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Respektlose Familiengeschichten und experimentell anmutende Skizzen, Science-Fiction-Erzählungen und Satiren wie die Geschichte um einen schmerzenden Zahn, der einen Mann fast in den Selbstmord treibt: Allen gemein ist der schier unerschöpfliche Reichtum an Fantasie. Tabus werden aufgebrochen, große und kleine Lügen entlarvt, die Schriftsteller experimentieren lustvoll mit der Sprache, sie brechen mit herkömmlichen Genres und stellen konventionelle Plots in Frage. Dieser Erzählband bietet einen Querschnitt durch die modernste türkische Prosa. All die Autorinnen und Autoren sind Zeugen und Akteure des kulturellen Wandels, der in der Türkei seit 1980 stattfindet.
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Seitenzahl: 390
Veröffentlichungsjahr: 2016
Respektlose Familiengeschichten und experimentell anmutende Skizzen, Science-Fiction-Erzählungen und Satiren: Dieser Erzählband bietet einen Querschnitt durch die modernste türkische Prosa. All die Autorinnen und Autoren sind Zeugen und Akteure des kulturellen Wandels, der in der Türkei seit 1980 stattfindet.
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Börte Sagaster (*1962) studierte Islamwissenschaft, Turkologie und Germanistik. Nach ihrer Promotion arbeitete sie u. a. am Zentrum Moderner Orient in Berlin, später am Orient-Institut in Istanbul und an der Universität Gießen.
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Börte Sagaster (Hg.)
Liebe, Lügen und Gespenster
Junge Geschichten aus der Türkei
Erzählungen
Türkische Bibliothek
E-Book-Ausgabe
Unionsverlag
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Türkische Bibliothek im Unionsverlag, Zürich, herausgegeben von Erika Glassen und Jens Peter Laut
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© by Unionsverlag, Zürich 2024
Alle Rechte vorbehalten
Umschlag: Mehmet Koyunoğlu, Das Kleid im Raum (1992, Stich)
Umschlaggestaltung: Martina Heuer
ISBN 978-3-293-30115-3
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Cover
Über dieses Buch
Titelseite
Impressum
Unsere Angebote für Sie
Inhaltsverzeichnis
LIEBE, LÜGEN UND GESPENSTER
Das GeheimnisGlaubheld von BraunDie Hasen des KommandantenDas kostümierte GespenstMeine große SchwesterVerwelktDer Mond wird über deinem Haus aufgehenKleinstadtlügenDrei GenerationenDie Sprache meiner MutterDie MigursDavon wie ein weißer VogelDer LastwagenfahrerDie LandkarteMetamorphoseAstraAffenhocker zu vermietenAdımDas GespenstNur nicht unterkriegen lassenAnarchische ErmattungNicht in eine Stadt fahren könnenLebensbedrohliche VerabredungNachwortWorterklärungenZur Aussprache des TürkischenBiografienDie ÜbersetzerUmschlagmotivMehr über dieses Buch
Über Börte Sagaster
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Tahsin Yücel
Als wir drei Tage nach Dudu Bacıs Tod hinter ihrem Neffen, dem Kichererbsen-Verkäufer Hacosman, also hinter ihrem einzigen Verwandten in der Stadt, über die Schwelle ihres Hauses traten, drückte Memedali meinen Arm und sagte: »Sperr die Augen auf: Du betrittst ein verschlossenes Haus.« Es war zwar ein wenig unpassend, aber ich musste unwillkürlich lächeln: Wir betraten tatsächlich ein verschlossenes Haus. Mit Ausnahme einer glücklichen Minderheit von etwa zwanzig Personen war Dudu Bacıs Tür für jedermann verschlossen geblieben. Wir waren ihre nächsten Nachbarn gewesen, aber selbst wir konnten erst jetzt, drei Tage nach ihrem Tod, in ihr Haus eintreten.
Kaum waren wir durch die Tür, standen wir plötzlich im Dunkeln. Wir tasteten uns einen Korridor entlang, zu eng, als dass zwei Personen nebeneinander hätten laufen können, und noch dazu gewunden, sodass wir uns spiralförmig vorwärts bewegen mussten, als stiegen wir die Wendeltreppe eines Minaretts hinauf. Als ob das noch nicht reichte, tauchten alle paar Schritte drei, vier Fußbreit hohe Hindernisse auf, über die wir stolperten und fielen. Nach Überwindung zahlreicher Hürden stellten wir fest, dass der gewundene Korridor, in dem wir uns befanden, keineswegs der einzige im Haus war: Wir stießen auf eine Reihe niedriger Türen, die alle gleich aussahen, sich aber auf lauter unterschiedliche Gänge hin öffneten. Und hinter diesen Türen fanden wir uns nach ein paar Schritten jeweils dicht vor einer modrig riechenden Lehmmauer wieder. Zu guter Letzt waren wir in der Hocke durch eine schmale Tür in einen Raum gekrochen, in den außer durch ein Fenster von der Größe eines Buchdeckels, das fast auf Zimmerdeckenhöhe lag, keinerlei Licht einfiel: Wir hatten das einzige Zimmer des Hauses erreicht.
Nach den dunklen Gängen, in denen wir uns im kurzlebigen Licht von Streichhölzern vorgetastet hatten, blendete uns nun selbst das bisschen Helligkeit, sodass wir eine Weile brauchten, bis wir es erkannten: das berühmte Bett, den Schauplatz all der Dinge, die wir mit eigenen Augen nie richtig hatten sehen können, deren Ohrenzeugen wir jedoch geworden waren und deren Schilderung wir aus Dudu Bacıs Mund vernommen hatten. Das Bett lag ein, zwei Handbreit unter dem Fenster, also vom Boden aus gesehen auf Mannshöhe. An einer Seite lehnte eine Holzleiter mit drei, vier Sprossen. Nach all den Hindernissen und Fallen auf dem Weg von der Haustür bis hierher war es nicht recht verständlich, warum das Bett gerade an dieser Stelle stand, wenn man sich überlegte, dass jemand, der über die Mauer des dahinter liegenden Hofs gesprungen war, ohne weiteres seinen Kopf durch das von außen durchaus nicht hoch liegende Fenster strecken und so bequem mitverfolgen konnte, was sich im Inneren abspielte. Aber aus unerforschlichen Gründen war Halil Efe, Dudu Bacıs erster Mann, zu der geradezu religiösen Überzeugung gelangt, dass die englischen Ungläubigen sich mit den griechischen Ungläubigen verbündet hatten, um ihn anzugreifen, und deshalb hatte er sich monatelang, wenn nicht jahrelang, ganz alleine damit abgeplagt, dieses erstaunliche Festungswerk zu errichten, und war dabei offensichtlich davon ausgegangen, dass die Angreifer nur durch die Tür kommen konnten. Und bis zu seinem Tod war er dieser Überzeugung treu geblieben. Von morgens bis abends hatte er, ein unbrauchbares Jagdgewehr in der Hand, vor der Tür gesessen und den Feind erwartet. Wenn man ihn fragte: »Halil Efe, kann der Feind denn nur von hier kommen? Könnte er nicht auch von woanders her seinen Angriff starten?«, dann stand er eifrig auf und zog mit dem Gewehrkolben vom einen bis zum anderen Ende der Vorderwand einen Strich und sagte selbstgewiss: »Die Grenze verläuft hier.« So gesehen war es durchaus nachvollziehbar, dass das Bett unter dem kleinen Fenster stand: Diese Position war am weitesten von der Grenze entfernt, und außerdem gab es – für den Fall, dass kein anderer Weg offen blieb – keinen geeigneteren Ausgangspunkt für eine Flucht vor dem Feind.
