Lieber allein als gar keine Freunde - Anja Rützel - E-Book

Lieber allein als gar keine Freunde E-Book

Anja Rützel

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Beschreibung

Witzig, nachdenklich, einzigartig – Kult-Autorin Anja Rützel in Bestform Anja Rützel ist gerne alleine – und steht damit ziemlich einsam da. Aber warum ist das Leben als Einzelmensch eigentlich so negativ belegt? Braucht die Einsamkeit vielleicht einfach nur einen guten Imageberater? Anja Rützel forscht nach, was hinter dem menschlichen Drang zum Zusammenglucken steckt, und lernt, ihr Solo-Leben richtig zu lieben (und dass es nicht immer eine gute Idee ist, ausgerechnet in einem Jodelkurs neue Freunde finden zu wollen). Mit ihrem unvergleichlichen Sinn für Hintergründiges, Zwischenmenschliches und Abstruses nähert sie sich einem ernsten Thema von einer ganz neuen Seite. Ein feinfühliger, urkomischer Appell für ein positives Einsamkeitsgefühl

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Seitenzahl: 264

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Anja Rützel

LIEBER ALLEIN ALS GAR KEINE FREUNDE

FISCHER E-Books

Inhalt

WidmungMottoEinzelfallEin Gefühl mit ImageproblemRützel probiert es wenigstensFinger weg von meiner Kauzigkeit!Ausflug mit mirDie Sache mit dem InternetAll the single ladiesDate mit DonMein Freund ist aus EisenEinsame SpitzeQuellen

Für mich

Du sagst, ich lebe anders jetzt

Seit geraumer Zeit

Du sagst, mein neues Hobby

Ist die Einsamkeit

Tocotronic, »Mein neues Hobby«

 

Remember: the time you feel lonely

is the time you most need to be by

yourself. Life’s cruelest irony.

Douglas Coupland, »Shampoo Planet«

 

I just want to be alone.

Greta Garbo, »Grand Hotel«

Einzelfall

Eine Bratsche als Warnung, das wäre fair gewesen. Sie hätte sich hinterrücks anschleichen und damit anfangen können, leicht unheilvoll zu sägen. Das wäre dann das Signal für das Klavier gewesen, nervös zu trippeln, ein paar zupfige, hektische Streicher machten auch noch mit, und schnell wäre ihre unheilvolle Botschaft nicht mehr zu überhören gewesen. Wäre mein Leben ein Film oder wenigstens eine Vorabendserie, hätte mich längst die sich immer dringlicher und dränglicher aufblähende Hintergrundmusik gewarnt, kulminierend in einem überpathetischen Orgelakkord, so massiv, als sei der Organist selbst ohnmächtig geworden bei so viel Dramatik und habe seinen Organistenkopf mit vollem Schädelgewicht auf die Tasten sinken lassen: DööööööörÖÖÖMMM! Mein Leben ist aber kein Film, es gibt niemals verräterische Musik und keine Vorwarnung, und so bekomme ich gar nicht richtig mit, was passiert, weil es so schnell geht, als das kleine Tier plötzlich in meinen Armen zusammensackt, während ich ihm gerade sein Halsband anziehen will.

 

»Wollnwermal«, schnauft dann der Mann vom Tierkrematorium, vielleicht zwei Stunden später, vielleicht drei. Schlägt die weiche, graue Decke mit den kleinen weißen Häschen drauf über Figo zusammen, steckt das flauschige Wollpaket mit meinem toten Hund darin in raschelnde schwarze Plastikfolie, die auch das aufgedruckte, pietätvoll gemeinte silberne Krematoriums-Logo nicht zu etwas anderem macht als zu einem Müllsack. Ich stehe daneben, in meinem Arbeitszimmer, und sehe zu, wie der Mann anschließend versucht, den Figo-Sack in eine ganz offensichtlich zu kleine schwarze Sporttasche zu zwängen, auch durch das unförmige Plastik kann ich sehen, wie die ausgestreckten, steifen Hundebeine, im Tod noch stacksiger als ohnehin schon, aus der Tasche ragen. Der Krematoriumsmann schnauft noch mehr und schiebt und drückt und wird ein bisschen brutal, und dann ist der leichenstarre Hund endlich drin in der Tasche und wird aus meiner Wohnung getragen, mein Figo, eingewickelt in seine Lieblingsdecke mit den Häschen drauf.

Ich stehe in meinem Arbeitszimmer, aus dem der Mann mit der Tasche gerade eine hundeförmige Lücke herausgestanzt hat. Und habe, Ohrwürmer können manchmal taktlose Arschgeigen sein, eine bescheuerte Fanta-Vier-eske Dauerschleife im Kopf: Jetzt ist er weg – weg! Und ich bin wieder allein, allein.

