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Auf Schloss Plasbalg in Mecklenburg herrscht geschäftiges Treiben: Lampions müssen aufgestellt, Tische gedeckt und Champagnerkisten im Eiskeller gestapelt werden. Alle stecken tief in den Vorbereitungen für den selbst gestifteten Ball. Nur Georg hält sich lieber abseits. Er will mit all dem nichts zu tun haben. Es graust ihn vor den hundertfünfzig sinnlosen Gesprächen, die ihn auf dem Ball erwarten. Er redet nicht gern. Seine letzte Vertraute ist seine Schwester Helene. Doch die hat durch ihre irrsinnige Verliebtheit in den dekadenten Charles-Édouard selbst genug Sorgen. Georg steckt in einer Ich-Krise. Es sind immer dieselben Fragen: Wer bin ich? Was mach ich hier? Wach ich oder träum ich? Doch ein Erbgraf hat nicht vor sich hin zu sinnieren! Jochen will ihn für die rechts-konservative Herrengesellschaft rekrutieren. Anfangs ist Georg in seiner depressiven Isolation schwer beeinflussbar. Als er aber erfährt, dass Jochen plant, seine älteste Schwester Luise zu heiraten, steigt der Druck. Und so könnte es für Georg immer nur weiter bergab gehen, wenn nicht in dieser Ballnacht ein geheimnisvoller Rausch mit sich reißen würde. Der Roman „Grenzwerte/1928“ richtet seinen Blick auf drei Tage an einem einzigen Ort im Juni 1928. So entsteht eine kulissenhafte Vision der Zwanziger Jahre, in der sich die Probleme einer malade-elitären Gesellschaft verdichten. Zeitgleich ermöglicht der Fortschritt, sich freizügiger zu entwickeln. Doch die modernen Entwürfe haben es nicht leicht. Die Machtergreifung Hitlers wirft bereits ihre Schatten voraus.
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Seitenzahl: 247
Veröffentlichungsjahr: 2014
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Sophie von Maltzahn, geboren 1984, schrieb nach dem Studium des Kunst- und Kulturmanagements für die Feuilletons der Welt, Zeit und Frankfurter Allgemeine Zeitung, u.a. als Redakteurin und Autorin des F.A.Z.–Blogs „Ding und Dinglichkeit“. Im Frühjahr 2014 erschien ihre Kurzgeschichte „Die Wucht einer Idee“ im literarischen Stadtführer Frankfurt Walking im Michason & May Verlag. Mit „Grenzwerte/1928“ liegt nun ihr Debütroman vor.
#ich danke allen, die sich von diesem buch – genau wie ich – haben wahnsinnig machen lassen. ich danke allen, die diesem werk die daumen gedrückt haben. ich danke allen, die mit mir gebangt haben, es könnte niemals fertig werden. und mit deren hilfe es dann doch zustande kam.
Wir haben uns dem Tage übergeben Und treiben arglos spielend vor dem Wind, Wir sind sehr sicher, dorthin zu entschweben, Wo man uns braucht, wenn wir geworden sind.
(Ernst Wilhelm Lotz)
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Nachtrag
Impressum
Alles begann damit, dass ich gegen meinen Willen an einem Seminar teilnahm, das auf einem benachbarten Gut stattfand. Bei Veranstaltungen dieser Art versuchte man uns Militärgeschichte und Finanzpolitik beizubringen. Vor allem aber dienten sie dazu, den Jungadel auf Spur zu bringen, damit er niemals nachlassen würde, sich der hohen Geburt anzudienen.
Ich kannte die Parolen von Führergeist und Heimatstreue zur Genüge und langweilte mich. Hinter dem referierenden Hausherrn hingen große Ahnenporträts an einer mit dunklem Eichenholz vertäfelten Wand. Ich begann die Gesichter miteinander zu vergleichen. Die Augen der Ahnen drückten allesamt ungesund tief in die Schädel, die Gesichter glichen sich in einem fliehenden Kinn, alle hatten platte Nasen. Mein Blick wechselte zum Hausherrn, ihrem Nachkommen. Hier hörte die Ähnlichkeit abrupt auf. Sein Blick war stechend, der Kiefer breit, das Haar blickdicht gelockt, trotz seines Alters. Das alles machte auf mich den Eindruck, als wäre hier frisches Blut in die Linie gekommen; auf welche Art auch immer.
