Trash-TV. 100 Seiten - Anja Rützel - E-Book
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Trash-TV. 100 Seiten E-Book

Anja Rützel

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Beschreibung

Gewisse TV-Formate suchen Ihresgleichen. Zum Beispiel Live-Übertragungen aus dem australischen Dschungel oder aus Wohncontainern mit Z-Promi-Protagonisten scharenweise. Oder die Akquise von Topmodels und Superstars, die gar nicht erst aus der Versenkung auftauchen, in der sie bald wieder verschwinden. Hier zählt nicht das Ergebnis, sondern der Weg. Er ist das Ziel. Über Staffeln hinweg gesuchte Schwiegertöchter, getauschte Frauen, Bauernbräute und Mega-Junggesellen (neudeutsch "Bachelor"? beglücken den geneigten Zuschauer mit einer Mischung aus Überlegenheitsgefühl und Fremdschämen. Gesehen haben will all das keiner, Bescheid weiß jeder. Besonders Anja Rützel, die einen kritisch-amüsanten Blick hinter die Fassaden wirft, hinter die solcher Fernsehformate und hinter die ihrer Betrachter.

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Seitenzahl: 112

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Anja Rützel

Trash-TV. 100 Seiten

Reclam

Für mehr Informationen zur 100-Seiten-Reihe:

www.reclam.de/100Seiten

 

2017 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Covergestaltung nach einem Konzept von zero-media.net

Infografiken: Infographics Group GmbH

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2017

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN 978-3-15-961213-3

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-020433-7

www.reclam.de

Inhalt

Prolog: Möchtest du hinter der Schattenwand hervorkommen?Es gibt Scheiß, Baby! Was ist eigentlich Trash-TV?Hol die Kinder rein, das Abendland geht unter! Wie der Trash in den Fernseher kam und warum man ihn nicht nur bejubeln kannMach schöne Füße! Möchtest du diese Rose? Und dann kommt das Finanzamt. Klassische Trash-TV-FormateSonst nur Arte, aber … Der Sonderfall DschungelcampReale Rollen – wiederkehrende Figuren und Motive im Trash-TVTrashwiederkäuer und Sinnschürfer. Die Fans der FormateDas Leben der anderen – der Trashfreund auf der CouchWe’re trash, you and me. Ist Trash-TV wirklich Müll?LektüretippsBildnachweisLeseprobe aus Bud Spencer. 100 Seiten

Prolog: Möchtest du hinter der Schattenwand hervorkommen?

Die Schlammwellen schwappten 2004 über meinem Kopf zusammen, in einem Kölner Hotelzimmer der unteren Preiskategorie. Ich war mit einem Freund angereist, um am Abend ein Musikfestival zu besuchen, wir wollten den frühen Nachmittag zum Vorabentspannen nutzen, und ich schaltete, wie öfters mal um diese Zeit, den Fernseher an. Es lief Das Geständnis, ein verlässlich rätselhaftes Talkshow-Derivat, moderiert von Alida, der Gewinnerin der zweiten deutschen Big-Brother-Staffel.

Das an diesem Nachmittag verhandelte Geheimnis war vertrackt wie immer: Ein erwachsener Mann und seine erwachsene Schwester waren auf der Suche nach ihrem etwa 70-jährigen Vater, der seit einiger Zeit verschwunden war. Entführt, mit einer heimlichen Geliebten durchgebrannt, man wusste es nicht, auch die dazugehörige Mutter, die aus noch unklaren Gründen hinter der für diese Sendung obligatorischen Schattenwand platziert worden war, schien ratlos, obwohl sie von Alida in einem der »Backstage«-Kabuffs – die Sendung spielte nicht nur in einer klassischen Talkshow-Arena, sondern auch in diversen solcher Verhörkammern – streng ins Gebet genommen wurde. Irgendwann präsentierte Alida dann triumphierend die Titelseite einer russischen Tageszeitung. »Das ist ja Papa auf dem Foto!«, entfuhr es sogleich dem Sohn, und Alida rapportierte den Inhalt des dazugehörigen Artikels, den ihr Rechercheteam ausgegraben hatte: Im Moskauer Gorki-Park sei vor einigen Tagen ein verwirrter Mann aufgegriffen worden, der nicht wusste, wer er war und wo er herkam, nun bat man die Bevölkerung um Hinweise. Schließlich brach die Mutter unter der Indizienlast zusammen. »Möchtest du hinter der Schattenwand hervorkommen?«, stellte Alida ihre »Signature«-Frage, und die Mutter verließ ihr gut ausgeleuchtetes Versteck, um ihren Kindern zu gestehen, dass sie den Vater vor einiger Zeit in Moskau ausgesetzt hatte, weil er ihr durch seine fortschreitende Demenz zunehmend lästig geworden war. Da schau her!

