp: Packt die Guten am besten ganz oben ins Gepäck, damit ihr leicht drankommt.«

Sie zieht den imaginären Reißverschluss einer imaginären Tasche auf und legt Schuhe obendrauf, damit alle wissen, wie man das macht.

»Also denkt dran«, sagt sie ernst. »Nachdem wir aus dem Zug gestiegen sind, will ich keine Turnschuhe mehr sehen.«

Kassandra will ihr überflüssig erscheinendes Notizbuch schon wegpacken, aber die Reiseleiterin ist noch nicht fertig.

»Die Haare der Damen müssen unter der Haube verschwinden«, sagt sie und greift sich an den Kopf, »und in einem Dutt zusammengebunden werden. Ich weiß, ich bin damit in den letzten Jahren nicht so streng gewesen. Deshalb noch mal die klare Ansage an alle: Die Haare dürfen nicht so loreleymäßig …« – Magdalena fährt sich mit beiden Händen über die Fläche ihres Oberkörpers, die lange Loreley-Haare bedecken würden – »ich weiß, es schaut wunderschön aus, aber wir sind in Lourdes, und da gehört sich das nun wirklich nicht. Also haltet euch bitte daran!«

mind streaming

 

(1) Jetzt fängt dieser Blödsinn wieder an! Es hat die letzten Jahre auch keinen interessiert, wie viele Haare rausschauen.

 

(2) Den praktischen Nutzen des Häubchens hat sie nicht mal erwähnt!

 

(3) Wie Magda gerade die Loreley nachgemacht hat – she’s so sexy and she knows it.

Vor das Pilgerteam aus gut fünfzig, sechzig Leuten tritt nun eine Dame mit dem Charisma einer ostelbischen Gräfin, bei der man sich sofort vorstellen kann, wie sie einen Treck übers zugefrorene Haff anführt. Sie trägt einen roten Rock und einen rot karierten Blazer aus Sommerleinen. Ihr Blick ist streng und unerbittlich. Jetzt wird’s ernst, denkt Kassandra.

Es werden Zettel verteilt, einer für jede*n. Darauf stehen die Adresse, die Telefonnummer, Faxnummer, Pieper und die E-Mail eines offiziellen Präventionsbeauftragten sowie alle Kontaktdaten der sich ihnen eben als Lourdes-Kommissarin vorgestellten Gräfin.

Sie sei hier, um ein wichtiges Thema anzusprechen. Es gehe um den Paragrafen 177: »Übergriffe und Missbrauch«.

Als sie anfängt zu sprechen, wird Kassandra skeptisch. Das Thema »Übergriffe« findet sie natürlich relevant, aber auf einer Pilgerfahrt mit behinderten Kindern, zu einem Ort, wo die Maria erschienen ist, erstaunt es sie doch. Sie hebt den Arm. Die Kommissarin schaut Kassandra irritiert an.

»Danke, dass Sie kurz unterbrechen«, sagt Kassandra. »Ich befürchte, ich kann Ihnen nicht richtig folgen. Worum geht es hier genau? Sprechen Sie etwa von Pädophilie?«

»Um Himmels willen. Nein!«, ruft die Gräfin entgeistert. Die Angst vor schlafenden Hunden/Monstern steht ihr deutlich ins Gesicht geschrieben. »Der Übergriff – der womögliche Übergriff – hat nicht bei einem unserer kranken Kinder stattgefunden. Gott bewahre! Der Vorfall, von dem ich spreche, war eine Grenzüberschreitung innerhalb des Teams.«

Jetzt hat sie die Kontrolle wiedergefunden. Sie fixiert Kassandra, als würde sie überlegen, ob sie sie schon mal irgendwo gesehen hat, und fährt mit konzentrierter Stimme fort:

»Es geht mir um Vorfälle, die zu gering sind, als dass der Staat den Täter zur Rechenschaft ziehen würde.«

»Das war doch nicht mehr als ein übermütiger Popoklatscher«, flüstert jemand hinter ihr. Kassandra nickt verständnisvoll und wendet ihren Blick ab, während die Gräfin ihre Rede tapfer zu Ende führt.

Dann übernehmen Zugchef Gabriel und Zugchefin Magdalena wieder.

