Liebe wird überschätzt - Valeria Parrella - E-Book

Liebe wird überschätzt E-Book

Valeria Parrella

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Beschreibung

Weil es zu wenig Liebe gibt, wird sie überbewertet, stellt ein junges Mädchen fest, deren Eltern sich ein Leben lang harmonisch betrügen. Erst als die Nachricht des Todes von Mutters Liebhaber eintrifft, bricht die Lebenslüge zusammen. In einer anderen Geschichte gibt eine Klosterschwester ihre Liebe zu Jesus auf, um die Mutter eines verlassenen Kindes zu werden. Valeria Parrella, „Italiens neues Erzähltalent“ (Süddeutsche Zeitung), schreibt unsentimentale Liebesgeschichten, die überraschen. Mit großer Vitalität und schneidendem Witz erzählt sie von falscher Liebe und echtem Begehren, aber auch von mystischer Sehnsucht und alltäglicher Nächstenliebe.

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Über das Buch

»Da hinten liegt wieder eine Stadt, mit Männern und Frauen wie ihr, die sich im Schlaf an der Hand halten und dabei an jemand anderes denken.« Liebe wird überschätzt, findet eine Heranwachsende, deren Eltern sich ein Leben lang harmonisch betrügen – bis eine Todesnachricht in den Familienurlaub platzt und die Lebenslüge zusammenbricht. In Neapel gibt eine Klosterschwester ihre ausschließliche Liebe zu Jesus auf, um die Mutter eines verlassenen Kindes zu werden. Und eine Frau in den Fünfzigern entdeckt durch eine leidenschaftliche Beziehung, dass es weniger darauf ankommt, auf ein Fest eingeladen zu werden, als wie man sich am Tag danach fühlt.

Hanser E-Book

Valeria Parrella

Liebe wird überschätzt

(und andere menschliche Geschichten)

Erzählungen

Aus dem Italienischen von Annette Kopetzki

Carl Hanser Verlag

Inhalt

Liebe wird überschätzt

Der Tag nach dem Fest

Die Ausgesetzten

Behave

Respekt vor dem, der es weiß

99/99/9999

Das Kastell

Das letzte Leben

Rückgabe

Liebe wird überschätzt

Der Zug fuhr auf die Minute pünktlich ab, es war noch einer dieser Züge, die Lärm machen: Man hörte Waggontüren schlagen, Gelächter, Klopfen an Fensterscheiben, das Schnauben der Bremsen und den Pfiff des Zugführers. Ein echter Zug, mit Fenstern, die man herunterlassen konnte, fürs Händeschütteln oder um das Kinn darauf zu stützen und zuzusehen, wie die Stadt zurückbleibt. Genauso stand das Mädchen da, und ihre Mutter dachte, dass sie zu viel Fahrtwind abbekommen würde, wenn der Zug beschleunigte, aber sie unterdrückte eine Bemerkung, aus zwei Gründen: Susanna hatte nur noch ein Jahr bis zum Abitur am humanistischen Gymnasium, und dies war vielleicht die letzte Reise, die sie alle drei zusammen machen würden, und außerdem hatte ihr Mann oft gesagt, sie solle das Mädchen nicht gängeln, sie in Ruhe erwachsen werden lassen. Ihr Mann war Arzt, und wie alle Ärzte sorgte er sich nicht um die Gesundheit der Menschen, die er liebte. Vor allem aber sagte Federica nichts, weil dies ein Urlaub war, auch ihr Urlaub, ja, vor allem ihrer, denn nach der Rückkehr würde sie ihre Arbeit bei der Zeitung gleich wiederaufnehmen müssen. Und sie sagte sich, dass dieser Urlaub sofort beginnen müsse, indem sie sich an der Schulter ihres Mannes entspannte. Das Fahren konnte sie dem Zug überlassen. Sie hatte das ihre getan, der Zug bewegte sich von allein, sie musste nichts mehr tun. Susanna, die abgelenkt, aber hier bei ihnen war, Giorgio, der seine endlos langen Beine so weit wie möglich im Abteil ausstreckte, eine Hand auf ihrem Oberschenkel, der Hügel von Poggioreale, der langsam in der Nacht verschwand, und alle Züge fahren in dieselbe Richtung ab, auch wenn sie entgegengesetzte Ziele haben …

Sie wachte wieder auf, als der Zug vor Latina langsamer wurde. In der Ferne bildete der Golf von Formia einen Halbmond, der am Felsen, im Meer endete, dort, wo der Leuchtturm blinkte.