Der Hausherr räusperte sich, trank einen Schluck Wasser und blätterte eine Seite seines Manuskriptes um. Dann verkündete er, dass er seinen ersten Gedanken nun abgeschlossen hatte, bevor es aber weiterging, er einmal noch die gesammelten Thesen wiederholen wollte, zur besseren Erinnerung. Damit hatte er mich erneut verloren. Das Einzige, was mich in der nächsten halben Stunde noch unterhalten konnte, waren drei Fliegen, die unablässig den schweißigen Nacken meines Vordermanns ansteuerten. Er versuchte zwar die Insekten zu verjagen, doch sie kehrten immer wieder. Darüber wurde der Kamerad so ärgerlich, dass er bei einer der schnellen Bewegungen seinen strengen Scheitel zerlegte. Er versuchte hektisch, seine Frisur wieder in Ordnung zu bringen, und lenkte damit die Aufmerksamkeit des Hausherrn in unsere Richtung. Unweigerlich setzte mein Nachbar nun ein konzentriertes Gesicht auf und tat, als wäre das Richten seiner Frisur nur eine beiläufige Geste, die er während intensiven Zuhörens gar nicht wahrnahm. Wenigstens war ich nicht der einzige Heuchler hier, dachte ich.
Minuten später erwischte mich Jochen beim Tagträumen. Jochen war der älteste Sohn des Hausherrn und saß am Kopfende des Tisches, von wo aus er die Zuhörer genau im Blick hatte. Er schaute mich böse an, wobei sich seine Stirn in schmale Falten legte. Dann aber schien er sich an etwas zu erinnern, das ihn milde stimmte, und zwinkerte mir aufmunternd zu. Mir war selbst das Gutgemeinte daran unangenehm. Ich wollte nicht auffallen, wollte nicht einmal hier sein. Aber es war nicht zu ändern gewesen. Man hatte mich mit besonderer Aufmerksamkeit zu diesem Treffen gebeten. Jochen hatte es sogar für nötig empfunden, telefonisch bei uns auf Schloss Plasbalg nachzufragen. Immerhin musste ich seinen Anruf nicht selbst entgegennehmen. Meine älteste Schwester Luise hörte das Klingeln als Erste, was ungewöhnlich war, schließlich schellte der Apparat so leise, dass man ihn schon im nächsten Salon kaum hören konnte.
Mutter hatte anfangs noch dafür plädiert, das Telefon in einer Ecke der Eingangshalle anzuschließen, aber mein Vater hatte seine Anschaffung nicht der allgemeinen Praktikabilität opfern wollen; schließlich hatte er wichtige Gespräche zu tätigen, und die wollte er zum einen nicht mit dem Gesinde teilen, das im Foyer jederzeit vorbeikommen konnte, und zum anderen in seinem Ledersessel führen, behaglich in Hausherrenpose.
In welcher Pose Luise mit Jochen telefoniert hatte, konnte ich nicht wissen. Trotzdem bekam ich noch genug von dem Anruf zu spüren, als Luise mit dem Couvert vor meiner Nase hin und her wedelte und wissen wollte, warum zum Teufel ich nicht auf die Einladung geantwortet hatte. Ich wollte aber nicht tun müssen, was ich nicht tun wollte, darunter fiel das Jugendtreffen der Herrengesellschaft Mecklenburg. Meine Gegenwehr blieb jedoch zwecklos, weil Luise Jochen bereits am Telefon versichert hatte, dass ich in jedem Fall teilnehmen würde und mein Antwortschreiben nur in der Post verlorengegangen sein könnte. Was war mir heute Morgen also anderes übriggeblieben, als folgsam auf mein Pferd zu steigen und zum Nachbargut zu reiten, wo das Treffen stattfand. Nun war ich hier und wollte es doch nicht sein.
Der Redner unterbrach seinen Vortrag und stellte nun Fragen, welche die Angesprochenen im Stehen und mit Hackenschlag zu beantworten hatten. Ich geriet in Panik. Ich wollte auf keinen Fall aufstehen und laut vor den anderen reden müssen. Damals sprach ich seit Monaten kaum noch ein Wort. Das wusste hier nur keiner. Das wussten nur meine Corpsbrüder in Göttingen. Ich versuchte mich hinter meinem Vordermann zu verstecken, doch das hatte wenig Sinn, weil er unruhig auf seinem Stuhl hin und her rutschte. Tu was, dachte ich, tu beschäftigt, mach dir Notizen, nimm dir den Stift! Meine Hand bewegte sich nicht. Auf mein Wort! Nimm dir jetzt den Stift und schreib irgendetwas auf! Doch meine Finger rührten sich nicht, – drauf geschissen, nichts als tote Knochen.
Mir fiel auf, dass der Hausherr mit seinen Fragen der Sitzordnung nach vorging. Zwei Fragen noch und ich wäre an der Reihe. Ich fixierte den Schreibblock meines Nachbarn, entzifferte hastig einzelne Wörter: Führerauslese, Versailler Peitsche, Drittes Reich. Ich überlegte noch, was man daraus für eine Antwort stricken könnte, da war es schon zu spät. Alle Augen waren auf mich gerichtet. Man erwartete, dass ich aufstand. Also stand ich auf. Schlug die Hacken zusammen.
Sagte nichts.