Wie auch immer – nach Halil Efes Tod war uns dieser Umstand sehr zupass gekommen, um Dudu Bacıs Darstellungen mit den tatsächlichen Geschehnissen vergleichen zu können und uns über die sich daraus ergebenden Widersprüche am Boden zu wälzen vor Lachen. Bis zu dem Tag, an dem sie ihren letzten Ehemann heiratete, hielt Dudu Bacı mit nichts hinterm Berg: Sie erzählte alles. Nur einen kleinen Fehler hatte sie: Manche Ereignisse überging sie bei ihren Berichten, andere hingegen bauschte sie auf. Aber das war nun wirklich völlig unwichtig. Denn was sie erzählte, waren immer Bettgeschichten, und es kostete uns nur drei, höchstens vier Stunden Schlaf, um herauszufinden, wie es sich tatsächlich verhielt. Waren wir erst mal vorsichtig über die Mauer des Hinterhofs geklettert und hatten uns unter das kleine Fenster gekauert, verstanden wir durch die Gespräche wie auch durch die Art, wie sie atmete, genug.
Das war unsere Hauptbeschäftigung in jenen Jahren: An Türen, Kaminen, Fenstern und in Mauerhöhlungen lauschten wir dem Bettgeflüster von Ötegeçes ältlichen Bräuten und ihren ebenso ältlichen Bräutigamen. Aber nach Dudu Bacıs zweiter Hochzeitsnacht verloren wir weitgehend das Interesse an den übrigen Hochzeitspaaren. Als zum Beispiel Emiş Bacı mit über siebzig Jahren einen neuen Ehemann ausprobierte, hatte Dudu seit bereits mehr als einer Woche ihren x-ten Ehemann im Haus. Dennoch machte sich keiner von uns auf, um Emiş Bacı zu belauschen, wir gingen lieber zu Dudu Bacı. Dieses Verhalten stand im Gegensatz zu unseren bisherigen Gewohnheiten: Wie ich schon sagte, gehörte es zu unseren größten Vergnügungen, den in Ötegeçe recht häufig vorkommenden Hochzeitsnächten ältlicher Bräute mit ältlichen Bräutigamen zu lauschen. Emiş Bacıs Fall war interessant, weil sie mindestens fünfzehn Jahre älter war als Dudu Bacı und seit fünf Jahren ohne Ehemann gelebt hatte. Außerdem fand die Hochzeitsnacht statt, nachdem ihr Enkel Hacı, der ihr fünf Jahre lang gedroht hatte: »Wenn du nochmal heiratest, schlag ich dich in Stücke« mal gerade seit einer Woche zum Militärdienst eingerückt war. Trotzdem zogen wir es vor, Dudu Bacı und ihren damaligen Ehemann ein weiteres Mal zu belauschen. Wir wussten nämlich, dass Dudu Bacı, kaum dass die rußende Petroleumlampe ausgeblasen worden war, wie ein junges Ding losschäkern und mit Kinderstimme lauter Worte sagen würde, die einem Kind nicht in den Kopf, geschweige denn über die Lippen kämen und die selbst wir großenteils zum ersten Mal aus ihrem Mund hörten: ein Strom nach Schweiß riechender Worte, die aus einer anderen Zeit und einer anderen Sprache zu stammen schienen. Aber selbst in den Situationen, in denen all diese hemmungslosen Worte ihre stärkste Wirkung ausübten, würde ihr Spielkamerad irgendwann zu schnarchen beginnen. Dudu Bacı würde sich aufrichten und den armen Mann wütend schütteln, sie würde schimpfen und seufzen, sie würde immer wieder stöhnen und schließlich resigniert einschlafen. Aber am nächsten Morgen würde sie schnurstracks zu den jungen Frauen gehen, die sich vor ihren Häusern gegenseitig lausten, würde ihre rechte Hand steil in die Luft halten, ihr Daumen würde sich in der Handfläche über den kleinen Finger legen und die übrigen drei Finger würden nach oben ragen, und Dudu Bacı würde den jungen Frauen hochmütig ins spöttische Gesicht sehen und zu ihnen sagen: »Drei!«, und danach würde sie sich zu ihnen setzen und mit der langen Erzählung aller Details beginnen. Wenn jemand anders dieselben Geschichten erzählt hätte, wäre man dessen schnell überdrüssig geworden, aber niemand war Dudu Bacıs endlose, sich immer ums gleiche Thema drehende Geschichten leid.
Das Erstaunliche an der Sache war, dass Dudu Bacı ihre unterhaltsamen Geschichten plötzlich erzählte, nachdem sie vorher immer geschwiegen hatte. Während der Jahre, die sie an der Seite ihres ersten Mannes, des Kalten Kriegers, verbrachte, gab es in Ötegeçe keine schweigsamere Frau als sie; wie ein Schatten huschte sie hin und her. Nachdem Halil Efe auf seinem Posten, also vor der Tür, mit dem Gewehr in der Hand auf den Feind wartend, unversehens zu Boden gesunken und den Geist aufgegeben hatte, führte Dudu Bacı ganze zwei Jahre lang ihr schweigsames Leben fort, ja sie schien sogar noch schweigsamer zu werden. Darüber hinaus hatte man den Eindruck, dass sie schrumpfte. Zwar hatte sie schon immer trockenem Reisig geglichen, doch nach dem Tod ihres Mannes schrumpfte sie noch mehr und war schließlich nur noch Haut und Knochen. Wie zu Lebzeiten ihres Ehemanns, den außer der Verteidigung seines Heims nichts interessiert hatte, kümmerte sie sich weiterhin um alles und beklagte sich niemals über Müdigkeit oder irgendetwas anderes. Dieser Zustand dauerte an, bis sich die weißen Flügel von Urup Fadime, dem guten Engel der alten Verwitweten von Ötegeçe, auch über sie streckten. Genau genommen war schon seit geraumer Zeit die Rede davon gewesen, Dudu Bacı ein zweites Mal unter die Haube zu bringen, und jeder wusste, wie oft Dudu Bacı Urup Fadime um Hilfe gebeten hatte. Aber jedes Mal hatte Urup Fadime mutlos den Kopf geschüttelt und gesagt: »Es ist ja nicht so, dass ich nicht suche, aber du bist zu dünn, dich will niemand.« Und es stimmte hundertprozentig, was sie sagte: Die sich um betagte Witwen bewarben, waren zumeist Dörfler, die ihre Angelegenheiten geordnet hatten und nun in der letzten Phase ihres Lebens eine Städterin im Arm halten wollten. Aber alle wollten, dass diese Städterin kräftig, rundlich und ansehnlich sein sollte.