»Der Zugführer ist schon gekommen, um die Plätze in den Liegewagen zu verteilen.«

»Susanna?«

»Im Bordbistro.«

»Hat sie immer noch Hunger? Sie wird zunehmen.«

»Sie will Kaffee, hat beschlossen, nicht zu schlafen. Sie ist richtig romantisch drauf. Ist sie wieder verliebt?«

»Keine Ahnung«, sagte sie, denn schon seit vier Jahren vertraute sie ihrem Mann nicht mehr an, was sie von dem Mädchen erfuhr. Er machte sie nervös.

Er hörte ihr zu, wanderte dabei pausenlos in der Küche hin und her, und am Ende trug er ihr auf, was sie dem Mädchen sagen sollte. Etwas, worüber sie anders dachte, oder etwas, was sie ihrer Tochter niemals hätte mitteilen können. Er konnte Susanna diese Dinge nicht persönlich sagen, denn sie vertraute sich nur ihrer Mutter an. Trotzdem fing Giorgio immer irgendeinen Teil davon auf: nicht alles, nicht viel, aber eine Nuance doch, also sagte er:

»Hauptsache, sie bindet sich nicht, sie ist noch so jung und muss fürs Abitur lernen.«

Doch Federica war im Urlaub und erwiderte nichts. Sie lächelte.

Hinter Rom hielt der Zug nicht mehr bis Wien, der Zugführer hatte die Personalausweise schon eingesammelt, damit die Reisenden, sollte es Kontrollen beim Grenzübertritt geben, in Ruhe schlafen konnten.

Susanna wollte wirklich wach bleiben, sie hatte sich die Stöpsel ihres Kopfhörers in die Ohren gesteckt und sich auf einen Klappsitz draußen vor der Tür des Liegewagenabteils gesetzt. Giorgio hatte Federica eine Tavor mit einem Glas Wasser gegeben, dann hatte er selbst eine genommen. Das taten sie immer am Beginn einer Reise, aber nicht nur dann. Doch am Beginn einer Reise taten sie es gemeinsam, sie konnten es sich sagen, es hatte keine Bedeutung, bloß: Wie soll man bei dem Geratter denn sonst ein paar Stunden schlafen? Oder zusammengepfercht in der Economyclass auf einem Interkontinentalflug? Oder im Schlafsack auf einem Schiffsdeck? Auf Reisen machte die Unbequemlichkeit, die von außen kam, sie zu Komplizen.

Federica lehnte das Kissen an die Wand, den Rücken ans Kissen und klappte, leicht vorgebeugt und flink, wie jemand, der voller Vorfreude einen schönen Moment erwartet, ihren Laptop auf, und während sie hörte, wie Giorgios Atem schwer und rhythmisch wurde, stimmte die Tavor, die sich schon in ihren Adern ausbreitete und ihr Gehirn begrüßte, sie wohlwollend empfänglich für die Welt und für ihr eigenes Leben: Wie eine Belohnung konnte sie sich endlich das Foto des kleinen Simone im Arm seines Großvaters ansehen. Dreieinhalb Kilo hatte er bei der Geburt gewogen, dann war er direkt ins Zimmer zur Mutter gebracht worden, in den Krankenhäusern war das jetzt so üblich, darum hatte der Großvater sie alle sofort umarmen können: den Sohn, die Schwiegertochter und seinen ersten Enkel, der den eigenen Namen trug. Simone, Simone, Simone.

»Herrlich, diese Persönlichkeitsspaltung, Liebling, welch vollkommenes Glück, welch perverse Vorstellung: über fünfzig Jahre nach meiner eigenen Geburt durch meinen Sohn wieder in mich selbst zurückzukehren«, das hatte er ihr geschrieben, als er ihr das Foto mit seiner Trophäe im Arm geschickt hatte.