 

Alleine war ich schon vorher gewesen, vermutlich bereits ziemlich lange, bevor vor ein paar Monaten der Hund einzog, ich hatte es nur nicht gemerkt. Irgendwie bin ich da reingeschliddert, während ich von lästigen Lebenshaltungsdingen abgelenkt wurde. War ich nicht eigentlich mal recht beliebt gewesen, oder hatte es mir zumindest glaubhaft eingebildet, mit Ausgehverabredungen, Geburtstagseinladungen und bimmelnden Facebook-Chat-Aufploppfenstern? Aber es geht ja ganz schnell, merkte ich jetzt im Rückblick, wenn die Freundesversickerung erst einmal angefangen hat. Es gluckert nur noch einmal leise, und von der behaglichen Freude über ein schönes, ungestörtes Netflix-Glotz-Wochenende ist es nicht weit bis zur Erkenntnis: Oh, jetzt habe ich seit vier Tagen kein Wort zu irgendwem gesagt, außer bitte-danke-tschüs zur Frau an der Supermarktkasse, und auch schon lange nichts anderes mehr angehabt als Jogginghosen. Und ja, da hätte ich es merken können: Ich hatte angefangen, in GUTE, extra-komfortable Jogginghosen zu investieren. Gibt es auch in Kaschmir.

Es tat nicht weh, als meine sozialen Kontakte immer überschaubarer wurden. Ich hatte den Job gekündigt und war Freelancer mit Homeoffice geworden, ich vermisste die Kollegen nicht und hatte auch sonst nicht mehr oft Lust auf andere Menschen gehabt. Der einzige Freund, den ich noch regelmäßig sah, war Philipp. Ein hervorragender Komplize gegen die Welt, gegen die anderen. Wir lachten zusammen über ihre Vertrotteltheit und erstellten Blödheitsranglisten, einmal in der Woche saßen wir auf dem Hundeauslaufplatz auf der immerselben Bank Gericht über alle, die uns gerade vor die Flinte kamen, we vs. them, dazu zwei Flaschen Bier für jeden, um uns herum spielten die Hunde, besser ging es nicht für mich. Sonst verließ ich das Haus, außer für Gassigänge, nur noch selten. Es war wohl kein Zufall, dass ich mir eine Wohnung in einem Haus gemietet hatte, das auch ein bisschen Bollwerk ist, früher mal Arbeiterpalast für parteitreue DDR-Bewohner, heute Festung für mich Weltmüde. Umgeben zwar nicht von einer Zugbrücke, aber von einer sechsspurigen Straße, da muss man erstmal drüberkommen.

Als einsam hätte ich mich trotzdem nie bezeichnet. Allein das Wort schon, wer würde sich das wie eine welke Knickblume ans Gemütsrevers kleben wollen? Wie ich bei »Single« immer noch zuerst an kleine Schallplatten denke, kamen mir früher beim Attribut »einsam« Bilder von verhuscht-härmten alten Frauen in den Kopf, verbitterten Taubenfütterern, Alleinüberlebenden, Abgeschobenen. Einsam, das waren doch die anderen, ich bin bestenfalls alleine. Und zwar, weil ich das so möchte, das glaubte ich fest.

 

Am Anfang war das bestimmt auch so, nach viel Arbeitsstress im letzten Job brauchte ich einfach Zeit für mich, ich dachte nicht darüber nach, ob da vielleicht langsam etwas aus dem Ruder lief. Es lag sicher auch nicht an mir, wenn zwischendurch mal wieder jemand verlorenging, dachte ich mir, wir leben in einer Nomadenwelt. Wen hatte ich alles schon zurückgelassen in den vergangenen zwanzig Jahren, als ich von Würzburg nach Tübingen, von Tübingen nach Stuttgart, von Stuttgart nach Hamburg, von Hamburg nach Berlin gezogen bin: meine Eltern, die ich trotz anderer Vorsätze dann doch immer nur noch an Weihnachten sehe, meine lieben Freunde Lydia und Edgar, die extra eine weiche Decke auf die Rückbank ihres Autos legten, weil sie wussten, dass ich auf der Heimreise von unseren schönen, regelmäßigen Kunstausflügen oft schon einschlummerte, meinen Freund Frank, mit dem ich gerne den aufwendig besorgten, besonderen Champagner trank, den auch der Held in unserem gemeinsamen Lieblingsbuch bevorzugt wegschnäbelte, dazu diverse Ausgehkameraden, die unterwegs unerklärlich verlorengingen wie Socken in der Waschmaschine.

Neue Bekanntschaften kamen kaum mehr dazu. Immer mehr scheute ich die schrecklich langwierige Kennenlernarbeit, die Phase, in der man bei neuen Kontakten erst einmal die Basics klären musste, die grobe Lebensgeschichte, die grundsätzlichen Geschmacksurteile, Hund oder Katze, Strand oder Berge, Larissa Marolt oder Melanie Müller. Wie das dauerte! Man sollte für solche Zwecke ein Booklet über sich erstellen, eine Art Grundwissen oder, wie die Heftchen, die es früher zu den Pflichtlektüren im Deutschunterricht gab: »Materialien und Erläuterungen«. Eine Rützelbroschüre mit reichlich Fußnoten, die ich den neuen Interessenten zum Selbststudium in die Hand drücken könnte. Je nach angepeilter Tiefe der Bekanntschaft könnte das eine laminierte Karteikarte mit dem Allernötigsten oder eine mehrbändige Enzyklopädie sein. Spitzengeschäftsidee.

Es stieß also selten jemand Neues zu meinem stetig abschmelzenden Freundesbestand. Es brauchte dazu ja nicht einmal ein schepperndes Zerwürfnis, oft kam einfach das Leben dazwischen, ab und zu mit furchtbaren Ereignissen, meistens aber mit eher fröhlichen, mit einem neuen Job, einer neuen Liebelei – und weg waren die Bekanntschaften wieder, in ihren neuen Städten und Partnerschaften, das Freundeskarussell drehte sich, flüchtig und oberflächlich wurde es gegenüber den neuen und alten Freunden, es fiel gar nicht mehr schwer, auf Mails nicht mehr zu antworten, Besuche bleiben- und Rituale auslaufen zu lassen.

