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Sie nennen sie Aschetochter, die schweigsame Jägerin, die den Flammen eines Wyvern trotzte. Nur Dank der Magie des Halbgottes Arul lebt Odras Stamm in Sicherheit vor den ungezähmten Wyvern. Als Odra jedoch den Zorn des Halbgottes auf sich zieht, ist sie gezwungen zu fliehen und sich der gnadenlosen Kälte des Winters zu stellen. Schutz findet sie ausgerechnet bei Ravnarr, der Anführerin eines verfeindeten Stammes. Aller Zweifel zum Trotz erkennt Odra bald, dass Ravnarr und sie mehr verbindet als gemeinsame Feinde. Die Wurzeln des Schicksals sind tückisch und offenbaren eine dunkle Vergangenheit, die alles in Flammen aufgehen lassen könnte, woran Odra jemals geglaubt hat.
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Seitenzahl: 632
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Drachenmond Verlag GmbH
Auf der Weide 6
50354 Hürth
https://www.drachenmond.de
E-Mail: [email protected]
Lektorat: Maya Shepherd
Korrektorat: Lillith Korn
Layout Ebook: Stephan Bellem
Umschlagdesign: Jaqueline Kropmanns
Bildmaterial: Shutterstock
Illustrationen: Vicor @koijix
Landkarte: Amz @ae.paperart
Klappen-Illustration: Kat @kattoesque
ISBN 978-3-95991-674-5
Alle Rechte vorbehalten
Ohne Titel
Obacht!
Erster Teil
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Zweiter Teil
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Dritter Teil
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Vierter Teil
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Kapitel 57
Kapitel 58
Kapitel 59
Kapitel 60
Kapitel 61
Epilog
Danksagung
Drachenpost
Für alle,
die noch auf der Suche
nach einer Heimat sind.
Und für dich, Mama,
weil du mich genauso liebst,
wie ich bin.
In dieser Sage aus Herjurheim begleiten wir Odra Aschetochter, eine junge Jägerin vom Stamm der Tyral, auf der Suche nach ihrer wahren Bestimmung. Sie erzählt von bedeutsamen Begegnungen mit dem Tod – sei es der unerwartete, der erbarmungslose oder der bewusst gewählte – und von Opfergaben, tierischer und menschlicher Natur, an die großen Gottheiten und Erdgeister. Der tief verwurzelte Hass und die Brutalität zwischen verfeindeten Stämmen dürfen ebenfalls nicht unerwähnt bleiben.
Es mag sein, dass diese düsteren Geschehnisse Unwohlsein hervorrufen. Ich bitte euch, gut auf euch zu achten und euch abzuwenden, wenn nötig, um eure wunderbaren Seelen zu schützen.
Ein einzelner, präziser Pfeilschuss, tief ins Fleisch reißend wie der Fangzahn eines hungrigen Wolfes. Mehr brauchte ich nicht, mehr verlangte ich nicht. Reh, Rentier oder Rebhuhn, es war mir gleich, solange ich nicht mit leeren Händen zurückkehren musste. Aber selbst die Wölfe schienen diesen Teil des Hrtendur-Waldes verlassen zu haben.
Peitschender Wind jagte am Himmel dunkle Wolken. Die Vögel waren verstummt, hatten Schutz vor dem kommenden Sturm gesucht. Herbst im hohen Norden kam stets rasch nach kurzen Sommern.
Hinter mir knarrte die Baumgrenze aus Kiefern und Fichten. Ich sog ihren würzig-süßen Duft, vermengt mit dem des modrigen Waldbodens, tief in meine Lunge, rieb meine Finger über die geschorene rechte Seite meines Schädels. Nach einem erneuten suchenden Blick nach unheilvollen Schatten am Himmel, trat ich an den Schild heran.
Hílrajü nannten wir ihn, Schillernder Schild, denn er leuchtete wie die Jórla Solles, die grünen und blauen Lichtschleier in eisigen Nächten am sternenklaren Firmament. Die Farben verblassten in einigen Metern Höhe, wo sich die Magie kuppelartig über das Tal der Kalas Undras erstreckte, eine Landschaft, geprägt von tiefen Schluchten und dichten Nadelwäldern. Heimat meines Stammes, der Tyral. Heimat der Vereinten Fünf Stämme.