»Also«, beginnt Gabriel, »die wichtigste Regel, die ihr im Umgang mit eurem Pflegekind beachten müsst, ist: Ihr bleibt immer bei eurem Kind! Ihr lasst es nicht aus den Augen! Manche unserer Kinder sind hyperaktiv und ganz schön auf Zack. Das kann ich euch versichern. Wir haben auch in diesem Jahr wieder ein paar Spezialfälle dabei. Ob euer Kind ein Weglaufkind ist oder nicht, steht bei euch im Pflegeheft, hier: »Mit Weglauftendenz!!!!!!!!!!«

In Kassandras Pflegeheft steht schon mal nicht »Weglauftendenz!!!!!!!!!«, aber dafür ein Kreuz neben dem Kästchen »Rollstuhl«. Sie schluckt. Sie hat sich noch nie um einen Menschen gekümmert, der im Rollstuhl sitzt, geschweige denn um ein Kind, das im Rollstuhl sitzt.

»Keine Angst, ihr werdet alle eine tolle Woche haben mit eurem Schützling«, übernimmt jetzt Magdalena, »denn diese Kinder, die wir zur Muttergottes nach Lourdes bringen, sind für uns das Allerwichtigste. Auch in den Prozessionen: Erst schaut ihr, ob es eurem Kind gut geht, und dann entscheidet ihr, ob ihr euch vorm Allerheiligsten hinkniet oder nicht. Wenn das Kind etwas braucht, dann kümmert euch lieber darum. Euer Schützling hat immer Priorität.«

Mein Kind, denkt Kassandra und spürt einen Stich. Im wahren Leben hat sie keine Kinder, und nächstes Jahr wird sie vierzig.

Die Zugchefin hebt derweil eine Windel hoch.

»Manche von euch wissen vielleicht, wie man damit umgeht.«

Gleich noch ein Hieb, denkt Kassandra, aber ich hab’s ja so gewollt. Konfrontation statt Verdrängung.

»Für alle anderen …«

Magdalena bittet Gabriel, sich hinzustellen, und legt ihm lachend eine Windel an. Das Ganze soll spontan wirken.

»Und habt ihr die Reisekleider in euren Größen bekommen?«, fragt Gabriel, als alle sich wieder beruhigt haben. »Wie schaut es bei den Overalls der Männer aus?«

Von einer bestimmten Größe scheint es nicht genug zu geben.

»Ach ja, und die Baretts nicht vergessen. Wer noch keins getragen hat …«

Ein paar Männer fangen an zu kichern: Wer noch beim Bund gewesen ist, hat natürlich schon mal ein Barett getragen.

»Die gibt es jetzt auch wieder ab Größe 54«, ruft einer aus der Gruppe rein und nickt eifrig.

»Wieder zurück zu den Kindern«, sagt Gabriel. »Achtet bitte auf ihr Schamgefühl. Manchmal ist es auch beim Wickeln irgendwie hektisch, und dann denkt man, huch, ich muss noch mal schnell was holen, aber dann bleibt der Mensch entblößt liegen. Viele unserer Kinder können nicht sprechen, sie können nur schwer klarmachen, wenn ihnen etwas unangenehm ist. Also achtet bitte darauf, dass es beim Wickeln, Umziehen oder Duschen immer einen Sichtschutz gibt. Und fragt, wenn ihr nicht weiterwisst! Dafür sind eure Saalschwestern da, und wenn es ein größeres Problem gibt, kommen die dann zu uns.«

Er schaut seine Zugchefin an, ob sie dem noch etwas hinzuzufügen hat. Magdalena beugt sich nach vorne und faltet die Hände.