Als schließlich ein Interessent für eine magere Frau auftauchte und uns alle in abgrundtiefes Erstaunen versetzte, war Dudu Bacı bereits seit zweieinhalb Jahren verwitwet. Trotzdem leistete sie offenbar ziemlichen Widerstand. Wenigstens zehn Mal ging Urup Fadime zu ihr, aber Dudu Bacı zog einen Flunsch, reckte das Kinn und sagte: »Nein.« Sie wollte nicht. Den Grund dafür erfuhren wir erst später: Dudu Bacı hatte durchaus nichts dagegen, ein zweites Mal zu heiraten, im Gegenteil, sie hatte es ja selbst gewollt. Sie würde aus ihrer ranzigen Einsamkeit erlöst, und sie könnte sich ein bisschen ausruhen, aber ob sie wohl ebenso wie Halil Efe glaubte, dass sich die Engländer und die Griechen ihres Hauses bemächtigen wollten, oder warum auch immer, jedenfalls brachte sie es nicht übers Herz, die Maulwurfshöhle zu verlassen, die sie so viele Jahre gemeinsam mit ihm bewacht hatte. »Ich will in meinem Haus sterben«, sagte sie zu Urup Fadime, und der fiel die Aufgabe zu, dem Dörfler einzureden, dass es besser wäre, wenn sie hier wohnen blieben. Der Mann war Gott sei Dank mit seinen Kindern verkracht, und außerdem war es in jeder Hinsicht bequemer und angemessener, die ersten Tage der Ehe in der Stadt zu verbringen. Deshalb hatte er ohne weiteres eingewilligt.
Und so sahen wir an einem regnerischen Oktobertag einen von Kopf bis Fuß durchnässten, robusten, graubärtigen Dörfler auf einem Ochsenkarren voller Korn vor der Tür halten, die Halil Efe jahrelang mit Leib und Seele verteidigt hatte. Dudu Bacı, die sich den ganzen Morgen lang nirgendwo hatte blicken lassen, trat nun, angetan mit einer nagelneuen Bluse mit aufgedruckten rosafarbenen Blumen und einem Spitzenkopftuch, auf die Schwelle. Wir bauten uns genau in diesem Moment um den Ochsenkarren herum auf. Memedali ging noch weiter und stieg auf den Karren, schaute in jeden Sack und versuchte herauszufinden, was sich darin befand. Danach sprang er wieder ab, drängte sich zwischen die Braut und den Bräutigam, die leise miteinander sprachen, und fragte: »Sollen wir die Säcke hineintragen, Dudu Bacı?« Völlig unerwartet brüllte Dudu Bacı wütend Memedali an: »Hau ab!«, als ob sie einen Hund verscheuche, wandte sich dann an uns und schrie: »Verschwindet, ihr Hundesöhne! Ihr habt wohl noch nie einen Ochsenkarren gesehen?« Sie stemmte die Fäuste in die Seiten und musterte uns alle scharf mit gerunzelten Augenbrauen. Wie es so häufig geschieht, gab auch sie sich just im Augenblick ihrer Kapitulation besonders kämpferisch und heldenhaft. Es war unübersehbar, dass sie sich auf uns stürzen würde, wenn wir auch nur eine Sekunde länger blieben. Wir mussten also fünf, sechs Schritte zurückweichen. Der grauhaarige Mann hatte unterdessen die Säcke auf den eigenen Schultern hineingetragen.
Wir hatten verstanden: Dudu Bacıs Tür würde sich weiterhin nur für ihren Mann öffnen.
Am Abend desselben Tages versammelten wir uns dennoch alle still und leise unter dem kleinen Fenster. Aus dem Fenster strömte schwach das trübe Licht der Petroleumlampe. Ab und zu wurde es durch ein heftiges Pusten gelöscht, doch gleich danach wurde ein Streichholz angezündet, und die Lampe brannte wieder. Zwar wagten wir es nicht, den Kopf zu heben und zuzuschauen, aber wir konnten uns alles haarklein vorstellen: Der Mann wurde ungeduldig, aber da er der Städterin, die er erst am Tag zuvor geehelicht hatte, seine Ungeduld nicht gleich offen zeigen wollte, fand er keinen anderen Weg, seine innere Spannung auszudrücken, als die Lampe auszupusten. Was Dudu Bacı anbetraf, so fürchtete sie sich weniger davor, mit einem Mann, den sie erst gestern kennen gelernt hatte, im Dunkeln allein zu bleiben, als vor den Dingen, die die Dunkelheit mit sich bringen würde, weshalb sie immer dann, wenn der Mann die Lampe ausblies, ein Streichholz anzündete, das sie die ganze Zeit fest in der Hand gehalten hatte, und mit versengten Fingern die Lampe sofort wieder anzündete. Dieselbe Handlung wiederholte sie bestimmt zehn Mal, sodass schließlich selbst wir langsam ärgerlich wurden. Nach einer Weile ging die Lampe erneut aus, und es war eine kurze Balgerei zu hören. Einer von uns bekam eine Schachtel Streichhölzer an den Kopf. Danach hörten wir wieder ein Gerangel und schließlich ein paar zittrige und kraftlose Schreie von Dudu Bacı. Was darauf folgte, unterschied sich durch nichts von dem, was wir an anderen Fenstern hörten.
Aber am folgenden Morgen war alles anders: Als Dudu Bacı herauskam, um sich im Fluss vor ihrem Haus das Gesicht zu waschen, schien es, als sei ihr Rücken von einer jahrelangen Last befreit, als habe sich ihr neu eingekleideter Körper aufgerichtet, und selbst in den recht tiefen Falten ihres Gesichts war ein Leuchten, das sie verjüngte. Munter wie ein Fohlen kehrte sie ins Haus zurück. Keine fünf Minuten später sahen wir sie erneut herauskommen, wieder mit einem nagelneuen, bunten Kopftuch. Sie bewegte sich ganz anders als sonst: Sie ging schnell und schien dabei den Boden nur mit den Zehenspitzen leicht zu streifen. Unterm Arm trug sie ein gelb gestreiftes Betttuch, und sie schien darauf bedacht, dass alle dieses Betttuch sahen. Den Grund dafür verstand zunächst keiner von uns. Wie hätten wir auch auf die Idee kommen sollen, dass dies das Betttuch war, auf dem ihre Jungfräulichkeit ein Ende genommen hat? Bei uns in der Gegend wurde das Hochzeitslaken den Eltern der Braut gebracht, und diese bewahrten diesen wichtigsten Beweis ihrer Ehre stolz auf. Dudu Bacı hatte weder Eltern noch Anverwandte, die deren Stelle hätten einnehmen können. Aber sie wollte ein solch wertvolles Beweisstück nicht für sich behalten, und deshalb brachte sie es Urup Fadime. Da diese die ganze Sache ausgeheckt hatte, konnte sie in gewisser Hinsicht als Brautmutter gelten. Dass Dudu Bacı erst in ihrer zweiten Ehe tatsächlich zur Frau wurde, ist im Übrigen nicht besonders erstaunlich: Ihr erster Mann war vor allem anderen ein Held. Er hatte sein Leben damit verbracht, ganz allein zwei Ländern zugleich die Stirn zu bieten.