Federica zoomte in das Bild hinein, bis es auf dem Ohr des Kindes körnig wurde, dann scrollte sie nach unten, zum Daumen des Großvaters, der den Kopf des Kindes hielt. Sie streichelte ihn lange. Großvater. Ein sehr attraktiver Großvater, so jung, ihr Geliebter, aber schon Großvater. Wie zärtlich stimmte sie diese vertraute Hand, die sie drückte, ihr den Slip herunterzog, sie anrief und jetzt, nach vielen Jahren, wieder den Kopf eines Neugeborenen hielt. Sie hatten immer gesagt, dass Federica zuerst Großmutter werden würde, weil sie eine Tochter hatte.

»Hör auf mit dem Blödsinn.«

»Du wirst eine supersexy Großmutter sein.«

»Die Großmutter kannst du dir sonst wohin stecken.«

Streiten war etwas, das sie besonders gut konnten. Sie stritten unweigerlich: Manchmal schafften sie es einen ganzen Monat lang nicht, sich zu sehen, als er noch die Mannschaft trainierte, war das oft vorgekommen. Und er kehrte womöglich genau dann ins Hotel zurück, wenn sie nicht mehr ans Telefon gehen konnte. Damals stritten sie wild, solange sie sich nicht sahen. Sie sagten einander schreckliche Dinge, kritisierten den Lebensstil und die Feigheit des anderen, nichts an der Situation zu ändern.

Sodass das Lieben dann verzweifelt war. Er litt noch stärker, weil er eine andere Beziehung zu seinem Körper hatte – immer durchtrainiert, immer sonnengebräunt, mal steht er unter Spannung, mal nicht, je nachdem, was sein Wille befahl. Wenn er mit seiner Frau schlief, hatte er sich mehr als einmal gefragt, warum. Federica nicht, sie konnte es mit Giorgio tun und dabei Giorgio begehren, oder mit Giorgio und dabei Simone begehren. Mit Simone begehrte sie nichts, denn dann fielen Wünschen und Sein zusammen. Und wer einfach nur ist und mit sich im Reinen, denkt an gar nichts.

Kurz nachdem sie sich kennengelernt hatten, bei der Olympiade in Sydney, waren sie krank geworden. Denn das war es, eine leichte Krankheit der Seele, die ihre Körper mal sichtbar, mal im Verborgenen beherrschte. Sie hatten das oft besprochen und gehofft, daran zu sterben oder davon geheilt zu werden, und unterdessen litten sie.

Federica, die Sportreporterin war, hatte sich in Simone verguckt, als er noch nicht mal wusste, wie sie überhaupt aussah. Sie dagegen wusste über ihn genau Bescheid: Sie hatte sich in ihn verliebt, weil er Linkshänder war, überzeugt, dass Linkshänder einander sofort erkennen.

»Aber ich schreibe mit rechts.«

»Willst du dich so aus der Affäre ziehen?«

»Schön wär’s. In der Vorschule hat uns die Lehrerin die Hand hinterm Rücken festgebunden.«

»Blödsinn, das klingt ja wie eine Geschichte aus dem 19. Jahrhundert. Wir sind gleich alt.«

»Doch, wirklich. Hand hinter dem Rücken. Ich schreibe mit rechts. Außerdem sind wir nicht gleich alt, du bist ein junger Hüpfer.« Das hatte er gesagt, obwohl sie Altersgenossen waren. Aber es stimmte: Sofort hatte eine Schönheit sie umhüllt, die sie längst vergessen hatte.

Simone schrieb mit rechts, er zeigte es ihr, als er ihre Telefonnummer auf den Notizblock kritzelte. Wenn er aber mit dem Säbel focht, täuschte er alle, er zwang seine Gegner, ihre Stellung aufzugeben, und dann verloren sie das Gleichgewicht.

Mit dem linken Arm, stellte sie sich vor, hatte er sie nach dem Interview im Lift des Hotels an sich gedrückt. Mit demselben Arm tat er es an einem anderen Tag, auf einem anderen Kontinent, in einem anderen Hotel.

Auch Federica war Linkshänderin und spürte die gleiche Desorientierung, die gleiche leicht verzerrte Wirklichkeit, die still unter der Norm hindurchschlüpfte. Die Knopflöcher ihrer Blusen wussten es, die Löcher in ihrem Gürtel.

