Liebe und Tod in Leipzig - Harry Gmür - E-Book

Liebe und Tod in Leipzig E-Book

Harry Gmür

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Beschreibung

Ein wiederentdeckter Jugendroman aus der Zeit von Tucholsky und Brecht Der Schweizer Professorensohn und Gymnasiast Rudolf Steinberg ist gerade 19 Jahre alt, als er sich Hals über Kopf in die schöne Agnes Klinger verliebt. Doch das Glück des jungen Paares wird schnell getrübt, denn Rudolfs lang geplanter Umzug in seinen zukünftigen Studienort Leipzig steht kurz bevor. Und auch Agnes Familie lehnt den jungen Mann an der Seite ihrer Tochter ab. Trotz der Distanz versichern sie sich in innigen Briefen ihrer gegenseitigen Hingabe und Treue und planen ihre gemeinsame Zukunft. Als sich Agnes Eltern endgültig zwischen das junge Paar stellen, verlassen Agnes und Rudolf heimlich ihre Heimatstadt. Unverheiratet und ohne klare Perspektiven ziehen sie gemeinsam nach Leipzig, wo sich alles zum Guten zu fügen scheint. Doch ihr hart erkämpftes Glück gerät erneut ins Wanken, als die jüdische Schauspielerin Esther Löwenthal in ihrem Leben auftaucht. Bei der Premiere von Rudolfs erstem Bühnenstück entfacht sich sogar ein tödliches Handgemenge um die schöne Esther, bei dem Rudolf nicht unbeteiligt ist. Harry Gmürs Jugendroman im Stil von Goethes Werther ist im wahrsten Sinne ein Debüt: Zu Lebzeiten des Autors unveröffentlicht, ist sein Werk eine Perle der romantisch dramatischen Literatur, die über 80 Jahre nach ihrem Entstehen nun erstmals veröffentlicht wird.

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HARRY GMÜR

Liebe und Todin Leipzig

ROMAN

Dieses Buch wurde herausgegebenvon Mario Gmür, dem Sohn von Harry Gmür.

1. eBook-Ausgabe 2020

© 2016 Europa Verlag GmbH & Co. KG,

Berlin · München · Zürich · Wien

Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur,

Zürich, unter Verwendung zweier Fotos von

© Mark Owen / Trevillion Images und © akg-images

Layout & Satz: BuchHaus Robert Gigler, München

Redaktion: Patrick Schär, Carsten Schmidt

Konvertierung: Bookwire

ePub-ISBN: 978-3-95890-390-6

Das eBook einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Der Nutzer verpflichtet sich, die Urheberrechte anzuerkennen und einzuhalten.

Alle Rechte vorbehalten.

www.europa-verlag.com

Inhalt

Vorwort

ERSTER TEIL

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Fünftes Kapitel

Sechstes Kapitel

ZWEITER TEIL

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Fünftes Kapitel

Sechstes Kapitel

Siebtes Kapitel

Epilog

Editorische Notiz

Vorwort

Liebe und Tod in Leipzig ist der zweite postum veröffentlichte Roman des Schweizer Politikers, Publizisten und Schriftstellers Harry Gmür (1908–1979). Nach Am Stammtisch der Rebellen (Europa Verlag Zürich 2015) aus den 1950er-Jahren handelt es sich hier um einen sehr frühen Text: Gmür hat ihn 1929 als 21-jähriger Student verfasst.

Zusammen mit der Gmür-Biographie von Markus Bürgi und Mario König (Chronos Verlag 2009), den zahlreichen politischen Zeitungsartikeln (Vorwärts, ABC) und Reportagen (Weltbühne) sowie den in der zweiten Lebenshälfte veröffentlichten Erzählungen (Die weiße Hündin, Die Azalee) vervollständigt sich mit den Romanen aus dem Nachlass Stück für Stück ein Gesamtbild von Harry Gmürs Schaffen.

Liebe und Tod in Leipzig wirft einen Blick auf die Anfänge: Der adoleszente Autor ist noch auf der Suche nach seinem eigenen schriftstellerischen Ausdruck, seine literarischen Vorbilder sind immer wieder zu erkennen, und er hat noch keine gefestigte politische Einstellung gefunden, respektive ist noch seinem großbürgerlichen, aber liberalen Elternhaus verhaftet. Trotzdem erkennt man schon in dieser frühen Phase Elemente, die später verstärkt wiederkehren: die Auflehnung gegen gesellschaftliche Konventionen etwa – das Scheitern dieser Bemühungen inbegriffen – oder aber eine Faszination für exotische Frauenfiguren und gesellschaftliche Außenseiter. In seinem literarischen Schaffen offenbarte Gmür zudem ein romantisches Gemüt, das man bei ihm in den journalistischen Texten, die von einer nüchternen Sachlichkeit und einer naturalistisch anmutenden Tonalität gekennzeichnet sind, aber auch im täglichen Umgang nicht wahrnahm.

In erster Linie aber spricht die Geschichte selbst für eine postume Veröffentlichung. Einerseits schildert Gmür die zeitlosen Nöte, Irrungen und Wirrungen in der Bewältigung der Adoleszenz, andererseits die gesellschaftlichen Verhältnisse und Konventionen der Zwischenkriegszeit in der Schweiz und in Deutschland, die uns heute nicht mehr vertraut sind.

Mario Gmür, Herausgeber

B., den 10. Mai 1929

Geliebtes Mädchen!

Tausendmal Dank für die schöne Stunde, die letzte, die ich mit Dir verbringen durfte! Was ich empfand, während Du so hold, so bescheiden an meiner Seite gingst, heiter in mein wolkenloses Geplauder einstimmend, welche Schauer der Seligkeit mein Herz durchbebten, als wir aus dem leise flüsternden Buchenhain hinaustraten an den rauschenden Fluss und Du so herrlich, so unsäglich rein und schön dastandest – ich vermöchte es nicht in Worten zu sagen! Glücklich schied ich von Dir; übervoll von froher Liebe sah mich der meinen Heimweg sanft beleuchtende Mond. Ein Gedichtchen floss mir aus der Seele, klein und anspruchslos, aber jauchzend bis in die Höhen, wo die Englein hausen. Dabei hatte ich zwar nicht vergessen, dass ich Dich nun nicht mehr sehen würde während langer Wochen; aber der Gedanke blieb Gedanke, ich fühlte ihn nicht. In solcher Stimmung ging ich zu Bett.

