Lieben Sie mich, Marquess! - Elizabeth Rolls - E-Book

Lieben Sie mich, Marquess! E-Book

Elizabeth Rolls

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Beschreibung

„Niemals, Mylord.” Lady Emma lehnt den kühlen Heiratsantrag des attraktiven Marquess of Huntercombe ab. Nur aus Liebe würde sie ihn ehelichen! Doch dann droht ihrem Sohn Gefahr, und die Angst treibt Emma zum Marquess. Sie sucht Hilfe – und verliert ihr Herz. Aber kann der scheinbar gefühlskalte Casanova ihre Liebe erwidern?

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Seitenzahl: 306

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IMPRESSUM

Lieben Sie mich, Marquess! erscheint in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg

Redaktion und Verlag: Postfach 301161, 20304 Hamburg Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0 Fax: +49(0) 711/72 52-399 E-Mail: [email protected]
Geschäftsführung:Katja Berger, Jürgen WelteLeitung:Miran Bilic (v. i. S. d. P.)Produktion:Christina SeegerGrafik:Deborah Kuschel (Art Director), Birgit Tonn, Marina Grothues (Foto)

© 2017 by Elizabeth Rolls Originaltitel: „His Convenient Marchioness“ erschienen bei: Mills & Boon, London Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

Deutsche Erstausgabe in der Reihe HISTORICAL SAISON, Band 61 (2) 2019 Übersetzung: Eva Hoffmann

Umschlagsmotive: GettyImages_Massonstock

Veröffentlicht im ePub Format in 05/2021

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783751506816

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:BACCARA, BIANCA, JULIA, ROMANA, HISTORICAL, TIFFANY

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1. KAPITEL

Ende Oktober 1803

Als der Marquess of Huntercombe die Liste überflog, die ihm seine Schwester in die Hand gedrückt hatte, spürte er Panik in sich aufsteigen. Was natürlich absurd war. Er befand sich in seiner Bibliothek, und niemand bedrohte ihn. Dennoch …

Er räusperte sich. „Letty, das ist nicht …“

Seine Schwester Letitia brachte ihn mit einem strengen Blick zum Schweigen. „Huntercombe, du weißt selbst, dass du dich wieder verheiraten musst.“

Wenn sie ihm Vorwürfe machte, nannte sie ihn stets Huntercombe. Dabei wusste er selbst gut genug, was er zu tun hatte! Noch nie hatte er seine Pflichten vernachlässigt. Giles, Marquess of Huntercombe, tat, was er seiner Familie, seiner Stellung als Mitglied des House of Lords, seinen Pächtern und Bediensteten schuldig war.

„Diese Sache duldet keinen Aufschub“, fuhr Letty fort. Sie seufzte. „So bedauerlich Geralds Tod auch ist …“

Hunt biss die Zähne zusammen, dann nickte er. Geralds Tod war eine Katastrophe.

„Caro und ich haben alle jungen Damen aufgelistet, die zurzeit auf dem Heiratsmarkt sind und infrage kommen.“

Heiratsmarkt war eindeutig der richtige Ausdruck. Und jung ebenfalls. Hunt schaute auf die Liste. Seine beiden Schwestern hatten neben den Namen der verschiedenen Heiratskandidatinnen vermerkt, ob die betreffende hübsch war, welche Talente sie besaß, ob sie eine zufriedenstellende Mitgift erhalten würde, über welche gesellschaftlichen Verbindungen sie verfügte und natürlich wer ihre Eltern waren.

Hunt erschauerte.

Dann zwang er sich, jeden einzelnen der Namen noch einmal zu lesen. „Um Himmels willen, Letty!“

Der Spaniel, der sich in der Nähe des Kamins ausgestreckt hatte, hob den Kopf.

„Was hast du?“

„Chloe Highfield?“ Hunt bedeutete dem Hund, er solle liegen bleiben.

„Natürlich!“ Letty verzog gekränkt das Gesicht. „Warum hätten wir sie nicht …“

„Weil sie mein Patenkind ist“, unterbrach Hunt sie.

„Oh! Daran habe ich tatsächlich nicht gedacht. Schade, dann müssen wir sie wohl streichen.“

Schnellen Schrittes trat Hunt zum Kamin und warf die Liste ins Feuer.

„Giles! Caroline und ich haben stundenlang an dieser Liste gearbeitet!“

„Das bezweifele ich nicht.“ Er starrte noch immer in die Flammen, obwohl das Papier längst verbrannt war. Schließlich wandte er sich um. „Letty, im letzten Monat hast du mir zum Geburtstag gratuliert. Man sollte meinen, dass du weißt, wie alt ich bin.“

Sie runzelte die Stirn. „Du bist 50 geworden. Warum fragst du?“

Ungläubig musterte er ihr Gesicht. Glaubte sie wirklich, ein Mann seines Alters wolle eine Jungfrau von kaum 18 Jahren heiraten?

Sein Blick wanderte zur halb geleerten Teetasse auf dem Tisch. Nun, er brauchte jetzt etwas Stärkeres als Tee. Entschlossen goss er sich ein Glas Brandy ein und trank. Die Vorstellung, eine junge Frau zu heiraten – und das Bett mit ihr zu teilen –, die kaum älter als seine Tochter war, bereitete ihm Übelkeit. Natürlich wusste er, dass viele Männer genau das taten. Aber er gehörte ganz gewiss nicht zu ihnen!

Wehmütig rief er sich in Erinnerung, wie er noch vor ein paar Wochen sein Patenkind Chloe zum Eisessen bei Gunther’s Tea Shop eingeladen hatte. Wenn Chloe nun auf der Liste der heiratsfähigen Damen stand, war es wohl ihr letzter gemeinsamer Besuch dort gewesen.

„Giles“, sagte seine Schwester mit erhobener Stimme, „wenn eine Frau mit 30 noch nicht verheiratet ist, dann gibt es gute Gründe dafür. Also …“

„Ich könnte eine Witwe als Gattin wählen.“

„Was?“

Hunt stellte sein Glas ab. „Ich finde, dass eine Frau, die bereits eine gewisse Lebenserfahrung mitbringt, sich besser als ein junges Mädchen dazu eignet, meine Marchioness zu werden.“ Eine Witwe würde weniger Erwartungen an ihn stellen, sich bereits mit der Haushaltsführung auskennen und weder romantischen Träumereien nachhängen noch ihm das Gefühl geben, sich wie ein lüsterner Satyr zu benehmen.