Das viele Alleinsein fühlte sich ja auch gut an, ein scharfer Distinktionshobel: »Ich bin alleine und ich weiß es, und ich find es sogar cool«, heißt es in dem ganz alten Tocotronic-Lied »Freiburg«, und auch wenn meine kindische Abkapselrebellion der Mittneunzigerjahre, in denen ich diese Zeilen zum ersten Mal hörte, längst abgeschmirgelte Kanten bekommen hat, gelten sie für mich irgendwie immer noch. Alleine sein, einsam sein, das taugte eine gute Weile auch als Lifestyle-Entscheidung, selbst als mir schließlich auffiel, dass meine Soloparts annähernd so ausufernd waren wie in den schlimmsten Jimi-Hendrix-Gitarrengniedel-Orgien. »Man hat in der Welt nicht viel mehr, als die Wahl zwischen Einsamkeit und Gemeinheit«, schreibt Schopenhauer, zwischen Ohrensessel und Craftbeer-Pop-up-Festival also, und da fiel mir die Wahl nicht schwer, weil ich viele Menschen nun mal sehr uninteressant und anstrengend finde. Ehrlich, ohne Koketterie, no offence.

Also lieber mal absagen und zu Hause sein, Thomas Bernhard als Schutzheiligen und die Lieder von Casiotone for the Painfully Alone als Hintergrundmusik, so kann man sich ganz gemütlich einrichten, es kam auch meiner generellen Grundfaulheit wunderbar entgegen, nicht mehr dauernd durch die halbe Stadt gondeln müssen, um irgendwen zu treffen. »You mean well, but leave me be / Yes, I’m alone, but I’m alone and free« singt die Eiskönigin im Disney-Film »Frozen«, und genau das hätte ich in dieser Phase der heiteren Abkapselung gerne auf meinen Anrufbeantworter gespielt, aber da hatte ich längst kein Festnetztelefon mehr, weil ich eh nicht mehr ranging, wenn es klingelte, und es klingelte auch nicht mehr sehr oft.

 

Ich verpasste dann wohl einfach den Punkt, als aus cool plötzlich tiefgekühlt wurde. So fühlte ich mich eines Tages, als sei ich in meinem Leben irgendwie versehentlich auf die Frosttaste gekommen und eingefroren, während das Leben drumherum einfach weiterging. Das Unmerkliche, das ist das Unheimliche. Wenn das Sprechen aufhört, wenn man nicht mal eben den sozialen Snooze-Knopf drückt, sondern richtig auf Aus, und das längere Zeit gar nicht merkt. Weil man sich ja nicht ständig selbst von außen umschwirrt wie eine Diagnose-Drohne, die einen darauf hinweisen könnte, dass man sich übrigens inzwischen schon gar nicht mehr die Mühe macht, plausible Entschuldigungen für das Fernbleiben von Verabredungen oder Einladungen zu suchen, hallo, dingdingding, Warnsignal! Und dann war da plötzlich die Zeile eines anderen alten Tocotronic-Lieds, das mir manchmal in den Kopf kam: »Sich rar machen bringt ja nichts / Wenn es niemand merkt.« Als einsam hätte ich mich da immer noch nicht bezeichnet, weil ich es vorzog, nicht zu viel über meinen Sozialzustand nachzudenken.

 

Dann kam der Hund, ein struppiges, halbtotes Viechlein aus Ungarn, das aussah wie ein Steifftier, das man sehr lange auf einem Dachboden vergessen hatte, so hatte Philipp ihn beschrieben, als er Figo zum ersten Mal traf. Ein angeblicher Foxterrier namens Rigo, den ich in Figo umbenannte, weil seine Nase so groß war wie die des gleichnamigen, von mir verehrten Superfußballers. Figo war mein erster Hund, ich hatte mir einen gewünscht, seit ich sechs Jahre alt war. Dass es ausgerechnet ein zerrupftes, stumpffelliges Steifbein sein musste, das freundlich geschätzt schon 13 Jahre alt war, vielleicht auch noch älter, und dem man im Tierheim nicht mehr lange gab, weil er dauerhustete und vielleicht etwas mit dem Herzen hatte, habe ich mir nicht ausgesucht. Ich entdeckte Rigofigo irgendwann im Internet auf einer Tiervermittlungsseite, wie er da holzbockig stand und lächelte, trotz alledem, und dann war die Sache geritzt.

Wie einsam ich da wirklich schon gewesen bin, merkte ich erst, als ich es nicht mehr war, weil da jetzt noch jemand in der Wohnung lebte. Wie beim ewig aufgeschobenen, überfälligen Fensterputzen, wenn man sich danach wundert, wie hell es plötzlich in der Wohnung ist, und erst rückblickend bemerkt, wie stumpf die Scheiben geworden waren, wie düster die Wohnung.