Just another day at the Geständnis-Office für mich, mir war die Bizarr-Dramaturgie dieses Trash-TV-Formats schon aus vorherigen Folgen geläufig, doch mein Reisekumpan starrte auf den Fernsehschirm, als habe ihn daraus ein Lichtstrahl geblendet, wie es dem späteren Apostel Paulus bei seiner Vision kurz vor Damaskus passiert war. Fast könnte man meinen, der TV-Konsum des Freundes sei irgendwo kurz nach Locker vom Hocker- oder Gaudimax-Zeiten stehengeblieben, tatsächlich aber war er vor allem verwirrt, weil er gerade zum ersten Mal in diese mediale Parallelwelt geschubst worden war, die jeden Nachmittag und Frühabend ihre Anhänger vor dem Fernseher versammelte, zu Zeiten also, in denen die anderen Menschen arbeiten gingen und Philharmoniekonzerte oder zumindest John-Irving-Lesungen besuchten.

Ich brauchte den Kontrast zu meinem Freund, um in diesem Moment zu erkennen, wie tief ich offenbar bereits in den Trash-Sumpf hinabgesunken war, ohne es zu merken. Zum Glück fiel mir ein Satz ein, den ich vor vielen Jahren mal gehört und als Universalausrede in einer Hirnschublade abgelegt hatte: »Man darf als Kulturwissenschaftler nicht vor scheinbar niederen Themen und Phänomenen zurückschrecken, weil sich ein Müllmann auch nicht vor dem Müll fürchten darf.« Das hatte mal einer meiner Tübinger Professoren während einer Vorlesung gesagt.

Nun war der analytische Blick der Kulturwissenschaftlerin meist eher schläfrig verhangen, wenn ich in Jogginghose und mit Flipstüte (später dann gerne auch mit einer Packung Schnapspralinen) auf dem Sofa Platz nahm, um mich an den Kapriolen vorgeblich prominenter Kakerlakensnacker zu weiden. Aber es stimmt ja trotzdem: Man kann aus diesen Sendungen viel lernen. Vielleicht nicht über Kindererziehung und Kinderernährung, wie die legendäre »Erdbeerkäse«-Kandidatin aus Frauentausch behauptet. Aber darüber, was Menschen in dieser Zeit, in diesem Land um uns herum als lustig, richtig oder auch nur »normal« empfinden. Jede Trash-TV-Sendung ist auch ein Ausbruch aus der Filterblase um uns herum, die meist aus Leuten besteht, die »so etwas« »doch nicht ernsthaft« anschauen würden, die in wichtigen Fragen alle ja eh meist unserer Meinung sind und gerne in Avocadotoastfrühstückslokale gehen. Das Leben der wirklich anderen Menschen, das man bei den Trash-Schuldenberater- oder Wohnungsentrümpelungssendungen begaffen konnte, mochte zwar vom Produktionsteam inszeniert und dramaturgisch aufgezäumt sein – aber das Leben derer, die sich das regelmäßig anschauen und die dort geäußerten Meinungen und demonstrierten Werte lustig, richtig oder normal finden, ist es eben nicht.