„Du brauchst auf jeden Fall eine Frau, die jung genug ist, um dir einen Sohn zu schenken.“

Er brauchte einen Erben, ja. Soweit er wusste, waren Frauen um die 30 durchaus noch in der Lage, Kinder zu gebären. „30“, sagte er laut, „30 wäre ein gutes Alter.“

Letty schob ihre Teetasse fort. „Ich könnte jetzt auch einen Brandy vertragen.“

Er schenkte ihr ein, und sie trank das Glas in einem Zug aus. „Eine Witwe besitzt vermutlich kein eigenes Vermögen. Und vielleicht hat sie sogar Kinder“, gab sie zu bedenken.

Es stimmte, dass das Erbe eines verstorbenen Ehemanns im Allgemeinen an seine Kinder und nicht an seine Witwe fiel. Doch Hunt war wohlhabend genug, um nicht des Geldes wegen heiraten zu müssen. Meist übernahmen die Verwandten des Verstorbenen die Vormundschaft für die Kinder, sodass Hunt selbst wenig damit zu tun haben würde. Jungen wurden sowieso ins Internat geschickt. Und Mädchen … Nun, es war die Aufgabe der Mutter, ihre Töchter zu erziehen. Ihn würde man nicht damit belästigen. Im Übrigen konnte man die Tatsache, dass eine Frau Kinder bereits hatte, als Beweis für ihre Fruchtbarkeit betrachten.

„Also gut“, seufzte Letty. „Wir machen eine neue Liste.“

„Oh, macht euch bitte keine Mühe. Ich denke, ich bin durchaus in der Lage, mir selbst eine Gattin zu suchen.“

Seine Schwester schüttelte den Kopf. „Das bezweifele ich. Die wenigsten Witwen nehmen an gesellschaftlichen Ereignissen teil. Warum sollten sie auch?“

Wahrscheinlich hatte Letty recht. „Nun gut. Aber versprich mir, dass ihr diskret vorgeht.“

Das brachte ihm einen entrüsteten Blick ein. „Lass uns so tun, als hättest du das nie gesagt.“

Obwohl er sich ärgerte, bemühte er sich zu lächeln. „Verzeih mir, Letty.“

„Was sollte ich dir verzeihen?“

„Ach, vergiss es. Ich weiß gar nicht, warum ich das gesagt habe.“ Hunt schaute demonstrativ zu der schweren Standuhr hin.

Letty, die den Wink verstand, erhob sich und ließ sich von ihrem Bruder zur Tür begleiten.

Nachdem sie sich voneinander verabschiedet hatten, begab sich Hunt zurück in die Bibliothek, wo er einen weiteren Brandy hinuntergoss, ehe er den Spaniel Fergus zu sich rief. Während er am Schreibtisch saß und den Hund kraulte, betrachtete er das kleine Bild, das seine verstorbenen Gemahlin Anne sowie die Kinder Simon, Lionel und Marianne zeigte, die ebenfalls seit Langem tot waren. Nach einer Weile zog er eine der Schreibtischschubladen auf und legte die Miniatur vorsichtig hinein. Welcher Braut würde es gefallen, wenn ihr Bräutigam täglich das Portrait seiner verstorbenen Gattin anschaute?

Nun stand nur noch das Bild seines Halbbruders Gerald auf dem Schreibtisch.

„Wir könnten einen Drachen kaufen, statt Leihgebühr für die Bücher zu zahlen“, sagte Harry zum ungefähr fünfzehnten Mal. „Ich würde auch Georgie damit spielen lassen. Das verspreche ich, Mama.“

„Nein, Harry.“ Lady Emma Lacy trug einige Bücher, die zurückgegeben werden mussten. Neben ihr ging die sechsjährige Georgie.

Harry warf seiner Mutter einen missmutigen Blick zu, öffnete dann aber, ohne zu murren, die Tür von Hatchard’s Buchladen und Leihbücherei am Piccadilly.

„Ende Oktober haben wir nicht mehr den richtigen Wind, um Drachen steigen zu lassen“, erklärte Emma, als sie mit den Kindern in den Laden trat.

London war ruhig um diese Jahreszeit. Nur wenige vornehme Familien hielten sich in der Stadt auf. Hin und wieder traf man Gentlemen, die Mitglieder des Parlaments waren und bereits die erste Sitzung des House of Lords vorbereiteten. Der Mann allerdings, der auf der anderen Straßenseite stand und sie beobachtete – Emma konnte ihn aus den Augenwinkeln sehen –, war zweifellos kein Angehöriger des Adels.

Ein Schauer überlief sie. Verfolgte der Fremde sie? In den letzten Wochen hatte sie ihn immer wieder einmal bemerkt.

„Bitte, Mama!“

Sie war mit ihrer Geduld am Ende. „Harry“, ihre Stimme klang streng, „vielleicht kann ich dir einen Drachen zu Weihnachten schenken.“

Leider wusste sie nur zu genau, dass ihr Geld gerade so reichte, um das für den Alltag Notwendige zu bezahlen. Aus finanziellen Gründen konnte sie Harry nicht einmal zur Schule schicken. Sie unterrichtete ihn ebenso wie seine kleine Schwester daheim. Deshalb war es unmöglich, die Mitgliedschaft in der Leihbibliothek zu kündigen. Sie brauchte die Bücher für den Unterricht.

„Ich hasse es, dass wir so wenig Geld haben“, stellte Harry mürrisch fest.

Sie wollte ihn tadeln, hielt dann aber inne, weil ihr bewusst war, dass ein Zehnjähriger sich eigentlich keine Gedanken um Geld machen sollte.

Ihre Situation war nicht ganz so schwierig gewesen, als Peter noch lebte. Ach, alles war einfacher gewesen, als Peter noch lebte.