 

Jetzt war Figo tot, ich stand lange so rum in meinem Arbeitszimmer und hielt die kleine, dunkelblaue Weste in der Hand, die er in den letzten Tagen tragen musste, damit er nach seiner Operation nicht an der riesigen Wunde leckte, die quer über seinen kleinen Rumpf verlief. Nicht nur in der Wohnung war es still, in den nächsten Tagen war die ganze Welt in dämmende Watte gepackt – oder, wahrscheinlicher, ich selbst in einen dämpfenden Kokon gehüllt, der wenig durchließ. Die Menschen schwiegen plötzlich wieder, das war neu, etwas fehlte. Am besten kann ich das Verlorene mit diesem Ausdruck aus Tennessee Williams’ »Endstation Sehnsucht« beschreiben: The kindness of strangers. Seit zwei Jahren wohnte ich in Berlin, und ich fuhr fast täglich mit der U-Bahn. Stumme Muffzeit, in der ich mich an kein Wort erinnern könnte, das ich dort je mit einem anderen, fremden Passagier gewechselt hätte. Statt »Einsteigen, bitte« und »Zurückbleiben, bitte« sagte ich mir manchmal im Kopf »Anschweigen, bitte« und »Bedrückt bleiben, bitte!« vor.

Als Figo noch mitfuhr, war das anders: Der Hund knipste den Ton an. Mindestens bei jeder zweiten Fahrt sprachen mich plötzlich andere Menschen an, weil sie wissen wollten, wie alt das klapprige Tierchen denn wäre, ob sie mal streicheln dürften, wie er denn heiße. Eigentlich aber wollten sie mir etwas von sich selbst erzählen. Ein vielleicht Sechzigjähriger mit riesigen Ohren, aus denen feine weiße Haarbüschel wuchsen, berichtete mir, während er Figo unter dem Kinn kraulte, vom Chow-Chow des Großvaters, der sich von den anderen sechs Enkeln niemals anfassen ließ, nur von ihm, und der ihn getröstet hatte, als er so viel weinen musste, nachdem Vater und Mutter bei einem Autounfall starben. Einer Frau an der Bushaltestelle kamen die Tränen, als sie mir von ihrem verstorbenen Lieblingsmeerschweinchen erzählte, drei Jahre war es schon tot, das von der Tischplatte immer direkt auf ihre Brust gesprungen sei und sich dann in der Halsbeuge eingekuschelt hatte. Ganz weich wurden all diese sachlichen Alltagsleute plötzlich, lächelten auf der Straße den Hund an, wie er großnasig einhertrabte, und oft rutschte das Lächeln zum Schluss auch noch etwas höher zu mir. Figos Gang hatte etwas Besonderes an sich, dieser alte, müde Körper, der alle Kraft zusammenzukratzen schien, um möglichst flockig und mit federnden Öhrchen eine Art Hopsergang hinzulegen, als sei es gar nicht so übel um ihn bestellt und der Tumor in der Lunge nur ein von der täppischen Tierarzthelferin durch unsachgemäßes Gerätschaftshantieren verursachter Fleck auf dem Röntgenbild. Sehr aufmunternd sah er aus, der tapfer trabende Hundegreis.

Sein Gang bewegte etwas bei vielen Menschen, und ihre kleinen Gesten bewirkten etwas bei mir, obwohl das nur winzige Schrumpfkommunikationen waren. Lächeln, ein kurzer Kommentar: »Schönes Trabrennpferd hammse da, gehts nach Hoppegarten?«, ein Tätschler für den Hund. Plötzlich wurde ich wiedererkannt, wenn ich durch meine Straße ging, was in den zwei Jahren zuvor nie passiert war, manchmal kam es auf der breiten, sechspurigen Allee zu fast bullerbümäßigen Szenen, als hätte ich ein Extralevel im Stadtspiel freigespielt, in dem Leute nicht nur aneinander vorbeigehen, sondern miteinander sprechen. Es schien mir, als hätten all diese Leute nur darauf gewartet, einen Vorwand zu finden, einen niedlichen Mittler, um nett sein zu können. Und als sei Figo für sie ein Stellvertreter, an dem sie die ganze aufgestaute Nettigkeit auslassen können, die sie Menschen lieber nicht zeigen, weil man sonst schnell als irre gilt. Wofür ich vollstes Verständnis habe, da ich selbst eher weniger empathisch bin, was fremde Menschen angeht, und durchaus misanthrope Tendenzen habe, um es dezent zu sagen. Umso erstaunter war ich, dass mir diese fremden Menschen jetzt fehlten, deren Kontaktfitzelchen zusammen mit meinem Hund verschwunden waren.

Ich hätte nie gedacht, dass mir etwas an solchen an sich doch sehr belanglosen Gesten liegen könnte. Der kleine, alte Hund, der in mein Leben schwänzelte und viel zu früh wieder ging, hatte mich mit seiner viel zu langen Nase auf ein Gefühl gestoßen, das ich bis jetzt nie bewusst gespürt hatte, obwohl es schon lange so drückend auf mir saß. Auf einmal sah ich mein Leben anders an, als schaute ich gerade eine sehr klare, gut gemachte Doku über mich selbst, und kapierte plötzlich: Ich bin immer noch gerne für mich und grundsätzlich froh, mein Leben nicht teilen zu müssen, aber ich bin auch oft einsam. Ich bin einsam. Den Gedanken musste ich erst einmal zulassen, als er sich an mich drängelte wie fremde kalte Füße unter der warmen Bettdecke.

