Lieblingstochter - Brianna Labuskes - E-Book

Lieblingstochter E-Book

Brianna Labuskes

0,0
12,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Wie stoppt man einen Psychopathen? Dr. Gretchen White hat als Spezialistin für Persönlichkeitsstörungen und Gewaltverbrechen schon viele prominente Fälle gelöst. Dabei ist sie selbst diagnostizierte Soziopathin und wurde einst verdächtigt, ihre Tante getötet zu haben. Detective Shaughnessy glaubt, dass sie mit einem Mord davongekommen ist. Dennoch soll sie die Polizei im Fall Viola Kent unterstützen. Das Mädchen soll seine Mutter getötet haben, gilt als erbarmungslos und manipulativ. Doch Gretchen glaubt an ihre Unschuld. Um die Wahrheit zu finden, muss sie eine Leere betreten, die dunkel, kaltblütig und erschreckend vertraut ist.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Text bei Büchern ohne inhaltsrelevante Abbildungen:

Mehr über unsere Autorinnen, Autoren und Bücher:

www.piper.de

Wenn Ihnen dieser Psychothriller gefallen hat, schreiben Sie uns unter Nennung des Titels »Lieblingstochter« an [email protected], und wir empfehlen Ihnen gerne vergleichbare Bücher.

Aus dem amerikanischen Englisch von Anja Mehrmann

© Brianna Labuskes 2021

Titel der amerikanischen Originalausgabe: »A Familiar Sight«, Thomas & Mercer, Seattle 2021

This edition is made possible under a license arrangement originating with Amazon Publishing, www.apub.com, in collaboration with Agence Hoffman.

© Piper Verlag GmbH, München 2023

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: www.buerosued.de, München

Covermotiv: Alexandre Cappellari/Arcangel Images; www.buerosued.de

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich der Piper Verlag die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.

Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Widmung

PROLOG

Reed

Kapitel Eins

Gretchen

Kapitel Zwei

Reed

Kapitel Drei

Gretchen

Kapitel Vier

Reed

Kapitel Fünf

Gretchen

Kapitel Sechs

Reed

Kapitel Sieben

Gretchen

Kapitel Acht

Reed

Kapitel Neun

Gretchen

Kapitel Zehn

Reed

Kapitel Elf

Gretchen

Kapitel Zwölf

Reed

Kapitel Dreizehn

Gretchen

Kapitel Vierzehn

Reed

Kapitel Fünfzehn

Gretchen

Kapitel Sechzehn

Reed

Kapitel Siebzehn

Gretchen

Kapitel Achtzehn

Reed

Kapitel Neunzehn

Gretchen

Kapitel Zwanzig

Reed

Kapitel Einundzwanzig

Gretchen

Kapitel Zweiundzwanzig

Reed

Kapitel Dreiundzwanzig

Gretchen

Kapitel Vierundzwanzig

Reed

Kapitel Fünfundzwanzig

Gretchen

Kapitel Sechsundzwanzig

Reed

Kapitel Siebenundzwanzig

Gretchen

Kapitel Achtundzwanzig

Reed

Kapitel Neunundzwanzig

Gretchen

Kapitel Dreißig

Reed

Kapitel Einunddreißig

Gretchen

Kapitel Zweiunddreißig

Reed

Kapitel Dreiunddreißig

Gretchen

Kapitel Vierunddreißig

Reed

Kapitel Fünfunddreißig

Gretchen

Kapitel Sechsunddreißig

Reed

Kapitel Siebenunddreißig

Gretchen

Kapitel Achtunddreißig

Reed

Kapitel Neununddreißig

Gretchen

Kapitel Vierzig

Reed

Kapitel Einundvierzig

Gretchen

Kapitel Zweiundvierzig

Reed

Kapitel Dreiundvierzig

Gretchen

Kapitel Vierundvierzig

Reed

Kapitel Fünfundvierzig

Gretchen

Kapitel Sechsundvierzig

Reed

Kapitel Siebenundvierzig

Gretchen

Kapitel Achtundvierzig

Reed

Kapitel Neunundvierzig

Gretchen

Kapitel Fünfzig

Reed

Kapitel Einundfünfzig

Gretchen

Kapitel 52

Reed

Kapitel Dreiundfünfzig

Gretchen

Kapitel Vierundfünfzig

Reed

Kapitel Fünfundfünfzig

Gretchen

Kapitel Sechsundfünfzig

Reed

Kapitel Siebenundfünfzig

Gretchen

Kapitel Achtundfünfzig

Reed

Kapitel Neunundfünfzig

Gretchen

Kapitel Sechzig

Reed

Kapitel Einundsechzig

Gretchen

Kapitel Zweiundsechzig

Reed

Kapitel Dreiundsechzig

Gretchen

Dank

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Für Abby Saul,

weil du mich stets ermutigt hast, mein Herzensbuch zu schreiben und mich darauf zu verlassen, dass du dich um alles andere kümmern wirst. Ich bin unendlich dankbar, dich als beharrliche Agentin, Partybegleiterin, Schulter zum Anlehnen und liebe Freundin an meiner Seite zu wissen.

PROLOG

Reed

Die Spitzengardine zeichnete Muster aus Licht auf Reed Kents Handrücken, während er den dünnen Stoff vom Fenster weghielt, gerade weit genug, um freie Sicht auf den roten Porsche vor dem Haus zu haben.

Die Frau stieg aus dem kleinen Sportwagen und blickte direkt zu ihm hoch, so als wüsste sie, dass er dort war, als könnte sie ihm in die Augen sehen, obwohl er sich im obersten Stockwerk des Stadthauses befand.

Reed ließ die Gardine los und machte rasch einen Schritt zurück in den Schatten. Der Stoff war so dünn, dass er die Frau immer noch erkennen konnte. Sie nickte wie zur Bestätigung, dann steuerte sie auf die Treppe zu.

Reed wandte sich ab. Er drückte den Rücken an die Wand, ließ sich langsam auf den Boden sinken und wartete auf das Klopfen an der Tür. Das gleich darauf ertönte, einmal, noch einmal …

Dann Stille.

Reed tippte mit den Fingern auf den Lauf der Waffe, die er vorsichtig in Händen hielt, seine Stirn ruhte auf den angezogenen Knien.

Wie hatte es so weit kommen können?

Zwei Stockwerke unter ihm wurde die Haustür geöffnet.

Die Frau war clever. Sie wusste, dass er sich nicht mehr verstecken würde. Sie musste sich nicht einmal mit dem Türschloss abmühen. Und sie war nicht der Typ, der sich Gedanken über einen Haftbefehl machte.

Anfangs klangen die Schritte zögerlich, wurden dann aber schneller und sicherer; er spürte das energische Stakkato von High Heels auf Marmor bis in seine Kieferknochen und überschlug die Sekunden, die sie bis zu ihm brauchen würde.

Vierzig vielleicht?

Seine Lunge versagte ihm den Dienst, er verspürte ein schmerzhaftes Ziehen im Herzen, als er daran dachte, wie alles in seinem Leben auf genau diesen Augenblick hinausgelaufen war.

Jeder Fehler.

Jede Liebe.

Jede Tragödie. Jeder Bluterguss, jedes Lachen, jedes Zögern, jedes Mal, wenn er links anstatt rechts abgebogen war.

Zwanzig Sekunden.

Eines von Milos Plüschtieren hatte sich in Sebastians Bettzeug verheddert und starrte ihn aus gläsernen Augen an. Die beiden Jungen hatten auf Etagenbetten bestanden, ein Wunsch, den Reed ihnen nicht hatte abschlagen können. Sie baten um so wenig und nahmen so vieles einfach hin.

Ein leises Wimmern entrang sich Reeds Kehle, ein Geräusch, das ihm zu jedem anderen Zeitpunkt peinlich gewesen wäre, und er griff nach dem Kuscheltier … dem Bären, der einst in Ehren gehalten worden war, presste das Gesicht an das verschlissene Fell des Bauches und vergewisserte sich, dass sich noch immer Milos Geruch darin befand. Vielleicht sogar Sebastians. Dass er Kindheit, Unschuld, albernes Kichern und Tränen der Erschöpfung riechen konnte.

Drei Sekunden.

Er ließ das Plüschtier auf den Boden fallen und kam auf die Füße, die Waffe an die Seite seines Oberschenkels gedrückt, Furcht einflößend und mächtig zugleich.

Eine Sekunde.

Reed atmete ein.

Die Schlafzimmertür schwang auf.

Kapitel Eins

Gretchen

Drei Tage vorher

Gretchen White konnte nicht leugnen, dass sie von den dunklen Flecken, die sich in Lena Bookers blutleeren Händen bildeten, fasziniert war. Genauso wie von den blassen Lippen und der Art, wie der Kopf ihrer Freundin auf dem Sofakissen ruhte.