„Papa hätte gewusst, wie man einen Drachen baut“, meldete sich Georgie zu Wort.

Der Drache, den Emma vor ein paar Wochen gebaut hatte, war im Wasser der Serpentine im Hyde Park versunken, statt zu fliegen.

„Halt den Mund, Georgie“, fuhr Harry auf. „Du kannst dich doch gar nicht an Papa erinnern.“

Georgie streckte ihm die Zunge raus.

„Harry“, tadelte Emma, „du sollst deine Schwester nicht ärgern! Und du, Georgie, solltest wissen, dass eine Dame niemals jemandem die Zunge herausstreckt.“

„Aber …“

„Euer Vater hätte gewusst, wie man einen Drachen baut“, unterbrach Emma ihre Tochter. Und wie man Harry erziehen muss, damit er zu einem Gentleman heranwächst.

Der Junge war noch immer wütend. Er hätte nicht nur ein männliches Vorbild, sondern auch Spielkameraden in seinem Alter gebraucht. Leider war das Leben bereits schwer genug, ohne dass Emma sich in unerfüllbaren Träumen verlor.

Sie umfasste Georgies Hand etwas fester und ging mit dem Mädchen, gefolgt von einem äußerst unzufriedenen Harry, durch den Buchladen in den Raum, in dem sich die Leihbibliothek befand.

„Was wollen wir ausleihen, Mama?“, wollte Georgie wissen.

„Mal schauen, was es gibt.“

„Bleib“, befahl Hunt seinem Spaniel.

Gehorsam setzte sich Fergus neben die Stufen, die zu Hatchard’s Buchladen hinaufführten. Hunt wusste, dass der Hund geduldig auf ihn warten würde, und betrat gut gelaunt das Geschäft. Er liebte den Geruch von ledergebundenen Büchern, von Tinte und gutem Papier.

Sogleich kam ein junger Mann auf ihn zu und begrüßte ihn: „Guten Tag, Mylord. Sie sind also wieder in London.“

Hunt hatte den größten Teil des Sommers auf seinem Landgut verbracht und selten Sehnsucht nach dem Leben in der Stadt verspürt. Die Möglichkeit, einen Buchladen zu besuchen, hatte ihm allerdings gefehlt.

„Suchen Sie etwas Bestimmtes?“, fuhr der Buchhändler fort.

„Nein, heute möchte ich mich nur umschauen.“

„Sehr wohl, Mylord. Ich möchte Sie indes darauf aufmerksam machen, dass ich in den Besitz einer Milton-Ausgabe von 1674 gelangt bin.“

„Eine Ausgabe von ‚Paradise Lost‘?“ Hunt bemühte sich, nicht allzu begeistert zu klingen. „Ich sehe sie mir auf jeden Fall an, ehe ich gehe.“

„Ich lege das Buch für Sie bereit.“

„Danke!“ Er schlenderte auf den Raum zu, in dem die Leihbibliothek untergebracht war.

Unterwegs nahm er das eine oder andere Buch in die Hand, um es zu begutachten. Aus den Augenwinkeln musterte er dabei die anderen Kunden. Es war niemand da, den er kannte. In der Tür zur Leihbücherei blieb er kurz stehen, um das Bild in sich aufzunehmen, das sich ihm darbot.

In einem der Sessel saß eine grau gekleidete Frau, die gemeinsam mit einem kleinen Mädchen, das sie auf dem Schoß hatte, ein Buch anschaute. Neben den beiden stand ein Junge von zehn oder elf Jahren, der einen mürrischen Eindruck machte. Jetzt hob er den Kopf und betrachtete Hunt aus unerschrockenen blauen Augen.

Hunt runzelte die Stirn, nickte dem Jungen dann aber zu und grüßte ihn. „Guten Tag.“ Er war verwirrt und bestürzt darüber, wie sehr ihn der offene Blick des fremden Kindes an seine eigenen Söhne erinnerte.

Ein wenig verlegen erwiderte der Junge seinen Gruß. „Guten Tag, Sir.“

Abrupt schaute die Frau auf. Sogleich vergaß Hunt den Jungen. Denn die ebenfalls blauen Augen der Frau weckten unerwünschte Gefühle in ihm. Lust und Verlangen! Verflixt, er kannte die Frau gar nicht! Außerdem hatte er noch nie eine Vorliebe für Gouvernanten verspürt.

Einen Moment lang glaubte er, sie würde etwas sagen. Doch schon wandte sie ihre Aufmerksamkeit wieder dem Buch zu. Leise sagte sie etwas zu dem Mädchen, das daraufhin nickte. Nun sie legte das Buch beiseite.

Hunt zwang sich, an eines der Regale zu treten. Dennoch sah er nicht die Buchrücken, sondern die großen, dunkelblauen Augen in dem blassen Gesicht der Fremden. Noch immer war ihm heiß, und sein Herz schlug zu schnell. Was, zum Teufel, sollte das? Er war 50 und kein grüner Junge, der sich durch eine unerwartete Begegnung erregt fühlte.

Trotzdem konnte er der Versuchung nicht widerstehen. Er drehte sich um und betrachtete die Frau noch einmal. Irgendetwas an ihr kam ihm bekannt vor. Aber da sie ihn weder angelächelt noch sonst irgendein Zeichen der Ermutigung gegeben hatte, blieb ihm wohl kaum etwas anderes übrig, als sie zu ignorieren. Der Marquess of Huntercombe gehörte nicht zu den Männern, die fremde Frauen in Buchläden ansprachen.

„Harry“, hörte er sie mit einer ein wenig heiseren Stimme sagen, „möchtest du diese Woche etwas von Mr. Swift ausleihen?“

„Meinetwegen.“

Hunt, der sich wieder dem Buchregal zugewandt hatte, schmunzelte. Was Harry offensichtlich wirklich dachte, war: „Ein Buch lesen? Nur, wenn es unbedingt sein muss.“ Typisch für einen Zehnjährigen! Seine eigenen Söhne hatten auch lieber mit ihren Freunden Cricket gespielt, statt zu lesen.

„Das dumme Buch hattest du schon letzten Monat, Georgie“, stellte Harry streitlustig fest.

