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Christian von der Aue, ehemals Kriegsberichterstatter des Irakkriegs, jetzt Stadtteiljournalist, soll eine wahre und spannende hamburgische Familiengeschichte ausfindig machen und zu Papier bringen. Er wird fündig und stößt auf eine vierköfpige, erfolgreiche und äußerlich bieder erscheinende Familie. Moritz, der Vater, ist Direktor eines stadtbekannten Wirtschaftsgymnasiums und Autor, Mutter Anna eine international erfolgreiche Architektin und die beiden Kinder, Arien und Friederike studieren in Tübingen und Paris. Bei seinen Recherchen stößt der Journalist auf viele Ungereimtheiten, entdeckt Geheimnisse und Lebenslügen. Seine Nachforschungen katapultieren den auftraggebenden Zeitungsverlag in Dimensionen, die kaum zu überwinden sind. Intrigen, Verleumdungen, Intoleranz, Lügen, eigenwilliger Sex, Treue, Verzweiflung, Glück und Selbstmord bestimmen den Rahmen. Werden die unübersehbaren Ereignisse zur Makulatur, weil Christian die Rätsel nicht knacken kann?
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Seitenzahl: 603
Veröffentlichungsjahr: 2019
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WENN DIR DEINE TRÄUME KEINE ANGST EINJAGEN, SIND SIE NICHT GROß GENUG
Ellen Johnson-Sirleaf
(Liberianische Präsidentin)
Jürgen R. Tiedtke veröffentlichte während seiner beruflichen Tätigkeit mehrere wirtschaftswissenschaftliche Werke und Prüfungsvorbereitungsbücher für kaufmännische Berufsschulen, Fachhochschulen, Akademien.
Als Mitherausgeber der Fachzeitschrift Industriekaufmann /Industriekaufleute im Dr. Gabler Verlag lernte er den Wirtschaftsjournalismus kennen und übernahm für Jahre federführend die Auswahl von Themen und Autoren dieses Ressorts. Auf dem gegenwärtigen Markt für schulische und universitäre Wirtschaftsliteratur ist er als Herausgeber einer Allgemeinen BWL im Springer/Gabler Verlag und als Mitherausgeber an dem Buch Kaufmännisches Rechnen (4.Auflage) beteiligt.
Seit 2000 tritt er als Autor von Kurzgeschichten in Erscheinung, insbesondere im Himmelstürmer Verlag, Hamburg; im Konkursbuch Verlag, Frankfurt am Main und im Novum pro Verlag
Für den Himmelstürmer Verlag schrieb er unter einem Pseudonym viele Erzählungen.
Sein erster Roman: Abseits, Amor schießt quer (2003, Verlag MeinBuch, Hamburg): Das Kinderbuch Anna, bleib cool, wird 2010 im B&Z Verlag Leddin veröffentlicht. Als E-Bücher werden zur Zeit bei Amazon Abseits, Amor schießt quer und Machos, Weicheier und Terrorkrümel, Kurzgeschichten angeboten.
Danksagungen
Ich danke allen Freunden und Bekannten, die mir bei der Entstehung des Buches geholfen haben. Sie alle scheuten keine Mühen, mich mit authentischem Material zu versorgen oder mich bei sprachlichen Fragen zu unterstützen; unter anderem: W. D. Knoblauch, (Hamburg), Susith Mendis (LA/USA), Anura de Silva (Paris), Wolfgang Wallenda (München), Sunhild Rohne (Forbach/Baden), und viele andere.
Prolog
(Dez. 2004)
Nächtlicher Aufbruch
Buch 1
Christian, ein Kriegsberichterstatter (2004)
Buch 2
Aus Moritz Tagebuch
Moritz Erklärungen zu seinen Aufzeichnungen (2004)
Gedanken und Entscheidungen (2001 – 2004)
Buch 3
Der Stachel des Rochens (25.Nov.– 27.Dez.2004)
Epilog
(Dez. 2004)
Nächtlicher Aufbruch
Lautes Hundegekläff. Am Strand streunten herrenlose Köter herum und jagten sich gegenseitig Beute ab. Ich blickte vom Balkon aus auf den Ozean. Obwohl erst zwei Tage hier, war ich mit dem Umfeld des Fünf-Sterne- Hotels Club Oceanic in Trincomalee (auch Trinco genannt) vertraut. Es gehörte einem wohlhabenden Tamilen. Dieser hieß Kanderamanpulle.
Trincomalee ist Hafenstadt an der Ostseite Sri Lankas mit einem der wenigen Natur-Häfen der Welt. Ein verschmutzter ausladender Ort, arm, verkommen und voller Militär. Man sucht Terroristen, die Sri Lanka in zwei Staaten teilen wollen, hier Tamilen, im Westen Singhalesen.
Warum ich ausgerechnet hierher gefahren bin, es war Intuition.
Vor zwei Jahren passierte das Unvorstellbare.
Ich sah es vor mir.
Ich hörte mich schreien. Ich krümmte mich vor Schmerzen. Ein Infarkt schnürte meine Brust zu.
Seine Gewalt und Kraft waren brutal. Er wurde Herr über Gegenwart und Zukunft. Ich fühlte mich in einem Käfig gefangen. War Sklave meiner eigenen Ohnmacht.
Ein Jahr der Lethargie, zwölf Monate der inneren Zerstörung.
Dann befreite ich mich. Ein Glücksfall half mir.
Jetzt war ich hier, um mein Leben zurück zu gewinnen. Zwar kann niemand seine Vergangenheit auslöschen, ich also auch nicht, aber dorthin verbannen, wo sie keinen Schaden anrichten kann.
Ich verstaute alle wichtigen Utensilien wie Personalausweis, Visum, Führerschein, Fernglas, Geld, Handy, Adressenheft und meine tägliche Medikation in meiner Windjacke.
„Vergiss nichts, vor allen Dingen nicht den Reisepass, Moritz“, sagte mir mein Freund Christian im gestrigen Telefongespräch.
Es konnte losgehen.
Niemand beobachtete mich, und nirgendwo war ein Mensch zu sehen.
Wer steht auch schon um vier Uhr morgens auf? Vielleicht jemand, der nicht zur Ruhe kommt, bevor er nicht einen letzten Hauch der Nachtluft geschnuppert oder fasziniert den asiatischen Sternenhimmel beäugt hat?
Es rührte sich auf anderen Balkonen nichts.
Dennoch war ich vorsichtig, stand ich doch unter Arrest - von der singhalesischen Polizei verordnet - und durfte das Hotelareal nicht verlassen, was ich gerade vorhabe.
Ich ließ mich die Balkonbrüstung hinunter gleiten und fiel auf den weichen Boden. Um mich herum Oleander, der mir Schutz bot, obwohl ich ihn im Augenblick nicht brauchte. Ich lief an den Balkons entlang zum Strand, warf mich in seiner Nähe auf die Knie und robbte durch das Loch im Zaun, das ich gestern entdeckt hatte, hindurch auf die andere Seite, die Erde roch gut.
Schon war ich am menschenleeren Strand.
Mein Wagnis nahm seinen Anfang.
Ich war auf dem Weg zur Hauptstraße, wo mich um fünf Uhr ein Taxi erwarten sollte, das mich zur Nilaveli-Beach bringen wird. Hier soll es Europäer geben wie mir der Botschafter in Colombo sagte. „Auf alle Fälle wird da eine Surfschule von einer Deutschen betrieben.“
Anna und Surfen? Total daneben. Dieser Gedanke ging mir durch den Kopf, als ich dem schmalen Pfad durch den Palmenhain folgte, der zum Fahrdamm führte.
Dort werde ich von einem Chauffeur - Besitzer eines dreirädrigen indischen Autos - tuk-tuk genannt - mitgenommen. Ich hatte mich telefonisch zu heute Morgen mit dem Mann (Rupasingha) verabredet.
Das Wäldchen schien mir endlos.
Gespenstische Figuren, die aus den großflächigen Schatten der Palmenkronen, ihrer Stämme und aus Boden bedeckenden Sträuchern kurzlebig geboren werden und sich schnell wieder auflösen, wenn sich der Mond ungewollt verschleierte, flößten mir Furcht ein.
War sie auf mein Alter zurückzuführen?
Da bewegte sich doch etwas! Sofort beschlich mich panische Angst.
Ein Soldat, der – eben wie ich – auf der Erde kroch? Was wollte er? Ein Terrorist etwa, der mich töten will, und es auf mein Nachtglas abgesehen hat? Habe ich genug Geld bei mir, um mich freizukaufen?
Da, wo Aufständische das Leben regulieren, war alles möglich. Trinco war Domäne der Tamilen und um die Hafenstadt herum das Zentrum der Terroristen.
Meine innere Anspannung blähte sich auf.
Dennoch gab es kein Zurück.
Es raschelte lauter, als ob sich jemand durch Blätterberge windete. Kein Mensch, sagte ich mir, hinterlässt solche Geräusche. Schon gar nicht ein Soldat. Etwa ein Krokodil, das es noch immer in Wohngebieten geben soll, wie man mir berichtete? Die Warnungen schlug ich damals in den Wind, weil mein Ziel Vorrang hat.
Das bläute mir unentwegt mein Kopf ein. Mit widerlicher Aufdringlichkeit.
Auch jetzt!
Ich blieb stehen, als sich die Laute mit einem Knacken vermischten. Ich dachte an Äste, auf die man tritt.
Trotz meiner Konzentration auf die Augen könnten meine Blicke die Finsternis nicht durchdringen, und mein Nachtglas vermochte in dicht bewachsener Natur nichts auszurichten.
Jetzt ein Schleifen, als ob ein nackter Körper über eine raue Fläche gezogen wird. Laute, die mir nicht unbekannt waren. Dann kroch es hervor: ein graues, vorgeschichtliches, meterlanges Reptil, ein Waran.
Es sieht unerbittlich aus.
Doch ich wusste es besser.
Sein bösartiges Aussehen war nichts als Attrappe. Es verschwand in der Dunkelheit.
Meine Erregung zog sich so schnell, wie sie kam, zurück.
Ich sah den grauen Straßenbelag der Straße vor mir.
Geschafft!
Mir fiel ein Stein vom Herzen.