»Warum überrascht es mich nicht besonders, Sie über eine Leiche gebeugt zu sehen?«, knurrte jemand mit starkem Bostoner Akzent hinter ihr.

»Weil Sie mich für eine Mörderin halten, die Sie einfach nicht zu fassen kriegen«, antwortete Gretchen trocken, aber aufrichtig, während sie sich umdrehte und feststellte, dass Detective Patrick Shaughnessy ihr über die Schulter linste. Neben ihm stand eine zierliche, aber kurvige Frau mit tintenschwarzem Haar und den großen nussbraunen Augen eines Hirschkalbs.

Eine Stunde war es her, dass Gretchen Lenas feuchtkalte Leiche gefunden hatte, zwei Stunden, dass ihre Freundin ihr diese verzweifelte Sprachnachricht geschickt hatte, und zwar auf das Handy, von dem sie Shaughnessy auf keinen Fall erzählen würde.

»Ich hab’s vermasselt, Gretch«, hatte Lena gesagt. Oder vielmehr gebeichtet.

»Eine Mörderin, die ich nicht zu fassen kriege«, wiederholte Shaughnessy und zog die Hose hoch, die ihm ständig unter die vom täglichen Konsum mehrerer Pints Bier und frittierten Essens wohlgenährte Wampe rutschte. »Besser hätte ich es nicht ausdrücken können.«

Die Frau mit den Rehaugen blickte von einem zum anderen. »Sie kennen sich?«

Gretchen verkniff sich den sarkastischen Kommentar, der ihre spontane Reaktion gewesen wäre. Sie war geübt darin, ihre erste Antwort hinunterzuschlucken, manchmal auch die zweite und die dritte. Tatsächlich konnte sie sich nicht erinnern, wann sie zuletzt jemandem begegnet war, bei dem sie nicht aufpassen musste, was sie sagte. Lena vielleicht, die manchmal selbst Lust gehabt hatte, bösartig zu sein. »Da haben Sie ja eine richtige Detektivin an Land gezogen, Shaughnessy.«

Es klang immer noch zu gehässig, um sozialverträglich zu sein. Aber da sie um die Leiche von Gretchens Freundin herumstanden, würden die beiden ihr diesen Tonfall vermutlich verzeihen.

Shaughnessy quittierte die Stichelei mit einem Schnauben. »Detective Lauren Marconi. Gretchen White.«

Gretchen bedachte ihn mit einem Seitenblick, weil er, nur um sie zu ärgern, ihren Titel weggelassen hatte. »Doktor.«

»Dr. Gretchen White«, korrigierte sich Shaughnessy mit irritierendem Nachdruck. »Unsere ortsansässige Soziopathin.«

Der Nachsatz war an Detective Marconi gerichtet, die ihre dichten, nicht gezupften Augenbrauen hochzog, sodass sich Falten auf ihrer bislang glatten Stirn bildeten. Gretchen nahm an, dass die Frau den Kommentar für eine Art Running Gag zwischen ihr und Shaughnessy hielt, denn mit dem Begriff »Soziopath« warfen die Leute heutzutage dermaßen leichtfertig um sich, dass er im Grunde jede Bedeutung verloren hatte. Aber Marconi würde bald verstehen, dass Shaughnessy nicht scherzte.

Gretchen nutzte den Augenblick, um die Frau genauer zu betrachten, die sie anfangs auf Ende zwanzig geschätzt hatte. Die Fältchen in ihren Augenwinkeln und um den Mund herum legten allerdings nahe, dass sie bereits in den Dreißigern war.

Marconis Lippen zuckten, während sie Gretchens prüfenden Blick über sich ergehen ließ. Sie trug die Uniform, die die meisten weiblichen Detectives in Boston zu bevorzugen schienen: Jeans, Stiefel, einen Blazer und darunter ein Button-down-Hemd, so als könnte diese Kombination sie professionell und gleichzeitig wie jemanden wirken lassen, der sich nicht unterkriegen lässt. In Marconis Gesicht war keine Spur von Make-up zu sehen, aber daran war Gretchen gewöhnt. Es war die Ablehnung von Weiblichkeit in der toxischen Altherrenriege, die man in dieser Stadt als Polizeibehörde bezeichnete.

Die Polizistin, die Shaughnessy ihr als seriös, knallhart und respektvoll beschrieben hatte, stand dicht hinter seiner linken Schulter. Und obwohl sie sich große Mühe gab, konnte sie ihre naturgegebene Schönheit nicht verbergen, jene atemberaubende Art von Schönheit, die in Gretchen normalerweise den Wunsch weckte, der betreffenden Person auf kreative Art Schmerzen zuzufügen.

Gretchens Augen wurden schmal, und sie richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf Shaughnessy.

Der verzog den Mund zu einem Lächeln. »Unsere ortsansässige Soziopathin … und geschätzte externe Beraterin«, räumte er ein. »Sie war an der Lösung Dutzender Fälle beteiligt und ist auf antisoziale Persönlichkeitsstörungen und Gewaltverbrechen spezialisiert.«

»Beraterin ist die Kurzform für ›ich erledige die Arbeit für ihn‹«, sagte Gretchen, nun ihrerseits an Marconi gewandt. Wenn der Chef an diesem Morgen kleinlich sein wollte, würde sie nicht zögern, sich auf sein Niveau herabzubegeben. »Ich werde gerufen, wenn die Jungs hier nicht mehr aus der Sackgasse herausfinden, in die sie sich selbst hineinmanövriert haben.«

»Wohl eher aus ihrem Luxusleben herausgerissen«, murmelte Shaughnessy, aber ohne richtige Begeisterung. Sie befanden sich auf vertrauten, ausgetretenen Pfaden. Im Grunde waren es nur Neckereien, obwohl Gretchen nicht wusste, ob das für einen außenstehenden Beobachter zu erkennen war. Marconis komplett ausdrucksloses Gesicht enthüllte nichts.

»Ihre Inkompetenz hält mich genug auf Trab«, konterte Gretchen, obwohl das nicht ganz richtig war. Selbst in einer Stadt von der Größe Bostons hielt sich die Anzahl von Tötungsdelikten in Grenzen, und obwohl sie mehrfach auch vom FBI angefordert worden war, wurde sie nie außerhalb von Massachusetts eingesetzt.

Es reichte dennoch, denn sie lebte hauptsächlich von einem üppigen Treuhandfonds. Viel wichtiger war, dass die Beratertätigkeit für die intellektuelle Anregung sorgte, die Gretchen dringend brauchte. Langeweile musste sie um jeden Preis vermeiden, denn die konnte leicht zu selbstzerstörerischen Verhaltensweisen führen, die sich nicht mit dem Leben vertrugen, an dem sie sich derzeit erfreute.

Die Mordfälle halfen ihr, ein bestimmtes Bedürfnis zu befriedigen; von den Leichen ging eine morbide Faszination aus, auf die sie nicht verzichten konnte. Den Rest ihrer Zeit verbrachte sie mit dem Schreiben von Artikeln für Fachzeitschriften, die niemand lesen würde, die sie jedoch zu einer respektierten Vertreterin ihres Fachgebiets machten, sodass es nach wie vor gerechtfertigt war, wenn die Cops sie zurate zogen.

Gretchen konzentrierte sich wieder auf die Leiche, die auf der zehntausend Dollar teuren maßgefertigten Couch lag, um die Lena geschlagene zwei Monate lang herumgeschlichen war, ehe sie sich zum Kauf entschlossen hatte.

»Also, Gretch, was machen Sie hier wirklich?«, fragte Shaughnessy, der näher gekommen war, um besser sehen zu können. Seine Stimme klang nun ernst. Uniformierte strömten in die Wohnung herein und wieder hinaus wie dunkelblaues Wasser, aber Gretchen und Shaughnessy achteten nicht auf sie.

»Ich habe sie gefunden.«

Shaughnessy schnaubte amüsiert. »Wenn man bedenkt, dass Sie kein Cop sind, finden Sie verdammt viele Leichen.«

Eine Tatsache, die sie nicht leugnen konnte.

Gretchens Blick huschte zu Lena. Sie untersuchte und katalogisierte die Anzeichen der gerade einsetzenden Leichenstarre und der chemischen Reaktionen, die sich an Lenas Lidern, ihrem Kiefer und dem Hals zu schaffen machten. Als Gretchen vor einer Stunde in die Wohnung gestürzt war, hatte Lena für einen Moment ausgesehen, als schliefe sie nur.

Nun war die Realität nicht mehr zu verkennen.