Der Hausherr wiederholte seine Frage. Sie war nicht einmal besonders schwer. Man wollte von mir wissen, wann Deutschland seine vom Ausland aufgeladenen Schulden getilgt haben würde. Ein kurzes nie hätte gereicht, doch stattdessen brachte ich nun einen stolpernden Satz zustande, in dem das Prädikat im Plural stand, obwohl das Subjekt ein Singular war. Passiv und Futur durcheinandergerieten, das Ereignis jedoch in der Vergangenheit lag. Ich brachte es sogar noch zustande, die Endung des Objekts, die doch auf n lauten musste, mit dem m des vorangehenden Artikels zu vernuscheln. Mir wurde heiß, ich schaute zu Boden, jetzt bloß nicht noch den Blicken der anderen begegnen, und setzte mich.
Nach dem Vortrag verlegte man die Gesellschaft der jungen Herren auf die Terrasse. Dort reichte ein opulentes Dienstmädchen auf einem glänzenden Tablett Mokka und kleine Silberbecher mit Importen. Alles bewegte sich, nur ich blieb sitzen. Mir wurde klar, dass es so nicht bleiben konnte. Ich stand auch auf und fühlte mich sofort besser, denn nun überragte ich die meisten anderen um einen halben Kopf. Am Ende der Terrasse sah ich meinen Sitznachbarn. Ich kannte ihn, auch wenn ich nicht genau wusste, woher. Er sah harmlos aus, also steckte ich eine Hand in die Tasche und überquerte möglichst gelassen, wenn auch etwas hastig, die Terrasse.
„Na, was hat dich hierher getrieben?“, fragte ich.
Doch er verstand meine Frage nicht, weil ich schrecklich genuschelt hatte. Ich holte tief Luft und konzentrierte mich darauf, jedes Wort klar auszusprechen.
„Ich will zu Hause alles genau berichten“, antwortete er schließlich. „Mein Vater ist sehr stolz darauf, dass ich bei der Herrengesellschaft bin.“
Mein Vater sicher nicht.
„Kommst du ab jetzt auch immer zu den Treffen?“
Ich räusperte mich und merkte selbst, dass ich klang wie ein kastrierter Hahn.
„Ich weiß es noch nicht“, sagte ich.
Darauf wusste mein Gegenüber nichts zu erwidern und so rührten wir eine Weile schweigend in unseren Mokkatassen.
„Wollen wir zu den anderen gehen?“, schlug er vor.
Ich nickte. Als wir dann aber bei der Gruppe ankamen, erweiterte sein Bruder die Runde nur um einen Platz. Als hätte er mich nicht bemerkt. Als gäbe es hier gar keinen Georg! Wenn ich jetzt wenigstens eine Zigarette zwischen die Finger stecken könnte, dann hätte ich auch ohne was zu sagen eine Berechtigung, in der Nähe der anderen zu bleiben. So machte ich es bei meinen Corpsbrüdern auch, wobei ich darauf achtete, nicht schneller als sie zu rauchen, und notfalls einen Zug ausließ. Endlose Minuten später bekam ich einen festen Schlag auf den Rücken. Neben mir stand ein kleiner Mann mit breitem Brustkorb, der, wie ich von oben sehen konnte, seinen Scheitel mit viel Frisiercrème etwas zu weit links trug.
„Na, mein Guter.“ Das war Axel, Jochens jüngerer Bruder. „Wie ist es dir bekommen?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr er fort: „Eins sag ich dir, wenn wir zusammenstehen, können wir Deutschland wieder nach vorne bringen.“
Ich drehte mich in seine Richtung und nickte. So musste ich wenigstens nicht mehr am Rand der Gruppe stehen. Axels Augen glänzten. Er hatte das, was ich im Stillen Versammlungsfieber nannte. Das kannte ich von meinen Corpsbrüdern. Ich selbst schien dagegen immun zu sein.
„Aber wir müssen noch viel weiter gehen!“, fuhr Axel fort. „Wir dürfen den anderen das Feld nicht überlassen. Das wäre der Untergang des Deutschen Reichs.“
Mit den anderen meinte Axel vor allem die Kommunisten, aber auch die Liberalen, die Demokraten und allgemein jeden Sozialisten.
„Die stellen Forderungen, sag ich dir, das hätten die sich früher nie getraut.“
Er wippte auf seinen Schuhsohlen auf und ab.
„Auf unserem Gut gibt es keinen einzigen Sozi mehr.“
Jetzt stellte er sich auf die Zehenspitzen.
„Aber das Beste kommt ja noch: Du ahnst nicht, wen Vater als Gastredner für die Herrengesellschaft eingeladen hat!“
Da hatte er recht, ich ahnte nichts. Axel wollte mir gerade den Namen verraten, als Jochen, der mit halbem Ohr unserer Unterhaltung zugehört hatte, seinen jüngeren Bruder im letzten Moment davon abhielt: Axel solle nicht vergessen, dass derjenige, dessen Namen er nicht sagen dürfe, noch nicht fest zugesagt habe und es demnach noch nicht spruchreif sei.