Also ist es höchste Zeit, noch mal ganz offiziell hinter der Schattenwand hervorzukommen und eine Lanze (erinnert sich übrigens noch jemand an die Trash-Sendung, die Markus Lanz 2002 moderierte? In Outback schlugen sich 13 Kandidaten und Kandidatinnen sechs Wochen lang durch die australische Wildnis und mussten diverse »Challenges« bewältigen) für das oft geschmähte Genre des Trash-TVs zu brechen. Darum, in alter, abgenudelter, unironisch und ganz ehrlich gemeinter It’s-only-Rock’n’Roll-but-I-like-it-Pose:

Es ist Mist, aber ich mag’s.

Es gibt Scheiß, Baby! Was ist eigentlich Trash-TV?

Vielleicht wäre Fremdscham ein gutes Einschlusskriterium. Ein zwar für den ausführenden Beurteiler durchaus schmerzhafter Lackmustest, aber vielleicht endlich ein verlässliches, belastbares Indiz? Könnte man also sagen: Alles das ist Trash-Fernsehen, bei dem einem selbst beim Zuschauen leicht unwohl wird, man eine stellvertretende Blamage-Beklemmung für die Beteiligten in sich aufsteigen fühlt, sich schließlich zum Scham-Shrimp pein-embryonal auf dem Sofa zusammenkrümmt?

Ist jede schlechte Fernsehsendung automatisch Trash-Fernsehen? Nein, natürlich nicht. Tatsächlich fehlt bis jetzt allerdings eine befriedigende, alle Aspekte und Formatkapriolen berücksichtigende Definition. Zu vielfältig nämlich sind die verschiedenen Formen und Inkarnationen dieser gestaltwandlerisch begabten Kategorie.

James Poniewozik, Chef-Fernsehkritiker der New York Times, wählte vielleicht auch deshalb einen interessanten Definitionsansatz. Ihm zufolge versteht man unter Trash-Fernsehen also »non-fiction television of which I personally disapprove«. Das ist durchaus sympathisch in seiner erfrischenden Egozentrik, aber eben leider auch extrem rezipientenzentriert und wenig allgemein praktikabel.

Das Problem bei der fachkundigen Bestimmung von Trash-Fernsehen: Anders als bei formalen Termini wie »Dokumentation«, »Serie« oder »Fernsehspiel« beschreibt der Begriff kein Genre, sondern vor allem ein Werturteil, das naturgemäß aber immer nur subjektive Geltung haben kann. Trash ist demnach: minderwertig, banal-trivial, schäbig. Abfall eben, wie es die Bedeutung des englischen Begriffes schon sagt, Müll, Unrat, Plunder. Primitiv! Allein schon die billigen Witze, die windschiefen Dialoge, die erbärmlichen Storys, die das Trash-Fernsehen auftischt. Die Knallchargen, die als Protagonisten darin herumwanken. Unterhaltung für die tumben Massen. Kein Anspruch, keine Qualität, dafür permanentes Kitzeln niederster Instinkte mit der extraflaumigen Gaumenfeder: Gafflust, Schadenfreude, wohliger Ekelschauder, Erhabenheitsgefühl.

Was Trash-Fernsehen ist, lässt sich eigentlich nur durch Abgrenzung bestimmen. Davon, was diese Sendungen alles nicht sind. Und von denen, die sich das anschauen, und die ganz sicher nicht man selbst sind.

Früher sagte man einfach: Reality-TV. Weil die ersten Formate, die später in der Trash-Schublade landen sollten, eben das »echte« Leben der »echten« Menschen beschreiben sollten und wollten, damals, in den neunziger Jahren. Jürgen Grimm verstand unter diesem Begriff eine Programmform, »die mit dem Anspruch auftritt, Realitäten im Sinne der alltäglichen Lebenswelt anhand von Ereignissen darzustellen, die das Gewohnte der Alltagsroutine durchbrechen«: Also nicht die fade Arbeitswelt oder der schnarchige Familienalltag, sondern spektakuläre Vorkommnisse wie Heirat, Geburt, Krankheit oder Tod.