»Eine Sache ist uns besonders wichtig: Es gibt viele komplexe Abläufe in Lourdes, da muss alles funktionieren. Deshalb gilt für alle ab jetzt und für die ganze nächste Woche lang: Was eure Saalschwester euch sagt, das macht ihr auch! Oder was Gabriel oder ich euch sagen, das führt ihr aus wie einen Befehl. Und fangt nicht an zu diskutieren. Dafür haben wir dann nämlich in Lourdes keine Zeit. Bitte nehmt uns das nicht übel.«

Gabriel richtet sich mit einem Ruck auf, nickt und erinnert die Pilgergruppe noch einmal an die militärische Vergangenheit: »Diese Hierarchie ist Tradition unseres Ordens, und Traditionen wollen schließlich, wie wir ja alle wissen, gepflegt werden.«

»Und jetzt seht zu, dass ihr zeitig ins Bett kommt«, sagt die Chefin/Schäferin, »mit viel Schlaf ist in der nächsten Woche nicht zu rechnen.«

Aufbruch

Am nächsten Morgen läutet die Glocke im Kirchturm sieben Mal, als sich im Innenhof des Klosterschlosses die Pilgerinnen versammeln, alle nun einheitlich in blau-weiß gestreiften Kitteln und vorgebundenen Schürzen gekleidet. Sie liefern ihr Gepäck auf einem Haufen ab, ein paar trinken Kaffee im Stehen aus Biedermeierporzellan. In der Schlossküche gibt es derweil Frühstück mit Landbrot, Speck und Eierspeisen.

Kassandra kommt sich vor wie in einem Theaterstück, doch sie fühlt sich wohl in ihrem Schwesternkostüm. Es hatte schon gutgetan, die Tasche für diese Pilgerwoche zu packen, denn die Liste der nötigen Dinge war kurz: hautfarbene Strumpfhosen, schwarze flache Schuhe (keine Pumps!), weiße Haarklammern, rote Strickjacke, Handtuch, Schlafsack; sie würde sich also eine Woche lang keine Gedanken machen müssen, was sie am Tag anzuziehen hat.

Bei der Einfahrt haben sich gut zehn männliche Pilger in einer Reihe aufgestellt und werfen sich Gepäckstücke zu. Zwei stehen auf der Tragefläche eines LKWs, danach verschwindet die Ladung im Transporter. Die Männer sind nun ebenfalls einheitlich gekleidet. Sie tragen einen blauen Overall, der schnittfest wirkt, einen Stretchgürtel mit dem Ordenskreuz auf der Schnalle, Barett auf dem Kopf, dazu Hemd mit Kragen und Krawatte, deren Seidenanteil proportional mit dem Alter ihres Trägers ansteigt.

Kassandra zieht ihr Dienstheft aus der Schürzentasche, das in einem abgegriffenen Ledereinband klemmt. Als sie es aufschlägt, fallen zwei Kabelbinder auf den Boden, die sie noch übrig hat; mit den anderen beiden hat sie ihre Namensschilder am Gepäck befestigt, bevor es verladen wurde. Wofür sollen die noch gut sein? Das letzte Mal hat sie Kabelbinder gebraucht, um ihren Ex bäuchlings ans Bett zu fesseln. Sie versucht, das Erinnerungsbild wegzuwischen. Es hat hier nichts verloren. Oder etwa doch?

Sie blättert weiter in ihrem Büchlein. Der Inhalt ist in verschiedene Farben eingeteilt. Sie fängt von hinten an. Auf den knittrigen Seiten stehen, leicht verwechselbar, Gebete und Liedtexte ohne Noten. Noch bevor sie sich weiter in das Material vertiefen kann, kommt Bewegung in die Gruppe. Sie folgt den anderen und fügt sich, als sie durch den Torbogen mit korinthischen Kapitellen geht, in eine Reihe von jungen Männern ein.

»Wohin gehen wir?«, fragt sie einen Burschen mit spitzer Nase, sauber gescheiteltem Haar und buschigen Brauen.

»Zur Messe«, sagt er und schaut sie neugierig an, als würde er denken: Kennen wir uns auch schon? Und haben uns bloß jahrelang nicht mehr gesehen?

»Bist du heuer zum ersten Mal dabei?«, fragt er mit österreichischem Akzent.

Sie nickt.

»Aber geh’, a Frischling!«, lacht er und klopft ihr auf die Schulter, als hätte sie jetzt schon Hilfe nötig.

Frischling?, denkt Kassandra. Bin ich jetzt ein Wildschwein?