»Ich muss dich aufknöpfen und du mich, dann funktioniert es, wollen wir es ausprobieren?«

Federica hatte sich eingeredet, dass ihr Denken die Wirklichkeit beherrschte, dass Ersteres zu perfektionieren, Einfluss auf Letztere haben würde. Aber so war es nicht: Ihre Beziehung gestaltete sich mühsam, sie lebten in verschiedenen Städten, in verschiedenen Leben. Sie machten Liebe, und erst mit der Zeit bedeutete Liebe machen auch, sich zu lieben, so dass das Gefühl die Entfernung abmildern konnte, auch über die feste Gewohnheit verabredeter Zeiten hinaus.

In jenen ersten Jahren, als sie jeden Tag dachte, es würde keinen einzigen Tag länger dauern, schien ihr auch, als würden alle Ereignisse des Lebens sie und Simone betreffen. Der kleinen Susanna, die heranwuchs (doch wann und wie war sie so groß geworden und so unabhängig?), las sie ein Märchen nach dem anderen vor. Und jedes handelte auf irgendeine Weise vom Weggehen oder Bleiben, davon, einer Versuchung nachzugeben oder ihr zu widerstehen. Sie las Susanna von der Ameise vor, die sich in das Eichhörnchen verliebt hatte, und das Mädchen schlief ein, während sie selbst danach keinen Schlaf mehr fand. Draußen ging die Welt weiter, ohne sich je um sie, um sie beide Gedanken zu machen. Doch drinnen gab es ein anderes Leben. Das dieser vierzehn Jahre, das sich immer gleichblieb, sich nicht veränderte, nicht wuchs. Nichts, es war einfach da. Wenn Federica in der Haut dieses Lebens steckte, hatte sie keine Schuldgefühle und schämte sich für nichts, alle Pflichten, die unerbittlich auf ihr lasteten, wurden zu Flügeln. Das war es, nichts anderes. Sie konnte Samstagnachmittag in einem Zimmer sitzen, während Giorgio Dienst im Krankenhaus hatte, und Simone rief unerwartet an. Dann verbrachten sie eine halbe Stunde am Telefon, das Mädchen sah im Nebenzimmer fern, sie redete von Sex, dann von Büchern, er redete von Sex, dann vom Training. Und es war wie eine Vorahnung, wenn er dann sagte »Du fehlst mir«, und sie begriff, dass das Telefonat zu Ende ging.

Hinterher gab es eine Energiereserve, die sich langsam aufbrauchte. Die ersten Stunden wurden von der Freude über das Telefonat erleuchtet. Dann öffnete ebendieses Telefonat einen neuen Spalt: die Möglichkeit, das Leben doch noch auszukosten. Wenn es dann Abend wurde, wenn sie den Tisch deckte, das Kind ins Bett brachte, den Fernseher oder die Nachttischlampe anschaltete, entpuppte sich diese Möglichkeit als unrealisierbar und sinnlos. Dann wurde das Leben ein wenig trauriger. Nicht dramatisch, nicht tragisch. Nur ein wenig trauriger. Sie hatten tragische Momente erlebt, aber jeder für sich. Eines Tages rief er sie unter Tränen aus dem piemontesischen Dorf an, aus dem er sich damals mühsam befreit hatte, die einsilbige Mitteilung, dass seine Mutter gestorben war. Federica erfand einen Vorwand, der nach Vorwand roch, nahm ein Flugzeug und einen Mietwagen und kam in der Dorfkirche an, als die Trauerfeier gerade zu Ende ging. Er stand im Mittelschiff, neben ihm die Geschwister und seine Frau, zwischen ihnen der Sarg, und als er sich umdrehte, sah er sie und lächelte ihr zu, ging sie begrüßen, wie jeden beliebigen anderen, umarmte sie, sie sagte »Mein Beileid«, dann hob er mit seinen Brüdern den Sarg hoch und ging los. Federica fühlte, dass sie dabei sein musste, tatsächlich war sie dabei gewesen, und sie fühlte auch, dass ihr Mann es ahnte, wenn nicht gar wusste und ihr niemals vergeben würde. Vielleicht hatte sie auch Simone in Gefahr gebracht, denn sie war in diesem Dorf um diese Zeit die einzige Frau aus der Stadt. Und während sie in das Nachbardorf fuhr, wo es laut Reiseführer die einzige Pension der Gegend gab, wusste sie auch, dass sie Simones Mutter besser kannte als ihn selbst. Denn seine Mutter hatte in den Bildern gelebt, die der Sohn Federica geschenkt hatte. Aus diesem Stoff hatte sie sich ihre Erinnerungen basteln können. Simone dagegen kannte sie als den Mann am Pistenrand, im Sportanzug beim Trainieren der Mannschaft, bei der Pressekonferenz, mit dem Zutrittsausweis, der ihm um den Hals baumelte. Und dann im Bett, beim Abendessen, beim gemeinsamen Erwachen. Doch die Wirklichkeit war eine andere, er war ein anderer: Er war ein grauer Mann, vor ein paar Stunden Waise geworden, er war ein Ehemann, ein Bruder, der Bewohner eines abgelegenen Dorfes, wo alle sich nach der Frau umdrehten, die aus der Stadt gekommen war. Trotzdem musste sie dabei sein, und sie war dabei gewesen, und so waren sich wegen ihrer Dreistigkeit zwei Welten begegnet, die geschaffen worden waren, einander nie zu begegnen.