Angela Keppler versucht es mit einer Deutung aus der Perspektive der Protagonisten, sie unterscheidet zwischen narrativen und performativen Formaten. Performativ seien »Unterhaltungssendungen, die sich zur Bühne herausgehobener Aktionen machen« – die klassische Deutschland sucht den Superstar-Mottoshow also. Beim narrativen Realitätsfernsehen würden die Zuschauer dagegen »mit der authentischen oder nachgestellten Wiedergabe tatsächlicher Katastrophen unterhalten«. »Katastrophen« deshalb, weil diese Definition noch aus seligen Notruf-Zeiten stammt und an die frühen Jahre erinnert, als Reality-TV vor allem Verbrechen, Unfälle und Rettungsversuche nacherzählte. Andererseits kann auch der ganz normale Alltag in einer Frauentausch-Familie durchaus als Katastrophe durchgehen.

In der Formulierung »nachgestellte Wiedergabe« klingt zumindest sachte der Aspekt der Inszenierung an, ein wichtiger Punkt bei der Begutachtung von Trash-Formaten, über den man oft nur mutmaßen kann, da einem der Einblick in die Produktionsbedingungen in der Regel verwehrt bleibt. Klar ist nur: Die dargestellte Wirklichkeit dieser Formate ist eben nicht Realität, sondern nur Reality. Das klingt auch schon wie eine Koseform davon, eine lustig zurechtgezwirbelte, auf Unterhaltung gestriegelte Wirklichkeits-Variante also. Ein Realitätchen.

Zu Beginn der Nullerjahre etablierte sich kurz ein neuer Sammelbegriff: »Unterschichtenfernsehen« schloss nicht nur ein Urteil über die Qualität der gemeinten Sendungen, sondern auch über das Niveau ihrer angenommenen Rezipienten mit ein. Dieses Abfallfernsehen, all die in der Gosse angespülten Inhalte, das konnte ja nur Schmuddelkost für die unteren Schichten sein. Was natürlich nicht nur grässlich reaktionär, sondern schlichtweg dumm ist, weil der Begriff »Unterschichtenfernsehen« den einheitlichen Mediengebrauch einer sozialen Gruppe unterstellte – und aburteilte.

Paul Nolte versuchte den Begriff 2004 in seinem Buch Generation Reform umzudeuten, indem er von einer »neuen Unterschicht« schrieb, die nicht durch Finanzschwäche, sondern durch mangelnde Bildung gekennzeichnet sei. Auch überdurchschnittlich gut Verdienende könnten sich also in diese niedrige Kaste der Dümmlichen einreihen. Im allgemeinen Sprachgebrauch kam das »Unterschichtenfernsehen« schließlich an, als Harald Schmidt den Begriff 2005 in einer Sendung benutzte und damit seinen damals früheren Arbeitgeber Sat.1 meinte.

»›Unterschichtenfernsehen‹ ist kein vorgängiges Phänomen, kein ›Auswuchs‹, kein ›Problem‹, das es in der ein oder anderen Weise zu lösen gilt, sondern eine Problematisierung«, schrieb Thomas Waitz dann glücklicherweise in seinem Aufsatz ›Unterschichtenfernsehen‹. Eine Regierungstechnologie. Und diese »Problematisierung« ziele vor allem darauf, eine bestimmte, als homogene Gruppe konstruierte Bevölkerungsmenge auszugrenzen und sich als propere Bürger von ihr abzusetzen.

Nicht zuletzt transportierte der Begriff auch die verklausulierte Angst der Mittelschicht vor dem eigenen Abrutschen oder vor dem Aufstand der tumben Masse, dieser stumpfen Schmuddler, die sich am Billig-Fernsehen ergötzen, wie der Pöbel früher eben Gaukler und Hinrichtungen begaffte, weil ihm damals wie heute der Verstand, das Abstraktionsvermögen für die feineren Inhalte fehlte.