Es dauerte eine Weile, bis jeder begriff, dass für Dudu Bacı, auch wenn sie sehr an ihrem Mann gehangen hatte und ihm in gewisser Weise selbst dann noch verbunden blieb, als sie bereits andere Männer geheiratet hatte, das Leben mit einem Helden nicht sehr ergiebig gewesen war. Erst mit über fünfzig, in ihrer zweiten Ehe, fand sie die Erfüllung als Frau. Ihr neuer Mann war finanziell gut gestellt, und sie musste sich nicht mehr dauernd um alles kümmern. Den ganzen Tag verbrachte sie damit, vor der Haustür mit den Nachbarinnen zu schwatzen und ihre abendlichen Bettgeschichten in den leuchtendsten Farben auszumalen. Nur leider übertrieb sie dabei – vielleicht weil sie ein Spätzünder war. Während ihre Finger manchmal einmal, manchmal auch keinmal hätten zeigen müssen, zeigten sie jeden Morgen drei. Aber ihrer Laune tat das keinen Abbruch. Als ihr zweiter Mann Sehnsucht nach seiner ersten Frau, seinen Kindern, seinen Enkeln, seinem Haus und seinen Feldern bekam und in sein Dorf zurückfuhr (»Höchstens zwei Wochen«, hatte er noch gesagt), wurde Dudu Bacı schnell wieder die Alte: ein aus dem Wasser gezogenes Huhn. Der Mann hatte ihr jede Menge Geld hinterlassen, und die Säcke mit Mehl, Bulgur, Linsen, Bohnen, Kichererbsen und geschältem Weizen, die er auf dem Ochsenkarren hergebracht hatte, reichten Dudu Bacı mindestens zwei Jahre: Es fehlte ihr an nichts. Dennoch schmollte sie, während die Frauen zusammensaßen, und brachte die Zähne nicht auseinander. Seit der Abfahrt ihres Ehemanns war noch nicht ein Monat vergangen, da hatte sie schon einen neuen Mann im Haus. Der Neue war zwar nicht wie der vorherige mit einem Karren voller Getreide gekommen, aber dafür war er kräftiger und jünger als der andere.
Ganz offensichtlich lächelte ihr entweder das Glück, oder es hatte sich herumgesprochen, jedenfalls bekam Dudu Bacı auch mit dem dritten Ehemann nicht genug. Nachdem sie vielleicht einen Monat mit ihm zusammengelebt hatte, öffnete sie ihre Tür einem anderen. Auf diese Weise begannen in Halil Efes ausgefallener Festung die Ehemänner Fangen zu spielen. Keine der Ehen dauerte lange: Entweder wurden die Männer ihrer überdrüssig und gingen von selbst, oder Dudu Bacı fand sie unzulänglich und schickte sie weg. Dennoch blieb sie nie lange allein. Und auch wir waren auf diese Weise beschäftigt: Jede Nacht hielten wir unter ihrem Fenster Wache, ohne uns noch um die Reihenfolge zu scheren. Wir verglichen das, was wir unter dem Fenster hörten, mit dem, was wir aus ihrem Mund vernahmen, und lachten uns schief über Memedalis endlosen Kommentare dazu. Es war auch wirklich zu komisch! Allerdings gab es auch Phasen, in denen die Lächerlichkeit von Dudu Bacıs Nächten eine unsagbar bittere Einfärbung bekam. So hatten wir zum Beispiel ihre erste Nacht mit Ömer, ihrem vorletzten Ehemann, ganz genau verfolgt. Ömer war, anders als die zahlreichen übrigen Ehemänner von Dudu Bacı, kein Dörfler, sondern ein Städter und hatte sich außerdem einen Ruf als Schürzenjäger erworben. Dieser Ruf hatte ihn von der frühesten Jugend an bis in die jüngste Zeit begleitet, aber zufällig an jenem Abend hatte ihn die Kraft aus unerfindlichen Gründen schon nach der ersten Minute verlassen. Und als Dudu Bacı, die so tat, als hätte sie vergessen, dass schon beim ersten Mal nichts dabei herausgekommen war, ihn drängte: »Mein lieber Mann, Gott gesteht jedem drei zu«, antwortete Ömer zwar sogleich: »Ist gut, ist gut«, jedoch mochte er die von Gott zugestandenen Male in seiner Jugend im Übermaß genutzt haben, und außerdem war er zu müde, um Gottes und seiner Kinder Rechte zu wahren, und so keuchte er nur heftig und schrumpfte unaufhaltsam im gleichen Maße wie sein über Jahre erworbener Ruf. Dass er heftig schwitzte, nahmen wir nicht nur mit dem Kopf wahr, sondern auch mit unserem Körper: Wir schwitzten tatsächlich mit ihm. Vergessen hatten wir, dass wir der ersten gemeinsamen Nacht zweier sich mit großen Worten gegenseitig übertrumpfenden bekannten Persönlichkeiten beiwohnten, und statt uns zu amüsieren, waren wir verärgert. Und es war nicht nur Ärger, wir durchlebten eine Krise: Ömers Krise. Ömer fluchte ununterbrochen. Aber sowohl seine Flüche als auch er selbst drehten sich auf der Stelle wie eine gesprungene Platte, im wahrsten Sinne des Wortes. Und obwohl Dudu Bacı ihn mit ihrer uns wohl bekannten Nachtstimme anflehte: »Komm, auf, mein Liebster, auf!«, obwohl sie mit ihm schäkerte und ihn mit Worten wie: »Ömer, mein Mann, wo ist denn deine Manneskraft?« aufzustacheln versuchte – es blieb erfolglos.