Ich hockte mich mit einem Knie auf den feuchten Boden, strich das Gras beiseite. Die Fährten eines Paarhufers, denen ich hierher gefolgt war, waren eindeutig – ein Wildschwein. Doch meine Euphorie starb rasch, denn sie führten hinter den Hílrajü in ein Land, welches wir nicht betreten durften, nicht sollten, wenn unser Leben uns lieb war. Jäger, wie die, die ich hergeführt hatte, waren die Ausnahme. Zu Hause in unserem Dorf warteten unsere Familien, dass wir mit Essen zurückkehrten.
Ein Pfeifen, dem eines Singvogels nicht unähnlich, sirrte aus dem Wald hinter mir. Ich spitzte die Lippen, antwortete dem vertrauten Klang, und bald darauf spürte ich Haruns Hand auf meiner Schulter.
»Hast du etwas gefunden?« Ihre grüngelben Augen waren so müde, wie ich mich fühlte, die blassen Wangen und das Kinn rosig von den beißenden Böen.
Nickend tippte ich meine Stiefelspitze neben die Spuren des Wildschweines. »Ich fürchte, wir müssen auf die andere Seite.«
Haruns Hand im Fäustling krümmte sich um den Kopf ihres Beils. Über eine ihrer breiten Schultern ragte ihr Bogen. »Das wird den anderen nicht gefallen.« Auch ihr gefiel es nicht. Den missmutigen Ton meiner Freundin kannte ich.
Grimmig warf ich meine Hand zu den wabernden Lichtern. »Es ist diese verfluchte Magie. Sie vertreibt das Wild.«
»Odra«, warnte sie mich gedämpft und blickte zurück zum Wald, aber die anderen Jäger waren außer Hörweite.
Meine Bedenken offenbarte ich nur ihr. So närrisch war ich nicht. Niemand verärgerte unseren Anführer. Arul, Halbgott, Herrscher der Fünf Stämme und Erschaffer des Hílrajü. Er hatte unser Land mit diesem magischen Schild überzogen, um uns vor den Wyvern zu schützen; riesige, echsenartige Bestien mit ledrigen Flügeln, die aus einem Maul mit messerlangen Zähnen Feuer spien. Doch wenn meine Vermutung der Wahrheit entsprach, vertrieb der Schild auch das, was wir zum Überleben brauchten. Seit zwanzig Jahren war Arul Beschützer und Zerstörer zugleich.
Kaltes Grauen kroch meine Kehle empor. »Wirst du mir folgen? Ich werde deinen Bogen brauchen.«
»Nur meinen Bogen?« Schmunzelnd hoben sich Haruns fuchsrote Brauen. Auf ihrer linken Schläfe streckte sich die kleine, blauschwarze Tätowierung; das Auge der Allmächtigen Ethvae, der Göttin, die unsere Welt erschaffen hatte, brachte Schutz und Weisheit.
»Und deine Pfeile natürlich.« Ich klopfte ihr auf die Schulter, zupfte ihren mit Fell besetzten Umhang zurecht, und sie tat mit meinem dasselbe.
Sie nickte gen Himmel. »Uns bleibt nicht mehr viel Tageslicht. Lass uns die anderen einweihen.«
Grau und trist hatte dieser Tag begonnen. Grau und trist würde er enden. Blass war die Erinnerung an den letzten Sonnentag, und ich sehnte mich nach einem wärmenden Lichtstrahl, einem knisternden Feuer. Mein Herz kam ins Wanken, als ich vor die neunzehn Jäger trat und ihnen meinen Plan mitteilte. Starr und kühl war meine Stimme, brüchig. Ich verabscheute ihre erwartungsvollen Blicke. Wie konnte sie, so jung und unerfahren, jemals Anführerin der Jäger werden?, mussten sie denken. Schwindelerregende Hitze stieg in mein Gesicht. Meine Pfeile verfehlten nie ihr Ziel, das war meine einzige Gabe.
»Du bist verrückt«, sagte Dors und spuckte auf den Boden aus Moos und Nadeln. Meine Faust härtete sich um den Griff meines Jagdmessers. »Hast du vergessen, dass wir beim letzten Mal beinahe geröstet wurden? Wieso treibst du uns nicht gleich einen Pfeil in den Rücken?«
Vor einigen Wochen war ein Wyvern tief über unsere Köpfe hinweggerauscht und wir hatten uns flach ins Gras gedrückt. Die Kreatur hatte uns nicht beachtet, aber dieses Argument würde niemanden überzeugen.
»Dors hat recht«, warf Saaru ein. »Was ist mit den Dvangnir? Vor Kurzem haben sie ein Dorf der Riskar überfallen und ihre Pferde gestohlen.« Zustimmendes Nicken und Gemurmel folgte ihren Worten.