Ich duckte mich, als ein Militärjeep vorbei donnerte und an der Schranke zum Hotelgebiet Halt machte. Zwei Soldaten sprangen heraus, während der Motor vor sich hin surrte, liefen ins Wachhäuschen, betraten es für nicht mehr als eine Minute, eilten zum Wagen zurück und rasten davon.
Kontrollbesuch!
Ich blickte auf die Uhr. Ich war eher hier als abgemacht.
Noch hatte ich zehn Minuten Zeit.
Ich schritt, geschützt durch den Wald, auf und ab und fand im Rhythmus der Schritte mein inneres Gleichgewicht wieder.
Ja, ich war jetzt sogar über mich selbst erstaunt.
Ich war in Colombo noch verzweifelt. Wie konnte ich eine solche Ochsentour auf mich nehmen. Wofür?
Ein subtropisches Land mit seiner buddhistischen Kultur zu bereisen, ähnelt einem großen Abenteuer. Für junge Leute sicher keine Frage, für mich, der ich auf die sechzig Jahre zusteuere? Außerdem fehlten mir exakte Planung und eine Strategie. Alles ging so schnell.
Hier in Trincomalee war ich gelöster, weil ich einen Hoffnungsschimmer am Horizont spürte: einmal sie noch sehen, ein paar Worte wechseln über Arien, ihren Sohn.
Da hörte ich das von einem tuk-tuk herrührende schrille Motorgekeuche.
Das Fahrzeug näherte sich nur langsam, verringerte seine schon gedrosselte Geschwindigkeit, kurz bevor es mich erreichte, und ich sprang im Fahren auf die schmale Bank hinten, eigentlich für Asiaten konstruiert. Ein Anhalten hätte das Wachpersonal misstrauisch gemacht.
Ein junger, sehr dunkelhäutiger Mann - unverkennbar das grobe Gesicht eines einfachen Tamilen - saß auf dem Fahrersitz. Seine weißen Zähne blitzten in der Dunkelheit.
Während wir den Eingang des Hotels passierten, sah ich, wie ein Mann zum Telefon griff, das an der Außenwand des Wachgebäudes installiert war.
„Sie holen die Polizei“, meinte mein Fahrer in gutem Englisch.
„Nachts zu fahren ist verdächtig.“
Wieder lachte der Tamile und sagte, dass sie ihn nicht erwischen werden. Sein Fahrzeug werde im Dorf versteckt, wenn er seinen Gast abgesetzt habe. Dennoch drehte er sich immer nach hinten um, damit wir vor unliebsamen Überraschungen verschont blieben, wie er verlauten ließ.
Dunkles Grau wich dem nächtlichen Schwarz. Äste der Bäume und Dächer der Häuser nahmen Konturen an.
Der Morgen dämmerte.
Die Luft war seidig kühl.
Meine Gedanken sprudelten wie ein künstlicher Brunnen um die Surfschule.
Ich schaute aus dem Vehikel an den Himmel. Die Wolken hatten sich in Nichts aufgelöst. Die Sonne schien hell und klar. Ein Morgen, der die Sehnsucht nach Vollkommenheit stillt. Unter diesen Voraussetzungen hatte sie ihre ausdruckstärksten Aquarelle an der Nordsee gezaubert. Wird es auch hier am Strand so sein? Ob ich eine Antwort bekommen werde?
Der Fahrer kannte den Weg.
Nach zwanzig Minuten sahen wir von weitem ein sich im Halbbogen bewegendes, rotes Licht.
„Keine Angst!“ gab der Tamile von sich.
„Meine Freunde!“ Wir hielten.
Vier junge Männer in uniformähnlicher Kleidung, über der Schulter Schnellschusswaffen.
Ich glaubte, dass mich mein Gefühl nicht täuscht: Man hatte uns erwartet. Nun gut. Hierauf sollte ich keine Gedanken verschwenden. Es schien, als sei man mir wohl gesonnen. Ich fragte nach einer Europäerin.
„Sie ist hübsch!“
Einer von Vieren erkundigte sich in schlechtem Englisch, ob ich die blonde Frau – und ein anderer deutete mit den Händen die Üppigkeit ihrer Busen an – meinte, die meist in aller Herrgottsfrühe zum Malen und Surfen an den Strand eilt, sein Bruder wäre bei ihr Gärtner und Steward.
Er grinste süffisant.
Ich überraschte mich, dass mir sein verschlagenes Lächeln nichts ausmachte. Mir war tatsächlich die Position seines Bruders gleichgültig. Ich wusste jetzt schon, das konnte Anna kaum sein, Surfen war nie ihr Ding. Er muss sich geirrt haben.
Ich nickte, stellte keine weiteren Fragen.
„Sie gehen jetzt diesen Weg hinunter“, und er zeigte mit der Hand noch links, „während ich den Wagen verstecke. Da drüben anklopfen, wenn Sie zurückkehren wollen.“
Meine Zeit war kurz bemessen.
Ich hatte mir ausgerechnet, dass mein Verschwinden im Hotel nur dann nicht bemerkt wird, wenn ich pünktlich zum Frühstück erscheine. Also circa um 7 Uhr – 7:30.
Es war inzwischen zehn Minuten vor sechs Uhr. Immer noch genügend Minuten Zeit, um Blicke nach dem langen Schweigen auszutauschen. Aber ich war mir sicher, sie hatte noch nie etwas für Sport übrig.
Stadtteiljournalist – 10.05.
Christian von der Aue quält sich den Gang zum Chefredakteur entlang, dessen Zimmer am Ende liegt. Dabei läuft er an unzähligen geöffneten Türen vorbei. Lokaljournalisten denken sich ihre Zeilen meist hinter ihnen aus. Sie sehen ihm nach. Einige feixen, andere haben eine schadenfrohe Miene aufgesetzt.
Sie erhoffen seinen Abgesang.
Darüber ärgert er sich.
Nein... es ist mehr. Er ist zornig.
Immer wieder fragt er sich, warum man ihn ablehnt. Ohne Zugeständnisse, ohne Ansprache, ohne persönlichen Kontakt.
Christian von der Aue ist für sie ein Fremdkörper.
Weil er selten lacht?
Liegt darin ihre Abneigung begründet?
Der junge Mann hat seine Leichtigkeit hinter sich gelassen, die Fröhlichkeit der Kindheit, die Offenheit der Jugend.
Die Teilnahme am Töten verschließt die Seele, meinen seine Kollegen.
Was hat auch ein Korrespondent und Kriegsberichterstatter des Auslandsjournals dieser Zeitung unter ihnen zu suchen? Die Erklärung ist simpel, nur hat sich niemand die Mühe gemacht, sie anzuhören.
Christian hatte nämlich seinen Job satt. Das ist gelinde gesagt.
Er konnte die Arbeit nicht mehr ertragen und schon gar nicht mehr nach außen vertreten. Depressionen die Folge. Und damit wurde er – wie er fand - in der Fremde das schlechteste Sprachrohr der Medien.
Sieben Jahre Krieg, Mord, Totschlag, Anschläge, Gefechte und Terror. Afghanistan, Kuwait, Irak, Somalia die Länder und Orte, von denen seine Bilder zeugen und seine Texte handeln. Auch Ehrungen für von ihm geborgene Kinder in Bagdad - mit Foto, versteht sich - und für die Rettung eines US-Soldaten, den eine Meute mordender Saddam-Anhänger lynchen wollte, festigten nicht sein Rückgrat, das fast gebrochen ist. Hohe Geldsummen bieten keinen Anreiz weiterzumachen. So bewarb sich der Journalist im Stadtjournal und... hatte Glück.
Kann man von Glück reden, wo ihn seine Kollegen meiden? Er fühlt, dass sie um ihn einen Bogen machen, kaum dass sie ihn sehen oder hören. Bevor er die Kantine betritt, nimmt er ihr Tuscheln wahr. Sie schweigen, wenn er sich nähert.
Heute soll er beim Chefredakteur Rede und Antwort über bisherige Erfolge in seinem neuen Aufgabenfeld stehen. Nur hatte er bisher keine, obwohl er bereits vier Wochen als Reporter unterwegs ist.
St. Georg, Winterhude, Berliner Tor, Uhlenhorst, Mundsburg und Zentrum sind seine Einsatzgebiete.
Er klopft und hört ein emotionsloses Herein.
Das Zimmer, das der Journalist betritt, ist groß und luftig, hat mehrere Fenster nebeneinander, die bis auf den Boden reichen. Eins ist sogar zum Öffnen, anders als in den Räumen des Fußvolks.
Hinter dem wuchtigen Schreibtisch voller Zeitungsstapel, Bücher, Akten steht er,... der Boss…, gebeugt, beide Hände auf die schwere Holzplatte gepresst, Christian abschätzend.
Soll seine Haltung Angst einjagen?
Der Chefredakteur ist einen Kopf größer als der ehemalige Kriegsberichterstatter, hat doppelt so breite Schultern, volles, glattes Haar auf einem eckigen Schädel und listige Schweinsaugen. Mit ihnen scheint er seinen Besucher durchbohren zu wollen. Seine Handbewegung macht deutlich, dass man sich setzen möge, und dafür steht ein harter Stuhl ohne Seitenlehnen vor seinem Arbeitsplatz. Er selbst schiebt mit einem Fuß seinen Ledersessel nach hinten, lässt sich hineinfallen, zieht ihn mit dem anderen nach vorn und stützt seinen Kopf, getragen von den Handflächen, mit den Ellbogen ab.
Er blickt den Mann vor sich unverwandt an.
Und bleibt stumm….
Dieser wehrt sich auf seine Weise. Er kennt nämlich so ein Vorgesetztengehabe… schweigt seinerseits. Es war der Versuch einer Einschüchterung, die die Regeln des Gesprächs festzuschreiben wünscht.
Hat der Boss so etwas nötig?
„Viel ist von ihnen noch nicht 'rüber gekommen“, sagt er in einem verächtlichen Ton. „Wir erwarten mehr von Ihnen, sehr viel mehr.“
„Wer wir?“, die Antwort.
Christian sieht seiner Miene an, dass die Gegenfrage verblüfft. Allerdings geht er nicht näher darauf ein.