Es war nicht einfach, mir einzugestehen, dass Einsamkeit eben nicht nur Leuchtturmwärter und antarktische Pinguinzähler befällt, solche Menschen vielleicht am allerwenigsten, denn bei Berufen dieser Art gehört die personelle Abgeschottetheit ja schon zur Jobbeschreibung. That’s what they signed up for, wer berufsbedingt viel alleine ist, findet das vielleicht auch unangenehm bis belastend, muss sich aber nicht fragen, wie er oder sie da reingeraten ist, ob und wie man das eventuell selbst verschuldet hat. Bestimmt hatte ich irgendwas falsch gemacht, einen Grund musste es ja haben, dass ich vom fidelen Gesellschaftswagen gepurzelt war oder gestoßen wurde.

 

Oder: Vielleicht auch nicht.

 

Vielleicht war ich von Anfang an eher als Einzelexemplar angelegt. Schon als kleines Kind war ich gerne alleine. Mit drei oder vier Jahren konnte man mich einfach auf die Wiese in unserem Hof setzen, zwei Stunden später saß ich verlässlich immer noch am selben Fleck, mir selbst genug, ganz ohne jeden Entdeckungsdrang. Der Kindergarten am Ende der Straße, in den ich irgendwann halbtags gehen sollte, war mir eine Last, ich fand dort zwar schnell Spielkameraden, hätte aber auch auf sie verzichten können, Vater-Mutter-Kind-Minidramolette in der Spielküche deprimierten mich tatsächlich schon als Vierjährige. Ich zog stets schwer bepackt mit meinen Lieblingsbüchern, einem Heft für kryptische Notizen und meinem Eliot-das-Schmunzelmonster-Plüschtier los, meinen eigenen Requisiten, meiner eigenen, tragbaren Blase, in der mich möglichst niemand stören sollte. In den ersten Jahren am Gymnasium verbrachte ich meine Nachmittage dann am liebsten alleine, lesend, das ganze »Geheimnis um …«- und »Rätsel um …«-Elefantesk-Sortiment in einem Schuljahr weg inhalierend.

Später, als Teenager bis etwa Mitte 20, beäugte ich das Cliquenwesen misstrauisch und mit wenig Anschlusswillen. Mit Hubsi und Schnubsi, Patrizia und Lisa, Heckel und Jeckel ins Freibad ziehen, und Bolzi und Beppo kommen später auch noch rum? Horror! Ich kannte diese Sozialdynamiken zur Genüge aus »Beverly Hills, 90210« und »Dawsons Creek«, dauernd gab es in diesen Gruppen angeblicher Freunde neuen Grund für Ärger- und Zerwürfnisse. Ich pflegte lieber sporadische Einzelbekanntschaften, die nichts miteinander zu tun hatten, oder eigentlich doch, wie ich an einem langen, verkaterten Nachmittag bemerkte, als ich mit meinem längstjährigen Freund Fred aus Langweile auf der Rückseite eines fleddereckigen Posters eine Netzwerkzeichnung unseres näheren, dann weiteren sozialen Umfeldes machte. Es war ein höchst elaboriertes Gewirr von Pfeilen und Namen: Wer hatte schon mal mit wem geknutscht, wer wen mit wem betrogen, wer schlief mal in einem Bett mit wem (aber ohne, dass es zu nennenswerten Betastereien gekommen wäre). Am Ende saßen wir vor dem geheimen Sozialwissen von Tübingen, Hamburg und München, Stand 1998, selbst Udo Jürgens, Pete Doherty und Kurt Cobain kamen darin vor, ohne dass wir viel herbeikonstruieren mussten. Naturgemäß, das lag an der egozentrischen Perspektive unserer Sammlung, liefen die meisten Linien bei Fred und bei mir zusammen, ich war das Zentrum dieser kartografierten Teilgesellschaft, aber das kam mit ähnlich verrutscht vor wie das Weltbild, in dem die Erde im Mittelpunkt aller Gestirne stand. Ich sah mich selbst als manchmal durchs Bild trudelnder, eher unmaßgeblicher Meteorit.

 

Rückblickend glaube ich: Mein Drang zum Alleinsein war schon immer da, schlummerte nur unter den aufgezwungenen Referatgruppen, Trinkbekanntschaften, dann Kollegenkumpeleien, ohne die man sehr viel beschwerlicher durch Studium und Arbeitswelt kommt. Vielleicht fühlte sich die real existierende Einsamkeit jetzt nur darum so ungewohnt an, weil ich diese Neigung noch nie so konsequent ausgelebt hatte. In den Tagen nach Figos Tod, als dieses Gefühl immer aufdringlicher wurde, dachte ich auch mehr darüber nach denn je. Es waren nicht nur negative Gedanken, in helleren Momenten war das Alleinsein wie ein Paar gut eingetragene Schuhe, die so wunderbar passen, dass man gar nicht mehr über sie nachdenkt, sondern jeden Tag wie selbstverständlich reinschlüpft.