»Keine Sorge«, sagt er, »das wird schon passen. Welches ist denn dein Kind?«

Gewohnheitsmäßig will sie sagen, dass sie gar keins hat, aber stopp: Hier ist ja alles anders. Doch bevor sie überhaupt irgendwas sagen kann, legt der Bursche den Finger auf die Lippen, weil sie die barocke Kapelle des Klosterschlosses betreten haben, und hier ist Stille angesagt. Mit der Autorität eines regelmäßigen Kirchgängers schaut er sich nach dem Becken mit Weihwasser um, taucht seinen Finger ein, kniet nieder wie ein Ritter vor seinem König und bekreuzigt sich gen Altar. Die meisten anderen machen dasselbe, laufen dann weiter und setzen sich auf die Kirchenbänke. Als Kassandra den Finger ins Weihwasser tauchen will, zögert sie kurz, aber dann denkt sie: Dafür bin ich schließlich extra hergekommen. Zurück auf Los und alles noch mal von vorn, im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes – pars pro toto für die Madonna mia Maria: den Finger ins Becken tauchen, Knie zum Boden, Blick senken, und ein Kreuz vorm Herz schlagen.

Plötzlich fühlt sie sich in eine Zeit zurückversetzt, als sie im Restaurant noch Nudeln mit Ketchup bestellen wollte.

Abfahrt

Nach der Messe wartet vor der Kirche ein Bus, der die Gruppe zum Bahnhof bringen wird. Kassandra steigt die Trittstufen hinauf und schaut sich um. Trotz der Uniformen bleiben die Standessignale leicht erkennbar: Perlenohrringe, dünne goldene Ketten mit Madonnenmedaillon, Siegelringe, Uhren mit silbern glänzendem Ziffernblatt, doch keine Eheringe.

Sie entdeckt ein paar Frauen, die kaum viel älter als zwanzig sein können. Dass die auch schon pilgern! Manche von ihnen blicken sich schüchtern um. Sie erinnern Kassandra an ihre Studentinnen in den Bachelor-Seminaren. Obwohl diese hier insgesamt gesünder wirken.

Kassandra läuft durch die Busreihen nach vorne und blickt dabei in freundliche Gesichter. Viele scheinen sich schon gut zu kennen von früheren Lourdes-Fahrten oder anderen Festen; man unterhält sich über die letzte gemeinsame Hochzeit, Taufe oder die Oster-Séjour.

Kassandra wählt einen Platz am Gang und setzt sich. Ihr Sitznachbar blickt stumm aus dem Fenster und beachtet sie nicht und auch sonst niemanden. Auf die Frage, ob es ihm recht sei, dass sie sich setzt, schaut er kurz auf und nickt, als wäre sein Kopf zu schwer für seinen Hals. Kassandra liest seinen Namen auf dem blechernen Schild an seiner Brust und versucht es mit einem Witz: »Oki heißt du? Oki wie oki-doki?« Er antwortet nicht, aber immerhin lächelt er, wenn auch etwas schmal.

Auch okay, denkt Kassandra.

Sie zieht ihr Lederbüchlein aus der Schürzentasche und schlägt es auf. Auf der ersten Seite ist ein Schwarz-Weiß-Foto abgedruckt in der Größe einer Briefmarke. Man kann kaum erkennen, ob es sich um ein Mädchen oder einen Jungen handelt. Die Augen sind bis auf einen schmalen Schlitz geschlossen und machen nicht den Anschein, in die Kamera schauen zu wollen. Der Mund steht offen, die Kiefer reichen anatomisch nicht zueinander. »Anke Schiesser«, steht im Register, »siebzehn Jahre – Windelgröße M – trägt Orthesen.« Was um Himmels willen sind noch mal Orthesen? Kassandra kennt nur Prothesen. Dann liest sie Tipps und Pflegeanweisungen, die von den Betreuern aus dem Heim für behinderte Kinder zusammengetragen wurden: »Mag es, wenn man ihr in den Nacken klopft – Ist mit Zunge schnalzen und Pfeifen zu beruhigen – Zieht gerne an Haaren – Braucht regelmäßig Ruhepausen.« Das Kreuzchen neben »Rollstuhl« kennt sie ja schon, jetzt entdeckt sie noch eins bei »Epileptische Anfälle«.