Die Stimme seiner Mutter hörte sich plötzlich sehr kühl an. „Harry, bitte!“

„Aber es stimmt doch!“, verteidigte er sich. „Märchen sind was für Babys. Wenn wir schon etwas ausleihen müssen, dann sollte es etwas Vernünftiges sein.“

„Ich bin kein Ba…“

„Georgie! Harry, soweit ich sehe, hast du noch überhaupt kein Buch ausgesucht.“

Der strenge Ton bewirkte, dass das Mädchen schwieg und der Junge sich erst auf die Unterlippe biss und schließlich behauptete: „Ich habe Mr. Swift ausgesucht.“

„Nein, ich habe Mr. Swift vorgeschlagen. Und du warst einverstanden. Das ist etwas anderes, als selbst ein Buch auszusuchen.“

Ein kurzes Schweigen folgte. „Ich hätte lieber einen Drachen als ein Buch.“

„Harry!“

„Ich weiß schon: Sie war krank, und wir haben eine Menge Geld für den Doktor und die Medizin ausgegeben. Deshalb kann ich keinen Drachen kriegen.“

„Es war nicht meine Schuld.“ Georgie warf ihrem Bruder einen entrüsteten Blick zu. „Du hast mich mit der blöden Erkältung angesteckt.“

„Ich habe jedenfalls keinen Doktor und keine Medizin gebraucht. Weil ich nämlich kein dummes kleines Mäd… Au!“

„Georgie! Du hast deinen Bruder geschlagen, obwohl du weißt, dass er nicht zurückschlagen darf.“

„Das ist mir egal. Er hat mich angesteckt! Und ich bin nicht dumm!“

„Das stimmt.“

Hunt drehte sich um, gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie die Frau sich erhob und das Mädchen auf die Füße stellte. Offensichtlich war sie zornig, dennoch blieb sie ruhig. Sie senkte nicht einmal den Blick, als sie bemerkte, dass Hunt ihr gerötetes Gesicht musterte.

Er bedachte sie mit einem mitfühlenden Lächeln.

„Mama?“

„Während ich diese Bücher zurückstelle, könnt ihr beide euch bei Seiner Lordschaft dafür entschuldigen, dass ihr ihm den Besuch im Buchladen verdorben habt.“

Sie wusste, dass er dem Hochadel angehörte? Dann kannte er sie also tatsächlich. Wo mochten sie sich begegnet sein? Eine Gouvernante war sie jedenfalls nicht.

„Ich möchte aber das Buch mit den Märchen haben“, jammerte Georgie.

Harry gab ihr einen kleinen Schubs.

„Es ist alles deine Schuld“, warf sie ihm vor.

Dann schloss sie den Mund, weil sie bemerkte, dass Hunt sie anschaute. Aus großen braunen Augen erwiderte sie seinen Blick. „Entschuldigung, Sir.“

Oh Gott, wie sehr erinnerte sie ihn an ein anderes kleines Mädchen, das sich ebenfalls über seinen großen Bruder geärgert hatte!

Der Junge hatte vor Scham gerötete Wangen. „Es tut mir sehr leid, Mylord. Bitte, verzeihen Sie mir.“

Hunt nickte den beiden zu. „Entschuldigung angenommen. Allerdings“, er sah Harry fest in die Augen, „benimmt sich kein Gentleman schlecht gegenüber seiner Mutter.“

Der Junge straffte die Schultern und holte tief Luft. Dann trat er zu seiner Mutter. „Mama, es tut mir leid, dass ich mich so schlecht benommen und dich und Georgie geärgert habe. Das hätte ich nicht tun dürfen.“

Die Frau drehte sich um. Ihr Gesicht verriet, wie erschöpft sie war. Es verriet aber auch, dass sie ihre Kinder liebte und dass nichts diese Liebe erschüttern konnte.

„Ich könnte zur Strafe auf den Nachtisch verzichten“, schlug Harry kleinlaut vor.

Sie lächelte. Es war ein Lächeln, das den ganzen Raum erhellte. In diesem Augenblick wünschte Hunt, er könnte etwas tun, um dieser Fremden das Leben zu erleichtern. Er wollte, dass sie öfter so lächelte.

„Mir wäre es am liebsten“, antwortete sie, „wenn du dir jetzt ein Buch aussuchen und es auch tatsächlich lesen würdest.“

„Ja, Mama.“

Sie fuhr ihm liebevoll mit der Hand durchs Haar. Ihr Lächeln schien noch sonniger geworden zu sein. „Gut. Such dir also etwas aus!“

„Darf ich vielleicht meine Hilfe anbieten?“ Das Angebot war heraus, ehe Hunt bewusst war, dass er sich einmischte.

Im gleichen Moment bemerkte er, wie die Frau eine abwehrende Haltung einnahm. „Danke, Mylord, das ist wirklich nicht nötig.“

Er deutete eine Verbeugung an. „Es ist mir sehr unangenehm, Mylady, dass ich mich nicht an Ihren Namen erinnere. Aber wir kennen uns, nicht wahr? Ich bin Huntercombe.“

„Es erstaunt mich, dass Sie sich überhaupt an mich erinnern. Es ist Jahre her, dass wir uns begegnet sind. Danke, dass Sie die Entschuldigung der Kinder akzeptiert haben.“

Er lächelte. Und zerbrach sich weiter den Kopf über sie. Offenbar wollte sie ihren Namen nicht nennen. Vielleicht hatte sie früher wirklich als Gouvernante gearbeitet und Kinder betreut, mit denen seine eigenen gespielt hatten. Ihre Kleidung jedenfalls verriet, dass sie sich nicht in den besten Kreisen der Gesellschaft bewegte.

Georgie schob ihre kleine Hand in die der Mutter. „Waren Sie ein Freund von Papa, Sir?“

„Das weiß ich nicht genau“, gestand er.