Womöglich ist dies der natürliche default-Zustand, dachte ich mir, nicht nur für mich, sondern für jeden Menschen. Von dem zwar immer behauptet wird, er sei ein soziales Wesen, ein Gruppentier – aber vielleicht ähnelt seine Bauweise ja doch eher einer Kaffeeportionskapsel, in einer stabilen Aluhülle schön geschmacksdicht abgeschottet von den anderen Kapseln? Das hatten sich vor mir natürlich schon sehr viele andere Menschen überlegt, womöglich ja jeder einzelne, und wenn es nur ein klitzekleiner Grübelmoment war, in dem man sich wirklich, abgrundtief, echt existentiell einsam gefühlt hatte, alleine am Fertigsuppenautomat, eine halbe Minute im Eisenbahntunnel ohne Handynetz, als Einziger auf der Rückbank im spärlich besetzten Billobus nach Buxtehude, diesen unbeaufsichtigten Augenblicken, in denen das Gehirn kurz strawanzen geht. Der Mensch weiß (wahrscheinlich) mehr über die Welt und versteht das Leben besser als jedes andere Tier, aber Teil dieses Wissens und Teil dieses Superdenker-Deals ist eben die Erkenntnis, die kommt, wenn wir ganz ehrlich zu uns sind: Dass es unmöglich ist, jemals wirklich vollständig mit einem anderen Wesen verbunden zu sein, weil man nicht in seinem Hirn, seinem Bewusstsein sein kann. Der Kern unseres Wesens ist nicht teilbar. Es gibt Grenzen der Verbundenheit, das müssen auch die ärgsten Kitschbarone und Schmusesymbioten einsehen. Willkommen in der existentialistischen Einsamkeit! Sie packt einen am Schlafittchen, wenn man sich wieder einmal nach einem bedeutsamen Leben sehnt, das einen Zweck und ein Ziel hat – und dann doch einsehen muss, dass unsere Welt, bezogen auf das große Universum, in dem sie herumtrudelt, höchstwahrscheinlich doch komplett bedeutungslos ist. Und sie drückt einem kurz das Herz zusammen, wenn man zuschaut, wie alle Menschen jeden Tag fast ameisenmäßig schöpfend und schaffend an der Welt herumbauen, und dabei das Gefühl hat, nur man selbst sei von diesem sozialen Gewusel ausgeschlossen. Der Letzte auf der Bank beim globalen Völkerball.

 

Solange man von da aus noch googeln kann, geht es aber. Ich suche nach »loneliness« und »human condition« und bekomme einen sehr schönen Top-Treffer, einen Auszug aus Janet Fitchs Roman »White Oleander«, in dem sie rät, Einsamkeit als menschliches Grundelement zu akzeptieren – und die Löcher, die sie einem manchmal ins Gemüt bohrt, einfach mit persönlicher Weiterentwicklung zu verspachteln. Das müsse man aber bitte schön alleine erledigen, niemals sollte man darauf hoffen, Menschen zu finden, die einen vollumfänglich verstehen können: »The best you’ll ever do is to understand yourself, know what it is that you want, and not let the cattle stand in your way. Moo.«

Den Blödkühen ausweichen, aus der Herde ausscheren, das klingt heroisch und gut. Leider lese ich weiter in meinen Suchergebnissen und gerate in eine längliche wissenschaftliche Auslassung, dass Einsamkeit zwar möglicherweise durchaus angeboren, nichtsdestotrotz aber sehr ungesund sein könnte. Und das Schwelgen im Alleinsein angeblich durchaus riskant, weil man dabei wichtige Alarmsignale vernachlässige. Physischer Schmerz sei ein dem Menschen eingebautes Warnsystem, das ihn davor schütze, mit einem potentiell lebensgefährlichen Verhalten weiterzumachen: Wenn man sich selbst mit einem Hammer auf den Kopf schlägt, tut das weh, damit man wieder damit aufhört, weil das gesünder ist. Vielleicht, glauben manche Psychologen, funktioniert das Gefühl, einsam zu sein, analog dazu als psychischer Warn-Schmerz – der die Menschen davor bewahren soll, komplett in die Isolation abzutrudeln. Das Unbehagen am Alleinsein wäre dann quasi ein gut gemeinter Reminder vom eigenen Hirn, sein Sozialverhalten zu überdenken, verschlurfte Kontakte zu renovieren, neue Allianzen zu suchen, weil man die, rein archaisch gesehen, nun mal fürs Überleben braucht. Klingt nach Argumentation aus der Keule-und-Höhle-Vorzeit, aber natürlich kann man entsprechende Magnetresonanztomographie-Messergebnisse finden, wenn man danach sucht, die zeigen, dass der Schmerz durch Zurückweisung in derselben Hirnregion gespeichert wird wie die emotionale Reaktion auf den handfesten Hammerschmerz.

 

Im Sommer 2017 wurden auf der Jahreskonferenz des US-amerikanischen Psychologenverbandes zwei Studien vorgestellt, die die gesundheitszersetzende Wucht längerwährender Einsamkeitsgefühle belegen sollten. Die geschätzte Zahl der Betroffenen wachse in den jüngsten Jahren stetig, das allein sei schon Grund zur Sorge. Erhebungen mit mehr als 300000 Teilnehmern hätten ergeben, dass sozial gut vernetzte Menschen ein halb so großes Risiko haben, früh zu sterben, wie Menschen, die ihre Leben weitgehend alleine verbringen. (Vielleicht kommt es ihnen auch nur so lange vor, weil sie es in schrecklicher Gesellschaft verbringen, kalauere ich das Ergebnis routiniert weg. Ist man eigentlich wirklich alleine, wenn in einem selbst noch ein geringelter Witzevogel, eine dauerpessimistische Unke und noch ein paar andere Charaktere leben? Dazu würde ich gerne mal eine Studie lesen.)