Und heute? Als ich morgens, kaum erwacht, mein Fenster öffnete und mein Blick auf die graue Stadt zu meinen Füßen fiel, die ein feiner, schweigender Regen wie mit einem Gewebe unendlichen Grams beschwerte, da überkam es mich plötzlich, das namenlose Elend. Da wusste ich: Du bist fort, und ich bin nun allein, ganz allein. »Aber«, höre ich Dich einwenden, »du hast doch Deine Freunde. Wenn Du auch nur wenige als Deines Umganges würdig erachtest, so sind diese Dir doch umso treuer und liebenswerter.« Ja, gewiss, ich liebe sie, meine Freunde, und keinen von ihnen würde ich ohne Schmerz entbehren. Aber sieh, es ist nicht einer darunter, dem ich mein ganzes volles Herz zu öffnen vermöchte. Jeder mag einen Teil meines Ichs besitzen, jeder mir auf seine Weise Anregung bieten; doch um mich ganz zu erfassen, sind sie alle, auch Wagner – ich sage ungern zu klein, denn edel sind sie und durchaus keine durchschnittlichen Menschen – aber zu wenig groß. Und: Freundschaft ist Freundschaft, Liebe ist Liebe. Der Freund ist stets ein Wesen außer mir; mein Mädchen – und wohl mir, dass Du es bist! – bildet einen Teil meiner Persönlichkeit, ohne den ich ewig halb, ewig ruhelos bleibe. Von den frühesten Tagen meiner Kindheit an, Du weißt es, ist die Leidenschaft für das fremde Geschlecht meine ständige Begleiterin gewesen. Mein viertes Jahr sah meine erste glühende Liebe. Etliche Male hat sie sich seither wiederholt, doch immer war ich unglücklich dabei; hoffnungslos schmachtete ich in verzehrender Ferne, denn niemals wäre ein Wort des Geständnisses über meine Lippen getreten, ja beinahe feindlich konnte ich dem vergötterten Mädchen begegnen aus lauter Scheu, ich möchte meine Gefühle verraten. Da sah ich Dich, und lawinengleich brauste meine Leidenschaft über alle Schranken hinweg, bis sie versank und Labung fand in Deiner Seele wie des Wanderers ermatteter Leib im stillen, friedlichen Blau des Bergsees. Ja, ich war glücklich in Deiner Nähe. Ich will Dich nicht schelten, ich darf nicht. Die freundliche Neigung, die Dich dem fast abenteuerlichen Gesellen verbindet, konnte Dir nicht Grund sein, Dich der wohlmeinenden Bestimmung Deiner Eltern zu widersetzen. Auch sage ich mir, dass es Dir nur vorteilhaft sein kann, wenn Du die träge Stadt mit der munteren Geschäftigkeit des Pensionslebens vertauschst, und tröste mich etwas damit. Aber gleichwohl habe ich schwer zu tragen.

Für heute soll es genug sein. Morgen und übermorgen unternehme ich einen Ausflug mit Wagner, ich werde also erst am Montag wieder schreiben können. Gute Nacht, mein liebes Mädchen. Ich gehe fast glücklich zu Bett, so wohl tut es mir, mit Dir zu plaudern, wenn es auch nur schriftlich sein kann. Von wem ich träumen werde, brauche ich Dir nicht zu sagen. Ich habe ihn auch nötig, diesen lieblichen Himmelstraum. Nicht zum ersten Mal mache ich die Erfahrung, dass der sinnliche Eindruck eines Wesens, dessen man häufig gedenkt, allmählich verblasst. Die Nacht soll mir Dich wiederbringen, Deine sanften Züge, Deine lächelnden Lippen, das Köpfchen, das so süß sich neigt, das so zart errötet, wenn der feurige Junge sich vergisst in überschwänglichen Beteuerungen der Liebe, und, o Kind!, deine tiefen, blauen Augen! Schlafe wohl!

Dein Rudolf

B., den 13. Mai 1929

Herrliche Agnes!

Endlich, endlich darf ich wieder Dir allein gehören. Während zweier langer Tage habe ich mich ununterbrochen auf diese heimliche Stunde gefreut. Und jetzt ist sie da, jetzt kann ich den Schleier lösen, der mein Herz umfangen hält, kann Dir alles ohne Rückhalt enthüllen, was mein Inneres schmerzt und beseligt. Ich bin eine verschlossene Natur, die sich ungern in die Seele schauen lässt. Aber Du, Du gehörst ja zu mir, so unzertrennlich. Vor Dir muss ich nichts verbergen. Mit Dir verbindet mich ein grenzenloses Vertrauen.

Aber ich wollte erzählen. Unser Ausflug war vom Wetter nicht eben begünstigt. Den ganzen Samstag regnete es, sodass wir in einer Sennhütte liegen blieben, wo mir Wagner viel von seiner unglücklichen Liebe berichtete und ich Muße fand, an Dich zu denken. Heute habe ich dann zum letzten Mal meine Tragödie durchgesehen und sie kurzerhand an das Theater von F. geschickt.

Und jetzt muss ich Dir von Wichtigem sprechen, herzliebes Mädchen. Ich tat es nicht eher, weil ich bis jetzt selbst nicht so eigentlich darum wusste. Aber die letzten Tage hat es mich mehr beschäftigt als irgendetwas, und so darf ich es auch Dir nicht länger verbergen. Ich habe Dir gleich zu Beginn unseres Bündnisses gesagt, dass Du, obwohl meine Liebe so groß und glühend sei, als sie überhaupt ein Mensch zu ertragen vermöge, doch auf ihre Dauer nicht zählen dürfest. Viel zu leicht entzündet sich mein Herz, viel zu gewaltig sind seine Ausbrüche, und eine Pflicht mir aufzubinden, die ich vielleicht nicht erfüllen kann, bin ich nicht leichtsinnig genug – auch heute nicht. Und doch beginne ich oftmals leise mit dem Gedanken zu spielen an eine innigere Verbindung zwischen uns. Kein halbes Jahr dauert es mehr, bis ich fortziehe aus der ausgekosteten Heimat in die mir noch junge Fremde. Und ich sollte Dich lassen? So fern von mir? Tränen wollen sich mir in die Augen drängen, denke ich daran. Ach, Agnes, wenn ich Dich nur mitnehmen könnte! Schon sind es ja zwanzig Monate, dass mein Herz Dir angehört, fester noch als zuvor, seit sich das Glück meiner Liebe verbunden hat. Sollte sich nicht das Band zu einem ewigen gestalten lassen? Ich weiß es nicht; meine Seele sehnt und zweifelt.