»Es war eine Überdosis«, sagte sie. Lena hatte in der Vergangenheit mit Schmerzmitteln experimentiert, aber sie hatte immer genug Geld gehabt, um sich gutes Zeug zu besorgen. Gretchen fragte sich, ob sogar das heutzutage mit Fentanyl verschnitten wurde. Aber vielleicht hatte Lena diesmal einfach nicht aufgepasst, vielleicht war ihr der Ausgang der Sache egal gewesen.

»Eine Überdosis, kein Suizid?«, fragte Marconi, die aus Shaughnessys Verhalten offenbar geschlossen hatte, dass Gretchen trotz fehlender Dienstmarke befugt war, an der Ermittlung teilzunehmen. »Dann gibt es also keinen Abschiedsbrief?«

Die Heftigkeit ihres Drangs, die unsinnige Frage mit einem Knurren zu beantworten, erschreckte Gretchen, und sie trat einen Schritt zurück. Es war lange her, dass sich ein derart instinktives Verlangen nach Gewalt beinahe an der selbst errichteten eisernen Wand in ihrem Inneren vorbeigeschlichen hätte, sehr lange, dass sie das Knacken von Knochen und das Spritzen von Blut an ihren Händen hatte spüren wollen.

»Und warum sind Sie hier?«, fragte Gretchen Shaughnessy, anstatt Marconis Frage zu beantworten. Mit dieser Blutgier wurde sie am besten fertig, indem sie sich gewaltsam darüber hinwegsetzte und ihre Aufmerksamkeit auf etwas anderes lenkte. »Überdosen sind doch gar nicht Ihr Ding.«

Shaughnessy betrachtete den Tatort, den die Sanitäter unberührt gelassen hatten.

»Ich bin für den Fall Viola Kent zuständig«, sagte er schließlich.

Gretchen verdrehte zwar nicht die Augen, kehrte ihm allerdings den Rücken. »Dessen bin ich mir bewusst.«

»Lena Booker war Viola Kents Verteidigerin«, fuhr Shaughnessy fort, als hätten die Einzelheiten des Falls nicht auf jeder Titelseite der Stadt gestanden. Und als wäre Lena Booker nicht der Mensch, den Gretchen am ehesten als Freundin bezeichnen konnte.

»Ob Sie es glauben oder nicht, diese Tatsache ist mir nicht entgangen«, sagte sie gedehnt. Gretchen wusste, dass ihre Miene nichts verriet. Nichts über die Sprachnachricht, die Lena ihr kurz vor ihrem Tod hinterlassen hatte, nichts über die Akte, die Gretchen neben Lena gefunden hatte, ehe die Rettungssanitäter eintrafen. Auf dem Registerreiter stand KENT, VIOLA. »Ist das der Grund, warum die Leiche bisher nicht bewegt wurde?«

Shaughnessy zuckte mit den Schultern. »Sowohl der Bürgermeister als auch der Polizeichef wollen sichergehen, dass wir bei diesem Fall besonders sorgfältig arbeiten. Sie können sich vorstellen, was für einen Zirkus es beim geringsten Anzeichen für ein Verbrechen geben würde.«

Ein Todesfall im Zusammenhang mit dem aufsehenerregendsten Mordfall der jüngeren Geschichte? Da war der Vergleich mit dem Zirkus vermutlich eine Untertreibung.

Der Fall Kent war bis ins kleinste Detail zerlegt worden, und Gretchen nahm an, dass die Zuschauer allmählich die Nase voll hatten von dem immer gleichen Thema.

Fast auf den Tag genau vor einem halben Jahr hatte die dreizehnjährige Viola Kent ihre Mutter, Claire Kent, im Schlaf erstochen. Unter Druck hatte ihr Vater, Reed Kent, zugegeben, dass Viola zu Gewalttätigkeit neigte und bei einem Psychiater in Behandlung war. Es dauerte nicht lange, da berichteten Klatschreporter über Tierknochen, die auf dem Grundstück gefunden worden waren, und gruben Bilder von den verletzten, mit Blutergüssen und Narben überzogenen Körpern der Brüder des Mädchens aus. Bald meldeten sich auch die Eltern einiger Mitschüler und berichteten von Violas Quälereien und Manipulationsversuchen.

Innerhalb kürzester Zeit war jedem einschließlich der Bostoner Polizei klar gewesen, dass es sich bei Viola Kent um eine angehende Psychopathin handelte, obwohl sie für diese Diagnose eigentlich zu jung war.

Dieser Mord wirkte wie etwas, das jeder in einer solchen Situation vorhersagen könnte – Violas Mordlust war eskaliert, genau wie ihre Eltern es immer befürchtet hatten.

Obwohl die Öffentlichkeit von der Geschichte fasziniert war, deutete nichts darauf hin, dass der Fall nicht endgültig geklärt sein könnte. Lena hatte sich immer geweigert, die Frage zu beantworten, warum sie eine Mandantin angenommen hatte, von der jeder in der Stadt, ja im ganzen Land wusste, dass sie schuldig war.

Und jetzt das. Es spielte keine Rolle, dass Lenas Tod vielleicht gar nichts mit der Familie Kent zu tun hatte. Das Gerede darüber würde den Radio- und Fernsehsendern mit Sicherheit weiterhin hohe Einschaltquoten bescheren. Ganz zu schweigen von dem Druck, den man auf die Polizei ausüben würde, damit auch ja alles ordnungsgemäß gehandhabt wurde.

Die bloße Andeutung eines Skandals so kurz vor dem Prozess könnte sie alle in den Abgrund reißen.

Lenas leises Schluchzen, ihr unheilvoll stockender Atem kurz vor ihrem Geständnis hallten noch in Gretchens Brust nach.

Ich hab’s vermasselt, Gretch.

Kapitel Zwei

Reed

Drei Monate nach Claire Kents Tod

Reed starrte immer noch auf den Fernseher, obwohl Ainsley ihn ausgeschaltet hatte und der Bildschirm schwarz geworden war.

»Du solltest dir das nicht ansehen«, sagte seine Schwester. Sie ließ die Fernbedienung auf den Couchtisch fallen und setzte sich neben ihn.

Ainsley hatte recht, das wusste Reed. Dennoch ertappte er sich nach wie vor dabei, dass er die Reportagen, Dokus und frühen Kommentare zum Mord an Claire verschlang, gefolgt von noch mehr geschwätzigen Beiträgen, während Wochen ohne neue Lageberichte von der Polizei vergingen, an denen sich das Publikum ergötzen könnte.

»Sebastian und Milo?«, fragte Reed. Er verfolgte auf geradezu neurotische Weise, wo sich die Jungs aufhielten und was sie taten. Vor weniger als zwanzig Minuten hatte er seinen Söhnen Gute Nacht gesagt, und dennoch konnte er die nagende Furcht nicht unterdrücken, ihnen könnte in dieser kurzen Zeit etwas zugestoßen sein. Inzwischen glaubte er, dass ihn diese Angst nie wieder verlassen würde.

»Sind beide sofort eingeschlafen.« Ainsley stieß ihn mit der Schulter an. »Und du solltest jetzt auch nach oben gehen.«

Reed kratzte sich den Fingerknöchel, der kreuz und quer von blassem Narbengewebe überzogen war. Er sollte sich über Ainsleys Vorschlag nicht ärgern. Seine Schwester hatte alles stehen und liegen lassen, um sich um die Jungen zu kümmern, während der Prozess gegen Viola vorbereitet wurde. Aber Ainsley hatte noch nie gewusst, wann es an der Zeit war, ihn in Ruhe zu lassen. Es nervte ihn, dass sie ihm ständig Anweisungen erteilte. Natürlich nur zu seinem Besten.

»Bin nicht müde«, sagte er und brachte es irgendwie fertig, freundlich statt bitter zu klingen. Es stand ihm nicht zu, etwas anderes als Dankbarkeit für ihre Unterstützung zu empfinden.

Trotzdem griff er nach der Fernbedienung und schaltete erneut die Nachrichten ein. Ainsley seufzte, schwieg aber, als Claires zartes, schönes Gesicht in der linken Ecke des Bildschirms erschien und über der Nachrichtensprecherin schwebte, die die ernste Miene zur Schau stellte, die alle beim Thema Claire Kent aufsetzten. Reed hatte den Fernseher auf lautlos gestellt, darum hörte er nicht, was die Frau sagte, aber das spielte auch keine Rolle. Er hatte das alles schon sehr oft gehört.