Die zweite Studie zäumte ihre Prämisse vom anderen Ende her auf und untersuchte anhand der Lebensdaten von 3,4 Millionen Menschen aus Nordamerika, Europa, Asien und Australien, auf welche Weise soziale Isolation, Einsamkeit oder das Alleineleben die Sterblichkeit beeinflussen. Nun nicht mehr sehr überraschend: Alle drei Faktoren begünstigten demnach einen verfrühten Tod, teilweise sogar noch nachhaltiger als andere Risikofaktoren wie Übergewicht. Zusammenfassend warnten die Psychologen vor einer weltweiten »Einsamkeits-Epidemie«. In Großbritannien soll sich darum bald ein eigenes Einsamkeitsministerium um die sozialen Eremiten kümmern, bevor sie allesamt vor ihrer Zeit dahingerafft werden.

 

Mir machten diese Ergebnisse keine Angst, als ich von ihnen las. Angst bekam ich erst, als ein paar Monate nach Figo auch Philipp starb. Und ich merkte, dass man erst dann wirklich, aufrichtig alleine ist, wenn man niemandem mehr davon erzählen kann. Also beschloss ich, dieses Gefühl mangels Gesprächspartner eben für mich selbst zu sezieren, wie einen dieser bedauernswerten Frösche, die die Schüler in amerikanischen Highschool-Komödien regelmäßig aufschneiden und in dessen Bestandteilen sie dann herumkramen müssen, um die Mechanismen des Lebens zu verstehen. Schnippschnapp, Einsamkeits-Autopsie! Woher kommt sie, warum bleibt sie? Und braucht sie vielleicht gar keinen Minister, der sie bekämpft, sondern einfach nur einen guten Imageberater?

Ein Gefühl mit Imageproblem

Ich lag rücklings auf dem fremden, wahrscheinlich vor Jahrhunderten zuletzt frisch bezogenen Bett, zappelte mit den Beinen in der Luft und konnte mein Glück kaum fassen. Ein komisches Geräusch im Erdgeschoss hatte den Aufseher weggelockt, der meinen Begleiter und mich vor etwa zehn Jahren im südwestlichen Frankreich durch den Wohn- und Schreibturm von Michel de Montaigne führte. Eine freilaufende Riesenziege sorgte für Tumult, wie sich später herausstellen sollte. Also hatten wir den Turm, in dem der Philosoph sich für ein ganzes Jahrzehnt von seiner Familie zurückgezogen hatte, aufsichtslos kurz ganz für uns, und das Erste, was ich tat, war natürlich, mich in sein Bett zu stürzen und mich im Überschwang darin herumzuwälzen.

Ich liebte Montaigne, die tiefstblau gebundene, riesige Neuausgabe seiner »Essais« war das teuerste Buch, das ich mir als Studentin je geleistet hatte (die wunderschöne, rotmarmoriert gebundene Ausgabe von »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit«, die lange als einziger Dekor in meinem Schlafzimmer stand, nicht mitgerechnet), ich las gerne darin. Und versuchte nun stockend und ratend die lateinische Wandinschrift im Turm zu übersetzen: »Im Jahre Christi 1571, am letzten Tag des Februar, seinem Geburtstag, hat sich Michel de Montaigne im Alter von 38 Jahren, seit langem des Dienstes im Parlament und der öffentlichen Pflichten müde, noch in voller Lebenskraft in den Schoß der gelehrten Musen zurückgezogen, wo er in Ruhe und Sicherheit die Tage verbringen wird, die ihm zu leben bleiben. Gestatte ihm das Schicksal, diesen Ort der süßen Weltflucht seiner Ahnen zu vollenden, den er seiner Freiheit, seiner Ruhe und seiner Muße geweiht hat.« Bestes Leben! Wenn ich ein Amt hätte, aus dem ich mich verabschieden könnte, und die nötigen Penunzen, um die Musen zu bestechen, würde ich es ganz genauso machen.

 

Ich verehrte Montaigne aus einem albernen und einem ernsthaften Grund. Der alberne: Ich mochte Typen in Türmen. Wahrscheinlich lag es daran, dass ich selbst einige Jahre in Tübingen ganz oben in einem sonderbaren Gebäude gewohnt hatte, das mit seinem eigenartig aufgepropften Bau und dem wie obendrauf angeklebt wirkenden Erkerzimmer, das ich bewohnte, recht turmähnlich wirkte, vor allem, wenn ich von dort oben auf die anderen dort unten herabschaute. Im Tübinger Volksmund hieß das Haus »Wurstpalast«, weil sich hier ein reicher Metzger mit architektonisch wirren Vorstellungen verwirklicht hatte. An die Wände des besagten Erkerzimmerchens hatte ich Porträts anderer berühmter Turmbewohner gehängt: Eben Montaigne, außerdem Quasimodo, Hölderlin, der nur ein paar Gehminuten von meiner Wohnung entfernt bis zu seinem Tod in einem Tübinger Türmchen direkt am Neckar lebte, Rainer Maria Rilke, der viele seiner Werke in einem mittelalterlichen Wohnturm im schweizerischen Wallis schrieb, und Lupo, der schlawinerische Großnasenwolf aus den Fix-und-Foxi-Comics, dort ebenfalls in einem Turm hausend.