„Meine Probezeit ist noch nicht einmal zur Hälfte vorbei.“
„Wann geht sie zu Ende?“
„In zwei Monaten, jedenfalls ungefähr. Genaues steht in der Personalakte.“
Das ist für den Boss eindeutig eine Herausforderung. Christian erkennt, wie dieser über diese Unverschämtheit nach Luft ringt und freut sich, ohne sein Gesicht zu verziehen. Dennoch ist sich der junge Mann sicher, dass es keine weiteren Rüffel geben wird. Im Feld hatte er hundert Mal erlebt, wie Offiziere reagierten, wenn man mit gleicher Münze zurückzahlte. Außerdem hatte er genug Erfahrung, um sich die Butter nicht vom Brot nehmen zu lassen – auch nicht von einem so gewichtigen Kerl.
Vielleicht imponiert das sogar.
Dem Gesichtsausdruck nach zu urteilen allerdings liegt der Journalist falsch. Während der Regen an die Scheiben prasselt, und der Boss seine Augen durch sein Heiligtum schweifen lässt, die unerträglich graue Farbe der Wände verflucht, hört sich der junge Mann versöhnlich sagen:
„Sie müssen Vertrauen zu mir haben!“
„Hatte ich!“, lässt er ihn wissen, und gibt zu verstehen, dass das Gespräch beendet ist.
„Ideen sprudeln nicht wie Quellen“, sagt Christian.
„Man braucht oft Wochen und Monate!“
Dann macht er sich auf den Weg nach draußen.
Der Chefredakteur hatte fünf Minuten Zeit für seinen neuen Mitarbeiter.
Eine Foto-Ausstellung – 14.05.
Im Foyer der Ausstellungsräume stauen sich die Leute. Ein interessiertes Publikum. Die Wanderausstellung „Perspektiven“ war gestern eröffnet worden. Geladene Gäste. Christian gehört nicht dazu. Noch war er in diesem Metier ein unbeschriebenes Blatt.
Er schiebt sich, einen Tag später, durch die Menschenmassen gegen den Strom, ignoriert empörte Blicke und überhört Beschimpfungen. Er rollt die Bilder sozusagen vom Ausgang aus auf. Beginnt von hinten. Er hat das Gefühl, dass endlich seit Beginn seiner lokaljournalistischen Tätigkeit auf etwas gestoßen zu sein, was einen längeren Bericht rechtfertigt, weil er vor Fotografien steht, deren Interpretation den Intellekt herausfordert.
Heute heißt es erst einmal, sich einen Eindruck zu verschaffen. Mehr nicht. Christian staunt, was für Motive Künstler eingefangen und verfälscht haben.
Eine verfremdete Welt.
Ein der Wirklichkeit abgewandtes Sujet.
Das muss Besucher aufrütteln, ihn auch.
Gleichzeitig werden in ihm Erinnerungen aus dem Irakkrieg wach, dessen Motivation und Begründung vielerorts entstellt waren. Warum hatte er die Berichterstattung nicht von Anfang an abgelehnt? Der Newcomer weist die Gedanken von sich. Er betrachtet das ihm schon bekannte Bild von Jaschi Klein, auf dem Stühle über dem Watt schweben, flitzt, als ein Platz auf der Bank davor frei wird, auf den Zwischenraum und zwängt sich hinein. Seine Augen entführen ihn in die aufrüttelnde Atmosphäre der Gezeiten.
Christian hatte vor langer Zeit hierüber nachgedacht, es war wohl vor einem Jahr, als er das Bild in einer Ausstellung gesehen hatte. Er erinnerte sich jetzt, dass er auch damals zu keiner Interpretation gekommen war.
Jetzt fällt ihm hierzu doch noch etwas ein.
Meint sie vielleicht, dass dieser Teil der Nordsee, ein bescheidener Küstenstreifen nur, dem Meer abgerungen werden muss? Der Stuhl als Symbol der Zivilisation? Oder sind die schwebenden Sitzgelegenheiten nur ein Indiz dafür, dass man den Kampf um neues Gelände verlieren wird?
Ein Luftschloss vielleicht?
Er blickt sich nach allen Seiten um.
An der Schmalseite des Saales gleich neben dem Eingang hängt ein schwarz-weißes Foto, ein Mann steht seitlich davor, wiegt seinen Kopf nach links und rechts, sinkt in die Knie, richtet sich in den Zehenstand auf, macht einen Schritt zur langen Wandseite, sieht das Foto jetzt aus einem anderen Blickwinkel, schreitet zurück und verharrt vor dem Bild in der Ausgangsposition.
Christian betrachtet dessen Profil.
Er mag es auf Anhieb.
Leider verdeckt der Mann das Foto fast gänzlich.
Der viel Jüngere gesellt sich zu ihm wegen der Art seines Betrachtens. Sie ist ungewöhnlich.
Er muss vom Fach sein, geht‘s Christian durch den Kopf, vielleicht ein Fotograf, ein Maler?
Auf dem Foto ein packendes Naturereignis.
Sein Schöpfer hatte eine Allee im Herbst festgehalten. Nichts Besonderes, hätten die Bäume - an ihren Ästen kleben noch ein paar Blätter - nicht im Wind hinter einem Hauch von Dunst getanzt. Im Vordergrund, scharf herausgeschnitten, ein bis auf dreißig bis fünfzig Zentimeter abgetragener Blätterberg, den nur ein konzentrierter Beobachter als Collage erkennt. Ein Windstoß hatte sich in sein Inneres gebohrt, seine Spitze in die Luft gewirbelt und in einen rasenden Kreisel verwandelt, dessen Konturen sich auflösen wie eine Drossel im grellen Licht.
Unterzeichnet: Von der Vergangenheit zur Vergangenheit.
Merkwürdig. Er schwor sich, darüber nachzudenken. Hier fehlt die Zeit.
Er hatte während seiner Ausbildung gelernt, dass man bei einer ersten Betrachtung ein Bild nur auf sich wirken lassen sollte. Das tut er jetzt.
Der junge Journalist wird an Marc Baruth erinnert, der seine Landschaftsinszenierungen ebenso wie Jaschi Klein verfälscht, indem er Einzelaufnahmen unterschiedlichster Gegenden zu einer Einheit zusammenfügt.
Er fragt sich, ob sich Sieghart Peters - der Künstler - mit dieser Fotomontage in die Reihe der anderen einreihen lässt, als ihn der Mann mittleren Alters neben sich anspricht.
„Eindrucksvoll!“, gibt dieser mit einem Kopfnicken von sich.
„Fast ein nach einem Drehbuch realisiertes Bild in Licht und Schatten!“
Christian horcht auf.
„Hell und Dunkel lassen den mit trocknem Laub vollgestopften rotierenden Wirbel wie eine Windhose wahrnehmen, die schwindlig macht. Sichtbare, schnelle Bewegungen, phantastisch.“ Er hält einen Augenblick inne und fährt dann fort, indem er mit seiner Hand auf das aufgewirbelte Laub zeigt:
„Eine Frage der Beleuchtung.“
Der Fremde hat Erfahrung. Das stand für den Journalisten bereits fest, als er ihn beobachtete, und das machte ihn sympathisch. Denn Schwarzweiß-Fotografie hat ihre eigenen Gesetze! Und die kennt nicht jeder.
„Mehr noch! Fast eine surreale Szene“.
Schwarz-weiße Fotos lenken auf den Big Point, wollte er sagen, doch lässt er es. Belehrung braucht dieser Mann nicht.
„Mögen Sie Farbbilder?“, fragt er unvermittelt. Der Journalist stutzt. Er schaut den Fremden skeptisch an.
Dessen Augen sind stahlblau. Spricht aus ihnen seelische Kälte?
Er merkt, dass er ihn durch ein Vorurteil zu klassifizieren sucht, einem Journalisten streng untersagt.
„Farbfotografien geben Stimmungen wieder“, sprudelt es aus ihm heraus. „Sie verkleistern die Phantasie!“
Dann hört er: „Das ist gut! ..... Verkleistern!... Was für ein Wort! Verkleistern......“
Als sein Lachen durch den Saal dröhnt, drehen sich Leute nach ihm um, schütteln ihren Kopf, empört - man sollte die wohltuende Stille der Ausstellung nicht unterlaufen.
Wärme durchflutet sein Gesicht, die vermeintliche Härte, Unerbittlichkeit hat sich verflüchtigt wie Eau de Cologne, immer noch lacht er, zurückhaltender, aber wohltuend. Seine augenblickliche Anziehungskraft, sein Charisma, ähnelt dem seiner Mutter, Gräfin von der Aue, und er wird von ihm gepackt. Hoffnung macht sich breit. Es war das erste Mal, seit der Tagespresse-Newcomer wieder in Hamburg ist, dass er mit einem Unbekannten gedanklich auf gleicher Ebene liegt. Vielleicht kommen zwischen ihnen Gespräche auf, denkt er, und vielleicht gibt es heftige Diskussionen. Wer weiß?
Dann dreht sich der Mann vollends zu ihm hin, starrt ihn an, bewegungslos, wie ein hypnotisiertes Medium, die Mundwinkel nach unten gezogen, die Augen verengt. Eine Miene voller Aggression.
„Sie sind Experte!“ zischt er dem Journalisten ins Gesicht.
„Absolut! Keiner hat grausamere Fotos als Sie geliefert! Sehr einprägsam. Dazu die unerträglichen Schilderungen des amerikanischen Vormarsches, den angeblich heroischen Kampf, und den erbärmlichen Rückzug einer schwachen irakischen Armee. Das war gekonnt... nur… ich hasse Krieg!“
„Journalisten schreiben nicht für sich!“
„Sind Sie davon überzeugt, Herr von der Aue?“
Dass er seinen Namen nannte, trifft Christian wie ein Keulenschlag. Beinahe wird er ohnmächtig, torkelt zur Seite und sucht eine Stütze. Er findet sie im Fensterbrett. Enttarnt, obwohl er seit mehreren Wochen keine Reportagen mehr über militärische Einsätze und über Terror lieferte – seine letzten Fotos stammten aus Afghanistan.
Der fremde Besucher entwischt ihm während seiner Starre, seiner Sprachlosigkeit.
Der Artikel, den der Journalist nach seinem Rundgang und Recherchen verfasst, kommt beim Leser gut an. Das bestätigen Kollegen anderer Zeitungen.
Ein Treffpunkt – 20.05.