Was ich hier ausspreche, ist also kein Wunsch, vielmehr ein höchst ungewisser, schwankender Zustand. Dabei habe ich Dich, Deinen Willen noch nicht in Betracht gezogen. Ich bilde mir durchaus nicht ein, Du wärest so ganz ohne Umschweife mit mir einverstanden, sollte sich das Spiel in mir eines Tages zum Ernst wandeln. Ich zweifle nicht, dass Du mir gut und zugetan bist, doch ob Dir der ungestüme Jüngling oder, bei Deinen achtzehn Jahren, Deine Freiheit lieber ist, das müsste ich erst von Dir erfahren, und dass ich dabei auf Deine bedingungslose Offenheit zählen würde, weißt Du.

Oft überlege ich mir, ob der Verkehr mit mir, so rein und edel ich es meine, Dir nicht gefährlich sei. Du stammst aus kleinbürgerlichen, ich aus geistig arbeitenden Kreisen. Dieser Unterschied wäre an sich wohl gering, denn ganz abgesehen von der sorgfältigen Erziehung, die Du genossest: Was soll bei einem Mädchen eine übertriebene Ausbildung des Verstandes? Unsere Zeit kennt ja diese Krankheit bis zum Überdruss, und glücklich preise ich Dich und mich, dass Du ihr nicht zum Opfer gefallen, dass Du der Natur treu geblieben bist in Deiner stillen, schlichten Schönheit. Ja, Du hast Dir die weiche, fühlende Anmut eines unschuldigen Gemütes bewahrt, bist nicht kalt und wissenschaftlich geworden wie so viele Deiner Genossinnen, und sicherlich ist dies nicht der letzte Grund, warum ich Dich so liebgewonnen habe.

Wenn ich nur nicht so sehr über den menschlichen Durchschnitt, auch über den meines eigenen Standes, hinausgewachsen wäre. Ich kann kein Leben führen wie tausend andere, ich bedarf besonderer, höherer Bedingungen. Frei, wie mein Geist schwebt, muss ich mich bewegen können bei all meinem Tun und Lassen. Ob Du aber diese Freiheit erträgst? Ob überhaupt ein Mädchen, das ich lieben kann, sie ertragen würde? Noch haben sich unsere Schicksale nicht in eins verschmolzen, und doch habe ich Dir schon Deinen Glauben genommen, der Dir zuvor so feste Stütze war. Durfte ich das? Kannst Du leben ohne ihn, nur begleitet von dem Gebäude der Vernunft, das mir freilich das Schönste und Erhabenste bedeutet in seiner bezaubernden Einfachheit? Aber ich tröste mich, sehe ich doch zu schwarz, ganz gewiss. Und wenn ich Dir jemals Schmerzen bereiten sollte, mein Ärmstes – dann wirf Dich an meine Brust mit der vollen vertrauenden Hingabe des Kindes, und ich will Dir Größe einhauchen und herrliche Kraft in Deine schuldlos reine Seele.

Tausend Dinge hätte ich Dir noch zu schreiben, aber sie liefen zuletzt doch alle auf dasselbe hinaus. Auch möchte ich nicht, dass Du allzu lange ohne Nachrichten von mir bleibst. Schreibe mir doch bald, Herzliebes; erzähle mir, was Du machst, wie es Dir gefällt in dem neuen Leben.

Noch eines: Seit Du fort bist, klammere ich mich an einen glücklichen Einfall, der sicherlich nicht unausführlich ist. Könnte ich Dich nicht zuweilen an einem Samstag besuchen? Uns trennen ja keine zwei Stunden Bahnfahrt! Und eine Seligkeit wär es, könnte ich Dich von Zeit zu Zeit ans Herz drücken und alle Trennungsleiden ertränken in einer einzigen, wonnerauschenden Meeresflut! Ich weiß nur nicht, ob Du in Deiner Pension freikommst; gell, Du tust Dein Möglichstes dafür?!

Einziges, Liebstes, Heiligstes, was ich habe! Leb wohl! Und denke nur den zehnten Teil so oft an Deinen Jüngling wie er an Dich!

Dein Rudolf

ERSTER TEIL

Erstes Kapitel

Wortlos ging Rudolf, der am Ende seiner Gymnasialzeit stehende Sohn des Literaturprofessors Steinberg, kurz nach Elfuhrschulschluss neben seinem finsteren Freund Leopold Wagner einher, mitten in der endlosen Kette von Schülern und Schülerinnen, deren eine, ein ungefähr achtzehnjähriges Mädchen von eher kleiner Gestalt, edlen, etwas strengen Zügen und klarem Gesicht, den beiden unmittelbar voranschritt. Die im Zeitalter des geschnittenen Haares geradezu seltsam schweren Zöpfe, die, vorn über die Schultern fallend, Antlitz, Hals und Busen mit sanfter Würde umrahmten, vollendeten den vornehmen Eindruck, den sie erregte und der denn auch Leopold seit mehreren Wochen mit unerbittlicher Macht gefangen hielt, ohne dass er Gelegenheit gefunden hätte, sich ihr zu erklären. Feurige Blicke schossen aus den Augen des wie sein Freund ziemlich hochgewachsenen Liebhabers auf die Alleingängerin, die dann und wann hinter sich sah, gerade als ob sie jemanden erwarten würde. Wirklich wurde sie bald von einem etwa gleichaltrigen Gymnasiasten eingeholt, der sie aufs Höflichste begrüßte und sich in der Folge nicht mehr von ihrer Seite bewegte. Tief biss sich Leopold in die Lippen, seine Faust verkrampfte sich, ein Orkan von Hass, Eifersucht und brennender Begierde brauste über die ohnehin scharf geprägten Züge, und auch Rudolf, wenngleich er lächelte ob der offenbaren Übertreibung im Empfinden des Freundes, war doch im Grunde genommen ernst zu Mute, wusste er doch, wie jener unter seinem Zustand litt und wie sehr dieser neue Zwischenfall seine Qualen steigern musste. Man gelangte an die Straßenkreuzung, wo Leonore Reinhard, so hieß Leopolds Angebetete, nach rechts hin abzuschwenken pflegte, während die Freunde jeweils die entgegengesetzte Richtung einschlugen.