»Was sollen wir noch mal bei einem epileptischen Anfall tun«, überlegt Kassandra laut und schaut zu ihrem Sitznachbarn, doch der hat sich in den Ausblick der Autobahn vertieft, wobei er in kleinen, schnellen Bewegungen mit dem Kopf wippt und die Lippen bewegt, als würde er etwas zählen.

Bemerkenswert, denkt sie, der ist ja gerade völlig abgeschaltet. Sie schaut ihn genauer an. Sein leicht ausgedünntes Haar weht spielerisch im Wind der Belüftungsanlage. Ansonsten starke Schultern, breite Handknochen. Kantiger Kiefer, hohe Stirn, kornblumenblaue Augen.

Advent

Der Bus parkt vor einem Bahnhof aus Beton, der versucht, keine rechtwinkligen Ecken zu haben. Vor dem Eingang dösen Punks, durch sie hindurch traben Pendler in mausgrauen Anzügen mit Aktentaschen. Ein paar Jugendliche stehen in kleinen Gruppen zum Rauchen und Rumschubsen herum.

Im hinteren Teil des Bahnhofs, Aufschrift: »Lieferzone«, versammelt sich die Pilgergruppe beim LKW. Das Kofferteam schleppt Gepäck, Medikamente, Spielzeug, Windeln, kiloweise Schokolade, Hipp-Brei etc. etc. aus dem LKW in den Zug. Die Träger schwitzen und fluchen über die Hitze. Das Thermometer zeigt jetzt schon neunundzwanzig Grad und verspricht allen, die den Tag am See verbringen können, knackig-warme Pfingsten. Die Pilger und ihre Pflegekinder jedoch erwartet eine vierundzwanzig Stunden lange Fahrt in einem alten Zug bis in die Pyrenäen nach Lourdes.

»Da kommen die Kinder!«, ruft jemand.

Vor der Gruppe parkt ein großer Reisebus mit verdunkelten Scheiben. Die Türen öffnen sich. Zwei Jungs, vielleicht sechzehn, vielleicht zwölf Jahre alt, springen als Erste raus. Um den Hals tragen sie laminierte Namensschilder, auf denen steht, aus welchem Heim sie kommen, in welches Abteil sie eingeteilt sind, in welchem Saal sie in Lourdes schlafen werden und zu welchem Orden sie gehören für den Fall, dass sie verloren gehen. Körperlich scheinen sie kaum beeinträchtigt zu sein, nur ihre Sprache fällt auf: Sie reden laut wie Schwerhörige und bilden kurze Sätze ohne viel Grammatik. Die Jungs sind bester Laune und suchen ihre Betreuer, sie waren offensichtlich schon öfter dabei, und schlagen um sich herum hi-five in alle Hände ein, die sich ihnen entgegenstrecken.

»Servus! Wie geht’s? Freust du dich auf Lourdes?«, fragt man sie in einem Tonfall, in dem man mit Kleinkindern spricht.

»Joa«, sagen sie mit schwäbischem Dialekt und laufen zum Nächsten.

»Wie geht es dir?«, fragt man sie.

»Guat«, sagen sie.

»Freust du dich auf Lourdes?«

»Joa«, sagen sie.

Vorsichtig, an der Hand einer Heimerzieherin, verlässt das nächste Kind den Bus. Kleinwüchsig, stumm. Es steht auf dicken, kurzen Beinen umringt von den Pilgerschwestern, ohne jede Reaktion im Gesicht, aber was ist das für ein Gesicht? Augäpfel und Nase wie mit Gewalt in den Schädel hineingedrückt, der Kiefer weit nach vorne ausgewuchtet, flackernde Pupillen, das Kind stößt einen Schrei aus, hoch und grell, vor Freude? Unbehagen? Aufregung? Was ist das für eine Sprache?

An Kassandra vorbei wird ein Kind getragen, das höchstens siebzig Zentimeter groß ist. Von der Länge nimmt der Kopf ein Drittel ein. Arme und Beine sind verkürzt und dünn und zappeln unkoordiniert am Rumpf. Das Kind wird in einen Rollstuhl gesetzt und mit Gurten festgeschnallt, und dann umringt von Pilgerinnen, die es schon kennen und liebevoll begrüßen wollen.