Der Rucksack, in dem der junge unerfahrene Stadtschreiber seine Schreibutensilien sowie Handy und Geld verstaut hat, schnürt auf dem Weg zu seinem Ziel: dem Café Gnosa. Er hat die Riemen zu eng gezogen. Er ist durch die Stadt geschlendert, an restaurierten Häusern der Gründerjahre vorbei, die seine Erinnerungen an Kindheit und Jugend wachriefen. Er durchschreitet energisch die Halle des überfüllten Hauptbahnhofs, des Öfteren angerempelt von Reisenden, Bettlern, Dieben, Strichern und schmutzigen Gestalten. Er merkt, dass er sich untreu geworden ist, denn eigentlich sucht er – auch im Zentrum einer Stadt - nach einer gewissen Stille, und die gibt es in Nebenstraßen und kleinen Plätzen. Dennoch bevorzugt er heute die Massen, die die langgestreckte Halle zu den Bahnsteigen durchströmen. Er passiert das Deutsche Schauspielhaus, das ihm - völlig zu Unrecht - wie eine Bedrohung vorkommt. Sie redet ihm ein, schnellstens zum Hansaplatz zu flüchten, von dort die Richtung Lange Reihe einzuschlagen.
Er schaut zum Himmel. Dieser hat sich verdunkelt.
Eine drohende Kulisse.
Graue Wolkenmassen schieben sich untereinander wie tektonische Platten im Meer, vermischen sich zu Ungeheuern und verziehen sich so schnell, wie die Gedanken in seinem Bewusstsein vorbei streichen.
Ein leichter Nieselregen hat eingesetzt, der ihn aus seiner Gedankenwelt in die Wirklichkeit zurückholt.
Regenschirme werden aufgespannt.
Links von ihm ein Gewürzladen im Keller. Die unzähligen Auslagen vor dem Laden schütz eine gelbliche Markise. Sie ist verwaschen.
Man steigt drei Stufen nach unten und steht inmitten von Säcken, Tüten, Ballen, Eimern und Regalen. Voll gepackt bis zum Rand. Manches ist gestapelt, anderes gelegt, gegeneinander gestellt oder hängt von der Decke herab. Kräuter über Kräuter, Gewürze aus aller Welt, deren Duftgemisch den dunklen Raum erfüllt und den Atem stocken lässt. Ein berauschendes Gefühl. Jedes Mal, wenn er sich in dieser Gegend aufhält, macht er einen Abstecher in den Keller.
Heute fehlt ihm hierzu der Antrieb.
Endlich steht er vorm Ziel seines Wunsches.
Über dem Eingang zum Café Gnosa prangt sein Schriftzug. Unten an der Scheibe erfährt man die Öffnungszeiten. Direkt davor am Rande des Bürgersteigs zwei junge Eichen, die bis in den ersten Stock reichen. Noch keine majestätischen Kronen und keine kräftigen Äste, aber Zweige mit jungem Blattwerk. In zehn Jahren werden sie überall Schatten spenden.
Plötzlich ein störendes, durchdringendes Schreien!
Christian blickt nach oben.
Eine Elster flattert über die Straße und findet Unterschlupf im Geäst. Ein unverwüstlicher Vogel, wie es scheint, der in der Großstadt zurechtzukommen weiß. Rotkehlchen und Dompfaffen haben geringere Überlebenschancen.
Das Café ist ihm von mehreren Besuchen bekannt.
Christian kann nicht sagen, was er jetzt hier will, und doch drängt es ihn, hineinzugehen und Menschen in Gesprächen zu beobachten, in ihrer Zuneigung zum Partner oder in ihrem Engagement zu dem, was sie sagen.
Was für eine Atmosphäre herrscht dort? Der Journalist bleibt stehen, denkt kurz nach. Seine Antwort: Morbid, aber behaglich.
Ihm kommen seine bisherigen Eindrücke in den Sinn.
Die Ausstattung gehört ins letzte Jahrhundert, Relikte der fünfziger Jahre, wuchtige Lampen spenden diffuses Licht, und an den getünchten Wänden mäßige Kunst.
Platz? Nur selten!
Junge Männer rekeln sich um Pariser Tische, Frauen mit kurzen Haaren tuscheln mit ihren Freundinnen, und oft tragen sie strenge Militärkleidung!
Leute von heute, sagt man.
Die Kellner sind ausgesprochen höflich. Der Tagesgeschehen – Schreiber glaubt nicht, dass sie es nur des Trinkgeldes wegen sind. Nettigkeit ist ihr Markenzeichen, wie man hören oder sich selbst davon ein Bild machen kann. Von den Gästen gibt es viele schrille Töne. Manchen vielleicht ein Dorn im Auge, ihm gefallen sie.
Normales ist viel zu häufig.
Als Christian die Tür zum Café öffnet, schlagen ihm Schwaden grauweißen Qualms entgegen, Zigarettenrauch, der ohne Vorwarnungen seine Augen strapaziert. Sie tränen sofort, so dass er glaubt, blind zu werden. Er tastet sich am Kuchen-Buffet vorbei - der Konditor genießt einen hervorragenden Ruf - nimmt rechter Hand nur Umrisse von Körpern wahr und spürt Erleichterung, als er den hinteren Raum über ein paar Stufen betritt. Hier ist die Luft etwas besser.
Wie er feststellt, hält Peggy Parnass Hof. Wer kennt die zarte, sehr zerbrechliche Gerichtsautorin in Hamburg nicht?
Im Raum schwebt gedämpft die Wahnsinnsstimme aus Afrika: Rokia Traoré, von einer CD aus dem Album Bowmboi. Sie braucht eigentlich Andacht, und man muss sie vor sich sehen, wie der Journalist das Vergnügen in der Fabrik hatte.
Ein freier Tisch? Fehlanzeige.
Er muss sich irgendwo dazu setzen. Das schätzen nur wenige Leute.
Gleich neben ihm an der Wand rechts zwei Frauen mit zurückgekämmtem Haar, Jeans und Rollis, flüsternd und andächtig, dahinter drei jüngere Männer, die herumalbern, und daneben eine gemischte Gruppe vor einer mit Gläsern zugestellten Tischplatte.
Niemand macht Anstalten, ihm einen freien Platz anzubieten.
Endlich erfolgreich? - 20.05.
Genau vor ihm auf der Fensterseite ein Mittdreißiger, der allein sitzt. Daneben zwei unbesetzte Stühle.
Christian mustert das Gesicht eindringlich.
Es ekelt ihn an. Der Mann sucht Fleisch, wie ihm scheint. Seine Augen bleiben an jungen, männlichen Körpern hängen. Sollte Christian die Hoffnungen mit seiner Anwesenheit begraben?
Soll ihm der Schreiber Gesellschaft leisten?
Der Journalist schließt für Sekunden seine Augen, um nachzudenken, ein Ritual, das ihm vertraut ist, wenn er etwas zu entscheiden hat.
Nein, lieber würde er das Lokal verlassen.
Der neue Besucher blickt sich weiter nach einer Sitzgelegenheit um. Manchmal werden zusätzlich Hocker an die Sesselgruppen gestellt.
Nichts von alledem.
Dann entdeckt er den Experten aus der Foto-Ausstellung.
Zufall?
Wesensverwandtschaft?
Der Mann schaut auf ein Buch, das in seinem Schoß liegt, streichelt den Handrücken der anderen mit der rechten Hand - unbewusst? –, als ob er zärtlich über eine Wange gleitet, und liest. Dennoch glaubt Christian zu sehen, wie er ab und zu seinen Kopf anhebt. Ein Blick in die Runde. Natürlich kann man sich irren, aber der Journalist kennt von sich, dass er selbst sein Lesen immer wieder unterbricht: Minuten innerer Auseinandersetzung.
Noch hat der namentlich Unbekannte den Stadtautor nicht bemerkt.
An seinem Tisch stehen zwei rote, abgewetzte Cocktailsessel unbenutzt herum. Sie stammen aus der Adenauer-Ära, ruhen auf vier Rundhölzern in Spargeldicke - überspitzt gesagt - schräg in den unteren Rahmen getrieben. Christian hat schon auf ihnen gesessen. Sie wackeln, was das Zeug hält.
Während der Journalist auf die leeren Sessel zugeht, blickt ihn der Mann unverhohlen an. Er richtet sich auf, sitzt nun stocksteif da und grinst herablassend auf den Ankömmling. Er hat etwas in der Miene, das seine Überlegenheit ausdrücken soll oder seine Verachtung.
Im Gegenzug schaut ihm Christian penetrant ins Gesicht, lässt seinen Blick über dessen Kopf kreisen und senkt ihn nach unten. Als dieser den kuchengefüllten Teller erreicht, umspielt ein ironisches Lächeln seinen Mund. In dieser Haltung entdeckt der junge Mann in sich wieder den Zug einer Unverschämtheit, der ihn auch im Feld begleitete - anders konnte man gar nicht überleben-.
Der Spezialist für schwarz-weiße Fotografie fühlte, dass man ihn erkannt hat. Er legt nervös sein Buch ab. Die verengten Lippen und die krause Stirn lassen Unbehagen vermuten.
Was dem Journalisten bei der Betrachtung der Peters-Fotomontage und des Mannes damals entgangen war, spürt er jetzt. Ihm fällt Elfriede Jellinek ein. Sie ist ihm verhasst, aber sie hat die Gabe, von sich über ihre Texte und Theaterstücke reden zu machen, und Vieles von ihr regt jeden Theater-Liebhaber auf und an. Sie sagt: Ein Gesicht sei wie Gartenerde, von der keine Züge abfahren würden, und wuchert.
Als Christian diesen Satz das erste Mal hörte, staunte er darüber. Er ist weder schön noch einprägsam. Aber er regt zum Denken an.
Wenn Gesichter Falten bekommen…
Was er schon oft genug wahrgenommen hat: Sie wuchern.
Ein Tiefschlag?
Für Frauen manchmal ein Weg zum Chirurg.
Auch beim Foto-Experten wuchern sie. Drei gleiten über seine Stirn hinweg, noch fein, aber unterbrochen durch Furchen; Kerben eher zum Nasenrücken hin. Über Jahre entstanden oder am Morgen einfach da gewesen? Ein schrecklicher Einschnitt im Dasein?