„Das ist mal ein Führer, wie ihn Deutschland braucht“, schwärmte Axel und schaute mich erwartungsvoll an. Doch ich sagte dazu nichts. Um Zeit zu gewinnen, machte ich ein konzentriertes Gesicht und strich mir übers Haar. Axel blähte seine Nasenflügel auf und fragte forschend:
„Bist du etwa anderer Meinung?“
Ich schüttelte den Kopf, so konnte man das auch nicht sagen.
„Was ist dann mit ihm?“
Axel schaute ratlos zu Jochen, ob der ihm erklären könnte, was bei dem Jungen falsch war.
Da legte Jochen seine Hand auf meine Schulter wie um mich zu beschützen.
„Sag mal, Georg, weißt du etwa nicht, von wem wir hier reden?“
Ich schüttelte den Kopf und hätte mich am liebsten in Luft aufgelöst.
„Wie bitte?“ Axel wirkte entrüstet. „Worüber redet ihr eigentlich zu Hause?“
Ich blieb stumm.
„Lass ihn, Axel“, verteidigte mich Jochen. „Er ist doch noch jung.“
Dann erklärte er mir ausgiebig, dass derjenige, dessen Namen Axel nicht sagen durfte, der Kopf einer Splitterpartei war, die zwar bei den letzten Reichstagswahlen nur 2,6 Prozent erreicht hatte, aber dennoch Zukunft haben könnte.
Ich nickte. In diesem Moment trat der Hausherr auf die Terrasse. Sofort fragte Axel seinen Vater nach der Wahrscheinlichkeit, dass Hitler einen Vortrag bei der Herrengesellschaft halten würde, und Jochen schüttelte verärgert den Kopf, weil der jüngere Bruder sein Redeverbot ignoriert hatte.
„Das wird sich bald herausstellen“, sagte der Vater, „aber es wäre hilfreich, wenn der Trommler auch selbst bei der alten Elite um Stimmen werben würde. Man ist sich doch in vielem einig.“
„Und in welchen Dingen ist man sich nicht einig?“
Alle schauten den Fragenden an. Hatte sich da etwa ein Zweifler enttarnt? Einer, der nicht bei seinem Leben auf die richtige Fahne schwören würde? Zu meinem Entsetzen hatte ich selbst die Frage gestellt. Wieso tat mein Mundwerk eigentlich alles, nur nicht das, was es sollte? Erst stockte und stammelte es, dann schwieg es, wenn es reden sollte, und nun das! Um die Situation zu überspielen, beeilte Jochen sich, dem Gedächtnis seines Vater auf die Sprünge zu helfen:
„Ich weiß, ihr habt euch lange nicht mehr gesehen. Erinnerst du dich noch an Georg Graf Plasbalg?“
„Die Grafen Plasbalg, ja natürlich“, sagte Jochens Vater und wollte dann von mir wissen, aus welcher Linie ich stamme.
„Direkt aus Plasbalg“, sagte ich.
„Dann weiß ich Bescheid“, kommentierte er knapp und verzog den Mund, als hätte er an meinem Revers einen falschen Orden entdeckt.
Währenddessen wartete meine Schwester Helene am schmiedeeisernen Tor, das die Auffahrt zu Schloss Plasbalg zierte, auf den Briefträger. Eine schwüle Hitze drückte auf die alten Bauernhäuser und über die Dorfstraße schwebten kleine Staubwolken, die hin und wieder durchgewirbelt wurden von großen Lieferwägen, auf denen man wahlweise Blumen, Lampions oder Champagnerkisten zum Schloss transportierte.
Helene stand im Schatten eines alten Lindenbaums und hoffte, dass der Briefträger bald eintreffen würde. Ihr letzter Anhaltspunkt, wie lange sie schon wartete, war die Essenslieferung an die Feldarbeiter gewesen, die immer pünktlich kam. Für den Transport des Mittagessens wählte unsere Gusta immer ein Kammermädchen aus, das sie und den schönen Heiner, der den Wagen lenkte, begleiten durfte. Die Kutschfahrten waren begehrt, schließlich war es weitaus angenehmer, im offenen Landwagen zu fahren als Hühnchen zu rupfen oder unter der Aufsicht Ihrer Erlaucht Bestecke zu polieren. Unsere Mutter, wer sie mit Vornamen ansprach nannte sie Adele, legte großen Wert darauf, dass sich auf dem Familiensilber keine Wasserflecken bildeten. Auf noch ärgerem Kriegsfuß stand sie mit den Motten, die sich immer wieder in den Tiefen der gerafften Vorhänge einnisteten. An jedem ersten Montag im Monat kontrollierte sie persönlich die Stoffe und ließ, wenn nötig, ausbessern. So kam es, dass auf Gut Plasbalg jeder, Familienmitglieder und Hausgäste eingeschlossen, mit Nadel und Garn umgehen konnte. Keine Mottenlöcher, kein unpoliertes Buttermesser, und erst recht sollte auf dem Hof nicht geraucht werden, ein Gut wäre schließlich kein Trödelverein.