Heute aber, als sich ihr Begleiter auch jetzt nicht von ihr trennen wollte, geschah etwas Unerhörtes. Wie angewurzelt blieb der eifersüchtige Leopold plötzlich stehen; ein kurzer Kampf noch blitzte durch sein Gemüt, dann brachen die letzten Kräfte der Selbstbemeisterung zusammen. Er schleuderte seine Mappe dem verdutzten Rudolf vor die Füße, schnellte in drei katzenartigen Sprüngen dem ahnungslosen Paar nach, krallte seine Hände in die Schultern des Jungen und schrie ihn an: »Hund, ich verbiete dir …!«

Da traf ihn ein zürnender Strahl aus den Augen des Mädchens und ließ ihn im Innersten erbeben. Unwillkürlich lösten sich seine Finger von dem verhassten Leib, und er bedeckte sich das glutrote Gesicht. »Mein Gott, was hab ich getan!«, stammelte er und starrte dann wie vernichtet zur Erde, während das höhnische Lachen der Geliebten ihm das Herz zerschrillte.

»Leopold!«, rief jetzt Rudolf, der kaum begriff, was sein Freund getan hatte, so rasch und unerwartet war alles vor sich gegangen. »Leopold!« Dieser sah auf, schritt langsam zurück, hob seine Mappe aus dem Staub und folgte dem Gefährten, lange sprachlos, doch innerlich ringend mit dem erdrückenden Erlebnis.

»Es ist aus! Alles ist aus!«, kam es endlich von seinen Lippen. »Mir bleibt nichts als das bisschen Mut, ein gründliches Ende zu machen; ist nur noch die Frage, wie. Nun, Pistole hab ich keine, und Gift ist mir unsympathisch …«

»Schwatz nicht solchen Unsinn!«, herrschte ihn Rudolf an. »Alles andere eher als diese elende, verrückte Selbstmörderei!«

»Was verstehst du davon, du bist ja glücklich!« Eine höllische Bitternis bebte im Klang dieser Worte. Dann wurde er etwas weicher: »Wenn man mich morgen nicht finden sollte, so weißt du, warum.«

Es war nicht das erste Mal, dass Leopold derartige Gedanken äußerte, aber nie zuvor hatte er die Möglichkeit des Entsetzlichen in solche Nähe gerückt. Morgen! Rudolf war erschrocken bis ins Mark. Nein, das konnte so nicht weitergehen!

»Leopold«, erwiderte er energisch, »ich verbiete dir, das Geringste in dieser Hinsicht zu unternehmen!«

»Du hast mir nichts zu verbieten!«

»Nur bis morgen Abend; dann bist du frei. Es wäre ja der reine Wahnsinn, sich in einer Sache, bei der es um Leben und Tod geht, zu überstürzen. Was weißt du, ob der vermeintliche Rivale nicht ihr Bruder ist.«

»Sie hat keinen.«

»Oder ein Vetter. Oder irgendein harmloser Freund.«

»Kennst du mich so schlecht? Denkst du, ich gebe des blöden Gecken wegen Glück und Leben und Liebe auf? Ha, der Schuft! Den könnte ich zermalmen mit einem einzigen Schlag meiner Faust, so klein, so verächtlich ist er! Nein, nein, das ist es nicht. Aber wie muss ich ihr erscheinen!«

Rudolf, der dergleichen Ausbrüche wohl kannte, erwiderte in besonnener Weise: »Ich würde dich vollkommen begreifen, wenn du dich ein wenig ärgertest über die linkische Geschichte. Jedoch ein solches Getue! Schließlich war’s doch eine bloße Äußerlichkeit. Deine Gesinnung, dein Inneres ist ihr so unbekannt wie zuvor. Zeig ihr’s, und du wirst sehn.«

»Wie sollte ich? Sie liebt ja ihn.«

»Ach!« Rudolf durfte nicht rundweg verneinen. Ihm war es vorderhand auch einerlei, denn immer deutlicher eröffnete sich ihm ein gangbarer Ausweg. »Leopold«, wiederholte er, »bis morgen Abend, schwör mir’s!«

Jener zögerte noch ein Weilchen, endlich gab er halbwegs nach: »Ich verspreche dir’s, wenn du willst.«

»Ich glaube an dein Wort.«

Rudolf war beruhigt. Das Mindeste, was er erreicht hatte, war ein Zeitgewinn, und das war viel. Er wusste, wie rasch Wagners Stimmungen wechselten, und er war überzeugt, dass der natürliche Lebenstrieb sich die verlorene Herrschaft zurückerobern würde. Aber er hoffte noch mehr: dem Freund zwar nicht für immer – denn das schien unmöglich –, aber doch für so lange das ersehnte Glück zu erzwingen, als die Gesundung seiner ohnehin von tausend wirren Gefühlen zerrissenen Seele es erforderte. Alles war er zu tun bereit, eine Persönlichkeit zu fördern, die er nicht übermenschlich groß, aber doch um ein Beträchtliches über den großen Haufen erhaben sah.

Rudolfs Rede war indessen nicht ohne Einfluss auf Leopold geblieben. Ein neues Hoffen keimte in ihm empor. Kaum zu Hause angelangt, griff er zu Papier und Feder, schrieb einen düsteren, wild lodernden Brief und trug ihn zur Post, ehe die Turmglocken der Stadt den Mittag verkündeten.

Im Nordosten von B., in etwa einer halben Stunde Fahrt mit einer kleinen Lokalbahn von der Endstation der Elektrischen leicht zu erreichen, lag das ansehnliche Dorf Frohwart, einst durchaus landwirtschaftlichen Gepräges, heute von zahlreichen städtischen Häusern durchsetzt, deren Bewohner ihre Arbeit auch meist in der Stadt verrichteten. Gerade unterhalb der alten Bauernkirche stand ein schmuckes braunes Holzhäuschen, das anmutig aus dem frischen Grün des umgebenden Gartens in die freundliche Mattenlandschaft hineinlachte, der Sonne ins Gesicht, wenn sie abends hinter dem fernen waldigen Hügelgelände niederging. Dieses Häuschen befand sich im Besitz des Arztes Doktor Reinhard, dessen jüngere Tochter Leonore am Abend des Tages, als sie den seltsamen Zwischenfall auf dem Schulweg gehabt hatte, in leichtem, aber durchaus nicht ausschweifendem Kleid mit einem Buch unter der mächtigen Krone des Kastanienbaumes saß, dessen volle weiße Kerzen maienfroh nach dem lieblich erblassenden Blau des wolkenlosen Himmels wiesen. Es war nahezu sieben Uhr. Doktor Reinhard und seine Gemahlin waren auf den Abend zu einem Essen in die Stadt geladen. Eben traten sie fertig gerüstet in den Garten, um sich von der Tochter zu verabschieden.