Christian schätzt ihn nach dieser Momentaufnahme auf fünfzig Jahre.
Er hatte längst einen Entschluss gefasst.
Dieser steht dem Journalisten ins Gesicht geschrieben, und der Mann hat ihn durchschaut.
Er steht auf, rückt die Sessel hin und her, irgendwie, aber nicht zurecht, schiebt den runden Tisch dem Journalisten entgegen, zieht ihn wieder zurück, überprüft seine Standfestigkeit und fällt ins weiche Polster.
Ein unverfrorenes Grinsen begleitet sein Tun, auch Spott, und in seinen Gesten Überlegenheit.
Ein Kleinkrieg par excellence.
So schnell lässt sich aber ein Christian von der Aue nicht kleinkriegen!
„Ist hier noch Platz?“, fragt er und zerrt die Worte des Satzes gelangweilt auseinander.
Natürlich ist … Der Fünfzigjährige kann Christians überflüssige Frage nicht verneinen.
Der Journalist wirft seinen Rucksack auf einen der freien Plätze. Danach schiebt er sich zwischen Tischkante und dem zweiten Sessel, was wegen der Enge schwer genug ist. Dann rutscht er die Rücklehne entlang sachte nach unten. Dabei hat er offensichtlich Spaß, denn er grient wie ein Kind, dem etwas Besonderes gelungen ist.
Da sitzt er nun, eingeklemmt, versteht sich.
Es wollte ihm zuerst nicht in den Kopf gehen, warum der Mann sich ausgerechnet hier und heute aufhält. Aber dann denkt er an sich, und hat die auf der Hand liegende Erklärung vor Augen: Der Ältere schätzt das Außergewöhnliche wie er selbst.
Der Journalist beschließt zu reden, zu erklären.
Ein Mann, der die Kantsche 'Kritik der reinen Vernunft' in der Hand hält und offensichtlich bis jetzt gelesen hat, ein Mann, der Fotos unter dem Aspekt der Beleuchtung und Farben analysiert, ein Mann, der kritisch beobachtet, dem ist alles zuzutrauen! Christians Vorstellung ist nämlich inzwischen ziemlich klar: Er hat es mit einem intellektuellen, eigenwilligen, empfindlichen Kerl zu tun.
Man kommt ins Gespräch.
Belangloses zu Anfang.
Dann besinnt sich der Journalist, hatte ihn doch der Experte bei ihrem Treffen in der Galerie als Kriegsberichterstatter entlarvt und verurteilt, gleichzeitig aber auch bewundert. Das Wort verkleistern kommt in Christians Erinnerung zurück, das er für Farbfotos in den Raum stellte und über das der Mann laut lachte. Und weil der Fremde dadurch ein gewisses Interesse am Journalisten bekundete, hatte er jetzt einen Gedankenblitz, nämlich über seinen Berufsweg zu erzählen. Und da er geschickt ist, lässt er eine Art Selbstkritik vom Stapel, in der Hoffnung, dass sie den Fremden in seiner Ansicht über den Kriegsberichterstatter beeinflusst. Er lässt ihn wissen, dass ihn der Ehrgeiz getrieben hätte. Weltbewegende Bilder wollte er machen, mit denen er berühmt werden konnte.
„Ich träumte davon, der beste aller Fotografen zu werden und sah mich bereits als Champion auf der Bühne bei der Verleihung des wichtigsten Preises. Kann man dieses Ziel ohne Sensationsbilder und plastische Berichterstattung anpeilen? Nein! Ich war unter anderem Berichterstatter im Irak. Meine Fotos spiegelten die Schrecklichkeit eines Krieges wider.“
Herr von der Aue beugt sich zu ihm hinüber, um seiner Entschuldigung Nachdruck zu verleihen und sagt, dass nur die Unerbittlichkeit kämpferischer Auseinandersetzungen - flankiert von Terror (miese Bedingungen, auch für Journalisten) unterstützt durch Kicks, deren Wurzeln aus ruheloser Neugierde stammen (Flammen des Inneren, geschürt durch Angst) - Garanten erschütternder Fotos sind.
Echte, lebensnahe Fotos.
Die hätte er geliefert, wie jedermann weiß.
„Bis ich...“
Christian blickt zu ihm und spürt dessen Abneigung.
„Hätten Sie einen Sohn meines Alters, und hätte dieser mit meiner Fehleinschätzung, Verbohrtheit und meiner horrenden Dummheit Böses, nein, nicht mal das, Falsches gemacht, würden Sie ihm verzeihen, ihn an sich drücken und wieder zu sprechen beginnen, was Sie vorher unterlassen hatten.“
Sekunden springt aus seinen Augen Anteilnahme.
Dann sieht man Röte in sein Gesicht schießen, Wut aufsteigen. „Natürlich!“, haucht er dem Journalist entgegen. Ein Flüstern nur. Soll dieses seine Verachtung ausdrücken? „Ein Unterschied!“
„Der wäre?“ „Sie sind nicht mein Sohn!“
Der Mann drückt seinen Sessel nach hinten, soweit man davon reden konnte – dreht sich aus dem Sitz, ergreift das Buch mit grünem Umschlag, ungeschickt, eine Visitenkarte fällt heraus, die der Journalist aufnimmt, ihm reicht und die der Ältere, als hätte er etwas Verbotenes zu verstecken, hastig in seine Tasche gleiten lässt – und geht.
Bei Max hat Christian auf ihr gelesen. Die Schrift war fett, die Umrisse einer weiblichen Figur kräftig. Was wird ein junger Bursche bei solcher Ansicht denken? Christian sieht in Gedanken eine Bar vor sich, fast nackte Frauen mit üppigen Busen, Kerzenlicht…, und spürt ihre schwüle Atmosphäre.
Er schaut dem Mann nach. Niedergeschlagen.
Sein Stadtteil
Christian steht an der Ecke Budapester Straße und Feldstraße. Schaut über den Neuen Pferdemarkt auf das Eckhaus gegenüber, ein Gebäude aus der Jahrhundertwende, in dem er im vierten Stock wohnt. Es sieht aus, als habe es gepanzerte Wände, so schwer erscheinen die Steine und so tief sind Fenster- und Türeinbuchtungen.
Es gibt halbrunde Balkons in geschnitzten Holzrahmen.
Man kann sich auf ihnen nicht aufhalten.
Auch bei ihm finden nur Bierkisten und Wasserflaschen Platz. Es ist eine Ausfallstraße, an der seine Wohnung liegt.
Von unten dröhnen Busse, Lastwagen, Motorräder und Pkw‘ s Tag und Nacht. Manchmal rollen in den Morgenstunden Kettenfahrzeuge über den Asphalt, so dass man beinahe aus dem Bett fällt.
Die übrigen Journalisten, mit denen der Newcomer zusammen arbeitet, begreifen das neue Mitglied ihrer Gemeinschaft nicht. Oder wollen es nicht. Er erntet Kopfschütteln und Naserümpfen, wenn er ihnen von der Lebendigkeit St. Pauli ‘s berichtet.
Sie winken ab, und er verfällt wieder in Schweigen, obwohl er sich gern mehr über die Atmosphäre dieses Stadtteils unterhalten würde.
Er erinnert sich noch an seine Jugend, wenn er sich vom S-Bahnhof Sternschanze mit der Menschenmenge zum St. Pauli Stadion am Millerntor treiben ließ. Schon unterwegs war die Stimmung einzigartig. Heute ist es nicht anders. Leider hat er seit seinem Job in der Lokalredaktion noch kein Spiel besucht. Er wird‘s nachholen. Noch einmal die knisternde Atmosphäre einatmen.
Das Eingangsportal seines Wohnhauses ist ehrwürdig und großzügig. Über der Doppeltür ein Halbmond aus Holz und Glas.
Er springt die Treppen hinauf, nimmt zwei Stufen auf einmal, ... und überschätzt sich. Seine Kraft langt gerade bis zum dritten Stock. Darüber macht er sich jetzt aber keine Gedanken, er hat Wichtigeres im Sinn, was ihm gerade eingefallen ist. Erschöpft und langsam geht er nun Stufe für Stufe hoch. In seinem Hirn wiederholt sich ein Wort: Internet.
Daher stürzt er sich sofort auf den Computer, nachdem er seine Wohnungstür verschlossen hat.
Er öffnet ihn. In Sekunden kann man die Maus auf t-online ziehen.
Von Google aufgefordert, die Suche zu starten, tippt er 'bei Max‘ in die Tastatur - und hat nicht nachgedacht.
Für diese Eingabe gibt ‘s keinen Treffer.
Da fällt ihm ein, dass er ′de′ vergessen hat, und fügt die Abkürzung hinzu.
Ob die Frau über eine Homepage verfügt? Mal sehen, wie ihre Preise sind, murmelt er.
Denk‘ ste! Er liegt falsch.
Ein Kosmetik– und Nagelstudio wird angezeigt.
Mm.
Weiterlesen, ruft er sich zu.
Sternstraße 18. Und die Postleitzahl? Der Journalist stutzt. Seinen Aufschrei hört zwar niemand, aber dieser ist berechtigt. Seine Adresse hat dieselbe Zahl. Er beschließt, die Tankstelle auf der Reeperbahn gleich morgen früh aufzusuchen. Da liegen Stadt – und Landkarten haufenweise herum, vielleicht auch ein Extrablatt über St. Pauli.
Sein Nachfolger für ‘s Auslandsjournal - jetzt in New York tätig - überließ ihm sein Quartier mitten im Herzen Hamburgs. Er war bei dessen Angebot mehr skeptisch als glücklich.
Er kannte den schäbigen Ruf des Stadtteils von damals, als er Hamburg für die Kriegsberichterstattung verließ. Er wusste um die Davidswache, die am meisten beschäftigte Polizeiwache Hamburgs. Und ihm war die Herbertstraße bekannt. Als Jungen hatte man sie des Öfteren in Augenschein genommen.
„Du wirst dich wundern“, sagte sein Wohnungsvorgänger.