Erfolg war zwar keiner zu vermelden, aber das hinderte Dudu Bacı durchaus nicht daran, am nächsten Morgen wie immer den Mund sehr voll zu nehmen. Von ihrer zum Himmel gerichteten Hand zeigte sie den Nachbarinnen diesmal gleich alle fünf Finger auf einmal. »Dieses Weib ist tollwütig«, knurrte Minever Bacı, »die denkt immer nur an das eine, und das in dem Alter! Ich würde in dem Alter nicht mal İsmet Pascha heiraten!«, und schloss die Tür hinter sich. Kel Hacıs junge Frau stand auf, tat ein paar Schritte auf sie zu und sagte: »Lüge! So was hats bei mir nicht mal im ersten Jahr gegeben.« Aber unbeirrt antwortete Dudu Bacı: »Was heißt hier Lüge?« und stemmte dabei die Hände in die Hüften, wie um ihr eine Lektion zu erteilen. »Willst du meinen Mann Ömer etwa mit deinem Rotzlöffel vergleichen?« Dann setzte sie sich zu den Frauen, beugte sich zu einer neu ins Dorf gekommenen jungen Frau und sagte ihr mit so lauter Stimme, dass alle es hören konnten, ins Ohr: »Ich habe eine ganz schlechte Angewohnheit. Ich hatte gerade mal zwei Wochen keinen Mann, und schon bin ich wieder zur Jungfrau geworden.« Wir saßen in der Nähe am Fuß einer Mauer und hörten alles mit an, und einige von uns brachen in Gelächter aus. Dudu Baci schaute uns empört an: »Was gibt es da zu lachen, ihr Hunde!«, sagte sie unverfroren. »Keiner von euch ist auch nur den Fingernagel wert, den mein Ömer sich abschneidet und wegwirft!«
Danach zeigten Dudu Bacıs Finger, wenn sie sich morgens zu den Frauen gesellte, nie weniger als drei, dennoch dauerte ihr angebliches Glück mit Ömer nicht länger als zehn Tage. Nach Ömers wer weiß wievieltem erfolglosem Versuch hatte sich zwischen den beiden ein Streit entsponnen. Dudu Bacı sagte, dass es so nicht weitergehen könne, und Ömer entgegnete, dass es reiner Wahnsinn sei, in diesem Alter jeden gottgegebenen Abend die Schöpfung aufs Spiel zu setzen, dass es vielmehr notwendig sei, es sich im Leben gut gehen zu lassen, und dass man also außer ans Essen, Trinken und Schlafen weiter an nichts denken solle. Darauf antwortete Dudu Bacı sehr hart, dass sie nicht zu der Sorte Frauen gehöre, die er kenne, und auch nie so eine sein werde, und wenn er bloß sanft und selig schlafen wolle, dann solle er Sack und Pack nehmen und zum Schlafen seinen Hintern zudrehen, wem und wo auch immer er wolle. Ömer hatte offenbar nur auf diese Gelegenheit gewartet, nicht selber als Spielverderber dazustehen. Als er im schwachen Licht der Petroleumlampe seine Habseligkeiten zusammenpackte und das Haus verließ, war keine Viertelstunde seit dem Streit vergangen.
In einer Seitenstraße traten wir ihm in den Weg.
»Hallo, Ömer, wohin gehts denn so?«, fragte Memedali.
»Weiß ich auch nicht«, antwortete Ömer. »Sie hat mich rausgeschmissen, das gottlose Weib. Ich weiß nicht, wohin ich soll. Mein Haus habe ich letzte Woche vermietet.«
»Warum hat sie dich denn rausgeschmissen, Ömer?«, fragten wir. »Glaubt sie, sie findet einen Besseren als dich?«
»Was weiß ich?«, sagte Ömer. »Das ist keine Frau, sondern ein Ungeheuer. Eine richtige Schlampe.«
Nachdem wir uns getrennt hatten, lief er ziellos durch die Gegend und machte sich schließlich langsam auf den Weg zum Friedhof. Wir blieben verwundert zurück. Ob er nun sterben wollte oder ob er seine tote Frau vermisste, die niemals ein Wort über seine Abenteuer verloren hatte – jedenfalls verbrachte er jene Nacht im Mondschein auf dem Grab seiner Frau. Wir konnten zwar nicht zu ihm gehen, aber wir hatten nicht den geringsten Zweifel, dass er sofort einschlafen würde, sobald er den Kopf auf sein Bündel gelegt hatte. Schließlich wussten wir sehr wohl, wie sehr er sich nach einer solch ruhigen Nacht gesehnt hatte.
Danach blieb es uns überlassen herauszufinden, wer Dudu Bacıs neuer Ehemann sein und wann er zu ihr nach Hause kommen würde. Aber genau nach diesem Ereignis begann Dudu Bacı uns zu übergehen.
Bis zu jenem Tage hatten wir an jeder ihrer Hochzeiten seit dem Tod des ersten Ehemanns aus allernächster Nähe teilgenommen. Dieses Mal wurde daraus nichts. Während wir uns noch wunderten: »Es ist schon mehr als ein Woche her, seit Dudu Bacı Ömer rausgeworfen hat, wo bloß der Neue bleibt?«, befiel uns eines Abends beim Anblick eines Mannes, der vor ihrer Tür seinen Hintern dem Fluss zukehrte und sich erleichterte, sofort ein böser Verdacht. Als der Mann sah, dass wir näher kamen, stand er eilig auf, ließ seine Tätigkeit unvollendet und schlüpfte, die Pluderhosen mit beiden Händen festhaltend, durch Dudu Bacıs Tür.
»Da ist irgendwas im Busch«, sagte Memedali.
Ganz offensichtlich wollte Dudu Bacı uns ihren neuen Mann vorenthalten. Aber wir konnten es an Listigkeit durchaus mit ihr aufnehmen. Wir entfernten uns, als ob wir die Existenz des Mannes gar nicht wahrgenommen hätten. Eine halbe Stunde später versammelten wir uns jedoch noch lautloser als früher unter ihrem Fenster. Und dort mussten wir bereits die erste Niederlage einstecken: Wir waren zu spät gekommen. Es schien, als habe alles schon längst begonnen, und darüber hinaus lief es geölt wie eine Maschine. Dass Dudu Bacı bester Laune war, konnten wir dem Liebesgestammel deutlich entnehmen, das ihr über die Lippen kam. Und als ob sie beweisen wollte, dass sie längst nicht mehr die Dudu Bacı war, die mit dem Streichholz in der Hand ihren mit dem Ochsenkarren gekommenen Dörfler erwartete, hörten wir sie auf einmal sagen: »Warte mal, mein Liebster, mach mal das Licht an, damit wir uns auch in Ruhe betrachten können.« Nachdem die Lampe eine Weile gebrannt hatte, und nachdem Erregung und Gleichmäßigkeit des Geschehens sich fortsetzten, kamen wir auf die Idee, dass auch wir von dem Licht profitieren könnten, und so richteten wir uns der Reihe nach auf, reckten vorsichtig den Hals und beobachteten die Liebenden. Nur leider war außer dem riesigen nackten Rumpf des Mannes nichts zu sehen. Wenn Dudu Bacıs verzückte Geräusche nicht gewesen wären, hätte man denken können, dass der Mann sich ganz alleine sinnlos und rhythmisch bewegte. Und weil Memedali genau das herausfinden wollte, wurden wir entdeckt. Er hatte nämlich den Stock in seiner Hand durchs Fenster gesteckt und – zack! – die nackten Hüften des Mannes damit berührt.