Sie sieht einen kleinen Jungen mit Hockeyhelm an sich vorbeilaufen. Sein Gesicht ist niedlich nach Kindchenschema geformt: Große blaue Augen, Stupsnase, nur die Pupillen schielen nach außen. Dann durchschneidet ein lauter Schrei die Luft. Ein Mädchen mit folkloristisch geflochtenem Zopf schlägt um sich und beißt sich in die Hand. Schreit wieder und wippt dann wie ein Heavy-Metal-Tänzer mit dem Oberkörper vor und zurück, vor und zurück, vor und zurück.

»Sie wird sich gleich wieder beruhigen«, sagt eine Heimbetreuerin zu den erschrockenen Pilgerinnen.

»Führst hier Theater auf, was?«, sagt sie und nimmt das Mädchen an der Hand, doch die Hand wird ihr sogleich wieder entrissen. Es folgen weitere autoaggressive Handlungen, Schreie, Bisse, ein Griff in die Haare, um mit aller Kraft an ihnen zu ziehen, doch der Zopf hält.

»Ach du heilige Sch…«, entfährt es Kassandra.

»Unsere Özlem, das ist schon eine!«, sagt eine Pilgerin neben ihr mit einer für Kassandra schwer verständlichen Leichtigkeit. Auf ihrer Schürze hängt ein Ordensabzeichen mit großem X in der Mitte. Sie war also schon mindestens zehn Mal in Lourdes.

Über die Hebebühne verlässt ein Rollstuhlkind nach dem anderen den Bus, wobei die Bezeichnung »Kind« bei einigen deplatziert scheint. In Kassandras Nähe sitzt ein Junge im Rollstuhl, dessen Bartstoppeln klar darauf hinweisen, dass er schon in der Pubertät steckt oder sie bereits hinter sich hat. Sein Kopf ist zur Seite geneigt, die Arme hängen im schrägen Winkel an seinem Rumpf, als wären sie gebrochen und falsch wieder zusammengewachsen. Aus dem Mund fließt Speichel auf eine umgebundene Stoffwindel. Plötzlich durchfährt ein Zucken seinen Körper, als hätte man ihn an Strom angeschlossen. Er stößt ein tiefes Stöhnen hervor, das nach Schmerzen klingt.

Zwei weitere Kleinbusse halten auf dem Parkplatz. Die Türen rollen auf ihren Schienen zur Seite und geben den Blick frei auf noch mehr dieser Geschöpfe, denen die Gene, Gott oder sonst ein Mechanismus das Kreuz eines dysfunktionalen Körpers auferlegt hat.

»Komm Kassandra, du bist dran«, ruft ihre Saalschwesterx. »Ich bring dich jetzt zu deinem Kind.«

Schon hält sie zwei kleine, feuchte Hände fest, circa auf Brusthöhe schaukelt ein hübsch frisierter Kopf mit rotem Haar.

»Du kannst jetzt mit Anke schon mal zum Warteraum laufen. Das schafft sie!«, sagt eine der Profi-Betreuerinnen aus dem Heim.

»Aber der Rollstuhl? Brauchen wir den nicht?«

»Das schafft sie schon, sie hat ja ihre Orthesen an.«

Der Profi zeigt auf Ankes Füße. Kassandra sieht nur zwei Sandalen mit Klettverschluss an schmerzhaft weit nach außen gedrehten Füßen und fühlt sich ratlos wie vor einer Autopanne.

»Wie jetzt weiter?«, fragt sie, aber die Betreuerin hebt bereits das nächste Kind aus dem Kleinbus.

Zum Warteraum laufen, denkt Kassandra, und tausend Fragen bleiben offen. Der Herde folgen, denkt sie, und setzt sich rückwärts in Bewegung. Statt eines Schritts nach vorne lässt sich Anke aber jetzt in ihre Richtung fallen. Kassandra fängt sie erschrocken auf. Nun halten sie sich in den Armen, so nah und fest wie nur Liebespaare sich umarmen, Eltern ihre Kinder oder Fremde auf MDMA. Anke scheint die Umarmung zu mögen, aber Kassandra fühlt sich von der plötzlichen Nähe überrumpelt, doch sie ist hilflos. Wenn sie das Kind loslässt, könnte es zu Boden fallen. Wie soll sie es dann nur wieder hochbekommen? Es erfordert schon Kraft, den Körper einigermaßen aufrecht zu halten. Das Mädchen ist zwar nicht groß, aber mollig, also schwer. Kassandra erschrickt, als der Mensch in ihren Armen plötzlich ein Bellen ausstößt. Sie schiebt Anke von sich weg und richtet sie damit wieder auf ihren eigenen Beinen aus. Dann redet sie auf Anke ein, versucht sie mit sanfter Stimme zu locken.