Vielleicht war es nicht Liebe. Das musste man sich eingestehen. Dass es Sex war, denn sie hatten beide einen neuen Körper gebraucht, dem man außerdem vertrauen konnte. Also hatten sie diesen Sex mit aller Romantik gewürzt, zu der sie fähig waren. Nein, es war keine Liebe, denn diese Beziehung war nicht bereit, das Geringste auf ihrem Altar zu opfern, nur dazu, eine Leere zu füllen. Doch die Liebe öffnet Räume, sie füllt keine. Der Kreis würde sich niemals schließen, das war unmöglich, weil diese Beziehung nicht vertieft wurde und nichts vertiefte: Sie ging von allein weiter, setzte sich von selbst fort. Er sagte: »An uns geht der beste Teil«, sie sagte: »Uns entgeht der beste Teil.«

»Klingt zumindest ähnlich.«

Es brauchte Jahre, bis sie begriffen, dass es weitergehen würde, ohne dass den Familien irgendetwas weggenommen wurde. Im Gegenteil: mit einem neuen Gefühl der Abrundung, einer Vollständigkeit des Lebens, das von nun an um keinen Millimeter mehr verändert werden durfte. Nur neue Rekorde durften hinzukommen, wie diese kleine Trophäe mit ihren dreieinhalb Kilo, dieser Enkel im Arm seines Großvaters, den Federica als zu ihr gehörig empfinden konnte, als gehörte er ihr. Und für Simone war es genauso. Ganz auf sein Gefühl konzentriert, war er zur ersten Begegnung mit seinem Enkel gegangen, Hand in Hand mit seiner Frau und die Glückwünsche derjenigen beantwortend, die es schon erfahren hatten. Doch hatte sich darin, mitten unter die rückhaltlose Freude, dass sein Sohn einen Sohn gezeugt hatte, dieser so natürliche Gedanke, der nur die ganz einfachen Dinge klar begleitet, wie das sich erneuernde Leben selbst – hatte sich unter diese reine Freude nicht auch der Gedanke an Federica gemischt? War nicht sie diejenige, mit der er im Stillen seine Freude teilte, während er im Krankenhaus die Treppe hinaufging? Immer fester drückte Simone die Hand seiner Frau, aber wem die Hand gehörte, die er drückte, und zu welchem Herzen sie führte, zu welchem Lächeln, hätte er nicht sagen können.