„Natürlich geht's in einigen Straßen noch rund, aber der Wandel ist unverkennbar, das Hotel Hafen Hamburg hat den Prozess eingeleitet.“
Plötzlich fällt ihm wieder ein, dass er den Namen des Nagelstudios vom Fotospezialisten hat, genauer gesagt, von einer Visitenkarte, die dem Mann aus der Tasche gerutscht war. Was hat diesen zu Max getrieben? , fragt er sich. Komischer Name, Max ein Frauenname?
Ist sie vielleicht ein Mann?
Lässt man dort wirklich seine Nägel auf Vordermann bringen? Oder handelt es sich um einen Liebestempel der besonderen Art? Der Journalist steht auf, schreitet zur Balkontür und schaute auf die gegenüberliegenden Häuser, die etwas zurücksetzt sind und verkommen aussehen. Auch sie stammen aus der Jahrhundertwende.
In kurzer Zeit lernt er, dass St. Pauli ein gewichtiger Stadtteil zwischen Elbe und Sternschanze ist. Mehr noch, ein liebenswertes Fleckchen Erde. Auch wenn…
Eins muss man klarzustellen: St. Pauli ist nicht mehr Hamburgs Aschenputtel, kaum noch Zentrum der Mafia und weit entfernt im Fokus der Verbrecher. Es ist zwar durchsetzt von schmierigen Kneipen, von Stundenhotels, Dealerplätzen, Strichern, von Prostituierten, Zuhältern, vom Rotlichtmilieu und zwielichtigen Leuten unterschiedlicher Nationalität, aber überall, auf der Reeperbahn selbst und in den Nebenstraßen werden Wohnungen hochgezogen und eröffnen Hotels ihre Pforten.
Er ist weniger gefährlich geworden.
Christian beschließt, dem Treiben ′bei Max′ auf den Grund zu gehen, und vielleicht kann er dort den Namen seines Kontrahenten erfahren. In Frisör– und Kosmetiksalons wird viel geredet.
Warum dieser Mann nicht aus seinem Kopf verschwindet, ist ihm immer noch unklar. Sein Grübeln über die Gründe bleibt ohne Erfolg.
Neugierde ist es nicht.
Die Aura, die den Cafébesucher umgibt, sein Aussehen, seine Stimme, seine Aussagen rufen sicher die Aufmerksamkeit vieler Menschen hervor. Auch Christian ist von ihr fasziniert. Aber sich deshalb von jemand angezogen fühlen, nein, das kann es nicht sein, oder doch?
Kaum gedacht, äußert sein Hirn Bedenken. Was geht ihn dieser Mann an? Was hätte er davon, ihn näher kennen zu lernen? , fragt er sich.
Christian überlässt die Entscheidung seiner Weste. Besser gesagt, den Holzknebeln auf ihr. Er zählt sie ab, wie man das als Kinder häufig macht, und er im Geheimen sogar als Abiturient. Er befahl sich damals, alle Knöpfe seiner Kleidung einzubeziehen. Die Erinnerung in ihm wurde so wach, dass er sich jetzt als Abiturient sieht. Begonnen hatte er bei ′ja′. Soweit die Festlegung.
Er begann zu zählen. Ja... nein … ja… nein… ja… usf. Lautet der letzte Knopf auf ′ja′, wird er mit einer guten Note abschneiden.
Nichts als Selbstbetrug aus heutiger Sicht. Aber reizvoll ist sie auch jetzt.
Dieses Mal endet er ebenfalls bei ′ja′.
Also wird er Max aufsuchen.
Der Beschluss ist gefasst. Wie gut, wenn man die Verantwortung los ist. Dieser Gedanke ringt ihm ein verschämtes Schmunzeln ab.
Aberglaube, den alle von sich weisen. Und dennoch ist er nicht aus dem Leben der Menschen wegzudenken.
Ob er erst einmal zum Abendessen auf die Reeperbahn geht?
Es gibt so viele gute Lokale.
Christian liebt den Boulevard, und als er ihn vor seinen Augen hat, da ist ihm, als ob sein Magen an‘ s Zwerchfell klopft, und sein Rachen vor Trockenheit gereizt ist. Schon auf dem Herweg hat der Journalist Dutzende von Leuten vor den Gaststätten auf Holzbänken ein Kühles trinken sehen. Wenn er sogar draußen speisen könnte, sein Glück wäre heute vollkommen. In lauen Abenden verlegen manche Restaurantbesitzer ihre Tische ans Mittelmeer. Sie stellen sie auf die Straße.
Jetzt ein gekühltes Bier. Er eilt in die Küche, reißt vor Ungeduld den Kühlschrank auf…, und dieser ist leer.
Ihn ärgert seine Nachlässigkeit. Man sollte ab und zu mal nachsehen, was die Küche zu bieten hat. Eine seiner schrecklichen Angewohnheiten ist, alles bis zum Letzten hinauszuschieben. Und dabei ist sein Nachholbedarf kaum zu stillen. Im Irak musste er tagelang ohne den Gerstensaft auskommen, und wenn Bier in ihrer Kantine ausgeschenkt wurde, dann war‘ s 5 % iges Kaisers. In Ägypten gebraut.
Neunzehn Uhr fünfundvierzig.
Der Supermarkt hat noch geöffnet.
Auf den Weg machen!
Schon ist er im Treppenhaus, wirft die Wohnungstür zu, springt die Treppen hinunter, sprintet bei stehendem Verkehr nach drüben auf die andere Seite, und wenig später sind sechs Flaschen sein: Beck‘ s.
Ihm kommen unzählige Leute entgegen. Ob Max unter ihnen ist?
Bestimmt ist sie eine abgehalfterte Nutte, geht’s ihm durch den Kopf. Aber wie kommt er bloß auf diese Vorstellung? Kann sie nicht auch eine bildhübsche Kosmetikerin sein? Spielen seine Sinne angesichts der langen Zeit im Krieg verrückt und sehnen sie sich nach körperlicher Berührung?
Er langt bei der Ampel vor seinem Haus an.
Man kann sie selbst bedienen, was er tut.
Für eine Minute Herr der Straße, was für ein Gefühl!
Kindisch, geht’s ihm durch den Kopf er, aber verlockend.
Als die Autos stehen bleiben, er über die Straße schleicht, grinst der junge Mann die Fahrer der ersten Autoreihe an.
Süße Rache für stetigen Lärm.
Dummkopf!
Die wütenden Blicke ringen ihm ein müdes Lächeln ab. In solcher Situation fühlt man sich pudelwohl.
Als er auf der anderen Seite ankommt, bleibt Christian einen Augenblick stehen und verfolgt den Auto-Pulk, der in beide Richtungen an ihm vorbei rauscht.
Was macht einen Stadtteil dieser Art wirklich aus? Eine ähnliche Antwort, die er sich im Kopf gibt, hatte er in einer Zeitschrift gelesen. Das waren die Zeilen in etwa:
Morgens in aller Frühe, wenn man ins Büro startet, hat man meist eine verschlafene Kleinstadt vor sich, die unzähligen kleinen Geschäfte – oft ein paar Stufen in den Keller - öffnen gerade ihren Laden. Wenn man mittags zurückkehrt, das allerdings ist selten, stößt man bereits auf ein ziemliches Gewusel von Leuten, ein Gemisch aus Einwohnern und Gästen.
Abends gewinnt man einen anderen Eindruck.
Neulich skizzierte ein Journalist einer Illustrierten, dass sich ab zwanzig Uhr ′ ein Strom ungestillter Leiber durch die Straßen und Gassen St. Paulis ergießt′. Für den Journalisten zu pathetisch ausgedrückt.
Dennoch. Um diese Zeit flanieren unzählige Frauen an der Davidswache entlang, hocken an den Bars, alle hoffen auf Freier. Männer jeden Couleurs nehmen die Weiblichkeit gemein unter die Lupe, lassen schamlos ihre Gedanken über die bloßen Busen gleiten, die sie sich vorstellen, oder bleiben am Po hängen, wägen ab und eine Handbewegung macht deutlich, was sie wollen.
Die Mädchen folgen gezielt.
Wer nach Mitternacht kommt, riecht den sauren Schweiß abgekämpfter Leiber, sieht ausgequetschte Körper.
Trinker, Spieler, Abzocker, Besucher, erschöpfte Barkeeper, voll gedröhnte Junkees, Putzkolonnen, abgeschlaffte Nutten, hier und da Polizisten, arbeitslose und erfolgreiche Stricher, Zuhälter, die mit Riesenschlitten ihre Mädchen in ihre Wagen beordern, sie abkassieren manchmal erneut zur Arbeit schicken, jeden Abend dasselbe Bild.
Dummer Träumer, Christian!
Kaum in seiner Wohnung angelangt, schüttet er sich unbeherrscht eine Flasche Bier in den Mund.
Er zischt die Flüssigkeit hinunter. Die erste Flasche stillt den Durst. Mit einer weiteren kann der Abstieg beginnen. Sechs Flaschen insgesamt würden ihn satt machen. Also pfeift er aufs Essengehen.
Max – 01.06.
Christian steht auf den Stufen zum Kosmetiksalon. Los, fordert ihn eine innere Stimme auf: einmal um sich selbst drehen…, nur so kann man sich das Umfeld einprägen. Unübersehbar der riesige Bunker aus dem zweiten Weltkrieg, direkt an der U-Bahn-Station Feldstraße.
Ein widerlicher Koloss, der größte aus dem 3. Reich. Er hatte alle Bombenangriffe überstanden. Genauso wenig Zerstörungs-Erfolge hatte man nach dem Krieg. Kleinere Sprengungen hatten wenigstens zu ein paar Fensterlöchern gereicht.
Dieser Koloss macht Christian krank. Fast jeden Tag muss er ihn passieren. Sollte er wirklich einmal seine Wohnung mehr als rechtzeitig verlassen, nimmt er einen Umweg in Kauf.
Der Kasten aus Beton und Stahl überragt alle Gebäude seiner Umgebung. Er hatte sicher vielen Menschen Schutz geboten, wodurch er für Christian weder eindrucksvoller wird noch akzeptabler.
Es gibt genug Menschen, die behaupten, dass dieser Bunker durch seine Hässlichkeit, Größe und Farbe (grau) Mahnmal für die Zukunft sei. Der Journalist bezweifelt diese Auffassung, jedenfalls hat der Betonklotz bisher keinen Krieg verhindert.