Hätten wir geahnt, was er vorhatte, hätten wir ihn sicher daran gehindert, aber er beging diesen Unfug völlig unangekündigt. Kaum hatte Memedalis Stock auf die Hüften geklopft, schreckte der Mann sofort hoch. Im Fenster war ein erstauntes und erschrockenes Gesicht erschienen, das uns erschauern ließ. Hätte sich Memedali wenigstens in diesem Moment zusammengerissen, hätten wir vielleicht die Stimme des Mannes gehört. Aber vielleicht fürchtete er, etwas zu hören zu bekommen, was er nicht hinnehmen konnte – jedenfalls sagte er mit sehr kindlicher und gleichzeitig natürlicher Stimme zu dem Mann: »Warum tust du das mit Dudu Bacı? Das ist doch ungehörig. Schämst du dich nicht?« Der ängstliche Blick des Mannes gefror in diesem Moment. Mindestens zwei, drei Minuten lang musterte er uns. Wenn Dudu Bacı nicht eingefallen wäre, die Lampe zu löschen, hätte es vielleicht noch länger gedauert, bis er wieder zu sich gekommen wäre. Aber nachdem das Licht aus war, zog er sich sofort vom Fenster zurück, und bald darauf entnahmen wir den Geräuschen, dass sie sich damit abmühten, das Bett an eine andere Stelle zu schieben. Auf unsere Anwesenheit achteten sie nicht weiter. Wieso auch? Das Nest, das Halil Efe ihnen gebaut hatte, war dergestalt, dass sie sich nur ein paar Schritte vom Fenster zu entfernen brauchten, und man konnte vierzig Menschen auf einmal die Kehle durchschneiden, ohne dass irgendjemand auch nur das Geringste gehört hätte.
Auf diese Weise gingen die Abende unter dem Fenster zu Ende.
In jener Zeit wurden in Ötegeçe keine Hochzeiten von alten Leuten gefeiert. Und den reiferen Paaren zu lauschen, war, solange Dudu Bacı nicht dazugehörte, für uns völlig langweilig: Nach den ersten Nächten war außer sich duellierenden Schnarchgeräuschen nichts mehr zu vernehmen. Und was die Möglichkeit anging, Dudu Bacı und ihrem neuen Mann zuzuhören – das konnte man vergessen! Der Mann hatte Gitter am Fenster angebracht und hinter den Gittern noch einen hölzernen Fensterladen. Das Bett stand vermutlich auch irgendwo weit weg vom Fenster. Jetzt mussten wir uns mit dem begnügen, was Dudu Bacı erzählte. Aber auch die hatte sich mittlerweile sehr verändert. Sie gesellte sich kaum noch zu den Nachbarinnen, und wenn sie mal auf ein paar Minuten vorbeischaute, dann mochte sie es gar nicht, wenn man auf ihr ehemaliges Lieblingsthema kam. »Gibt es sonst nichts zu bereden?«, fragte sie dann schnippisch. Dauernd war sie müde. Wir konnten nicht wissen, um wie viel Uhr sie schlafen ging. Aber es gab keinen Zweifel, dass sie erst sehr spät einschlief: Bevor der Muezzin nicht zum Mittagsgebet rief, öffnete sich ihre Tür nicht.
Um den Grund für all diese Veränderungen wenigstens zu einem gewissen Grad zu verstehen, hatten wir uns überlegt, den Tagesablauf des Mannes ein wenig zu beobachten. Doch der Mann verließ das Haus nur einmal am Tag, und nach weniger als einer halben Stunde kehrte er wieder heim. Er trug einen Mantel, der weder zur Jahreszeit noch zu seiner Körpergröße passte, und auf dem Kopf ein seltsames Käppi, ein Mittelding zwischen einer Kappe und einer Baskenmütze, und damit ging er die zweihundert Meter vom Haus bis zum Abort der nahe gelegenen Moschee, dort blieb er eine Weile, verließ ihn dann mit erleichtertem Gesicht und machte sich mit schweren Schritten auf den Heimweg. Noch nie hat jemand von uns gesehen, dass er irgendwo anders hingegangen wäre.
Und noch etwas war anders geworden: Im Gegensatz zu ihren alten, unveränderlichen Gewohnheiten kamen etwa eine Woche oder zehn Tage nach dem Einzug von Dudu Bacıs neuem Ehemann plötzlich eine ganze Reihe Männer, Frauen und Kinder in ihr Haus. Alle waren sie Dörfler, unbekannte Gesichter. Der eine brachte ein Kupfergefäß mit Butter mit, der nächste einen Hahn, wieder einer ein Zicklein, einen Korb mit Eiern oder ein Säckchen Bulgur. Wie Dudu Bacı später berichtete, erhielt niemand die Erlaubnis, hinter der Türschwelle mehr als fünf Fußbreit ins Haus hineinzugehen. Aber manchmal blieben sie ein, zwei Stunden drinnen. Wenn diese Leute ins Haus gingen, trat Dudu Bacı vor die Tür, setzte sich an die Stelle, an der in früheren Zeiten Halil Efe Wache gehalten hatte, und wenn man sie fragte, was denn drinnen so vor sich ginge, schimpfte sie: »Was geht euch das an, ihr Spitzbuben!« Wir nahmen uns vor, die Leute, wenn sie wieder aus dem Haus herauskamen, einer Befragung zu unterziehen. Aber die Antworten, die wir erhielten, waren sehr knapp: Der eine sagte, er habe sich gegen die Migräne ein Amulett machen lassen, ein anderer ließ die Malaria seines Sohnes besprechen, ein Dritter ließ seine unfruchtbare Frau anhauchen, und noch ein anderer hatte für seine Toten den Koran lesen lassen.
Aber auch das war undurchsichtig: Hätte jemand, der gebildet genug war, um den Koran vorlesen zu können, nicht wenigstens zum Freitagsgebet in die Moschee gehen müssen? Das Interesse von Dudu Bacıs neuem Mann an der Moschee beschränkte sich jedoch auf die Benutzung des Aborts. Auch konnten wir uns nicht vorstellen, dass dieser seltsame Mensch wie unser guter Ömer die ganze Nacht friedlich schlief. Während Dudu Bacı jedoch selbst in ihren bisherigen Ehen jeden Morgen vor ihrer Tür einen riesigen Bottich Wasser ausgeschüttet hatte, um damit allen zu zeigen, dass sie die rituelle Waschung nach dem Geschlechtsverkehr vorgenommen hatte, blieb ihre Schwelle nun immer trocken. Auch über die magische Wirkung des Atemhauchs ihres Gatten wussten wir rein gar nichts. Die Besucher waren Fremde, außerdem kam jeder immer nur einmal. Schließlich waren wir derart neugierig geworden, dass wir wieder einmal auf Memedali hörten. Als der Mann vom Abort kam, traten wir ihm mit einem Dutzend Freunden in den Weg. Da wir jedoch nur vereinbart hatten, dass wir ihm den Weg versperren und ihm, falls nötig, ein paar Ohrfeigen verpassen würden, fragten wir den Kerl, obwohl es doch viel bessere Fragen gegeben hätte, nur nach seinem Namen, bildeten danach einen Kreis um ihn und begannen zu warten. Der Mann ließ sich jedoch noch nicht einmal herab, uns seinen Namen zu sagen, von weiteren Erläuterungen ganz zu schweigen. Es kam uns plötzlich so vor, als ob jedes einzelne Haar seines roten Bartes, der das ganze Gesicht bedeckte, sich wie ein Stachel aufgerichtet hätte. Er runzelte die Augenbrauen, holte tief Luft und dann, für uns völlig unerwartet, trieb er uns alle mit einem Stoß auseinander und ging danach mit seinem üblichen schweren, wiegenden Gang, die Augen nach vorne gerichtet, nach Hause. Das Einzige, was wir auf diese Weise herausgefunden hatten, war, dass der Mann eine unglaubliche Kraft besaß.