»Unglaublich, dass sie immer noch darüber berichten«, murmelte Ainsley neben ihm. »Seit Claire gestorben ist, sind drei Monate vergangen. Man sollte meinen, dass auf dieser Welt wichtigere Dinge geschehen.«

Seit Claire ermordet wurde, korrigierte Reed im Stillen. Ainsley tat immer so, als wäre Claire bei einem Autounfall oder an einer chronischen Krankheit gestorben und nicht brutal ermordet worden.

Außerdem war Reed von der unerbittlichen Aufmerksamkeit der Medien und der Öffentlichkeit keineswegs überrascht. Der Fall hatte alles, was eine Sensationsschnulze ausmacht: reiche Familie, gestörte, psychopathische Tochter, trauernder, aber noch junger, attraktiver Witwer.

Kaum auszudenken, wenn ein Reporter den Rest der Geschichte aufdeckte.

»Dazu wird es nicht kommen«, hatte Lena vor einigen Wochen gesagt, als er seine Bedenken ausgesprochen hatte, weil er ständig darüber nachdenken musste, dass die ganze Sache aus dem Ruder laufen könnte. »Niemand hat die geringste Ahnung, dass wir uns damals schon kannten.«

Damit hatte sie recht gehabt. Hier und da war darüber spekuliert worden, warum Lena Booker den Fall Viola Kent übernommen hatte, aber niemand hatte an den Fäden gezogen, die im Hintergrund verliefen, und darum hatte auch niemand herausgefunden, wie sie miteinander verwoben waren. Niemand ahnte, dass Reed Kent und Lena Booker nur zwei arme Kids aus Southie waren, die es allen Schwierigkeiten zum Trotz geschafft hatten.

»Schließlich bist du auf deine Herkunft nicht gerade stolz«, hatte Lena hinzugefügt wie einen heftigen Stoß in die Rippen.

Mit achtzehn hatte Reed Claire kennengelernt, einzige Tochter einer der reichsten und angesehensten Familien der Stadt. Aus irgendeinem Grund war sie der Meinung gewesen, er sei es wert, mit ihm auszugehen, mit ihm zu schlafen und ihn zu heiraten.

Er wusste immer noch nicht, warum. Aber damals hatte er es nicht infrage gestellt. Seit seiner Geburt hatte er mit den Füßen im Beton von Southie gesteckt, und als Claire ihm einen Ausweg bot, hatte er keinen einzigen Blick zurückgeworfen.

Nun wurde Claires Bild auf dem Fernsehbildschirm durch eines von Viola ersetzt.

Ainsley saß immer noch neben ihm, bereit, ihn zu beruhigen, ein Verhalten, an das er inzwischen so gewöhnt war, dass er es kaum noch registrierte.

Reed kratzte an der Narbe auf seinem Fingerknöchel, während er beobachtete, wie sich der Mund der Nachrichtensprecherin bewegte.

Lieferte die Frau gerade eine detaillierte Darstellung von Violas Gräueltaten? Kürzlich hatte jemand durchblicken lassen, dass an der Zimmertür der Jungs ein Vorhängeschloss angebracht war. Diese Pikanterie war ein gefundenes Fressen für die Journaille gewesen.

Oder sprach die Frau über die Messerstiche, die Claire zugefügt worden waren, und fragte sich ohne jede Aussicht auf eine Antwort, ob es einen Auslöser gegeben hatte, der Viola dazu brachte, ihre Mutter zu töten?

Als Nächstes tauchte ein Bild von ihm selbst auf. Die Sprecherin legte auf diese traurige, mitleidige Art den Kopf schief, wie es inzwischen jeder tat, wenn es um Reed ging.

Ainsley versuchte vergeblich, ein weiteres Mal nach der Fernbedienung zu greifen, doch er hielt sie von ihr weg.

Was würden all diese Menschen, die ihn mit einer Mischung aus Mitleid und unverhüllter Neugier betrachteten, wohl sagen, wenn sie die Wahrheit erführen?

Ainsley seufzte, bevor sie Reed mit leicht zitternder Hand auf den Oberschenkel klopfte. »Quäl dich nicht länger, okay?«

Er grunzte nur.

Dann zappte er sich durch die Kanäle, bis er erneut auf Claires Gesicht stieß.

Wenn Ainsley wirklich glaubte, dass er die Nachrichten brauchte, um sich zu quälen, dann kannte sie ihn längst nicht so gut, wie sie glaubte.

Kapitel Drei

Gretchen

Jetzt

Mit verschränkten Armen stand Shaughnessy neben Lenas Leiche. Er hob den Kopf und sah Gretchen in die Augen. »Wenn es nicht so offensichtlich wäre, würde ich annehmen, dass dies Ihr Werk ist.«

Gretchen biss die Zähne zusammen, bis Schmerz ihren Kiefer durchzuckte. Dann zählte sie bis zehn, damit die Anspannung nicht auf ihre Stimme abfärben und sie gleichmütig anstatt feindselig klingen würde. Eine sorgfältig ausgearbeitete Performance wie der allergrößte Teil ihres restlichen Lebens auch. »Verzeihung, aber ich würde niemals derart schlampig vorgehen.«

»Ich sagte ja, wenn es nicht so offensichtlich wäre«, wiederholte Shaughnessy, wobei seine Mundwinkel vor Belustigung zuckten.

Marconi blickte von einem zum anderen. »Ich kann wirklich nicht erkennen, ob Sie scherzen oder nicht.«

»Wir machen niemals Witze«, erklärte Gretchen. »Der Detective hat keinen Sinn für Humor.«

»Okay«, sagte Marconi, deren Gesprächsbeiträge nicht gerade vor Intelligenz trieften. Gretchen entfernte sich von den beiden. Sie war gelangweilt und gereizt, die bei Weitem schlechteste Kombination, was ihre Selbstbeherrschung betraf. Wenn sie im Lauf ihres Lebens auf dem schmalen Grat zwischen dem gewalttätigen und dem nicht gewalttätigen Pol ihrer Soziopathie eines gelernt hatte, dann war es, dass das Bedürfnis, sich einer Situation zu entziehen, ein Warnzeichen war, das sie unbedingt beachten musste.

»Sie ist also eine … Beraterin? Ist das wahr?«, fragte Marconi leise an Shaughnessy gewandt. Gretchen achtete nicht auf seine Antwort. Im Lauf der Jahre hatte er diese Erklärung so häufig in ihrer Anwesenheit abgeben müssen, dass sie beide sie auswendig kannten.

Shaughnessy hatte Dr. Gretchen White, die über Hochschulabschlüsse in Psychologie, Statistik und Kriminologie verfügte, vor mehr als zehn Jahren um Rat in einem Fall gefragt, in dem der Verdächtige ihn an Gretchen erinnert hatte. Nach dieser ersten erfolgreichen gemeinsamen Ermittlung hatte Shaughnessy sie immer wieder angerufen, anfangs nur gelegentlich, dann häufiger. Irgendwann hatten andere Detectives begonnen, seinem Beispiel zu folgen, bis Gretchen im Bostoner Polizeipräsidium wohlbekannt, wenn auch nicht immer wohlgelitten war. Im Lauf dieser etwa zehn Jahre hatte sie bei der Lösung so vieler bedeutender Fälle geholfen, dass man über ihre eigene recht zweifelhafte Vergangenheit inzwischen bereitwillig hinwegsah.

Denn lange vor ihrer Beratertätigkeit war sie die Hauptverdächtige in Detective Patrick Shaughnessys erstem großen Mordfall gewesen. Es war in den frühen Neunzigerjahren, als sie noch ein Kind gewesen und ihm der Bauch noch nicht über den Hosenbund gequollen war, als seine Haare noch blond anstatt nicht vorhanden gewesen waren und an seinem linken Ringfinger noch ein goldener Ring gesteckt hatte.

Das Opfer war Rowan White, Gretchens Tante. Und in Shaughnessys Kopf war und blieb die Mörderin immer Gretchen.

Es war ihm nur nicht gelungen, das zu beweisen.

Um Shaughnessy gegenüber fair zu sein – nicht, dass sie diesen Drang häufig verspürte –, musste sie zugeben, dass sie über der Leiche kauernd angetroffen worden war, das blutige Messer, das sich später als die Mordwaffe herausstellte, in der einen Hand, die andere Hand auf die klaffende Wunde gepresst, nicht etwa ängstlich, wie andere Kinder es gewesen wären, sondern eher fasziniert davon, wie sich das aufgerissene Fleisch unter ihren Fingern anfühlte.

Die Gerüchte, die schon damals über ihre seltsame Art kursierten und über die Tatsache, dass die Leute in der Nachbarschaft die Straßenseite wechselten und ihren Blicken auswichen, obwohl sie nur ein kleines Mädchen war, untermauerten die Argumente für ihre Unschuld nicht gerade.