»Gute Nacht, Norchen«, sagte der Doktor, das sich erhebende Mädchen küssend, »du kannst gleich essen, geht dir wieder einmal besser, als du es verdienst, wir müssen warten bis gegen acht.«

»Gute Nacht, Papa.« Worauf sie die Frau Doktor umarmte: »Adieu, Mama.«

»Leb wohl, mein Kind. Und bleib mir nicht zu lange auf nach dem Essen, du wirst mir sonst noch krank bei dem frühen Aufstehen.«

»Hab keine Angst.«

»Übrigens liegt ein Brief drinnen für dich.«

»Ein Brief für mich? Von wem mag der sein?«

Während das Ehepaar sich beeilte, den Zug zu erreichen, ging sie hinein und griff neugierig nach dem ihr völlig unbekannte Schriftzüge tragenden Umschlag. Sie öffnete ihn, las, und ihr anfängliches Verblüfftsein wandelte sich, bis sie schließlich nach beendeter Lektüre über und über rot in den nächsten Sessel niedersank.

Folgendes war der Inhalt des Schreibens:

Angebetete Seele!

Verzeihen Sie, dass ein Unglücklicher wie ich es wagt, Ihre himmlische Ruhe zu stören, göttliches Wesen. Ich liebe Sie, ich bin krank vor Liebe! Seit zwei tötenden Monaten verzehre ich mich nach Ihrer Nähe, hilflos, umsonst. Heute Morgen sah ich erstmals, seit ich Sie kenne, einen Fremden an Ihrer Seite. Mir fuhr es durch Mark und Bein, Hass ergriff mich und wild auflodernde Leidenschaft. Was ich tat, wissen Sie. Es war unwürdig, abscheulich, aber ich konnte nicht anders, das innere Feuer riss mich unwiderstehlich in diesen Abgrund. Sie verachten mich jetzt, und doch – doch kann ich nicht leben ohne Sie, ewig nicht! Tausende haben das vor mir gesagt, aber bei mir ist es heilige Wahrheit!

Geliebte! Ich schwöre es Ihnen – und Schimpf über mich, wenn ich es nicht halte –, wenn ich bis morgen Abend kein Wort der Verzeihung von Ihnen vernehme, so töte ich mich.

Nicht Ihre Liebe fordere ich mehr, Sie lieben ja vielleicht den anderen – das Herz bricht mir, das Fürchterliche auszusprechen –, aber eines müssen Sie mir gewähren, sonst vergehe ich: Ihre engelreine Nähe! Lassen Sie mich als Sklave zu Ihren Füßen weilen, wenn Sie kein anderes Erbarmen finden! Verzeihung, tausendmal Verzeihung!

Der Ihre bis in den Tod!

Leopold Wagner

Marie, die Bedienstete rief zum Essen. Leonore erhob sich und kehrte in den Garten zurück, wo der Tisch gedeckt war. Ihre Schwester, eine bereits verlobte Tochter von zwanzig Jahren, fand sich ein und schwatzte über alltägliche Dinge, bald gleichgültig, bald heiter, und kein Mensch hätte während der ganzen halben Stunde zu erkennen vermocht, welche Empfindungen die Brust des so seltsam überfallenen Mädchens durchströmten. Kein Zweifel: Der Gedanke, von einem männlichen Wesen geliebt zu werden, schmeichelte ihrer natürlichen Eitelkeit. Aber konnte sie nicht die Zielscheibe eines rohen, abscheulichen Scherzes sein, war es nicht vielleicht ein Spiel, das man sich schamlos mit ihr erlaubte? Ihr unbändiger Stolz hätte mehr als einmal laut aufstöhnen mögen in tödlicher Verwundung. Auch widerstrebte ihr der zügellose, übertriebene Ton des Briefes, während sie sich andererseits einigen Mitleides nicht entschlagen konnte, wenn sie sich den möglicherweise verzweifelten Seelenzustand des Schreibers ausmalte. Was sollte sie anfangen?

Die Mahlzeit war beendet, und die Schwestern erhoben sich.

»Leonorchen, ich geh hinauf, ich muss meinem Kurt schreiben, sonst wird er ungeduldig und schilt mich«, sagte die Ältere.

»Geh nur.«

Lange schritt das Mädchen, voller unschlüssiger, widerstreitender Gedanken, in dem langsam dunkler werdenden Garten auf und nieder.

Rudolf Steinberg, der den Nachmittag lesend und an einer neuen, größtenteils aus seiner Sehnsucht geborenen Dichtung schreibend dahingebracht, hatte dabei weder die immer näher rückende Ausführung seines Vorhabens noch sein reizendes Hoffen auf baldige Nachricht von seiner Geliebten aus den Augen verloren. Nach dem Abendessen hatte er sich nach dem ihm seit einigen nächtlichen Streifereien mit Leopold wenig fremden Frohwart begeben, wo er Doktor Reinhards Haus nicht lange zu suchen brauchte. Sogar den Doktor selbst, der der Hausarzt einer nachbarlich befreundeten Familie war, kannte er ein wenig, und er hoffte zuversichtlich, dass der gemütliche, verständnisbereite Mann sich bei geschickter Darstellung der Sachlage seinen Vorschlägen nicht widersetzen würde. Lieber freilich hätte er es mit dem Mädchen allein zu tun gehabt.

Schon stand er unten an der Treppe, welche hinauf in den Garten führte. Eine Weile hielt er inne, wie um erneuten Mut zu schöpfen, und stieg dann entschlossen hinan. Beim Öffnen des Gartentores gewahrte er Leonore hinten in der laubigen Dunkelheit, zögerte kurz, ob er dennoch die Hausglocke ziehen oder sie geradewegs aufsuchen sollte, entschied sich für Zweiteres und stand nach wenigen Schritten grüßend vor der heftig Erschrockenen, die eben zum wiederholten Male den verwirrenden und letzten Endes ärgerlichen Brief zu lesen im Begriffe war.