Nur der Briefträger trödelte. Er sollte weniger am Feldrand herumstehen und schnacken, fand Helene, sondern lieber seine Briefe austeilen. Wenn der Brief heute nicht in der Post war, könnte er spätestens morgen noch eintreffen. Tat er das nicht, musste sie damit rechnen, dass Charles-Édouard zu dem morgigen Fest nicht erscheinen würde. Aber was in aller Welt könnte ihn davon abhalten, zu ihr zu kommen?
Helene stellte sich vor, dass er krank im Bett liegen könnte. Mit pochenden Kopfschmerzen. Und schmerzenden Gliedern. In fieberfeuchten Kissen. Sie überlegte: Gegen Wadenwickel würde er sich bestimmt wehren. Einen kalten Lappen auf der Stirn aber womöglich erlauben, und es dann vielleicht sogar gernhaben, wenn sie den Umschlag auf seine Stirn legen würde, danach eine Haarsträhne aus seinem Gesicht streicheln würde, ihm sorgen- und liebevoll in die glasigen Augen sehen würde …
Eine andere Möglichkeit wäre, dass Charles-Édouard die Einladung in seiner Jacke vergessen haben könnte. Ausgerechnet mit dieser Jacke aber könnte dann sein Vater auf die Jagd gegangen und seitdem nicht mehr zurückgekehrt sein.
Noch komplizierter wurde es, wenn seine Antwort in der Post verlorengegangen war. Falls das wirklich passiert sein sollte, müsste sie in jedem Fall ausharren, bis der Ball begann. Allerdings wäre es dann wiederum gleichgültig, wann der Briefträger eintraf und ob überhaupt. Die Ungeduld in Helenes Herzen wich einer matten Sehnsucht und so wurde ihr Blick des Starrens so müde, dass ihn nichts mehr hielt. Erst als sich Pferdegetrappel aus dem gräflichen Forst näherte, kehrte sie zurück aus ihrer dumpfen Versenkung. Doch es war nur wieder der Verpflegungsdienst, der von den Feldern zurückkehrte. Hastig zog Helene ein letztes Mal an ihrer Zigarette und vergrub den Stummel in der Erde, bevor man sie beim Rauchen erwischen konnte.
„Helenchen, was stehst du denn da so?“, rief das Dienstmädchen Gusta. Den Titel Dienstmädchen hatte Gusta nie abstreifen können, obwohl sie seit gewiss zwanzig Jahren schon zu dick war für die adrette Schürzenuniform der Dienstmädchen; weswegen Gusta lieber Kittel trug.
„Ich warte auf den Briefträger“, sagte Helene.
„Hab ich’s mir doch gedacht. Von wem soll der Brief denn diesmal kommen?“
Helene zog eine Fratze und streckte Gusta die Zunge heraus. Gusta lachte. Der Leiterwagen fuhr an Helene vorbei und hielt dann vor dem Marstall, der in Form eines Halbmondes gebaut war und an dessen Giebel das Plasbalg’sche Familienwappen prangte. Mit einem Satz sprang der schöne Heiner vom Fahrbock und hielt den Frauen beim Heruntersteigen der Leiter die Hand hin, als könnte das nicht jede alleine. Bei der rotblonden Marianne nahm er sich besonders viel Zeit. Er legte ihr sogar noch die Hand auf die Hüfte. Genau konnte Helene das erkennen, selbst aus der Entfernung noch.
Heiner und Helene waren gleich alt und zusammen aufgewachsen. Es war bekannt, dass Heiner und Helene sich vor ein paar Jahren heimlich im Stroh getroffen hatten. Um sich mit den Halmen in den Ohren zu kitzeln. So lautete zumindest die offizielle Version, die Helenes Sommerferien verkürzte, weil sie zwei Wochen früher ins Mädchen-Stift zurückgeschickt wurde. Für Helene war die Geschichte mit Heiner damit aber noch nicht ausgestanden gewesen: Beim nächsten Erntetanz umgarnte Heiner die Grete aus dem Nachbardorf, im Jahr darauf tanzte er eng mit Lisa und diese Marianne hatte er vielleicht sogar am allerhäufigsten aufgefordert. Nur Helene nicht. Kein einziges Mal. Daraufhin hatte sie ihm wütend abgeschworen. Heute ärgerte sie nur noch, dass sie sich überhaupt noch über ihn ärgerte. Diese Marianne war in Helenes Augen, bei aller Liebe, eine einfältige Natur ohne Witz oder eigenen Antrieb. An so einer brauchte Helene sich nicht mehr messen zu lassen! Aber gut, sollte er ihretwegen doch bitte Marianne weiter hinterhersteigen. Im Grunde hatte sie das gar nicht mehr zu interessieren. Sie hatte doch längst ganz andere Interessen!