Obwohl weder ihr Alter noch ihr Aussehen je eine Rolle gespielt hatte. Schon als Kind hatte sie gelernt, dass normale Menschen – »Empathen«, wie sie diese nannte, nachdem ihre Mitmenschen ihr bedenkenlos das Etikett »Soziopathin« angeheftet hatten – die angeborene Fähigkeit besaßen, die Außenseiterin, die Heuchlerin, die leere Hülle unter der Maske zu erkennen, die die zivilisierte Gesellschaft von ihr verlangte.

In Rowans Mordfall hatte es nie einen anderen Verdächtigen gegeben. Obwohl Shaughnessy inzwischen ein recht fähiger Cop zu sein schien, hatte er damals einen Tunnelblick gehabt, geblendet von seiner Überzeugung, dass Gretchen die Mörderin war, nicht bereit, auch nur einen Gedanken darauf zu verschwenden, dass es andere Antworten geben könnte.

Dass sich Gretchen an jene Nacht nicht erinnern konnte, hatte Shaughnessy lediglich in seiner Überzeugung bestärkt, sie könne Erwachsene, die sie noch nicht der Bösartigkeit verdächtigten, glaubhaft anlügen.

Shaughnessy hatte die Leere in ihr von Anfang an gesehen. Und er sorgte dafür, dass sie es niemals vergaß.

Selbst nachdem der Fall eingefroren worden war, hatte er nicht loslassen können. Gretchen hätte seine Besessenheit interessant, wenn auch störend gefunden, hätte sie nicht gewusst, wie grausam der Griff einer zwanghaften Fixierung war.

Da er keinen Haftbefehl erwirken konnte, hatte Shaughnessy es sich fortan zur Aufgabe gemacht, Gretchen im Auge zu behalten. Egal, wie oft sie ihm erklärte, dass es eine Untergruppe von nicht gewalttätigen Menschen mit antisozialen Persönlichkeitsstörungen gab – für ihn würde sie immer das Mädchen mit den leeren Augen sein, das den Blick nicht vom verstümmelten Körper seiner Tante abwenden konnte.

Als der Fall Viola Kent in den Nachrichten auftauchte, hatte sich Gretchen auf eine dreitägige Sauftour begeben, schockiert, weil ihr der Mord so vertraut vorkam. Ein blutüberströmtes Opfer, ein Messer, ein junges Mädchen als naheliegende Verdächtige. Natürlich gab es auch Unterschiede, aber die Übereinstimmungen waren so zahlreich, dass sie Lena mit Fragen nach den Details des Falls gelöchert hatte. Details, die Lena nicht preiszugeben bereit gewesen war.

Sie ist wie du.

Es war vier Uhr morgens, als Lena anrief, und Gretchen hatte den Anruf verschlafen, war erst beim Piepen der Mailbox aufgewacht.

Zunächst schien die Nachricht nur aus statisch aufgeladenem Schweigen zu bestehen. Hätte jemand anderes sie hinterlassen, hätte Gretchen nicht weiter zugehört, sondern nur das Handy durch den Raum gepfeffert und sich wieder hingelegt.

Lenas Stimme war sehr leise, gebrochen fast. »Ich hab’s vermasselt, Gretch.«

Die Worte klangen verwaschen, sogar Gretchens Name klang weich. Vermutlich Wein oder irgendwelche Pillen.

»Sie ist wie du«, murmelte Lena. »Sie ist … sie ist wie du.«

»Wer denn, Liebes?«, fragte Gretchen leise, obwohl Lena sie nicht hören konnte.

»Ich hab’s vermasselt«, sagte Lena ein weiteres Mal, und ihre Stimme klang hohl, schwach – überhaupt nicht nach ihr. »Du … du musst es für mich in Ordnung bringen, okay?«

Gretchen presste die Lippen zu einer Linie zusammen. Lenas Stimme zitterte, ihr Atem ging flach.

Was hatte sie genommen?

Die Stille dehnte sich, bis Gretchen sich fragte, ob Lena mit dem Telefon in der Hand ohnmächtig geworden war. Aber dann … »Du kannst immer alles in Ordnung bringen.«

»Was muss ich in Ordnung bringen?«, fragte Gretchen, obwohl sie wusste, dass es zwecklos war.

»Viola Kent«, sagte Lena, als hätte sie die Frage gehört. »Gretchen … Viola Kent ist unschuldig.«

Und damit war die Sprachnachricht beendet.

Gretchen hatte überlegt, die 911 zu wählen, weil Lenas Stimme so schwach geklungen hatte. Aber wenn es falscher Alarm gewesen wäre, hätte Lena sie umgebracht. Die Berichte darüber wären in allen Zeitungen erschienen, und niemand hätte es verhindern können, zumal der Fall Kent derzeit auf jeder Titelseite stand. Stattdessen war Gretchen mit dem Ersatzschlüssel, den ihre Freundin ihr gegeben hatte, zu deren Wohnung gefahren.

Während sie durch die nahezu leeren Straßen Bostons gerast war, hatte sie sich eingeredet, Lena sei betrunken und nur deshalb dermaßen neben der Spur gewesen.

Doch noch im Auto und vor allem, als sie dann durch die Lobby raste und dort endlos auf den Fahrstuhl warten musste, wurde Gretchen den Gedanken an das kleine Tütchen, das sie vor einem Monat in einer fast leeren Packung Tampons in Lenas Badezimmerschrank gefunden hatte, nicht los.

Es ging Gretchen nichts an, wenn Lena gelegentlich Erleichterung von ihrem Hochdruck-Job suchte, darum hatte sie damals nichts gesagt, sondern das Tütchen einfach zurückgelegt. Jetzt wünschte sie, sie hätte es genommen, die Pillen ins Klo gespült und auf Nachfrage ihre Unwissenheit beteuert. Mit Lügen hatte sie schließlich kein Problem.

Nun trat sie über die Schwelle von Lenas Schlafzimmer. Abgesehen von einem überquellenden Bücherregal, das den Großteil einer Wand einnahm, war es beinahe so spartanisch eingerichtet wie die restliche Wohnung.

Lena war eine starke Persönlichkeit gewesen, aber nicht der Typ, der diese in seinem privaten Bereich zur Schau stellte. Ein seltsames Verhalten für eine Empathin, hatte Gretchen gedacht. Sie selbst hatte ihre Wohnung überaus korrekt eingerichtet und sie mit Dingen angefüllt, die ihr nichts bedeuteten, eventuellen Besuchern jedoch das Gefühl gaben, dass sie ein reiches Innenleben hatte. Schall und Rauch, immer wieder der Versuch, die Leere zu verbergen.

Gretchen näherte sich dem einzigen Foto auf der Kommode – ein Bild von Lena und ihrer Großmutter bei der Abschlussfeier nach dem Jurastudium – und berührte mit einer Fingerkuppe sanft Lenas Gesicht.

»Die ganze Zeit schon frage ich mich etwas … und, ehrlich gesagt, bringt mich die Neugier fast um«, ließ sich Shaughnessy vom Türrahmen her vernehmen. Seine Partnerin schien er im Wohnzimmer zurückgelassen zu haben.

Gretchen wartete ab, denn sie wusste, dass er ihr erzählen würde, worum es ging, ob sie nun nachfragte oder nicht.

»Warum hat Lena diesen Fall übernommen?«

Die Frage ähnelte ihren eigenen Gedanken so sehr, dass sie sich zu ihm umdrehte und nachdenklich den Kopf schief legte. »Alle glauben, sie habe es meinetwegen getan.«

»Weil Viola Kent offensichtlich eine …« Er winkte vage in ihre Richtung.

»… eine Psychopathin ist«, vervollständigte Gretchen den Satz, leicht amüsiert über sein Zögern. »Sagen Sie es ruhig, es wird Viola nicht herbeirufen.«

Shaughnessy schnaubte. »Glauben Sie etwa, dass Lena den Fall aus einem anderen Grund übernommen hat?«

»Ja«, sagte Gretchen, obwohl Lenas Stimme in ihrem Kopf nachhallte. Sie ist wie du. »Diese Argumentation lässt nämlich eine entscheidende Tatsache außer Acht.«

»Die da wäre?«

»Viola Kent ist eine gewalttätige Psychopathin.«

»Okay, das haben wir bereits festgestellt.« Shaughnessys Worte mochten ungeduldig wirken, sein Tonfall war es nicht. Meistens war er so gelassen, wie sie reizbar war. Sie hasste den Gedanken, dass sie einander womöglich guttaten.

»Ich bin eine nicht gewalttätige Soziopathin«, sagte Gretchen. »Sie können offenbar nicht begreifen, dass es da einen Unterschied gibt, aber Lena konnte es.«

»Und worin besteht dieser Unterschied?« Marconi stellte die Frage, während sie hinter Shaughnessy hervortrat.