Es ist leicht gewesen, die Lage des Geschäfts von Max heraus zu bekommen. Es liegt im Souterrain. Er nimmt die drei Stufen nach unten und blinzelt durch die Türscheibe: Gestylte Frauen in weißen Kitteln flitzen umher, verschwinden hinter Vorhängen oder tauchen vor ihnen auf. Das Geschäft floriert.
Am Eingang steht: Herzlich Willkommen.
Na, ja. Mal sehen!
Als er das Geschäft betritt, wird eine Kundin an der Kasse gerade von einer jungen Frau verabschiedet. Ihr elegantes Outfit und ihr Verhalten deuten auf die Chefin hin: Max. Sie hat freundliche Gesichtszüge, sagt ein paar Worte in einem angenehmen Tonfall und lacht herzerfrischend dabei. Durch Christians Körper fegt ein Sturm, so ist ihm zu Mute.
„Herr von der Aue?“, fragt sie, sich an ihn wendend.
„Ja“, sagt der Journalist zögerlich und blickt ihr ins Antlitz. Es war makellos, länglich und offen, er mochte es auf Anhieb. Leuchtende Lidschatten haben einen hauchzarten Fliederton. Dezent.
„Mir gehört das Etablissement. Max nennt man mich!“
Christian nickt. Max‘ Miene offenbart keinerlei Regung. Sie lächelt nur sanft. Dann wirft sie den Kopf nach hinten, zieht die Brauen hoch, was Christian aufforderte zu sagen, was er wünscht:
„Fußpflege!“
Ihre Lippen sind leicht geschminkt: rosa.
Ausgerechnet die Farbe, die Christian am weiblichen Mund am meisten schätzt, zurückhaltend und doch anregend! Wofür? Am liebsten würde er den Farbton mal probieren. Noch nie hatte er einer Frau auf Mund geküsst…Ja, seiner Mutter… Wehmut überfällt ihn. Wer weiß, denkt er, wozu Max in der Lage sein wird. Hoffentlich…
Sie öffnet ihn leicht. Begehrenswert!
Christian vernimmt ein leises „ja“.
Er schämt sich innerlich. Wieso hatte er noch keinen Kontakt zur Weiblichkeit gefunden, seit er in Hamburg arbeitet? Ja, es gibt genug Frauen im Betrieb, aber die…? Sofort entschuldigt er sich vor sich selbst: Keine Zeit.
Quatsch.
Feigheit. Ängste!
Wäre er sich gegenüber ganz aufrichtig, dann würde er außerdem sagen, dass er noch kein Interesse am weiblichen Geschlecht gehabt habe. Zu sehr stand die Fotografie im Vordergrund, und im Krieg gab’s andere Prioritäten.
Vielleicht aber sind es doch nur Berührungsängste, fehlende Erfahrungen die Ursache. Christian findet sich für ein ziviles Leben noch nicht reif genug, aber es tröstet ihn, er macht nämlich Fortschritte, wie er glaubt. Sein Wille in dieser Umgebung zu leben und mit diesen Menschen ist längst zurückgekehrt. Und fast auf jeder Stelle seines Körpers spürt er die Anziehungskraft, die diese Frau auf ihn ausübt.
Max führt ihn einen Gang entlang, von dem mehrere geschlossene Kabinen abgehen. Sie lässt ihn in einen lang gestreckten Raum eintreten. Hohe Fenster bis auf den Boden spenden Helligkeit. Der Ausblick in den Garten ist anheimelnd, zum Wohlfühlen. Sie bittet ihn, die Strümpfe auszuziehen, die Hose abzustreifen und sich in den Behandlungsstuhl zu setzen, der vorm Fenster mit der Rückenlehne zum Garten majestätisch aussieht. Aufgefordert zu werden, sich von seiner eigenen Hose zu trennen, scheint verdächtig, oder?
Aha, denkt er, also doch! Vielleicht hat sie deshalb bei der Begrüßung das Wort Etablissement gewählt.
Christian schaut sich um.
Dabei hat er, ohne es zu wollen, die Praxiseinrichtung des Feldlazaretts im Irak vor Augen. Mein lieber Mann, was für ein Unterschied!
Max schreitet graziös beinahe wie ein Model über die Dielen, die Hüften leicht wiegend. Christian blickt ihr nach, ihre Sinnlichkeit spürend.
Sie weiß sich zu verkaufen, sinniert er.
Als sie sich bückt, um das Fußbrett nach hinten zu drücken, verrutscht ihr Kittel und für Sekunden sieht der junge Mann ihren Nacken und zwei Fältchen, die sich wie eine kurze Rinne über ihre weiße Haut ziehen.
Ihr Hals ist schlank und glatt.
Während sie noch am Fuß des Stuhls erklärt, was auf ihn zukommen würde, sind seine Gedanken dabei, sie oberhalb des Bauchnabels zu streicheln. Noch beim Aufrichten holt sie ihn aus seinen Träumen.
Jede Fußpflege bei uns, meint sie, ist mit einer Massage von Waden, Knöcheln und Zehen verbunden.
„Hinterher“, sagt sie entwaffnend. Als ob er etwas anderes gedacht habe.
Dann lässt sie ihn allein.
Ein junges Mädchen bringt eine Wanne mit warmen Wasser, schüttet einen Löffel Öl hinein, sagt, dass alles dem Wohlbefinden diene, und erklärt ihm, dass in wenigen Minuten die Chefin zurückkommt. Sie legt Instrumente hin, stellt einen Fußbalsam dazu, eine Flasche Massageöl, deponiert ein Handtuch auf eine Konsole. Ihre zarten Hände arbeiten so schnell, dass man diese kaum verfolgen kann. Nur das kräftige Rot ihrer Nägel macht es möglich, einzelne Arbeitsschritte zu erkennen. Dann verlässt sie den Raum, ohne sich umzudrehen.
Ein herbes Aroma aus Kamille und Streublume wabert durch den Raum. Etwas aufdringlich. Aber besser, als wäre der Duft aus frischen Blüten, etwas süßlich.
Das Wasser in der Wanne ist warm, weich und angenehm. Den Füßen tut es gut, wie Christian findet.
Zeit genug, um sich noch einmal ausgiebig umzusehen. Aber eigentlich interessieren ihn nur die zwei Fotos, die an der weißen Wand nebeneinander gehängt sind: Nahaufnahmen von Oleander und Jasmin. Sie strahlen Harmonie aus, sollen wahrscheinlich beruhigen. Sie haben allerdings kein Leben. Und solche Bilder ohne Thema und Lebendigkeit liegen dem Journalisten nicht. Eine medizinische Liege an der langen Wandseite rundet die Möblierung ab. Also doch, denkt Christian wieder. Ihn lässt der Gedanke nicht los, dass all das, was er sieht und inzwischen aufgenommen hat, nur Beiwerk ist und die Attraktion dieses Salons in sehr menschlichen Aktivitäten besteht. Ob er daran teilnehmen sollte? Christian grient verschlagen und hoffnungsvoll. Aussichten sind das…
„So, da bin ich wieder. Jetzt an die Arbeit!“ hört er Max sagen, die ins Zimmer rauscht und sich dadurch erhebliche Aufmerksamkeit verschafft. Frauen sind einfach raffinierter als Männer.
Sie bittet ihn, vom Stuhl auf die Liege zu wechseln und hüllt seine Füße in Frottee ein. Dann beginnt sie, die Füße trocken zu rubbeln. Eine Wohltat! Darauf legt sie das Badetuch über seinen Bauch bis zu den Knien, streicht mehrere Male über die Zehen beider Füße und fährt mit einer Bürste über die Sohlen. Der junge Mann zuckt steuerlos, ein Zeichen dafür, dass seine Nerven verrücktspielen. Er muss lächeln, verlegen allerdings. Er beobachtet die zarten Falten hinter ihrem Ohr, denn sie sitzt mit dem Rücken zu ihm am Fußende. Immer wenn sie ihren Kopf nach unten beugt, glättet sich ihre Haut.
Christian genießt, wie sie erst den rechten, dann den linken Fuß anhebt, über ihren Schoß legt. Sollte er die Zehen bewegen? Lust dazu hat der Journalist. Man könnte doch zeigen, dass man verdammt lebendig ist. Nun werden die Nägel gekürzt, die Enden rund gefeilt und dann wird die Oberfläche geschliffen. Eindeutig gekonnt! Sie hat sich etwas gedreht.
Wie gut, denn Christian sieht ihr Profil, es fasziniert ihn.
Er zieht es in Gedanken mit einem Bleistift nach. Den Anfang bilden ihre gekräuselten Haare in der Stirn. Dann gleitet er über ihre schmalen, gestutzten Augenbrauen, gelangt zur leichten Kerbung zwischen den Augen, streicht über den Höcker der Nase, fährt ihren restlichen Rücken entlang, stößt auf die breiten Lippen, die ihn an Julia Roberts erinnern, und landet am etwas vorstehenden Kinn mit der kleinen Bucht in seiner Mitte.
„Verheiratet?“, fragt sie ungeniert.
„Noch nicht!“, antwortet der junge Mann verwirrt und gleichzeitig erfreut. Solche Frage hat immer etwas Intimes, und heute bei Max fühlt er sie in unterschiedlichen Körperteilen.
Max rutscht nach hinten bis zur Höhe seiner Oberschenkel. Christian registriert erregt das Gewicht. Er wundert sich über sich selbst. Selbst sein Einsatz im Irak hatte seinen Gefühlen nichts anhaben können. Er beginnt zu träumen. Max merkt sofort, was sich bei ihm abspielt und schnell befreit sie ihn von der Berührung, in dem sie wieder ein bisschen nach vorn robbt. Er atmet das Odeur ein, das von ihr ausgeht, und glaubt, dass es sich um eine Melange aus Jasmin, Sandelholz und Backpflaumen handelt.
Betörend.
Gleichzeitig wird Christian an ein Erlebnis erinnert, das ihn lange mit seiner Cousine Isabelle verband. Damals war sie vierzehn, zwei Jahre älter als er selbst – sie musste einen Flakon eines ähnlichen Parfums über ihre Haut gekippt haben – als ihre scheinbar harmlosen Finger in seine kurzen Hosenbeine schnellten. Sein Schreck war nicht groß genug, dass er sie zurückstieß. Nein, er ließ sie gewähren. Es dauerte nicht lange und der Knabe erlebte die erste Angst auslösende, herrliche Explosion.