„Mein Papa war Lord Peter Lacy“, sagte die Kleine. „Ich bin Georgiana Mary. Und das ist mein Bruder Harry.“

„Georgie, Liebes“, Emma hielt ihr das Märchenbuch hin, „nimm dein Buch, und setz dich noch einmal zu mir.“

„Ja, Mama.“

Lord Peter Lacy war einer der jüngeren Söhne des Duke of Keswick. Daran erinnerte sich Hunt. Ebenso wie daran, dass Lacy eine Gattin gewählt hatte, die seine Eltern ablehnten. Daraufhin war er in der guten Gesellschaft nicht mehr gesehen worden. Wenn er nur wüsste, wie die Frau …

„Lady Emma Lacy“, sagte er. „Natürlich, Sie sind Dersinghams Tochter.“ Erneut musterte er sie; diesmal möglichst unauffällig. Der Earl of Dersingham war über die Verbindung genauso erzürnt gewesen wie der Duke of Keswick. Und zwar nur aus einem einzigen Grund: Die beiden Familien lagen seit Langem im Streit miteinander. Vermutlich wusste längst niemand mehr, was der Auslöser für die Feindschaft gewesen war.

Sie nickte.

„Wie geht es Ihrem Vater? Ich habe ihn seit der letzten Sitzung des House of Lords nicht mehr gesehen.“ Er hatte es auch nicht versucht, denn er mochte den Earl nicht.

„Soweit ich weiß, geht es ihm gut.“ Ihr Lächeln war jetzt nicht mehr strahlend, sondern nur höflich. „Entschuldigen Sie mich, bitte, Mylord. Wir müssen noch ein paar Bücher aussuchen.“

„Natürlich, Mylady.“ Er verbeugte sich und war im Begriff, den Raum zu verlassen, als ihm noch etwas einfiel. Das Mädchen hatte von ihrem Vater in der Vergangenheit gesprochen, und Lady Emma Lacy trug Grau. Das konnte nur eines bedeuten. „Darf ich Ihnen mein Beileid aussprechen, Lady Lacy? Ihr Verlust tut mir sehr leid.“

„Danke, Mylord.“

Der Kummer in ihren Augen war ihm nur zu vertraut. Er hatte ihn viel zu oft gesehen, wenn er sich selbst im Spiegel betrachtete.

„Mama?“

Harry stand mit drei dicken in Leder gebundenen Bänden vor ihr. „The Monk“ von Matthew Lewis, ein äußerst verrufener Schauerroman.

Hunt musste ein amüsiertes Lachen unterdrücken. „Ich fürchte, mich hat der Roman sehr gelangweilt“, log er. „The Monk“ war ganz gewiss keine passende Lektüre für einen Zehnjährigen.

„Langweilig?“, echote Harry enttäuscht.

„Äußerst langweilig.“ Er nahm dem Jungen die Bücher ab. „‚Gullivers Reisen‘ von Mr. Swift fand ich viel interessanter. Ich denke, die sprechenden Pferde werden dir gefallen.“

„Sprechende Pferde? Danke für den Tipp, Mylord.“

In Emmas Augen tanzten Fünkchen. Sie musste sich große Mühe geben, ernst zu bleiben. „Dann hol dir das Buch“, forderte sie ihren Sohn auf. Und sehr leise sagte sie zu Hunt: „Ich hätte ihm nicht erlaubt ‚The Monk‘ zu lesen. Allerdings …“

„Allerdings war es vielleicht etwas einfacher, dass ich es ihm ausredete?“ Himmel, Emma Lacy war bezaubernd, wenn ihre Augen so strahlten!

Um ihren Mund zuckte es belustigt. „Ich wäre wahrscheinlich nicht auf die Idee gekommen, den Roman als ‚äußerst langweilig‘ zu beschreiben.“

Er räusperte sich. Dass sie beide so unerwartet zu Verbündeten geworden waren, machte ihn verlegen. Nein, mehr als das: Es war ihm unheimlich. Steif bemerkte er: „Es kann nicht leicht sein für eine Dame, einen selbstbewussten Jungen zu erziehen. Sollte Harry nicht in der Schule sein? Ich könnte mir denken, dass Keswick …“

Ihre eben noch lachenden blauen Augen blickten plötzlich kalt und abweisend. „Das, Mylord, ist …“

„Verzeihung, Lord Huntercombe …“ Hatchard stand in der Tür. „Wenn Sie sich jetzt den Milton anschauen wollen?“ Er richtete den Blick auf Lady Emma. „Guten Tag, Mylady.“

„Guten Tag, Mr. Hatchard.“ Sie schien sich in eine vollkommen andere Frau verwandelt zu haben. Mit kühler Höflichkeit wandte sie sich an Hunt. „Bitte, lassen Sie sich nicht aufhalten, Mylord.“

Er verbeugte sich. „Au revoir, Mylady.“

2. KAPITEL

Mit den zu einem Bündel zusammengeschnürten ausgeliehenen Büchern unter dem Arm ging Emma zur Ausgangstür. Sie kochte vor Zorn. Wie konnte Huntercombe es wagen, ihre Erziehungsmethoden zu kritisieren! Seine Kinder – dachte Emma – hatte er zweifellos von Gouvernanten und Hauslehrern erziehen lassen. Wahrscheinlich hatte er selbst sie höchstens einmal pro Tag gesehen. Und das auch nur, solange die Jungen nicht ins Internat geschickt worden waren, wo sie sicher nicht viel anderes gelernt hatten, als reichlich Alkohol zu trinken und um Geld zu spielen. So war es jedenfalls bei ihren Brüdern gewesen.

Was, um Himmels willen, fand sie an Huntercombe nur so attraktiv? Er musste etwa 20 Jahre älter sein als sie, und natürlich war er verheiratet! Warum also hatte ihr Herzschlag sich bei seinem Anblick und beim Klang seiner Stimme beschleunigt? Zugegeben, er hatte sie zum Lachen gebracht. Er war nett gewesen, aber auch bieder und förmlich und …

Auf jeden Fall hätte er sie nicht kritisieren dürfen.

Trotzdem musste sie zugeben, dass er seit Jahren der erste Gentleman war, der sie weder herablassend behandelt noch ignoriert hatte. Auch war es äußerst unwahrscheinlich, dass er unmoralische Hintergedanken gehabt hatte, als er sie ansprach. Manche Gentlemen wollten ihrem langweiligen Alltag mehr Würze geben, indem sie sich heimlich mit einer Witwe vergnügten. Doch Huntercombe hatte Hatchard’s Buchladen wohl kaum aufgesucht, weil er eine Affäre plante.