Gretchen musterte sie und überlegte, ob die Frau lange genug bei ihnen bleiben würde, dass sich eine Antwort lohnte. Es war sinnlos, sich mehr als die Namen der wechselnden Figuren zu merken, die Shaughnessy als Partner und Partnerinnen einsetzte, aber einige reagierten stärker auf Höflichkeit als andere. Sie bezweifelte, dass Marconi die Mühe wert war, aber auch Shaughnessy beobachtete Gretchen nun, und sie wollte, dass er ihr wohlgesinnt blieb.

»Stellen Sie sich Ted Bundy im Vergleich zu …«, Gretchen zögerte und rümpfte die Nase, verärgert, weil sie etwas derart Lächerliches sagen musste, »… im Vergleich zu einem Typen von der Wall Street vor.«

Marconi nickte. »Verstehe.«

Shaughnessy brummte zustimmend, obwohl er diese Antwort genauso häufig gehört hatte wie sie seine Erklärung, wer die Lady war, die sich ohne Dienstmarke am Tatort herumtrieb.

»Was denken Sie, Gretch?«, fragte Shaughnessy.

Ich hab’s vermasselt.

»Es handelt sich hier nicht um ein Verbrechen«, antwortete sie zögernd.

Wenn man jemanden seit annähernd drei Jahrzehnten kannte, erriet man mühelos die Dinge, die unausgesprochen blieben.

»Stimmt«, pflichtete Shaughnessy ihr leichthin bei. »Aber was verschweigen Sie mir?«

Ihr Blick huschte durch das Schlafzimmer, ehe er erneut auf Shaughnessy landete. Im Gegenlicht des hellen Flurs konnte sie seine Miene nicht lesen.

Gretchen hatte eine lockere Beziehung zur Wahrheit, und noch entspannter war sie, wenn es um Lügen durch Verschweigen ging. Weder musste Shaughnessy sämtliche Details der vorangegangenen Nacht erfahren, noch bestand die Notwendigkeit, ihm Lenas Sprachnachricht vorzuspielen. Aber sie musste sein Interesse so weit wecken, dass er sie weiterhin ermitteln ließ.

Lenas Nachricht hatte keinesfalls dazu geführt, dass Gretchen Viola auf einmal für unschuldig hielt. Jeder Strafverteidiger, der seinen Abschluss wert war, würde mit der Überzeugung ihrer Schuld ins Grab gehen. In diesem Fall wortwörtlich. Nein, Gretchen war auf Lenas leises Ich hab’s vermasselt, Gretch angesprungen und auf die offen daliegende Akte zum Fall Kent – das waren die Gründe, warum sie unbedingt Antworten brauchte. Aber ehe sie wusste, was Lena getan oder eben nicht getan hatte, würde sie Shaughnessy all das nicht erzählen.

Dennoch musste sie ihm einen Köder vor die Nase halten, damit er anbiss. Er war der leitende Ermittler im Fall Viola Kent. Die geringste Andeutung, dass es andere Verdächtige gab, die er nicht in Betracht gezogen hatte, wäre wie eine tiefe Wunde, in die sie den Finger legen konnte, eine Erinnerung an ihren eigenen Fall.

Die Suche nach Verbündeten stellte für Gretchen oftmals eine Herausforderung dar, aber in Zeiten wie diesen liebte sie es, welche zu haben. Jemanden mit all seinen Schwächen zu kennen, in all seiner hübschen Unsicherheit und Verletzlichkeit, zu wissen, wie man ihn manipulieren konnte … das verschaffte ihr ein High, das ihr nicht einmal die wirksamste Droge schenken konnte.

Und von Shaughnessy kannte sie jeden einzelnen Schwachpunkt.

»Lena hat mich angerufen«, sagte Gretchen und verschränkte die Arme über der Brust, als wollte sie sich selbst trösten.

Der Detective zog die buschigen Brauen hoch. Sie waren ihr immer schon wie ein erstaunlicher Kontrast zu seinem glänzenden Kahlkopf vorgekommen. »Was?«

Dies war das Wort, das Gretchen am wenigsten leiden konnte, und Shaughnessy wusste es. Sie hasste es, weil es ungenau war und den Befragten oftmals zwang, etwas zu wiederholen, das er klar und deutlich mitgeteilt hatte. Sie hasste den bloßen Klang des Wortes. Also wartete sie ab.

»Was hat sie gesagt?«, korrigierte sich Shaughnessy, neugierig genug, um das Schweigen zu brechen.

»Sie hat mir erzählt, warum sie den Fall übernommen hat«, log Gretchen und sah ihm dabei in die Augen. Es war wichtig, die Sache dramatisch zu gestalten, damit ihre Enthüllung umso wirkungsvoller war.

Sie wusste, dass Shaughnessy die Antwort kaum erwarten konnte, denn dass Lena Booker die Verteidigung von Viola Kent übernommen hatte, ergab einfach keinen Sinn.

Die Dreizehnjährige hatte monatelang ihre Familie gequält und schließlich ihre Mutter ermordet und noch nicht einmal gespielte Reue gezeigt. Bei jedem anderen als Lena hätte Gretchen vermutet, dass es um Geld ging, um Publicity, um den unvermeidlichen Karriereschub, den selbst ein Schuldspruch und ein verlorener Fall mit sich bringen würden.

Aber Lena hatte die Medien gemieden, sie hatte unterschiedslos seriöse Journalisten und weniger seriöse Trash-TV-Moderatoren abgewiesen, die um Informationsfetzen bettelten, mit denen sie ein gieriges Publikum füttern wollten.

Darüber hinaus war allgemein bekannt gewesen, dass Lena nur zwei Sorten von Mandaten übernahm. Ihr wichtigster Arbeitgeber war die Mafia, was die zehntausend Dollar teure Couch erklärte, auf der sie so anmutig gestorben war.

Die zweite Sorte waren arme Kids aus Southie, die sich andernfalls mit einem überlasteten Pflichtverteidiger hätten begnügen müssen. Und selbst unter diesen Fällen gab es nur wenige, die Lena interessierten, und wenn sie es taten, dann aus einem besonderen Grund.

Auf Viola Kent, Tochter des sagenhaft reichen Ehepaars Reed und Claire Kent, traf keines dieser zwei Kriterien zu.

Die Spannung in der Luft war mit Händen zu greifen, als Shaughnessy und Marconi gleichzeitig einen Schritt auf sie zumachten. Gretchen hatte die beiden genau da, wo sie sie haben wollte. Die Dramatik war nur gespielt, sollte Shaughnessy dazu bringen, Gretchen freie Hand zu lassen, doch noch während sie die Worte aussprach, hatte sie das Gefühl, dass unter der Oberfläche vielleicht ein Körnchen Wahrheit schlummerte.

»Lena hielt Viola Kent für unschuldig«, sagte sie schließlich. Sie konnte den Widerspruch schon sehen, der sich in Shaughnessys zusammengezogenen Brauen abzeichnete, sie hörte ihn in Marconis rauem Atemzug. »Und das bedeutet, dass Sie sich mal wieder geirrt haben, Detective.«

Kapitel Vier

Reed

Einen Monat nach Claires Tod

Reed hatte einen ganzen Monat gebraucht, um die Beerdigung zu planen, und das, obwohl Ainsley den größten Teil der Arbeit erledigt hatte.

Ein Monat mochte gerade noch akzeptabel sein, dennoch hatte Reed festgestellt, dass man ihm in dieser Zeit mit mehr Nachsicht begegnete als je zuvor. Dazu hatte es nur eine tote Ehefrau und ein psychopathisches Kind gebraucht. Fügte man zwei misshandelte Jungen hinzu, die er ernsthaft zu beschützen versucht hatte, wie ihm jeder versicherte, würde Reed im Augenblick vermutlich sogar mit einem Mord davonkommen.

Ein unangemessener Drang zu lachen kitzelte ihn in der Kehle, und er musste einen Hustenanfall vortäuschen, als Pfarrer Richards bei dem erstickten Geräusch zusammenzuckte.

Reed entschuldigte sich bei dem Geistlichen und schob sich durch die Menschenmenge, die in seinem Haus versammelt war. Alle reckten den Hals, versuchten aber, den Eindruck zu erwecken, als beobachteten sie den Autounfall, der sich vor ihren Augen ereignete, nicht.