Allerdings gab Helene im nächsten Moment ihren Posten auf und schlenderte zum Stall. Na, grüßte Heiner sie mit dem mecklenburgischen Guten Tag, geht’s gut und das Wetter so. Na, sagte Helene und nicht, es geht ihr gut, wie geht es ihm.
„Ich habe den Briefträger in Ivenack gesehen“, sagte Heiner.
Ivenack lag am Anfang seiner Runde. Demnach könnte es noch länger dauern, bis er kam, wenn er überhaupt kam.
„Was willst du denn von ihm?“, fragte Heiner.
Weil ihn das gar nichts anging, gab Helene erst mal keine Antwort. Lieber schaute sie auf sein Hemd, das sich stramm um den breiten Brustkorb spannte, während es am unteren Rücken wieder luftig abfiel und bei jeder Bewegung kleine Wellen schlug.
„Nichts so“, sagte Helene und blies die Backen auf. „Aber oben werden sie schon nervös, weil immer noch Antworten fehlen. Kannst dir ja vorstellen, was da los ist.“
Heiner nickte verständnisvoll, wenn auch etwas ratlos. Seine Mutter kriegte schließlich keine roten Flecken am Hals, wenn auf dem Antwortschreiben ein anderer Titel stand als vorher im Stammbaum herausgesucht, und sie meinte es auch nicht besser zu wissen als die Eingeladenen selbst, welcher Titel auf den Briefbogen und welcher in die Anrede gehörte.
„Wie viele Gäste kommen denn morgen?“, wollte er wissen.
Helene zuckte die Schultern. Es war ihr unangenehm, mit Heiner über das Fest zu sprechen, schließlich hatte ihn keiner eingeladen. Allerdings hätte Heiner auch nicht kommen können, er besaß schließlich keinen Frack und wäre durch die Einladung in Bedrängnis geraten, sich einen zu besorgen.
„Dein Vater hat mir eine Woche freigegeben“, erzählte Heiner, als hätte auch er ein Unbehagen bemerkt, das er nicht zugeben wollte. „Bis zur Ernte kann man jetzt sowieso nicht mehr viel tun. Nächste Woche fahre ich zu Armin nach Berlin.“
Damit hatte er Helene tief beeindruckt. Für einen Besuch bei Heiners großem Bruder Armin würde sie alles geben. Armin arbeitete am Theater. Schon sein jugendlicher Charakter hatte sich für ein beschauliches Leben auf dem Land als ungeeignet erwiesen. Dann, als junger Mann, hielt er es selbst in der Kreisstadt nicht mehr aus, weil die Straßen bisweilen immer noch mit den schwarz-weiß-roten Fahnen des alten Kaiserreichs beflaggt wurden. Vor ein paar Jahren hatte man ihm dort noch eine Anstellung als Handelsvertreter angeboten. Inzwischen würde das wohl keiner mehr tun. Man munkelte, Armin wäre Kommunist.
Er kam nur selten nach Hause zu den Eltern, aber wenn er kam, brachte er einen gewaltigen Appetit und bunte Plakate mit, die alle dieselbe Schauspielerin zeigten. Sie hatte blondes Haar und lange Beine. Wie die Kinder saßen wir dann vor ihm, und ich weiß noch genau, dass Helene immer wieder hören wollte, was die Schauspielerin gemacht hat, als der Regisseur ihren Rock länger schnallen musste: Pfffh, hat die Schauspielerin durch die Lücke zwischen den Schneidezähnen gepfiffen, diese Prüderie! Sie könne das nicht mehr ertragen! Die Marquise von O. solle mit mehr Humor verstanden werden! Dies ewige Ich hab noch nie und will niemals sei bieder, rückschrittlich, – einfach unmodern.
„Jetzt hast du ihn verpasst“, sagte Heiner und zeigte mit seinem breiten Kinn in Richtung Allee. Helene sah den Briefträger schemenhaft zwischen den dicken Silberpappeln auf und wieder abtauchen. Sie ärgerte sich, schon wieder, doch kopflos hinterherrennen mochte sie nun auch nicht. Allerdings übersah Helene im nächsten Moment die übrigen Aufgaben im Stall mit einem Ich muss dann mal wieder und lief betont gelassen, mit der Hüfte wippend, aufs Schloss zu.