»Guten Abend, Fräulein Reinhard«, begann Rudolf. »Verzeihen Sie, dass ich Sie so unerwartet überfalle. Eine dringende Angelegenheit führt mich her. Ich muss mit Ihnen sprechen. Mein Name ist Rudolf Steinberg. Übrigens hab ich persönlich wenig damit zu tun.«

Das stolze Mädchen, obgleich einen Zusammenhang zwischen dem Brief und dem Besucher, den sie oft an Wagners Seite gesehen hatte, unschwer erratend, bezwang ihre Erregung und lud Rudolf mit gefasster Gebärde zum Sitzen ein. Ehe er gehorchte, ergänzte er seine einleitenden Worte folgendermaßen: »Ich werde nichts mit Ihnen verhandeln, was Ihre Eltern nicht erfahren dürften. Doch muss ich gestehen, dass es mir am dienlichsten wäre, vorderhand mit Ihnen allein zu sein.«

»Meine Eltern sind ausgegangen«, entgegnete sie, »doch meine Schwester ist zu Hause.«

Erst jetzt fiel ihre Aufmerksamkeit auf das immer noch unverhüllt in ihrer Hand liegende Schreiben. Rasch versuchte sie es zu verbergen, aber schon hatte Steinberg die Schrift des Freundes erkannt; und ohne zu fragen, griff er jetzt nach dem Papier: »Geben Sie her! Bitte!«

»Lassen Sie!« Zornig flammte ihr Gesicht auf, und ein Gemisch von Hohn und schamhafter Regung klang in der nicht restlos bemeisterten Stimme, als sie beifügte: »Sie kennen es ja.«

»Nein, aber ich errate, was es ist.« Sie beugte sich seinem Willen und Rudolf las. »Ja, so ist es«, murmelte er, als er zu Ende gelesen hatte. Er wollte den Brief zurückgeben, das Mädchen aber lehnte ab: »Behalten Sie’s nur; was soll ich mit dem Zeug anfangen?!«

»Fräulein Reinhard«, sagte Rudolf, ohne sich im Mindesten um ihre Unfreundlichkeit zu kümmern, »Leopold ist mir zuvorgekommen, doch ist mein Schritt dadurch nicht überflüssig geworden. Diese Worte« – er wies auf die Zeilen des Freundes – »sind ohne Zweifel nicht anders empfunden, als sie hier stehen. Dass sie verrückt sind, das sehen Sie selbst. Ich komme nicht, um in dieses Geschmachte mit einzustimmen, auch nicht, um Liebe zu erbetteln für den Unglücklichen, dessen selbstmörderische Absichten durchaus nicht so leicht zu nehmen sind. Sie mögen immerhin dem jungen Menschen angehören, der die Eifersucht meines Freundes erregte …«

Heiterkeit glitt über ihre Züge: »Ein gewöhnlicher Vetter von mir, den Papa zum Mittagessen eingeladen hatte«, lächelte sie.

»Wie auch immer. Aber fordern muss ich von Ihnen, zu tun, was in Ihren Kräften steht, um einen Menschen zu retten, der zu den hochwertigsten sich zählen dürfte, lägen nicht alle seine vortrefflichen Anlagen in chaotischer Unordnung brach. Ich weiß, was in solchen Fällen der Einfluss einer weiblichen Seele vermag. Er liebt Sie. Es ist nicht Ihre Schuld, gewiss. Aber das Schicksal hat so entschieden, und ihm zu widerstreben wäre wider Natur und Vernunft. Ich weiß, dass nicht jede diese Aufgabe erfüllen könnte. Mit Ihnen bin ich überzeugt, das Wagnis zu gewinnen. Sie sind nicht nur ein edles Mädchen, Sie haben Sinn für das Freie, Große. Ihnen muss es möglich sein, in Großheit zu leben.«

»Was wissen Sie von mir?«, entfuhr es Leonore. Doch sogleich, als hätte sie zu viel gesagt, fuhr sie mit der Hand trotz der schützenden abendlichen Düsternis über ihre heiß erglühende Stirn. Der Schmeichler hatte sie an der Stelle getroffen, wo er sie ebenso leicht hätte verwunden können. Er lächelte jetzt: »Ich lese es in Ihrem Antlitz.« Und da sie schwieg: »Lassen Sie Leopold in Ihrer Nähe leben! Erlauben Sie ihm, dass er Sie frei und offen liebe, gleichgültig ob Sie seine Neigung erwidern wollen oder nicht. Glauben Sie mir, er wird sich Ihrer nicht unwert erweisen. Er ist unreif im höchsten Grade und würde es auch ewig bleiben ohne die liebreiche Pflege, zu der Sie vor allen berufen sind. Nehmen Sie ihn, wie er ist, glauben Sie ihm nicht alles, verlieren Sie die Geduld nie, schauen Sie vertrauend auf zu dem künftigen Mann, damit er nicht verzweifle, wenn er sich mit der reifen Jungfrau vergleicht, und ich bin überzeugt, Sie werden Unendliches bewirken.«

Er hielt inne, das Mädchen sann schweigend seiner Bitte nach. Die Dämmerung hatte mittlerweile den leise rauschenden Garten in ihren Schleier gehüllt. Ein kühles Lüftchen spielte um die beiden, tausend Blüten sandten ihren schwärmerischen Duft aus und erfüllten alles mit wollüstigem Zauber. Und mitten in diese heilige Stimmung fiel die Sehnsucht mit jäher Gewalt. Wie wunderschön müsste es sein, in solcher Nacht mit der süßen, herrlichen Agnes Arm in Arm zu wandeln. Ach, aber sie war fern, und allein vermochte er so erhabene Wonne nicht zu ertragen. Wie gepeitscht von innerer Bewegung erhob er sich, schritt bis an den Gartenzaun und sah hinauf in die erglimmenden Sterne. Seine Augen standen voller Tränen.

Aber er blieb nicht allein. Leonore war ihm unmerklich gefolgt. »Was fehlt Ihnen?«, fragte sie sanft und leise. Rudolf fühlte sich seltsam gerührt durch den Klang ihrer Stimme. Zum ersten Mal, seit er bei ihr war, trat ihm das Weib in ihr entgegen, eben jetzt, da er so sehr das Weibliche vermisste. Er konnte nicht an sich halten: »Mädchen«, rief er aus, »ich liebe! Liebe wie er, der verzweifelt in leidenschaftlichem Verlangen nach Ihnen.« Und dann erzählte er ihr alles, über eine Stunde lang. Das Mädchen lauschte stumm, aber mit ganzer Seele, dem unaufhaltsamen Überfließen der Natur, und sie, der das Schicksal Liebe gebot, begann die Liebe zu ahnen.

Leopold hatten sie vergessen. Erst als sich Rudolf anschickte zu gehen, dachte er wieder an ihn. Er erkundigte sich, was Leonore hinsichtlich des Freundes beschlossen habe.