Ainsley reichte ihm im Vorübergehen einen Teller mit Billigkuchen aus dem Supermarkt, so geistesabwesend, dass sie sich nicht einmal vergewisserte, ob er ihn zu fassen bekommen hatte. Der Kuchen war rasch noch besorgt worden, nachdem jemandem aufgefallen war, dass jeder Gaffer und jede flüchtige Bekannte, die irgendwie mit den Kents in Verbindung stand, bei diesem Leichenschmaus aufgetaucht war. Claire hätte es schrecklich gefunden, dass die geschmackvolle Designertorte bereits verschlungen und von dem dicken, zu süßen Zuckerguss ersetzt worden war, auf den jemand mit zittriger, gehetzter Hand die Worte Herzliches Beileid geschrieben hatte.

Beileid zum Tod Ihrer Frau. Die, für deren Ermordung Ihre Tochter im Gefängnis sitzt.

Hinter seinem Brustbein braute sich eine Panikattacke zusammen, und er rieb mit dem Handballen über die Stelle, um die Angst zu vertreiben.

Er bekam diese Attacken schon seit Jahren, erkannte die Veränderungen seines Pulses, der Atmung, des Sehvermögens. Eilig floh er vor dem Gerede die Treppe hinauf, Stimmen brachen durch den Boden und füllten den leeren Raum, füllten jeden Teil seines Selbst, bis er nichts anderes mehr war als das, was die Leute über ihn sagten.

Als er wieder sehen konnte, fand er sich in einer Ecke von Violas Zimmer wieder. Mit einer Hand umfasste er das Einhorn aus Porzellan, das Horn drückte eine Delle in die Lebenslinie, die in seiner Handfläche verlief. Claire hatte Viola das Einhorn zu ihrem letzten Geburtstag gekauft, ein Versuch, Normalität herzustellen, obwohl sie alle wussten, dass er scheitern würde.

»Ich versuche es wenigstens noch«, hatte Claire mit gerecktem Kinn gesagt, gleichzeitig herausfordernd, störrisch und gebrochen. »Du hast ja einfach aufgegeben.«

Der Vorwurf hatte ihn getroffen, nicht wie ein Schlag ins Gesicht, sondern wie ein Stachel, der sich in die Haut bohrt, sich dort verfängt und festsetzt, und dieser Stachel machte sich jedes Mal bemerkbar, wenn er Viola anschaute, als würde das Mädchen sie alle ruinieren.

Bei der Geburt hatten sie kein Handbuch mit Anweisungen erhalten, was sie tun mussten, falls ihre Tochter ein Monster wäre. Keine Orientierungshilfe außer einem Psychiater nach dem anderen, der sich die Stelle zwischen den Augen rieb, während er leere Worte und Plattitüden von sich gab.

Sie konnten Viola nicht reparieren.

Sie konnten nur warten … bis sie etwas derart Grauenhaftes tat, dass man sie einsperren würde.

Die Tür wurde geöffnet und wieder geschlossen. Reed unterdrückte das Verlangen, das Einhorn auf denjenigen zu werfen, der es wagte, diesen Raum zu betreten. Viola war vielleicht abscheulich, aber sie war immer noch seine Tochter. Und niemand außer ihm hatte das Recht, hier zu sein.

Aber dann ging Lena vor ihm in die Hocke und legte ihm sanft die Hände auf die Knie.

»Also«, sagte sie gedehnt, so unbekümmert, als hätte es die vergangenen Monate nie gegeben. Als wären die Geheimnisse, die sie miteinander teilten, nicht schwer genug, um sie beide unter sich zu begraben. Als wäre sie nicht nach zwei Jahrzehnten des Schweigens plötzlich wieder in sein Leben gestolpert, um es an allen Ecken und Enden auseinanderzureißen. »Ich habe gehört, du brauchst eine Anwältin.«

Kapitel Fünf

Gretchen

Jetzt

»Sie müssen Lenas Todesursache als ungeklärt einstufen«, sagte Gretchen zu Shaughnessy. Sie befanden sich in der Küche der Anwältin, die meisten anderen Uniformierten waren längst weg.

Lena hatte sich für ein schlichtes, modernes Design entschieden, darum bestand alles in dem Raum aus glänzendem, unpersönlichem Chrom, der das Deckenlicht einfing und verzerrt zurückwarf.

Shaughnessy fuhr sich mit seiner großen, dicken Hand über das erschöpfte Gesicht. »Aber das stimmt nicht.«

»Das wissen wir beide.« Diese Sache erforderte ein Feingefühl, das Gretchens Fähigkeiten mitunter überstieg. Allerdings gab es hier eine Menge, womit sich arbeiten ließ. Sie deutete mit dem Kinn in Richtung Wohnzimmer und dachte an die Begründung, die Shaughnessy für seine Anwesenheit in dieser Wohnung vorgebracht hatte. »Aber verlangt man nicht von Ihnen, alles bis ins letzte Detail zu untersuchen?«

»Ja, schon …«, sagte er widerstrebend, als wüsste er, dass er in eine Falle tappte, ohne es jedoch vermeiden zu können.

Politische Spielchen waren sehr einfach gestrickt. Es ging immer um Macht, und damit kannte sich niemand besser aus als Gretchen. Sie genoss es nicht unbedingt, aber wenn sie mitspielte, gewann sie immer.

»Dann sagen Sie einfach, dass Sie genau das tun.« Gretchen schenkte ihm ein strahlendes Lächeln. »Sie setzen die Crème de la Crème auf den Fall an.«

Er blinzelte. »Was können wir in ein paar Tagen schon erreichen? Sie wissen doch, mehr Zeit bleibt Ihnen nicht.«

»Nein, weiß ich nicht«, versetzte Gretchen und fragte sich, ob sie ihn offen anflehen sollte. Wenn das hilfreich war, würde sie es tun, was den zusätzlichen Vorteil hätte, dass Shaughnessy sich entsetzlich unwohl fühlen würde. Wenn es darum ging, etwas zu bekommen, das sie haben wollte, war Gretchens Stolz praktisch nicht existent.

Sie wussten beide, dass sie viel von ihm verlangte. Damit Gretchen zu einer Beratung mit einem der Detectives gebeten werden konnte, musste der Fall offen und aktiv sein. Eine abgeschlossene Ermittlung wegen einer Überdosis würde da nicht reichen. Und wenn sie nicht offiziell für die Bostoner Polizei tätig war, würde es sehr viel schwieriger für sie werden, die Türen, die sie aufstoßen musste, auch nur einen Spaltbreit zu öffnen. »Sie wissen, dass ich Ihnen mächtig auf die Nerven fallen werde, wenn Sie es nicht tun.«

»Und inwiefern würde das etwas ändern?«, fragte Shaughnessy und lachte schnaubend. Für einen Moment betrachtete er sie schweigend. »Glauben Sie wirklich, dass Lena an etwas dran war?«

Ich hab’s vermasselt, Gretch.

»Nein, aber …« Gretchen blinzelte mehrmals und wandte dann den Blick ab. Manchmal vergaß Shaughnessy, wer sie war, er vergaß, dass sie nicht aus Kummer weinte, sondern damit er sich ihrem Willen beugte.

Sie zuckte mit den Schultern, gab sich fast geschlagen. »Das war das Letzte, was sie zu mir gesagt hat. Dass Viola Kent unschuldig ist.«

Als spielte das eine Rolle.

Von der Tür her erklang eine Stimme. »Sie werden keinen Zugriff auf den Fall Kent erhalten. Auch nicht, wenn wir ihn offen halten.«

Die neue Partnerin. Detective Marconi.

Gretchen fragte sich, was nötig sein würde, um diese Frau zu vertreiben. Sie hatte sich noch kein vollständiges Bild von ihr machen können, aber was sie bislang gesehen hatte, gefiel ihr nicht. Und wenn Gretchen Shaughnessys Partner nicht mochte, quittierten sie meist nach kurzer Zeit den Dienst.

»Wer sagt, dass ich Zugriff auf den Fall Kent brauche?«

Marconi zuckte unter Gretchens Blick nicht zusammen, der, wie sie selbst wusste, kalt und berechnend war, ein Blick, den sie vor dem Spiegel geübt hatte wie viele andere Gesichtsausdrücke, die sich nicht auf natürliche Weise einstellen wollten.

»Weil Sie glauben, dass Lena Booker wegen des Falls Kent eine Überdosis genommen hat«, sagte Marconi mit gleichmütigem Schulterzucken.

Diese unverblümte Einschätzung verblüffte Gretchen, beeindruckte sie sogar, obwohl das vermutlich ungünstig war. Sie befanden sich in Boston, hier waren die meisten Menschen allzu direkt. Gretchen neigte zu der Annahme, dass sie genau in der richtigen Stadt für ihre spezielle Art brutaler Ehrlichkeit zur Welt gekommen war.