»Der Kerl hat einen Arm aus Eisen«, sagte Memedali.
Seit diesem Ereignis war noch keine Woche vergangen, als in Ötegeçe ein seltsames Gerücht in Umlauf kam. Aber niemand wusste, wer es in die Welt gesetzt hatte. »Dudu Bacıs Ehemann ist ein Spion«, hieß es. Das war alles. An einem Herbsttag wurde in den Gassen von morgens bis abends allein über dieses Thema gesprochen. Als der Mann dann wieder zum Abort ging, rief ihm Memedali »Spion! Spion!« hinterher. Aber der Mann tat, als ob es ihn nichts anginge, er war weitergegangen, als ob er nichts gehört oder als ob der Ruf jemand anders gegolten hätte. Als die Frauen das sahen, warfen sie ein: »Was heißt hier Spion, du lieber Himmel! Ist doch ein Mann wie jeder andere, außerdem ist der Arme ein Mann Gottes. Wäre er sonst in der Lage gewesen, Dudu Bacı zum Schweigen zu bringen?« Um die Wahrheit zu sagen, maßen auch wir dem Gerede keine sonderliche Bedeutung bei: Was sollte schon ein Spion in einer so abgelegenen und öden Kleinstadt? Außerdem war es ja nicht so, dass der Mann viel durch die Gegend lief. Wie auch immer: Wer am nächsten Tag darauf wartete, dass der Mann seinen täglichen Gang antrat, um zu sehen, welchen Ausdruck sein Gesicht hatte, der wartete umsonst: Dudu Bacıs Mann wurde nie wieder gesehen. Offenbar hatte er sich in der Dunkelheit der Nacht davongemacht. Eine Weile danach wurde erzählt, man habe ihn mit einer riesigen, bis oben hin gefüllten Lasttasche auf dem Rücken in wer weiß welches Dorf gehen sehen. Viel später behaupteten Leute, er sei in Sıvas gefasst worden mit einem Koffer voller Landkarten, Skizzen und einem winzigen Funkgerät russischer Machart, und man habe ihn nach Ankara gebracht, um ihn zu hängen. Aber es gab Leute in der Kleinstadt, die die Zeitung lasen und die hatten eine solche Nachricht nicht gesehen.
Ob man wollte oder nicht – man musste sich wieder an Dudu Bacı halten. Und das war ein hoffnungsloses Unterfangen: Da sie eine ganze Reihe Bewerber ohne das geringste Zögern abwies, war sie offensichtlich entschlossen, diesem Mann eine Verbundenheit zu bezeugen, die sie nicht einmal ihrem ersten Mann, mit dem sie so viele Jahre zusammengelebt hatte, bezeugt hatte. Und wenn dieser Mann Geheimnisse hatte, so war sie fraglos ebenfalls entschlossen, diese nicht an die Öffentlichkeit zu tragen. Als ihre Trauer etwas nachließ und sie sich wieder unter die Frauen mischte, sagte sie an einem der ersten Tage: »Während ich schlief, ist er auf und davon, aber ich bin ihm nicht böse.« Danach sprach sie nicht mehr darüber. Auch später änderte sie ihre Haltung nicht. Wir versuchten trotzdem, in sie zu dringen: »Sag die Wahrheit, Dudu Bacı, meinst du, er war ein Spion oder nicht?«
»Was weiß denn ich. Woher soll ich wissen, ob er ein Spion war? Er war ein gottesfürchtiger Mann«, sagte sie dann.
»Was hat er denn den ganzen Tag lang im Haus gemacht?«
»Er las Bücher und schrieb.«
Wir dachten, dass der Beruf des Spions vor allem darin bestand, Skizzen zu zeichnen.
»Hat er auch Bilder gemacht?«, fragten wir.
»Er konnte alles«, sagte sie.
»Aber hat er Bilder gemalt oder nicht, Dudu Bacı?«
»Ich habe dir doch schon gesagt: Er war ein gottesfürchtiger Mann. Alles gelang ihm.«
Wie sehr wir sie auch mit Fragen bedrängten, es brachte nichts. Dudu Bacı redete immer über Gott und die Welt. Sie sagte nicht ein Wort, das nicht zweideutig gewesen wäre.
Eines Tages sammelte Memedali von jedem von uns je eine Lira ein und baute sich vor Dudu Bacı auf. »Dudu Bacı, wie viel Geld sind zwanzig Lira?«, fragte er.
»Viel Geld.«
»Und wenn ich sie dir gebe?«
»Dann bete ich für dich.«
»Bete für dich selbst. Wirst du mir ehrlich antworten?«
»Wieso nicht?«
»Wenn du lügst, soll dein Reislöffel zerbrechen.«
»Das soll er!«
»Sonst willst du in Sünde sterben?«
»Sonst will ich in Sünde sterben.«
Memedali drückte Dudu Bacı die zwanzig Lira in die Hand und stellte dann hoffnungsvoll die Frage, auf die wir alles setzten: »Dudu Bacı, wenn du Gott liebst, dann sag die Wahrheit: War er beschnitten oder nicht?«
Dudu Bacı ließ sich nicht aus der Ruhe bringen: »Wer?«, fragte sie.
»Wer schon, Dudu Bacı, dein Mann natürlich.«
»Welcher Mann?«
»Welcher Mann schon! Der letzte. Leg uns nicht schon wieder rein!«
»Was fragst du denn für komische Sachen, verrückter Memet«, antwortete Dudu Bacı und grinste diabolisch. »Was macht das denn für einen Unterschied, ob er beschnitten ist oder nicht?«
»Sag doch so was nicht, Dudu Bacı.«
Aber Dudu Bacı blieb so reglos und gefühllos wie die Mauer, an der sie lehnte. »Das ist doch alles gleich, verrückter Memet«, sagte sie.
»Das heißt, er war nicht beschnitten?«
»Das habe ich doch nicht gesagt, ich habe gesagt, das ist alles gleich«, antwortete Dudu Bacı und kehrte in ihr Haus zurück.
Und wir schauten wieder mal in die Röhre.
Wir waren so verzweifelt, dass wir wieder zum Ausgangspunkt unserer Nachforschungen zurückkehrten: Wir versuchten, den Namen des Mannes zu erfahren. Selbst den hatte Dudu Bacı nicht verraten. Später einmal, wenn sie älter geworden und die Sache in Vergessenheit geraten wäre, dann hätten wir ihr vielleicht ein paar Worte aus der Nase ziehen können. Aber dazu war keine Gelegenheit mehr: Einige Monate nach dem Weggang dieses Mannes, an einem verschneiten Wintertag, brach sie auf dem Weg zurück vom Wäschewaschen vor ihrer verschlossenen Tür zusammen. Wir brachten sie in einem von Ömer gekauften Leichentuch nach Gariplik, um sie neben Halil Efe zu begraben. Wir waren alle traurig, aber ich will nicht verhehlen, dass uns, während wir ihren Sarg auf den Schultern trugen, vor allem die Tatsache grämte, dass sie das Geheimnis mit sich ins Grab nahm.