Was das aber eigentlich sein sollte, gutes Fernsehen, und wie man es vom schlechten unterscheiden könne, wollte Die Welt2005 in einem Interview von Medienphilosoph Norbert Bolz wissen. Der fand an dieser Frage schon den Ansatz falsch. »Hinter der qualitativen Einteilung von gutem und schlechtem Programm steckt der Trugschluss, Fernsehen würde eine Möglichkeit der Aufklärung und Bildung bieten. Dieses Versprechen kann nicht gehalten werden«, so Bolz. Und weiter: »Wer von schlechtem Programm spricht, soll mir anspruchsvolles Programm zeigen. Es wird fast überall Trash gesendet. Anspruchsvolles Programm ist eine Illusion der Kritiker, die selber gerne bestimmte Programme schauen und diese per definitionem für gutes Programm erklären. Wo ist der Unterschied zwischen Musikantenstadl und Big Brother? Es gibt prinzipiell keinen. Dieser Effekt, den ich als universalisierte Geschmacklosigkeit bezeichnen möchte, ist ein Effekt der Massendemokratie.«

Eine heimliche Universalvertrashung, eine unentrinnbare, allgegenwärtige Versumpfung? So weit ist es dann vielleicht doch noch nicht. Mindestens einem Punkt aus Bolz’ Antwort muss ich auf jeden Fall sehr vehement widersprechen: der Idee, dass Fernsehen nicht bilden kann. Kann es doch. Sogar und besonders Trash-TV. Aber dazu später.

Hol die Kinder rein, das Abendland geht unter! Wie der Trash in den Fernseher kam und warum man ihn nicht nur bejubeln kann

Angeblich hat alles mit der Softeis-Maschine angefangen. Mit diesem unverdächtig aussehenden Schlonz-Zapfautomaten, den ein argloser Passant sachgemäß bediente – um sich dann einem nimmer enden wollenden Strom süßer Frostmasse ausgeliefert zu sehen, die aus der Spendedüse quoll und quoll. Kein Mitarbeiter, den der hilflos die Schmierhände ringende Dauerzapfer hätte zur Hilfe rufen können, stattdessen eine mittlere Softeissauerei auf dem Bürgersteig und gaffende Menschen, bis sich endlich der Moderator, dieser Spaßvogel, seinen Weg zum verzweifelten Eismenschen bahnte, mit einem Zeigefinger direkt in Richtung Zuschauer wies und sagte: »Da steht unsere versteckte Kamera.«

Streiche wie diese gelten in vielen Reality-TV-Geschichtsabhandlungen als Geburtsstunde des Genres, alleine schon deshalb, weil erstmals unbeteiligte Normalbürger vor die Kamera traten und sich ohne Irritation durch die Kamera verhielten, wie sie sich eben im Alltag verhalten, denn sie wussten ja nicht, dass sie ungewollt zu Performern geworden waren. Gegen diese Einordnung spricht allerdings genau dieser Punkt: Setzt eine Kategorisierung als Reality-TV nicht auch einen gewissen Performanz-Willen beim Mitwirkenden voraus, eine eindeutige Ich-zeige-mich-Absicht? Falls nein, schlug die Geburtsstunde des Realityfernsehens also womöglich schon 1948 mit der ersten Folge Candid Camera in den USA.

In Deutschland war es wahrscheinlich aber doch die durchsichtige Bluse, die den ersten, wahren Fernseh-Trashmoment in all seiner schrillen, geschmacksschlingernden, irritierenden Herrlichkeit möglich machte. Es war 1970, in der Familienshow Wünsch dir was hatte Moderator Dietmar Schönherr gerade die Kandidatenfamilie gefragt, welches der fünf von Mannequins vorgeführten Kleidungsstücke die 17-jährige Tochter wohl gleich für ihren eigenen Catwalk-Auftritt wählen würde. Die kecke Tochter entschied sich für das Outfit mit sehr transparenter Bluse, die alles offenlegte, was 45 Jahre später in Germany’s next Topmodel meist mit fleischfarbenen Dezenzpflastern überklebt wird.

Skandal! – Natürlich. Mord- und Bombendrohungen gingen ein, die zuständigen Empörungseinrichtungen empörten sich. Die Familie aber gewann das Spiel, denn Vater, Mutter, Bruder hatten alle auf die Provo-Bluse getippt.

Wünsch dir was, erstmals 1969