In diesem Moment drängte Harry sich an ihr vorbei, um ihr die Tür aufzuhalten. Kein Gentleman benimmt sich schlecht gegenüber seiner Mutter. „Soll ich die Bücher tragen, Mama?“

Sie wollte ihm danken, vergaß es jedoch, als sie den Mann auf der anderen Straßenseite bemerkte. Er war ihr also wirklich gefolgt! Verflixt! Was mochte er im Schilde führen?

„Mama, soll ich …“, begann Harry erneut. Dann sprang er eilig die Stufen der Eingangstreppe hinunter. Er hatte am Fuß der Treppe einen Hund entdeckt, der heftig mit dem Schwanz wedelte. Einen Spaniel. „Sieh nur, Mama!“

„Harry!“

Zu ihrem Erstaunen blieb er stehen und schaute sich nach ihr um.

„Er ist so süß! Darf ich ihn streicheln, Mama? Bitte! Ich glaube nicht, dass er beißt.“

Emma unterdrückte ein Lachen. So, wie der Hund sich aufführte, würde er Harry höchstens vor Begeisterung zu Tode lecken. Nun, immerhin blieb der Spaniel brav sitzen und hielt Harry bittend ein Pfötchen hin.

„Du darfst ihn streicheln“, sagte sie.

„Vielleicht hat er sich verlaufen“, überlegte Georgie laut. Auch sie begann nun, den Spaniel zu streicheln. „Wir könnten ihn nach Hause mitnehmen und für ihn sorgen, bis seine Familie ihn abholt.“

„Ich bin sicher, dass er sich nicht verlaufen hat“, meinte Emma.

„Auf dem Halsband steht sein Name. Fergus“, stellte Harry fest.

Als er seinen Namen hörte, wedelte der Hund noch begeisterter mit seinem Schwanz.

„Vielleicht ist seine Familie böse“, fuhr Georgie fort. „und er sitzt hier, weil er auf nette Leute wartet, die ihn mitnehmen. Wir sind nett.“

„Nun, Georgiana Mary, ich kann dir versichern, dass Fergus sich nicht verlaufen hat.“

Die Stimme kam Emma bekannt vor. Oh Gott, Huntercombe! Wie peinlich! Er mochte bieder sein, doch böse war er bestimmt nicht.

Fergus fiepte vor Entzücken, als er seinen Besitzer bemerkte.

Hunt schnippte mit den Fingern, und der Spaniel rannte zu ihm.

„Er ist unglaublich gut erzogen“, staunte Harry.

Hunts Lächeln – obwohl es Harry galt und nicht ihr – ließ Emmas Herz schneller schlagen.

„Fergus ist ein guter Hund. Jetzt freut er sich darauf, dass er sich im Park richtig austoben darf.“

Harrys Augen leuchteten auf. „Wir gehen auch in den Park.“

„Ja“, kam Georgie ihm zu Hilfe, „wir gehen oft dort spazieren. Und wir mögen Hunde.“

Obwohl er über diesen allzu eindeutigen Wink offensichtlich nicht verärgert war, wirkte Huntercombe ein wenig unsicher.

„Möchten Sie uns auf unserem Spaziergang begleiten, Mylord?“, fragte Harry.

Emma wäre vor Scham am liebsten im Erdboden versunken.

Hunt jedoch erwiderte freundlich: „Das ist ein netter Vorschlag. Ich könnte mir vorstellen, dass Fergus seinen Ausflug noch mehr genießt, wenn ihr dabei seid. Sofern Sie einverstanden sind, Mylady?“

Emma war so schockiert, dass es ihr die Sprache verschlug.

„Bitte, Mama“, drängte Harry.

„Bitte, Mama“, bettelte Georgie.

Emma holte tief Luft. Was sollte schon schlimm daran sein, wenn sie mit einem Bekannten ihres Vaters einen Spaziergang im Park machte?

„Mylord“, sagte sie, „Ihre Begleitung ist uns sehr willkommen.“ Für eine Weile würde sie die Gesellschaft eines Gentlemans genießen können, der sie weder herablassend behandeln noch ihr zu nahe treten würde.

Ihr Blick wanderte zur anderen Straßenseite. Der Fremde war verschwunden. Gut!

Als sie den Park erreichten, hatte Hunt schon ein paar verwirrende Tatsachen über Lady Emma Lacy in Erfahrung gebracht. Zweifellos las sie die politischen und wirtschaftlichen Seiten der Zeitung, interessierte sich aber erstaunlicherweise nicht für gesellschaftlichen Klatsch. Und sie verstand sich darauf, das Gespräch allgemein zu halten, so als wolle sie möglichst wenig über ihr Leben preisgeben.

Im Park zog Hunt einen zerbissenen Cricket-Ball aus der Tasche und warf ihn weit von sich. Woraufhin Fergus lossprintete, den Ball zu fassen bekam und ihn zurückbrachte.

„Möchtest du den Ball jetzt werfen, Harry?“, fragte Hunt.

Der Junge nickte begeistert. Noch nie hatte er so viel Spaß gehabt.

„Wie weit wollen wir gehen, ehe wir umkehren?“, erkundigte sich Hunt einige Zeit später.

„Umkehren?“ Emma runzelte die Stirn.

„Nach Hause. Nach Mayfair.“

„Oh …“ Sie errötete. „Wir leben in Chelsea.“

Da einige gesellschaftlich anerkannte Familien in Chelsea wohnten, wunderte Hunt sich über die Röte auf Emmas Wangen. Er vergaß diesen Gedanken aber sogleich, als er bemerkte, mit wie viel Liebe sie ihre Kinder betrachtete, die mit Fergus um die Wette rannten. „Jeder Junge sollte einen Hund haben“, stellte er fest.

„Ich kann Ihnen versichern, dass Georgie dieser Aussage widersprechen würde. Sie meint, auch jedes Mädchen sollte einen Hund haben.“

„Hm …“

Gerade hatte Fergus den inzwischen vor Speichel triefenden Ball fallen gelassen, und Georgie bückte sich danach.