»Ich will ihn retten«, erwiderte sie nach kurzem Bedenken. »Auf Ihre Verantwortung hin. Ich vertraue Ihnen, dass Sie mir keinen Unwürdigen zuführen.«

»Tausendmal danke ich Ihnen«, sprach Rudolf, und Freude des Sieges klang aus seinen Worten. »Ich wusste, dass ich bei Ihnen Verständnis finden würde. Aber was soll ich dem guten Leopold melden? Wollen Sie ihn einmal nach Schulschluss erwarten?«

»Nein! O nein!«

»Ich verstehe Sie. Hundert andere machen es so, die die Liebe entheiligen im Staub elender Spielerei. Aber wo denn sonst?«

»Er mag hierherkommen, morgen Abend um acht Uhr.«

»Und Ihre Eltern?«

»Werden zu Hause sein. Fürchten Sie nichts, sie kennen mich.«

»Wie ich mich freue, diese Botschaft dem armen Jungen auszurichten!«

Leonore geleitete ihn bis zum Gartentor. Hier reichte er ihr die Hand zum Abschied. »Noch etwas«, sagte er. »Ich habe Ihnen mein Tiefstes eröffnet, und Sie haben mich geduldig, ja teilnahmsvoll angehört. Ich fühle mich Ihnen enger verbunden als einer Dritten Ihres Geschlechts. Wenn es Ihnen recht wäre, mir künftig Du zu sagen …«

»Gern; gegenseitig natürlich.«

»Ich danke dir. Gute Nacht, Leonore.«

»Gute Nacht, Rudolf.«

Während die bewegte Leonore sich langsam ins Haus zurückzog, entfernte sich Rudolf ohne Zögern und stand bereits nach einer guten Stunde vor dem Fenster des Freundes. Dieser war eben erst in der fürchterlichsten Stimmung zu Bett gegangen und hatte kein Auge zugedrückt, als er sich auf einmal von der Straße her unlaut, aber vernehmlich beim Namen rufen hörte. Er sprang auf, sah hinaus und erblickte Steinberg, der dringend Einlass begehrte. Nachdem Leopold sich notdürftig angekleidet hatte, schloss er, Wichtiges ahnend, erst die Tür der Wohnung, dann diejenige der Mietkaserne so vorsichtig wie möglich auf, führte den Freund in sein Zimmer und setzte sich dann auf den Rand seines Bettes: »Also?!«

Der Aufgeforderte hob an: »Ich bringe dir Glückliches, Leopold, ja, das Glück selbst. Ich glaube, du wirst mir danken, dass ich nicht bis morgen damit gewartet habe, trotz der ungewöhnlichen Stunde. Ich komme nämlich geradewegs von Frohwart …«

Leopold sprang auf: »Du warst bei Leonore!« Seine Augen funkelten wie die eines Fiebernden.

»Du hast es erraten.«

»So hat sie meinen Brief erhalten?«

»Ich las ihn.«

»Und – was hat sie über mich verhängt? Aber du bringst mir ja das Glück! Sie will, sie ist mein, ich weiß es, aus deinen Blicken leuchtet’s mir entgegen. Gott, ist’s möglich?! Aber ich hätte mir’s denken können – nicht können, müssen! Ich habe ja so geschrieben, dass sie nicht anders konnte, als mich zu beglücken. Rudolf, wenn du jemals in deinem Leben so glücklich warst, so glücklich sein wirst, wie ich jetzt und von nun an immer und ewig, so – so ist’s eine Lüge, so glaub ich dir’s nicht, denn es ist unmöglich, wie – wie das perpetuum mobile!« So jauchzte der Maßlose, und Tolleres wäre über seine Lippen getreten, hätte ihn nicht Rudolf zur Stille gemahnt, schon aus Rücksicht auf die schlafende Umgebung.

»Du hast recht, Rudolf«, versetzte Leopold, »aber es ist zu viel auf einmal. Doch jetzt erzähle, wie alles gekommen ist, ich will schweigen und zuhören.«

Er setzte sich wieder, und Rudolf berichtete von seinem »Abenteuer«, nicht ganz der lauteren Wahrheit gemäß. Denn was ging es den selbstsüchtigen Liebenden an, was zwischen ihm persönlich und dem Mädchen vorgefallen war? Auch unterschlug er den überwiegenden eigenen Anteil am Erfolg, indem er ihn gänzlich auf den Brief schob. Er wollte den selbstherrlichen Traum des Freundes nicht zerstören. Aber doch wusste Leopold, als sie sich endlich kurz nach Mitternacht trennten, genug über die Vorfälle des Abends, um vor der Geliebten in jeder notwendigen Beziehung unterrichtet dazustehen.

Dass Leopold keine Stunde schlief, wird uns kaum verwundern. Es war gut, dass der Mittwochnachmittag schulfrei war, sodass er die Möglichkeit fand, die versäumte Ruhe nachzuholen. Um vier Uhr ließ er sich wecken, worauf ein Toilettenmachen begann, das seinesgleichen bisher nicht gesehen hatte. Zwei volle Stunden dauerte es, bis das Herrchen sauber, der Bart bis aufs letzte Stoppelchen rasiert, die Haare aufs Schwungvollste frisiert, die Fingernägel poliert, endlich die Schuhe spiegelgleich brilliert und das tadellos sitzende Sonntagskleid von jedem noch so geringen Stäubchen gereinigt waren. Hierauf eilte der Geschniegelte, der sich kaum zu rühren wagte in seiner panzerähnlichen Unfehlbarkeit, zu Steinberg, bloß um zu fragen, ob er wohl »schön genug« sei. Rudolf erschrak erst, lachte dann und versicherte zuletzt dem bereits ärgerlich werdenden Leopold, er sehe aus wie ein Halbgott. Dieser schmunzelte vor höchster Zufriedenheit und machte sich davon.

Gerade zur Zeit dieses Besuches befand sich Rudolf in erwartungsvoll aufgeregtem Zustand. Weder die Morgen- noch die Mittagspost hatten ihm die ersehnten Zeilen gebracht. Ohne Zweifel hatte ihm das liebe Kind die Überraschung für den Abend aufgespart.