Ob sie mich versteht? Wie gut kann Anke eigentlich hören? Außerdem, vielleicht will sie halt einfach nicht mit irgendeiner fremden Person mitgehen, wer weiß wohin. Das wäre ja auch nachvollziehbar, denkt sie.

»Liebe Anke. Ich heiße Kassandra und bin jetzt für eine Woche dein treuer Betreuer.«

Unbeholfen zieht sie an Ankes Armen. Da tut sich was. Anke wackelt roboterartig auf steifen Beinen voran, allerdings nur ein paar Meter, dann bleibt sie wieder stehen.

Ahh, sie sinkt, oder lässt sie sich vielleicht extra fallen? »Bitte tu’s nicht – Hilfe, komm, komm, wir schaffen das! Es ist nicht mehr weit. Du kannst mir vertrauen«, sagt Kassandra mit gespielt fester Stimme. Sie zieht wieder an den Armen, und versucht, dem Geschöpf vor ihr klarzumachen, dass es sich beim nächsten Schritt auf sie stützen kann wie auf einen Stock.

»Ich bin besser als ein Stock, siehst du? Ich bin praktisch wie ein Rollator.«

Es dauert noch ein paar Sekunden, und Anke willigt ein.

Zwischen dem Kofferteam

Oki sitzt auf einer Bank auf dem Bahnsteig und hält eine Bierflasche in der Hand. Er hängt seinen Oberkörper zwischen die Knie. Schweißperlen tropfen von seiner Stirn. Der Overall klebt an seinen nackten Beinen, am Rücken läuft ihm die Suppe runter bis in die Boxershorts. Hemd und Overall sind bereits klamm. Es ist immer eine üble Schufterei, den Zug zu beladen, aber bei der Hitze ist das alles noch viel anstrengender.

»Es gibt Bier? Wo denn?«, fragt ein Frischling und lässt die Schlafsäcke auf den Boden fallen, die er gerade zum Gepäckwaggon tragen wollte. Oki zeigt mit seinem Kinn in Richtung Küchenabteil. Aber da kommt der Kofferbock, der Chef vom Kofferteam, um die Ecke.

Hinter sich her zieht er einen schwer beladenen Wagen, von hinten schieben zwei Pilger an und schauen nun, den Anlass der Verzögerung erkundend, hinter dem Berg aus Gepäckstücken hervor. Den Frischling, der Bier wollte, trifft der strenge Blick des Kofferbocks. Schuldbewusst sammelt er die herumliegenden Schlafsäcke wieder ein. Für Oki gilt der unausgesprochene Appell nicht. Der Kofferbock weiß, dass er nicht zum Kofferteam gehört, weil er nie zum Kofferteam gehört. Oki hat den angenehmen Status eines Springers und ist damit wie ein sich frei bewegendes Atom zwischen den Teams.

Der Kofferbock dirigiert den größten Teil der männlichen Pilger während des Aus- und Einladens des Zuges und arbeitet eng mit dem Materialchef zusammen, der die Ladung zusammengestellt hat. Der Küchenchef leitet wiederum das mehrköpfige Küchenteam, und die Saalschwestern sind verantwortlich für Untergruppen aus Pilgern und ihren Kranken. Sie sind außerdem als Stabsstellen zu verstehen, weil sie die Kommunikation zwischen der Leitung und den ordinären Pilgern übernehmen sollen.

Alle Positionen, bis auf den Kofferbock, werden unabhängig vom Geschlecht besetzt. Es gibt Chefs und Chefinnen. Nur für die Saalschwester hat sich kein gegendertes Pendant finden lassen, weswegen eine Saalschwesterx sowohl männlich als auch weiblich sein kann.