»Mach noch ein Foto mit meinem Handy«, hatte er seinen Sohn gebeten, und die Umarmung, die Freude waren offenkundig, während sich hinter der Bitte um dieses Foto, wie hinter einem Vorhang, der vor einen sonnenhellen Nachmittag gezogen wurde, der unbändige Wunsch verbarg, das Foto sofort verschicken zu können, an sie, an sie. An Federica. Wie bei der Freude war es auch beim Schmerz: Als er beim Rasieren auf der linken Halsseite ein Kügelchen spürte und sein mit Lymphknoten erfahrener, an Massagen und Entzündungen gewöhnter Tastsinn fühlte, dass das etwas war, was beobachtet werden musste, dachte er nicht an sich, auch nicht an seinen Sohn, er dachte an Federica, dachte, dass er nicht krank werden wollte, um nicht sterben zu müssen und sie nicht mehr lieben zu können, um nicht gegen die Krankheit kämpfen und sich von diesem großen Glück ablenken lassen zu müssen. Oder besser gesagt, er dachte an sich, indem er sich selbst zusammen mit Federica dachte, denn inzwischen war das sein eigentlicher Blick auf das Leben. Doch dann war das eine dumme Idee, die sofort wieder verflog. Allein Federica blieb, wurde immer wirklicher.

Und Giorgio, der sich Wachs in die Ohren stopfte, dort unten auf seiner Liege? Hatte Giorgio andere Frauen? Hatte er welche gehabt? Er war ihr Mann, und seit Federica auch Simone liebte, erschien ihr dieser Zustand erträglich. In Wirklichkeit hatte Giorgio andere Frauen gehabt, aber sie waren nutzlos gewesen. Weder hatte er sich je wieder in eine Frau verliebt, noch konnten ihn die empfangenen Freundlichkeiten für das Abdriften seiner Frau entschädigen, denn seine Frau behandelte ihn sogar freundlich, sie konnte alles zusammenhalten und alles im Gleichgewicht und alles im geordneten Gang. Er nicht; es ermüdete ihn, sodass er, immer wenn eine neue Kollegin ihm etwas zu verstehen geben wollte, sehr schnell das Weite suchte. Oder so lange nachgab, wie es schmeichelhaft war. Gelegentlich ließ er sich mitreißen, doch sogar Federica, stets auf das Vorzeichen eines neuen Namens gefasst, der zunehmend häufiger und mit immer mehr Details ausgeschmückt bei ihnen zu Hause auftauchte – sogar Federica wusste, dass dieser Name, so wie er gekommen war, auch wieder verschwinden würde. Giorgio verliebte sich in sich selbst, wenn er sich von intelligenten Frauen beachtet fühlte, die meistens den gleichen Beruf hatten wie er. Das war alles. Doch dann ermüdete es ihn. Nach dem Operationssaal fühlte er sich schon müde genug. Und er fühlte sich auch schon schuldig genug, wenn er die Erwartungen der anderen nicht erfüllen konnte.

Stumm, bestürzt, harrten sie stundenlang vor den Türen des Operationssaals aus, die wartenden Verwandten. Und wenn er herauskam, war er kein Mann, dessen Arbeitstag endete, sondern ein Messias, der vor den Toren Jerichos erwartet wurde. Er aber war nur erschöpft und wusste keine Antwort. Wollte nur nach Hause zurück und duschen und fühlen, was er seit zwanzig Jahren fühlte: dass es keinen besseren Platz auf der Welt gab als zu Hause. Einer der schönsten Orte dazu: Die Zimmer hatten seine Form, die Form des Lebens, das sie beide darin geführt hatten, alle Dinge am rechten Platz, wenn sie gebraucht wurden, und kein Zweifel, niemals auch nur der geringste Zweifel.

Für das Quantum Ungewissheit, das die Medizin ihm hinterließ, entschädigte seine Familie ihn zu Hause lächelnd wieder. So auch jetzt: Susanna, die vor dem Abteil saß, Federica, die sich dort oben entspannte, und er berührte mit den Fußsohlen die Wand des Abteils.

Sie hatten etwa drei Stunden geschlafen, zwischen Udine und Baden, als auch das Mädchen hereingekommen war und sich noch komplett angezogen neben der Mutter ausgestreckt hatte. Gegen Ende der Reise, als der Zug in der Gegend um Achau langsamer wurde, träumte Federica, sie würde rauchen. Sie träumte, dass sie Simones Zigarette nahm, die er sich zwischen die Lippen gesteckt hatte, um seine Schnürsenkel zu binden, und den Rauch tief inhalierte. Dann betrat seine Frau den Traum, und Federica wachte auf.