Es wurde sieben Uhr, die Post kam: Kein Brief von Agnes war dabei. Rudolf war entschieden enttäuscht. Indessen vertröstete er sich bald auf den folgenden Tag. »Sie hat gewiss viel zu tun«, überlegte er, »bis sie sich in den neuen Betrieb eingelebt hat. Und auch wenn sie frei ist, kann sie nicht jeden Augenblick aus dem Mädchenschwarm wegeilen, der die muntere Gespielin nicht vermissen mag bei seinen Vergnügungen.«

Leopold war trotz seiner Steifheit von der stattlichen Steinbergschen Villa geradehin nach Frohwart gestürmt, wo ihm, kaum war er angelangt, einfiel, dass er erstens fast eine Stunde zu früh war, zweitens nichts zu Abend gegessen und drittens vergessen hatte, zu Hause über sein Verbleiben Auskunft zu geben. Da er nicht wusste, auf welche Weise er sich die Wartezeit vertreiben sollte, begab er sich in den beliebigsten Gasthof des Dorfes, telefonierte nach Hause und ließ sich dann, obgleich ihm bei seiner Erregtheit jeglicher Hunger fehlte, ein nahrhaftes Abendessen vorsetzen.

Wie es sich gehörte, hatte Leonore inzwischen ihre Eltern mit der ganzen Sache vertraut gemacht, wobei der Doktor in der Tat mehr Freude als Bedenken geäußert hatte. »Vielleicht taut sie ein bisschen auf von ihrem Stolz«, hatte er die nicht ganz so sorglose Gattin beruhigt, »und wenn nicht – nun, so sehe ich nicht, auf welche Art sie Schaden nehmen könnte.«

Schlag acht Uhr ertönte die Hausglocke. Die ganze im Garten versammelte Familie vernahm das Zeichen, worauf der von allen am wenigsten befangene Doktor sich beeilte, den arg beklommenen Gast zu empfangen.

»Gewiss Herr Wagner?«, fragte er freundlich, jenem die Hand bietend.

»Ja, Herr Wagner«, stammelte Leopold, zog mit der Rechten seinen Hut, reichte dem Doktor gezwungenermaßen die Linke und ließ sich dann von dem beschwichtigenden Mann in den Garten führen.

Auch Leonore war etwas merkwürdig ums Herz, obgleich es ihr niemand anzusehen vermochte. Sie ging auf Leopold zu, begrüßte ihn förmlich und sah sich, als jener dem Rest der Familie die Hand gereicht hatte, worauf sich auf einen Wink des Doktors alle entfernten, plötzlich mit ihm allein.

Von da an war Leopold ein häufiger Gast in dem traulichen Heim des Doktors, der keinen Anstand mehr nahm, den Plauderstündchen der beiden beizuwohnen. Er störte nicht; und wenn sich dennoch ab und zu – besonders bei Leopold – das Bedürfnis regte, nur zu zweit zu sein, war man ja frei, hinauszuwandeln auf die goldenen Felder, zu lauschen dem sanften Hereinsinken der Nacht, zu atmen den göttlichen Frieden, den der unglückliche Steinberg nur mit Flügeln des Wunsches berührte.

Zweites Kapitel

Während zweier Wochen wartete Rudolf, immer hoffend, immer entschuldigend, auf das Lebenszeichen von Agnes, das er doch so flehentlich gefordert hatte. Doch Tag für Tag verstrich, ohne dass sich diese Hoffnung erfüllte, und hartnäckig um ihren Platz ringend, aber stetig wich sie endlich aus dem verzweifelnden Gemüt, das, besonders als auch ein weiteres Schreiben ohne Antwort geblieben war, immer mehr der Herrschaft schwärzester Vorstellungen verfiel. Und dabei fand er nichts, was ihm das Rätsel hätte lösen können – oder wollte nichts finden. Es gab ja der Möglichkeiten genug, zweifelsohne. Er hatte das Mädchen vielleicht beleidigt, wie, wusste er nicht, auf alle Fälle durch eine Kleinigkeit. Oder er hatte sich in ihrer Liebe getäuscht, eine oberflächlich spielerische Neigung für wahres Gefühl gehalten, die sich jetzt, da sie unbequem wurde, von selbst verlor. Oder sie hatte ihn in der vergnügten Ferne einfach vergessen – aus den Augen, aus dem Sinn! Oder sie ließ ihn mit Absicht ein Weilchen in der Hölle schmoren, um eine bisher ungekannte Herrscherlaune zu befriedigen. Oder – nein, weiter nicht! Unmöglich war alles, was irgendwie die strahlende Reinheit der Geliebten verletzte.

Nein, so unmäßig hatte er sich nicht getäuscht, niemals! Aber was blieb denn dann? Was konnte der Grund sein für das Versäumnis? Krankheit? Dann hätte sie es ihn wissen lassen. Allzu scharfe Bewachung? Ihre Liebe hätte diese Schranke durchbrochen. Zu viel Arbeit? Unsinn!

Die fünf Minuten, die erforderlich waren, um eine Postkarte zu schreiben, waren bei der Mühsal, die überdies mehr als zweifelhaft war, zu finden. Das sanfte Mädchen war, er wusste es, nicht von so leicht entzündbarem Herzen wie er selbst, das beruhigte ihn zwar um ein Beträchtliches. Aber konnte nicht, aller Voraussicht zum Trotz, das Schreckliche bei ihr eintreten, das Schreckliche, vor dem ihm selbst so bange war, das wie ein lose schwebendes Schwert, wenn nicht jetzt, so doch in ungewisser Zukunft von seiner Seite her das Bündnis bedrohte? Nicht, weil es wahrscheinlich gewesen wäre, nur, weil Rudolf hier noch weniger als anderswo hätte verdammen können, war ihm grauender davor als vor allem anderen. Indessen waren es nur Augenblicke, in welchen er diese höchste Marter litt. Zu vieles sprach dagegen, zu sehr hatte Agnes, so wenigstens glaubte er, an ihm gehangen, um ihn nach so kurzer Zeit an einen Fremden verraten zu können. Und schließlich: Hätte sie es ihm nicht mitteilen müssen, wenn auch schweren Herzens? Hätte sie wirklich? Er schauderte wieder. Ja, ihre Pflicht wäre es freilich gewesen, aber nie hätte sie es übers Herz gebracht.

Von solcher Trübsal gequält, saß er eines Abends allein in seinem Zimmer. Hätte er geahnt, mit welch großer Not seine Geliebte die fürchterlichste Krankheit überstanden hatte, seine Angst wäre zwar nicht so bitter, aber wohl nicht minder groß gewesen. In der Tat war das arme Mädchen erst vor etwa fünfzig Stunden aus fiebernder Bewusstlosigkeit erwacht und hatte nun endlich eine erste Antwort auf die bewegenden Ergüsse des leidenschaftlichen Freundes zu schreiben vermocht. Allein das Brieflein befand sich noch unterwegs und war so nicht im Stande, den Bedauernswerten aus seinem bohrenden Brüten zu wecken.