Sie war keine hundert Meter mehr vom Haupthaus entfernt, da sah sie, wie der Briefträger am Portal einem Dienstmädchen die Post überreichte, sich aufs Fahrrad schwang und das Rondell wieder hinabfuhr. Sie presste ihre vollen Lippen aufeinander und ihre Schritte wurden kürzer. Gleich würde man sich begegnen. Konnte sie den Briefträger nicht einfach nach dem Brief fragen? Ob er aber die Adressaten im Kopf hatte? Oder womöglich eine spitze Bemerkung parat? Vielleicht hatten die Frauen am Feldrand schon mit ihm gescherzt, dass die lütte Comtesse schon wieder sehnlichst auf ihn wartete. Auf einem Gut blieb schließlich nichts unkommentiert, erst recht nicht, was die Herrschaft trieb.
Statt weiter zum Schloss zu laufen, bog Helene links ab. Der Parkweg führte durch eine bunt streuende Blumenwiese bis zur gutseigenen Kapelle. Doch Helene wollte nicht ins Gotteshaus. Sie lief vorbei an dem dreieckigen Giebel und auch an der schmalen Tür, durch die man von hinten in die Sakristei gelangte. Vorbei an den eisernen Kreuzen, die auf steinernen Sockeln der Vorfahren gedachten. Sie folgte dem Weg bis an sein Ende und noch zehn Schritte weiter über das weiche Gras bis hin zum Ufer, wo eine große Weide ihre Zweige in das seichte Seewasser senkte. Hier war der geheime Platz. Helenes und meiner. Außer uns kam nie jemand hierher.
Helene malte sich aus, wie es wäre, mit Charles-Édouard hier zu sein. Auf dem Ast, der wie eine Schaukel geformt war, konnten genau zwei Personen sitzen. Zuerst könnte er also vor ihr stehen bleiben, sich mit einem Arm an den Stamm lehnen und Geschichten aus Hamburg erzählen, von dem großen Hafen und den Lastschiffen aus aller Welt. Sie würde ihre Beine nach rechts fallen lassen und ihren Oberkörper leicht nach hinten strecken. Dann könnte er sich neben sie setzen. Hüfte an Hüfte. Als Nächstes könnte er seine Hand in ihren Nacken legen und mit einer Haarsträhne spielen. Das alles könnte Wirklichkeit werden. Charles-Édouard bräuchte nur zu kommen. Wenn er das doch täte!
Von Sehnsucht übermannt, hätte sie jetzt am liebsten den Himmel um Hilfe gebeten. Doch etwas hielt sie zurück. Es erschien ihr nicht angemessen, denn es wären dieselben Worte, die sie früher jeden Tag dem lieben Gott vorgetragen hatte, als unser Vater im Krieg gedient hatte: Bitte mach, dass er zu mir kommt, am besten heute, wenigstens bald, aber in jedem Fall. Schick ihn mir! Lass es geschehen, oh Herr, du mein Gott.
Dieser Wunsch war erfüllt worden. Durfte sie aber den Allmächtigen nun um dieselbe Anstrengung für diesen Jungen bitten? Dafür war die Sache doch nicht ernst genug. Sie sollte mal nicht übertreiben.
Auf meinem Nachhauseritt, zwischen den Gütern lagen vielleicht zehn Kilometer, beschloss ich eine Pause einzulegen. Die Stunden bei der Herrengesellschaft hatten mich völlig erschöpft. Ich hatte genug, wollte alleine sein. Als ich auf der versteckten Lichtung im Wald ankam, sah ich gerade noch einen jungen Rehbock abspringen. Erstaunlich, dass er mich nicht schon früher gewittert hatte. Allerdings waren die Böcke in ihrer Blattzeit und nicht sehr aufmerksam, weil sie den Duft lockender Ricken in den Nüstern hatten und sonst gar nichts. Dieser würde wohl keine Chance kriegen, sich zu paaren, dachte ich. Sein Gehörn hatte nicht mal über die Lauscher gereicht, sein Körperbau war schmächtig, ein idealer Abschussbock. Bis vor ein paar Monaten war ich noch gerne auf die Jagd gegangen. Als mir aber der dunkle Gedanke gekommen war, worauf ich die Mündung noch alles richten könnte, hatte ich Angst bekommen, mit dem Gewehr allein zu sein.
Seufzend band ich mein Pferd so an einem Baum fest, dass es noch grasen konnte, und lockerte den Gurtriemen des Sattels. Dann ließ ich mich ins hohe Gras fallen und streckte mich aus, merkte, wie mein Rücken sich entspannte. Ich hob meine Hand und hielt sie gegen das Sonnenlicht. Sie leuchtete rot. Das war doch gar kein toter Knochen! Da war es doch, das Leben, mein Leben, und leuchtete rot. Warum konnte ich es nicht spüren? Was war mein Problem? Es könnte doch alles in Ordnung sein.