„Aber Sie haben keinen Hund.“

Emma nickte.

„Warum nicht?“

Sie errötete noch mehr. „Weil wir es uns nicht leisten können.“

„Sie könn …“ Mitten im Wort brach er ab. Plötzlich passte alles zusammen: das einfache Kleid, die Tatsache, dass Harry nicht zur Schule ging, und der erschöpfte Ausdruck in Emmas Augen. Außerdem hatte Harry erwähnt, dass die medizinische Behandlung seiner Schwester so teuer gewesen war, dass sie nun keinen Drachen kaufen konnten. Verflixt!

„Wir müssen uns auf den Heimweg machen“, bemerkte Emma.

„Gestatten Sie mir, Sie zu begleiten?“ Warum, zum Teufel, habe ich das gesagt? Er mochte die Kinder, die offenbar gut erzogen waren, aber ganz und gar nicht schüchtern oder verunsichert wirkten. Auch gefiel es ihm, wie begeistert sie von Fergus waren. Dennoch …

„Bitte, machen Sie sich keine Umstände“, antwortete Emma. „Es war wirklich nett von Ihnen, den Kindern zu erlauben, mit Fergus zu spielen.“

„Wie kommen Sie darauf, dass ich mich Ihnen nur wegen Fergus und der Kinder angeschlossen habe?“

Sie hob die Brauen.

„Ich habe Ihre Gesellschaft genossen, Lady Emma. Und ich würde gern …“

„Nein“, unterbrach sie ihn.

„Nein?“

Ihr sanftes Gesicht hatte einen harten Ausdruck angenommen. „Nein, im Sinne von ‚Nein danke, ich bin nicht interessiert‘.“

Nicht interessiert? Woran nicht interessiert? Was, um Himmels willen, hat sie so gegen mich aufgebracht?

„Harry, Georgie! Kommt her!“

„Mama, bitte!“, tönte es zweistimmig zurück.

Hunt räusperte sich. „Verzeihen Sie!“ Dann pfiff er auf zwei Fingern.

Fergus, den Ball im Maul, gehorchte sofort und rannte zu Hunt. Doch statt den Ball herzugeben, begann der Spaniel vor seinem Herrchen hin und her zu laufen.

Es war ein Spiel, das sie immer spielten.

Harry und Georgie, die atemlos angelaufen kamen, ermutigten Fergus.

„Sitz!“, befahl Hunt.

Fergus setzte sich und spuckte Hunt den Ball vor die Füße.

„Guter Junge!“ Hunt bückte sich und hob den nassen und dreckigen Ball auf.

„Wollen Sie den in Ihre Tasche stecken?“, fragte Georgie angeekelt. „Igitt!“ Sie fischte ein kleines Taschentuch aus ihrer eigenen Tasche und hielt es Hunt hin. „Damit können Sie den Ball einwickeln.“

„Das ist wirklich lieb von dir, Georgie. Allerdings wird deine Mutter nicht wollen, dass du dein Taschentuch weggibst.“

Georgies Gesicht nahm einen verdächtig unschuldigen Ausdruck an. „Sie könnten mit Fergus einen Spaziergang nach Chelsea machen und es mir zurückbringen. Wir wohnen in der Symons Street.“

Wenn Lady Emma nicht so viel eisige Ablehnung ausgestrahlt hätte, wäre er amüsiert gewesen.

„Georgie“, sagte sie mit fester Stimme, „Seine Lordschaft hat keine Zeit für solche Spaziergänge. Du besitzt noch andere Taschentücher.“

„Oh …“ Jetzt sah das Mädchen untröstlich aus. „Ja, Mama.“

„Ein Gentleman sollte einer Dame nicht widersprechen“, verkündete Hunt und griff nach dem Taschentuch. „Vielen Dank, Georgie. Ich hoffe sehr, dass ich bald die Zeit finde, mit Fergus einen Spaziergang nach Chelsea zu machen.“ Sorgfältig wickelte er den Ball ein, ehe er ihn in die Tasche steckte. Dann verbeugte er sich. „Auf Widersehen, Lady Emma. Georgie!“ Harry hielt er die Hand hin. „Harry!“

Der Junge strahlte, als er Hunt kräftig die Hand schüttelte. „Auf Wiedersehen. Es war sehr nett, Sie kennenzulernen, Mylord.“

„Au revoir.“ Gefolgt von Fergus machte Hunt sich auf den Rückweg nach Mayfair.

„Au revoir“, hörte er Georgie noch sagen, „heißt doch ‚bis wir uns wiedersehen‘. Bestimmt bringt er mein Taschentuch zurück.“

Also würde zumindest das kleine Mädchen sich freuen, ihn wiederzusehen. Aber warum zum Teufel war Lady Emma so erbost über sein Angebot gewesen, sie nach Hause zu begleiten? Nein, im Sinne von ‚Nein danke, ich bin nicht interessiert‘. Er hatte ihr schließlich kein unmoralisches Angebot unterbreitet! Obwohl … Er zuckte zusammen. Natürlich! Es gab durchaus Gentlemen, die einer Witwe aus anderen Gründen ihre Begleitung anboten. Vermutlich taten es die wenigsten, weil es ihnen Freude bereitete, ihren Kindern beim Spielen zuzusehen.

„Verflixt, Fergus“, sagte er zu dem Spaniel, „sie hat gedacht, ich wollte eine Affäre mit ihr anfangen.“

Fergus hob den Kopf.

Hunt beschloss, das Missverständnis so bald wie möglich aus der Welt zu räumen.

In diesem Moment hielt eine Kutsche neben ihm.

Er erkannte den Kutscher, noch ehe Letty den Kopf aus dem Fenster streckte.