»Ich brauche keinen Zugriff«, sagte sie. »Ich brauche nur den Anschein von Rechtmäßigkeit.«

»Rechtmäßigkeit in Form Ihrer Verbundenheit mit der Bostoner Polizei?«, fragte Marconi, und Gretchen seufzte angesichts der lästigen Fragerei. War es nicht genau das, was sie gerade gesagt hatte?

Sie kehrte Marconi den Rücken und richtete ihre Aufmerksamkeit auf Shaughnessy. »Ein paar Tage nur.«

Er musterte sie, dann huschte sein Blick über ihre Schulter zu Marconi. »Na schön.«

Süßer, süchtig machender Siegesrausch überflutete Gretchen, bekam aber rasch einen Dämpfer, als Shaughnessy mit einem Wurstfinger in ihre Richtung zeigte und sagte: »Aber Sie brauchen einen Babysitter.«

Marconis leises Stöhnen spiegelte Gretchens eigenes wider, aber sie besaß wenigstens den Anstand, es hinunterzuschlucken. »Das ist Verschwendung von Ressourcen«, setzte Gretchen an, obwohl sie wusste, dass sie sich vergeblich bemühte.

Shaughnessy grinste. Er genoss den Schlagabtausch. »Na klar, weil Sie immer so gewissenhaft mit unserem ohnehin schon überzogenen Budget umgehen.«

Gretchen straffte die Schultern. »Woher wollen Sie wissen, dass ich Ihre Partnerin nicht umbringe?«

Wie beabsichtigt, verschwand das dämliche selbstzufriedene Grinsen aus Shaughnessys Gesicht. »Marconi wird schon mit Ihnen fertig.«

Mit geübter Sorgfalt ließ Gretchen den Blick über Marconis Körper wandern, erst nach oben und dann nach unten. Abschätzend. Schließlich sagte sie schulterzuckend: »Ich würde es genießen, wenn sie es versucht.«

Marconi zog die Brauen hoch, erwiderte aber nichts. Es war enttäuschend. Gretchen genoss Geplänkel, egal über welches Thema.

»Nur ein paar Tage, Gretch«, sagte Shaughnessy hinter ihr, und sie glaubte, den Hauch einer Gefühlsregung in seiner Stimme zu hören, die auf erschreckende und unangenehme Art an Mitleid erinnerte. »Dann müssen wir uns mit anderen Dingen beschäftigen.«

»Das ist mehr als genug Zeit«, sagte Gretchen gleichmütig, während sie weiterhin Marconi taxierte. Nach dem anfänglichen Stöhnen hatte die Frau jegliche Gefühlsregung bezüglich ihrer neuen Aufgabe aus ihrem Gesicht verbannt.

»Möge Gott uns helfen«, murmelte Shaughnessy und schnippte wie zur Warnung mit den Fingern. Gretchen hätte beim besten Willen nicht sagen können, ob es an sie oder Marconi gerichtet war. Dann verließ er ohne ein weiteres Wort den Raum.

»Wie dramatisch«, sagte Gretchen gedehnt, und Marconi schnaubte.

»Tja, so ist er eben, nicht wahr?«, sagte sie.

Interessant. Versuchte die Polizistin, auf diese Art eine Bindung aufzubauen? In der Vergangenheit hatte Gretchen festgestellt, dass ein gemeinsamer Feind oder zumindest eine geteilte Frustration eine effektive Methode war, um eine Verbindung zu jemandem herzustellen. Sie selbst wandte diese Taktik sehr häufig an. »Wir brauchen die Akten zum Fall Kent.«

Marconi wippte auf den Fersen. »Ich habe nur gesagt …«

»In der Tat, das haben Sie«, versetzte Gretchen und steuerte auf das Wohnzimmer zu. »Außerdem müssen wir mit Reed Kent reden.«

Gretchens Blick verweilte auf Lenas leblos daliegendem Körper. Gewalttätigkeiten hatten sie noch nie gereizt; sie zog Verheerungen emotionaler und mentaler Art bei Weitem vor. Aber sie war selbstkritisch genug, um zu wissen, dass sie sich von den Folgen dieser Art von Dunkelheit angezogen fühlte. Die biegsamen Gliedmaßen, die leeren Augen, das zerfetzte Fleisch, die gebrochenen Knochen.

»Das vorhin war kein Witz, mhm?«, fragte Marconi, die hinter ihr stehen geblieben war, leise. »Sie sind tatsächlich eine Soziopathin.«

Gretchen löste widerwillig den Blick von Lenas ausgebreiteten Armen und ging weiter auf die Tür zu. »Sie wissen nichts über mich oder über die Bedeutung dieses Wortes.«

»Dann erklären Sie es mir«, drängte Marconi und war auf einmal neben ihr.

»Das ist nicht meine Aufgabe.« Sie hatte bereits mehr als genug zur Einarbeitung der Neuen beigetragen. Noch ein bisschen mehr und Gretchen würde sich genug langweilen, um etwas Dummes, Irrationales zu tun. Das Gefühl war immer leicht vorherzusehen und damit auch zu vermeiden. Es war schade, dass niemand die Zurückhaltung, die sie sich auferlegte, zu schätzen wusste. Gewaltlosigkeit hieß schließlich nicht, dass sie keinen Drang zur Gewalt verspürte, diesen Trieb, der sich schnell gegen ein ahnungsloses Publikum richten konnte.

Shaughnessy gehörte zu den wenigen Leuten, die das erkannt hatten. Das hatte sie schon immer an ihm gemocht.

»Was steht in den Kent-Akten, das Sie nicht bereits wissen?«, fragte Marconi, als sie in den Aufzug stiegen. »CNN hat über jede Einzelheit des Falls berichtet. Und Ihre … Freundin war mit der Verhandlung befasst.«

»Soziopathen können durchaus Freundschaften schließen«, sagte Gretchen, die Marconis Zögern gleichzeitig irritierte und belustigte. Sie durchquerten rasch die Eingangshalle und traten auf die Straße hinaus, wo hinter dem gelben Polizei-Absperrband mit sinnloser Dringlichkeit helle Lichter blinkten. Die Aasgeier krächzten, bettelten um einen Kommentar oder wenigstens einen Blick in ihre Richtung. Sowohl Gretchen als auch Marconi ignorierten sie.

»Wieso das?« Die Frage klang nicht scharf, sondern eher freundlich, neugierig.

Gretchen zögerte. Sie betrachtete Marconis Gesicht, aber soweit sie erkennen konnte, war hier keine Feindseligkeit unter dünnem Firnis versteckt.

Wenn Gretchen jemanden kennenlernte, log sie im Allgemeinen gern. Die meisten Menschen waren sehr formbar und leicht zu kontrollieren; es war kein Problem, sie zum Nachgeben zu bewegen, wenn es nötig war. Diesmal dachte sie, dass sie mit der Wahrheit möglicherweise besser fahren würde. Sie hatte mehrere Varianten dieser Antwort ausprobiert und festgestellt, dass sie immer erfolgreich waren.

»Wir alle brauchen Menschen, die nichts anderes von uns erwarten, als derjenige zu sein, der wir sind«, sagte Gretchen und erkannte, dass Marconi die poetische Formulierung gefiel, die das Gefühl schöner wirken ließ, als es tatsächlich war. »Der Nutzen, den Freundschaften mir bringen, ist den Aufwand, sie aufrechtzuerhalten, wert.«

In Sekundenschnelle war Marconis positive Reaktion verschwunden. Gretchen seufzte. Warum musste sie nur immer einen Schritt zu weit gehen?

»Ihr Wagen oder meiner?«, fragte sie, um das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken. Immer wissen, wo der Notausgang ist, das war Regel Nummer eins im Umgang mit normalen Menschen.

»Shaughnessy ist gefahren.« Marconi ließ das Thema kommentarlos fallen, was Gretchen zu schätzen wusste. Es gab nichts Schlimmeres als Empathen, die immer weiterbohrten.

Gretchen bog um die Ecke in die schmale Straße ein, in der sie ihren feuerwehrroten Porsche geparkt hatte.

»Schließen Sie Ihren Wagen nicht ab?«, lautete Marconis Kommentar, als sie auf dem Beifahrersitz Platz nahm.

»Ich lebe gern gefährlich«, säuselte Gretchen in vollendeter Nachahmung des Klischees. Es gab sie nicht ohne Grund, diese vorgefertigten Sprüche, die jeder, vor allem sie selbst, verstand und zu würdigen wusste. Wenn sie versuchte, Angst vor einem Autodiebstahl zu empfinden, war es, als schöpfte sie aus einem leeren Brunnen. Das interessantere Szenario war der Test, ob jemand kühn genug sein würde, ihr Baby zu stehlen.