Neben mir tummelten sich Hummeln, über mir zwitschernde Vögel. Licht und Schatten folgten einander von Blatt zu Blatt. Ich atmete tief durch und spürte, wie mein Gedankenkarussell allmählich ruhiger wurde und meine Glieder schwer. Ich schloss die Augen und spielte mein Spiel, genau wie früher als kleiner Junge: Ich schaute den Lichtern hinterher, wie sie in roten Bahnen ineinanderflossen. Es war wie verhext, denn sobald ich glaubte, die Konturen von nur einem glühenden Licht erfasst zu haben, änderte es seine Form und verschwand wie ein Grashalm, den die Wellen mitnahmen. Erst als ich nicht mehr darauf beharrte, eines nur für sich zu betrachten – wer waren sie nur, diese Lichter? –, sondern es ziehen ließ; erst dann glitt es zurück in mein Sichtfeld und mit ihm tausend andere. Ich schlug die Augen auf, doch das Spiel hielt weiter an. Sekundenlang. Ich konnte das Flimmern weiter verfolgen, bis es sich im hellen Tag verkroch. Doch es erlosch dort nicht. Es frischte sich bloß am Sonnenstrahl auf, der über mir durch die Blätter brach. Ich brauchte nur die Augen wieder zu schließen – ist das wahr oder ist das Traum? –, dann tanzten sie weiter um mich herum, im hellroten Kreis, wie heimliche Waldgeister.
Irgendwann wurde ich mir meines Müßiggangs bewusst. Allzu deutlich sah ich vor mir, wie zu Hause alle aufgeregt durcheinandersprangen und abwechselnd nach Schrubber oder Schmuckschatulle schrien: Heute müsse alles fertig werden und zurechtgelegt sein, am morgigen Festtag habe man dafür keine Zeit mehr. Beim Gedanken an den ganzen Aufruhr beschloss ich, dass ich schon genug geholfen hatte. Immerhin hatte ich heute früh Tische in den Ballsaal getragen und dann, nachdem meine älteste Schwester Luise den Aufbau begutachtet hatte, alles wieder umgestellt, weil Luise kurzfristig beschlossen hatte, dass es doch keine lange Tafel geben sollte, sondern mehrere kleine Tischgruppen.
„Und die Bilder“, hatte Luise mit einer Stimme gesagt, die keinen Widerspruch duldete, „die Bilder müssen raus aus dem Ballsaal.“
Also wurden Vaters Bilder abgehängt und vorsichtig in die vorderen Salons getragen, und wie immer, wenn der Vater seine Bilder sah, war er sofort ins Schwärmen gekommen: Künstler, so sein Credo, wären nur sich selbst verpflichtet, egal, ob ihr Schaffen Erfolg versprach oder sie malend zugrunde gehen sollten. Er sei Zeuge ihrer Schöpfungskraft geworden, die sich immer und überall offenbaren konnte: ob die Kellnerin gerade Bier servierte oder der Klang im Gesicht der Sängerin im nächsten Moment durch den Applaus zerbersten könnte. Wie Gezwungene hätten die Malerfreunde nach Stift und Block gegriffen, als könnte der Eindruck erlöschen und für immer verschwinden, wenn sie ihn nicht in genau diesem Licht und auf der Stelle festhielten, und den nächsten gleich darauf, der sich im Kopf schon zu malen begann, weil sich vom Nachbartisch her der lange Pfeifenstiel eines rauchenden Kartenspielers in den Augenwinkel schob.
Einige von Vaters Bildern waren voller Kleckse, die wie fremde Elemente in Rot und Blau über die Leinwände schlierten. Diese Bilder hatte ich auf Anhieb gemocht. Zu den noch aparteren Werken der Sammlung fand ich keinen Zugang. Meine Schwestern noch weniger. Und Mutter wollte sie wohl nicht schön finden, denn immer, wenn das Gespräch auf die Bilder kam, behauptete sie, ihr Stil würde nicht in die ländliche Gegend passen. Sollte man sich indes für eine Stadtwohnung in Berlin entscheiden, könnte man sie dort aufhängen. Der Kauf einer Stadtwohnung aber verschob sich von Ernte zu Ernte. Dafür reichte selbst bei uns das Geld nicht aus. Und so blieben die Bilder bis heute wie ungewollte Kinder im abgelegenen Saal hängen, dort, wo man nicht einmal mehr den Christbaum aufstellte, weil der Weg in den hinteren Teil des Schlosses im Winter zu weit und zu kalt war.
Als ich die Augen wieder öffnete, bedeckte ein grauer Schleier den Himmel. Kleine Tropfen platschten auf mein Gesicht und zwangen mich wieder aufzubrechen, ob ich wollte oder nicht.
Zur selben Zeit, als mein Pferd durch das schmiedeeiserne Tor in die Auffahrt einbog, seufzte Helene am Ufer des Sees gerade zum letzten Mal und beschloss, dass es doch keinen Zweck hatte, ewig nur herumzusitzen und auch nicht mehr zu wissen. Also stand sie auf und machte sich auf den Weg zum Schloss. Auf dem Vorhof trafen wir zusammen.