Es war ein flüchtiges Glück.
Wäre Max nicht mit seinen Füßen so beschäftigt gewesen, sie hätte gesehen, was sie ausgelöst hat: Schweiß perlt von seiner Stirn. Aber sind ihre Sinne tatsächlich nur auf ihre Arbeit gerichtet? Immerhin hat sie es mit einem jungen Mann zu tun, dessen markantes Gesicht und schlanker, sehniger Körper einiges erwarten lässt, wenn, ja wenn…
Dann hört er, wie sie sagt:
„Madame mystérieuse“ aus der Armani Privé – Kollektion.
Sie hat ‘s doch bemerkt! Wie sensibel Frauen doch sind…
Sie fragt:
„Wohnen Sie in dieser Gegend?“
Christian bejaht dies, und um seine Verlegenheit über seine geheimen Wünsche zu verdecken, redet er drauf los. Erzählt, dass er Journalist sei, noch nicht lange in Hamburg weile und eine Wohnung in der Budapester Straße habe. Sie hört aufmerksam zu, nickt, als ob sie ihr Einverständnis erklärt und schaut ihm ins Gesicht.
Erst jetzt sieht er, dass ihre Wimpern getuscht sind.
„Morgen Abend ist in der Aula des St. Pauli-Gymnasiums, Budapester Straße, eine Informationsveranstaltung für die Bewohner unseres Areals - in Paris nennt man es sehr hübsch arrondissement, mögen Sie’ s? -“. Ohne auf eine Antwort zu warten, fährt sie fort: „Es geht um die Schwimmhalle neben der Schule. Kennen sie diese? Die Bezirksversammlung und eine Bürgerinitiative haben eingeladen.“
Der Journalist antwortet, dass er im Erkunden seines Umfeldes noch nicht so weit vorgedrungen sei.
„Meine Arbeit!“, was so viel heißen sollte wie: ‚Keine Zeit! “
Eine Lüge.
„Ich werde es mir ansehen!“
„Begleiten Sie mich. Ich gehe in jedem Fall hin, denn es geht um Abriss oder Erhalt, und die Stadtvertreter votieren der Kosten wegen für eine Schließung.“
Aus der Art, wie sie den Journalisten bittet, mitzukommen, entnimmt er, dass sie es ihretwegen, nicht seinetwegen tut. Vielleicht hat sie sogar im Hinterkopf, seine Beziehungen zur Zeitung auszunutzen.
Christian ist enttäuscht. Sein Selbstwertgefühl sinkt in Sekunden in die Tiefe. Als er ihr dennoch zusagt, strahlt sie.
Christian merkt sofort, dass er voreilig war. Sein Einverständnis rutschte ihm zu schnell aus der Kehle.
Erst denken, dann sprechen, Christian! Das ist wie ein vorm Feind zu früh abgegebener Schuss. Mit ihm wächst die Gefahr ins Hundertfache. Zu spät!
Wenig später verlässt er den Salon.
Dennoch strahlen seine Augen, als er die Stufen nach oben zur Sternstraße geht.
Die Aussichten sind beglückend, oder? Sofort kommen ihm Zweifel. Sind sie das wirklich? Sein Gesicht verfinstert sich.
Warum soll er sie begleiten? Merkwürdig, geht es ihm durch den Kopf. Eigentlich hätte man nach dem Grund fragen müssen. Es könnte doch ebenso gut der Mann aus dem Gnosa sein. Er verwirft den Gedanken.
Vielleicht kennen sich die beiden gar nicht. Mag sein, dass dieser sich nur die Visitenkarte eingesteckt hatte, um bei Bedarf die Telefonnummer zu wählen. Wer weiß?
Plötzlich fällt ihm ein, dass er vergessen hatte, nach ihm zu fragen. Blöd! Sie hat ihn so aufgeregt, dass er nicht einmal mehr denken konnte. Beinahe unverzeihlich.
Vielleicht aber wollte sie ihn nur mitlotsen, damit sie zur Anhörung eine Begleitung hat. Zu zweit, wird sie gedacht haben, ist man durchsetzungsfähiger, womit sie zweifellos Recht hat. Christian ärgert sich erneut. Über sich, natürlich.
Er könnte den Salon ein zweites Mal aufsuchen, könnte Fragen stellen, aber würde das nicht komisch aussehen?
Lächerlich!
Seine Empörung über sich hält sich in Grenzen.
Nein, er wird nicht zurückgehen! Sein Anliegen kann warten, sagt er sich. Er nimmt sich vor, sie rechtzeitig abzuholen und mit ihr dorthin zu schlendern. Sicher wird es eine Möglichkeit geben, sie nach dem Mann vom Gnosa zu befragen.
Eine gute Beschreibung seines Äußeren und seiner Sprache wird helfen, denkt er.
Bürgerversammlung
Die beiden stoßen auf Menschen, die sich vorm Schuleingang drängen. Es ist spät, Max hat herumgetrödelt und sich aufgepeppt. Für mich? Für die Bürger St. Paulis?
Ein Gespräch unterwegs zur Veranstaltung unterbleibt, weil sie auf ihren High Heels zu sehr auf den Bürgersteig achten muss, und sie in Eile sind.
Sie gehen eng nebeneinander her.
Mehr nicht…
Christian fühlt sich von ihr verraten.
Ihre Schweigsamkeit schnürt seine Kehle zu, ihre Gleichgültigkeit auch, obwohl es ihr Wunsch war, dass er sie begleitet.
Fragen sprudeln aus seinem Hirn wie eine Wasserquelle. Hat sie sich verstellt, als sie ihm die Fußnägel kappte? Hat sie ihm nicht zu verstehen gegeben, dass Sie ihn mag? Warum hat sie die Frage nach seinem Status gestellt? Oder ist es seine Sicht der Dinge - gefärbt - weil er sie seine Zuneigung fühlen ließ?
In solchen Augenblicken ist man blind.
Jedenfalls kommt sich Christian überflüssig vor.
Max nickt fremden Personen zu.
Sie scheint bekannt zu sein, und sie ist freundlicher zu ihnen als zu ihrem Begleiter. Viele Männer lächeln sie an, im Laden hatte Christian nur Frauen gesehen. Sie ist eine elegante Erscheinung, vielleicht der Grund, warum man sie grüßt. Frauen drehen sich zur Seite, wenn sie in ihrer Nähe ist. Das hochgesteckte Haar reizt zum Widerspruch, weil es frech aussieht, und der üppige Busen, ohne BH, füllt ihre weiße Bluse restlos aus.
Die Aula ist zum Bersten gefüllt.
Der Journalist beschließt zu bleiben, obwohl er vorher anderer Meinung war. Da kein weiterer Zeitungsschreiber des Stadtteil-Ressorts anwesend zu sein scheint, wird Christian die Auseinandersetzungen verfolgen und die Argumente aufschreiben. Der zuständige Reporter wird ’s ihm danken.
Mit Aktivitäten oder Aufgaben lassen sich Stunden und langweilige Diskussionen gut überbrücken. Christian fühlt, dass ihm die Abwesenheit eines Kumpels gut tun wird.
Die beiden nehmen an der Seite Platz, wo einige leere Stühle stehen.
Max ähnelt einem Modell, stellt ihr Partner fest, als sie sich erhebt und nach vorn schreitet. Im wahrsten Sinne des Wortes. Ihre hohen Absätze unterstützen den Rhythmus ihres Ganges, das Wiegen ihrer Hüften. Sie erinnert ihn an Claudia Schiffer.
Wem winkt sie gerade zu?
Leider versagen seine Augen den jetzt notwendigen Dienst. Er hat die Lesebrille versehentlich aufgesetzt.
Ärgerlich.
Hastig greift er in seine Jacke, fasst in die falsche Tasche, und als er endlich die Fernbrille auf der Nase hat, hat sich Max in Nichts aufgelöst. Sie wird zur Toilette gegangen sein, ist sein erster Gedanke. Kurz darauf hört er sie aber hinter dem Vorhang herzhaft lachen. Was hat sie denn da zu suchen? Eifersucht überfällt ihn. Wozu er überhaupt kein Recht hat.
Sein Herz schlägt heftig, die Brust droht zu zerspringen. Man sollte sich ablenken, aber wie? Ein weiterer Blick zur Bühne. Auf ihr ein langer Tisch und mehrere Sitzgelegenheiten.
Der Geräuschpegel um ihn herum ist hoch.
Nichts zu sehen.
Im Saal herrscht Unruhe.
Max ist trotz des Lärms und Stühlerückens – trotz der Begrüßungen, Gespräche, Auseinandersetzungen, Ausrufe - unüberhörbar.
Christians Haut revoltiert. Alle Härchen haben sich aufgerichtet.
Angst? Wovor?
Vielleicht vor der Erkenntnis, wie ohnmächtig Menschen sind, wenn sie über keine Macht verfügen? Wie sie hier im Saal sind? Der Journalist ist felsenfest davon überzeugt, dass das Schwimmbad abgerissen wird. Viele Politiker sind nicht flexibel. Sie werden von ihrem Wunsch nicht abgehen. Geld winkt. Zum Wohle der Stadt. Das Gemeinde-Grundstück ist eine Perle, groß und mitten im Zentrum.
Man sollte das Unvermeidliche akzeptieren. Mit dem Gefühl der Wehrlosigkeit hatte der damalige Kriegsberichterstatter im Irak ständig gelebt. Man konnte nichts tun, wenn neben einem ein Soldat von Kugeln gefällt wurde. So sinnlos, wie unvorstellbar.
Max steht vorn an der Rampe, zurückgekehrt, und stützt ihre Ellbogen auf der Bühne ab. Von oben langt, zuerst nur sichtbar, eine Hand auf ihren Kopf und fährt sachte durch ihr Haar, das auseinander fällt.
Wer das wohl darf?
Christian steht auf und lehnt sich gegen die Wand, damit er besser sehen kann. Ein Oberkörper beugt sich hinter dem Bühnenvorhang hervor. Man kann nun das Gesicht sehen.
Christian zuckt unkontrolliert wie ein verendendes Tier. Blitze jagen über seinen Augenhintergrund. Er hört dumpfes Grollen.