Der ernsthafte Verehrungsgrund: Montaigne hat einen wunderschönen Essay »Über die Einsamkeit« geschrieben, den ich damals zwar schon mehrfach gelesen hatte, zum ersten Mal wirklich aber vielleicht dann doch erst irgendwann in den Wochen, nachdem Philipp gestorben war. Montaigne beschreibt darin den idealen Rückzug aus der Gesellschaft, den man so radikal wie möglich gestalten solle, damit »unsere Zufriedenheit nur noch von uns selbst abhängt. Lösen wir also alle Bindungen an andere und gewinnen wir es über uns, wahrhaftig allein leben zu können, in voller Geruhsamkeit.« Als er das schrieb, hatte er ebenfalls gerade einen engen Freund verloren: Etienne de La Boétie, Dichter und wie Montaigne auch Ratsherr in Bordeaux, der 1563 wahrscheinlich an der Pest verstarb. Die »Essais« entstanden auch deshalb, weil der Philosoph an die Stelle des Gesprächs mit Etienne nach dessen Tod das Gespräch mit sich selbst setzen musste. Natürlich fühlte ich mich ihm sofort, kaum anmaßend, als ebenfalls immer effektiver Einsamende noch mehr verbunden.

Ich konnte nachvollziehen, warum er jetzt nur noch alleine sein konnte, weil er sich zu zweit so wohl gefühlt hatte. »Erst wer die Innigkeit kennt, kann sich wünschen, nicht mehr in jedermanns Gesellschaft ausharren zu müssen«, las ich in einem schlauen »Zeit«-Artikel von Elisabeth von Thadden. Da war es, punktgenau, das paradoxe Gefühl, das mich in meinem neuen, so noch nie gekannten Alleinsein umtrieb: Zu wissen, wie angenehm mir Freundschaft, Verbundenheit und Nähe zu einem anderen Menschen sein könnte, weil ich erlebt hatte, wie jemand in einer schweren Zeit für mich da gewesen war, als die anderen Haken um mich schlugen – und genau aus diesem Grund vor allen anderen Bekanntschaften zurückzuscheuen, weil es eben so unangenehm wäre, falls dieser hohe Anspruch nicht erfüllt werden würde. Denn manchmal sind auch jahrelang gepflegte Freundschaften plötzlich nur noch die sechste Staffel einer TV-Serie, die man seit der vierten schon nicht mehr schaut, weil öde.

 

Ich saß zu Hause, trimmte meine verlorene Freundschaft mit Philipp in der Erinnerung wie ein barocker Buchsbaumhecken-Gärtner in Idealform und brummkreiselte ohne Ausweg um dieses selbstgeschnitzte Dilemma. Und natürlich begann ich ganz langsam auch damit, mich zur tragisch-tapferen, einsamen Heldin zu stilisieren. Die Tatsache, dass man eine Falle schon von weitem zwischen dem tarnenden Laub herausblitzen sieht, bedeutet ja nicht, dass man nicht trotzdem sehenden Auges und mit Schmackes hineintreten könnte. Ich hatte immer über einen Würzburger Studienfreund gelacht, der mir einmal erzählte, er würde gerne nachts alleine auf der dann verlassenen Festung Marienberg, hoch über der Stadt, spazieren gehen, am liebsten im Regen, natürlich ohne Schirm. Ein bisschen fatzkehaft, aber eigentlich auch irgendwie romantisch, so verloren, dachte ich erst. Bis er diese Einlassung ein paar Tage später angetrunken durch das Detail ergänzte, er tue das vor allem in der Hoffnung, dass ihn jemand dabei beobachten würde, weswegen er anfangs alle seine Mäntel und Jacken durchprobierte habe, um herauszufinden, welcher von ihnen mit hochgeklapptem, vom Regen gezausten Kragen am besten aussähe.

Jetzt muss ich mich beherrschen, nicht selbst in Einsamkeitsfolklore zu verfallen, denn meine Haltung zu diesem Gefühl hat sich dramatisch gewandelt. Wenn einen die Trauer ausknockt, weil man gerade einen wichtigen Menschen verloren hat, ist am Alleinsein nichts schön, es macht Angst. In den ersten Wochen sagte ich alle Aufträge ab und lag wahrscheinlich die meiste Zeit einfach im Bett, zumindest stelle ich mir das heute so vor – ich kann mich tatsächlich nicht mehr wirklich daran erinnern. Ich warf mich dem Kummer und der Leere völlig ungebremst in die Arme, und das hatte auf mich einen ähnlichen Effekt wie eine heftig durchgeschwitzte Grippe: Irgendwann wachte ich auf, und das Bedrohliche, akut Schmerzende war verdampft. Die Bedrückung blieb und ist nie mehr gegangen, aber sie fühlt sich inzwischen eher an wie eine dieser Therapiedecken, in die Glasperlen eingewoben sind, um sie zu beschweren – etwa ein Zehntel des eigenen Körpergewichts sollen diese Decken idealerweise wiegen, wenn man sich darunter legt, fühlt sich das zuerst leicht beklemmend, dann sonderbar tröstlich an, als sei man nicht alleine, als halte einen irgendetwas fest. Und wenn es nur das völlig klare Bewusstsein der eigenen Lage ist. Ja, ich war alleine. Ja, Philipp fehlte mir unheimlich. Aber nein, das Alleinsein an sich war nicht zwingend etwas Negatives. Im Lauf der Zeit gewöhnte ich mich an den Zustand, ich wurde fast schon gierig danach. Nach mehr Ruhe, far from the maddening crowd.