„Giles, welch glücklicher Zufall! Steig ein! Wir fahren zu mir. Wir müssen dringend über die neue Liste sprechen.“

Er schüttelte den Kopf. „Wie du siehst, habe ich den Hund bei mir. Am besten schickst du mir die Liste zu.“

Voller Widerwillen musterte Letty den Spaniel. „Es ist mir unbegreiflich, warum du einen Hund in die Stadt mitbringst. Du könntet ihn wenigstens von deinen Bediensteten ausführen lassen!“

„Da es mein Hund ist, führe ich ihn gern selbst aus.“

„Ich hoffe sehr, dass du deine Junggesellen-Angewohnheiten aufgibst, wenn du erst wieder verheiratet bist. Ich jedenfalls möchte nicht dauernd ein Tier im Salon haben, selbst wenn es so gut erzogen ist wie dein Hund.“ Sie gab dem Kutscher das Zeichen weiterzufahren. „Ich erwarte dich, Giles. Bis gleich!“

Er seufzte. „Hättest du dich nicht ausnahmsweise mal schlecht benehmen können, Fergus? Dann hätte sie vielleicht Abstand davon genommen, mich zu sich zu beordern.“

Fergus schien zu grinsen.

„Es würde dir ganz recht geschehen, wenn meine zukünftige Gemahlin meinen Junggesellen-Angewohnheiten einen Riegel vorschieben würde.“

Hunt hatte sich bereits mit einem Glas Brandy aus der Karaffe seines Schwagers gestärkt, als Letty in den Salon gesegelt kam.

Sie warf Fergus, der vor dem offenen Kamin lag, einen missbilligenden Blick zu. Hunt vermutete, dass wahrscheinlich keine der Frauen auf der neuen Liste es mögen würde, wenn ein Hund im Haus lebte.

„Caro und ich haben lange darüber nachgedacht, wen wir auf die neue Liste nehmen sollen“, begann Letty. „Schließlich sollte deiner Braut nicht der kleinste Hauch eines Skandals anhaften. Leider gibt es unangenehme Gerüchte über sehr viele Witwen. Deshalb solltest du noch einmal darüber nachdenken, ob du nicht doch …“

„Ich werde kein junges Mädchen heiraten“, fiel er ihr ins Wort.

„Also gut.“ Letty seufzte. „Ehrlich gesagt haben wir diesmal keine Liste. Nur einen Vorschlag …“

Er runzelte die Stirn. „Du meinst, dass es in ganz England nur eine Witwe gibt, die als meine Gattin infrage kommt?“

„Also …“ Letty zierte sich ein bisschen. „Wir dachten an mein Patenkind, Amelia Trumble.“

Hunt erstarrte. „Sie muss über 30 sein“, stieß er dann hervor.

„Keineswegs. Sie ist 27. Du könntest kaum eine bessere Wahl treffen.“

Vergeblich bemühte er sich, gelassen zu wirken. Amelia Trumble – um Himmels willen! Es war ihm unbegreiflich, wie eine Frau von 27 Jahren es schaffte, wie 40 auszusehen. Außerdem war Amelia die personifizierte Langeweile. Nun ja, ihr verstorbener Gatte war ebenso gnadenlos langweilig gewesen.

„Die gute Amelia ist so vernünftig und anständig“, schwärmte Letty.

Gegen Vernunft und Anstand gab es nichts einzuwenden. Aber mussten sie unbedingt mit unerträglicher Langeweile einhergehen?

„Sie wäre dir eine äußerst pflichtbewusste Gattin. Zudem verfügt sie sogar über eigenes Vermögen. Ihr Sohn wird dir nicht zur Last fallen. Er ist Trumbles Erbe und soll daher bei seinem Großvater aufwachsen.“

„Sie will den Jungen bei Baron Trumble lassen?“ Hunt wunderte sich darüber, dass diese Vorstellung ihm nicht behagte. Sollte ein Ehemann nicht froh sein, wenn er mit den Kindern seines verstorbenen Vorgängers möglichst wenig zu tun hatte?

„Amelia würde den Jungen natürlich hin und wieder besuchen. Sie ist jedoch nicht übertrieben sentimental.“

Übertrieben sentimental? Vor Hunts innerem Auge tauchte das Bild einer grau gekleideten Dame auf, die ein kleines Mädchen auf dem Schoß hielt. Gleich darauf sah er Emmas liebevolles, strahlendes Lächeln vor sich, als Harry sich bei ihr entschuldigte.

Nun, solche Erinnerungen waren bedeutungslos. Eigentlich hatte er nichts gegen Amelia. Wenn Caroline und Letitia fanden, sie würde eine gute Marchioness abgeben …

„Ich werde über euren Vorschlag nachdenken“, versprach er und wechselte das Thema. „Bist du mit Lady Emma Lacy bekannt?“

Letty runzelte die Stirn. „Lady Emma Lacy? Herrje! Du meinst Dersinghams Tochter? Sie ist verwitwet, das stimmt. Hoffentlich denkst du nicht daran, eine Verbindung mit dieser furchtbaren Frau einzugehen!“

„Natürlich nicht.“ Aber warum sollte sie eine furchtbare Frau sein? „Ich habe sie nur zufällig heute bei Hatchard’s getroffen.“

„Wo sie sich zweifellos alle Mühe gegeben hat, deine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, die schamlose Person! Hast du vergessen, dass sie ihren Bräutigam vor dem Altar hat stehen lassen, um mit dem jungen Lacy in Sünde zu leben? Immerhin konnte sie ihn überreden, sie zu heiraten und eine ehrbare Frau aus ihr zu machen. Trotzdem war Dersingham so entrüstet über ihr Verhalten, dass er sie enterbt hat. Und die Keswicks, ihre Schwiegereltern, haben natürlich auch den Kontakt zu ihr abgebrochen.“ Letty erschauerte. „Ich werde mit Hatchard reden. Solche Frauen sollte er nicht in seinem Geschäft dulden!“

„Das, liebe Letty, wird nicht nötig sein. Bestimmt war es eine einmalige Begegnung.“ Letty muss übertrieben haben. Ich kann jedenfalls nicht glauben, dass Emma mit Lord Peter Lacy in Sünde gelebt hat. Doch es ist wohl besser, das Thema zu wechseln. „Was nun Amelia betrifft … Du gibst mir Bescheid, wenn sie in der Stadt ist, nicht wahr?“

„Natürlich! Wie ich schon sagte: Du könntest keine bessere Wahl treffen.“