»Sie ist nicht gestorben, sie ist abgehauen«, sagte Memedali. »Wie ihr Mann.«
Șiir Erkök Yılmaz
Prof. Dr. Glaubheld Ulu, der ohne Lehrstuhl geblieben war, pflegte sich abends alleine zu betrinken. Frau Ulu war stolz darauf, nicht zu rauchen und nicht zu trinken, war jedoch verständnisvoll genug, sich nicht in die abendlichen Gewohnheiten ihres Mannes einzumischen. Manchmal jedoch versetzte es ihr einen Stich. Mein armer Mann, sagte sie sich, er kann den Kummer wegen seines Lehrstuhls nur auf diese Weise ertragen.
Wenn sie sich doch manchmal über ihn ärgerte, hielt sie ihm sanft vor: »Kein Wunder, dass sie dich an einem Lehrstuhl nicht mal schnuppern lassen, wenn du dich zum Gespött der Studenten machst …«
Ihrer Meinung nach begann alles damit, dass die Studenten ihm den Spitznamen Glaubheld von Braun gegeben hatten. Sie war davon überzeugt, dass er diesen Namen seinem Mangel an Charakterstärke zu verdanken hatte. Ja, unter uns gesagt, ließ ihr Mann bisweilen jegliche Autorität vermissen.
Auch gegenüber ihrer gemeinsamen Tochter konnte er sich nicht durchsetzen. Wenn Frau Ulu nicht eingriffe, würde ihn das Kind – Gott behüte – auch noch zum Narren halten. Nach außen hin jedoch versuchte Frau Ulu die Ehre ihres Mannes zu wahren. Bei einem Pokerabend mit anderen Professoren, die alle einen Lehrstuhl hatten, und deren Ehefrauen reckte sie ihren weißen Hals und brüstete sich, ihren mit drei Stückchen Zucker gesüßten Tee schlürfend: »Sie müssen wissen, mein Mann und ich sind wahrlich nicht ehrgeizig. Zum Glück bedeuten uns Titel nichts. Wo doch ein jeder weiß, wie man zu einem Titel kommt.« Dabei richtete sie diese Worte besonders an Frau Dozentin Dr. Mine Nimmrach. Frau Nimmrach, die Dozentin und Doktorin sowie Abteilungsleiterin ihres Fachs war, lief rot an wie ein Fez. Ihre Halsadern traten hervor. Doch sie schluckte ihre Wut hinunter und widmete sich weiter dem Spiel. Schließlich wollte sie sich nicht auf das Niveau dieser primitiven Frau herablassen.
Tatsächlich erhielt Herr Glaubheld Ulu den Spitznamen von Braun in jener Zeit, als Frau Mine in sein Leben trat. Und vielleicht öffneten die Umstände, unter denen er diesen Namen erhielt, Mine Tür und Tor für ihren Eintritt in Glaubhelds Leben.
Damals war Glaubheld ein frisch gebackener Dozent und gerade aus Amerika zurückgekehrt. Dort hatte er keinen der Filme mit Charles Bronson verpasst. Eines Tages referierte er über den berühmten Physiker von Braun. Nebenbei erzählte er die Anekdote, dass von Braun, ebenso wie Bronson, nicht gerade eine Schönheit war, aber mit seinem unvergleichlichen Charme die Herzen der Frauen eroberte. Wie es der Zufall wollte, gab er einige Zeit später im selben Semester derselben Klasse preis, dass ihn seine Kollegen in Amerika aufgrund seiner Leidenschaft für die Filme mit diesem Schauspieler Charles Bronson nannten. Die Studenten – nicht untätig – kombinierten die beiden Namen, und jeder an der Universität – von der Putzfrau bis zum Dekan – nannte ihn von da an Glaubheld von Braun.
Die jetzige Frau Dozentin Dr. Mine Nimmrach war damals unter ihrem Mädchennamen Mine Wieselflink die neue Assistentin an der Fakultät. Mine Wieselflink war weiß Gott eine überaus reizende Person. Sie hatte pechschwarzes, schulterlanges Haar, eine Stupsnase, volle Lippen, gezupfte Augenbrauen und falsche Wimpern. Mit ihren Maßen von 85-60-85 glich sie einer makellosen Sanduhr. Sie hatte auf ihre Mutter gehört: »Ein guter Ehemann findet sich nur in einem guten Umfeld« und war zur Universität gegangen. Bald aber fand sie: »Meine Jugend ist mir für Bücher zu schade« und machte sich an die Erforschung ihres Umfeldes. Das arme Mädchen fand sich alsbald in den Niederungen der Professorenschaft wieder. Derjenige, der ihr in dieser Umgebung am meisten Aufmerksamkeit schenkte, war der gut aussehende Dozent Dr. Glaubheld Ulu.
Glaubheld Ulu war gebildet. Er hatte moderne Ansichten über die Beziehung zwischen Mann und Frau. Die Institution der Ehe sei völlig veraltet, sogar wider die Natur des Menschen, und sein Eheleben ein einziges Unglück. In den Augen des Herrn von Braun gehörte Mine Wieselflink zu den emanzipierten, ökonomisch unabhängigen Frauen, die sich ihren Partner fürs Bett selbst aussuchen konnten.
»Glaubheld Bey, könnten Sie mir bitte helfen. Ich komme nicht weiter.«
»Aber selbstverständlich, Mine Hanım. Setzen Sie sich doch. Zigarette gefällig?«
»Glaubheld Bey, ich kann diese Formel nicht lösen. Warum steht hier ein Plus und kein Minus?«
»Lassen Sie mal sehen, Mine Hanım. Schließen Sie doch bitte die Tür. Was kann ich Ihnen zu trinken anbieten?«
So erzielte Mine Wieselflink durch die effiziente Zusammenarbeit mit Herrn Dr. von Braun erhebliche Fortschritte in ihren Laborarbeiten. Er bereitete die Aufgaben vor, sie tippte sie für ihn ab. Die Seminare überarbeiteten sie gemeinsam. Sie bestand die Prüfungen auf Anhieb. Mit der Zeit ignorierte sie so die niederen Wesen wie etwa die Assistenten um sich herum und sagte: »Der Mann, den ich heirate, muss mindestens Dozent sein.«
Und Glaubheld von Braun fing an, seinen jungen Assistenten den Ratschlag zu erteilen, auf keinen Fall zu früh zu heiraten. Er habe diesen schwerwiegenden Fehler begangen. Wenn er heute die Wahl hätte, würde er für immer ledig bleiben. Aber er lamentierte nicht nur über seine Ehe, sondern begann auch noch schlecht über seine Frau zu reden: »Es war die Unerfahrenheit, Freunde, die Unerfahrenheit der Jugend. Ich muss wohl blind gewesen sein, dass ich dieses Weib genommen habe. Es besteht nicht die geringste Chance, dass wir uns auf geistiger Ebene treffen. Eine Frau sollte ihrem Mann geistig nicht nachstehen. Ich sage NATO, und sie versteht Göksel Arsoy. Meine Güte, ich war jung und unerfahren und habe nicht ihren IQ gemessen, aber wie hatte ich nur ihre Quadratlatschen übersehen können?«