Harun trat vor, noch bevor mir eine Antwort einfiel. Haarsträhnen flatterten um ihr Gesicht. »Seit wie vielen Tagen suchen wir schon nach Wild? Auch unsere Fischvorräte neigen sich dem Ende zu. Was bleibt uns anderes übrig, als dieses Wagnis auf uns zu nehmen? Sind wir nicht schon oft in Iskállir fündig geworden?«
Erneutes Gemurmel ging durch die Jäger. Dankend suchte ich den Blick meiner Freundin. Niemand kannte meine wahren Zweifel außer sie. Niemand wusste, dass Harun meine Stärke war.
»Ich werde den Hílrajü überqueren«, erhob ich meine Stimme, ohne in ihre Gesichter zu blicken. »Wer mir folgt, dem bin ich dankbar. Die anderen können nach Grimvir zurückkehren.«
Harun klopfte ihre Faust auf die Brust, legte sie an ihre Stirn und stieß sie zu den schwingenden Baumwipfeln. »Húva ajast.« Dein Blut ist mein.
»Húva ajast«, erwiderten vierzehn Jäger und wiederholten ihre Geste. Die restlichen fünf wandten sich ab und verschwanden hinter einem Hügel im düsteren Wald.
Meine Erleichterung zerfiel wie trockenes Laub zwischen groben Fingern. Sobald wir Iskállir betraten, waren vierzehn Jäger meine Verantwortung.
Ich führte sie an den Rand unserer Welt. Wind blies durch mein schwarzes Haar. Ohne zurückzublicken, schritt ich durch die blauen und grünen Lichter des Hílrajü. Wie kühles Eiswasser perlten sie von mir ab, dann war es vorbei. Die Luft war dieselbe auf der anderen Seite, der Sturm und die Landschaft unverändert, und doch schlängelte sich stets dieses eine pochende Gefühl durch meinen Magen: Unbehagen. Der Schild war unnatürlich, sollte nicht existieren, war eine tiefe Narbe zwischen unserer Heimat und der des Dvangnir-Stammes.
Feinster Regen durchnässte meinen Umhang, hüllte die scheinbar endlose Graslandschaft in grauen Nebel. Er wurde so dicht, der Umkreis meiner Sicht verringerte sich drastisch. Mein Atem waberte als Dampf vor meinem Gesicht. Ich zog mein Beil aus dem Eisenring meines Gürtels. Das vertraute Gewicht meiner Waffe versprach mir Sicherheit, meine Fingerkuppen über die Gravierungen des Griffes zu streichen beruhigte mich. Hinter mir zückten die anderen Jäger ebenfalls ihre Waffen.
Lange Zeit folgte ich den klaren Wildschweinspuren in der aufgeweichten Erde. Immer wieder schoss mein Blick in den Himmel. Den meiner Gefährten spürte ich zwickend in meinem Nacken. Innerlich fluchte ich, verfluchte Arul, die Erdgeister und die abwesenden Götter.
Dann zogen sich die Spuren verschmiert durch den Matsch und verschwanden vollkommen. Gras war aus der Erde herausgerissen worden. Mein Herz hämmerte. Nur eine Kreatur konnte ein ausgewachsenes Wildschwein vom Boden pflücken wie reifes Obst vom Baum.
Ich taumelte einen Schritt zurück, stieß gegen jemanden. Harun hielt mich, bevor ich fallen konnte. Der Schock in ihren Augen, als sie die Spuren erkannte, bestätigte meine Befürchtung.
Schneidendes Krächzen von Krähen schallte durch die feuchtkalte Luft. Ich erschrak, warf meinen Kopf herum. Wie blasse Schatten flog die Schar auf. Waren dort in der Ferne Bäume? Die Schemen inmitten des Nebels und der Dämmerung könnten genauso eine Täuschung meiner müden Augen sein. Krähen bedeuteten Aas oder Menschen. Beides könnte vernichtend sein.
Harun wandte sich an die Jäger, sprach ruhiger, als ich es gekonnt hätte. »Wir sollten uns ein Nachtlager suchen und morgen weitermachen.«
Ich deutete mit meinem Beil auf die Baumreihe. »Wir werden dort Schutz suchen.«
Hier zu nächtigen, war unklug, doch hatte ich die Jäger bereits zu weit geführt. Uns blieb keine andere Wahl. Wenn ihnen etwas zustoßen würde, wäre es allein meine Schuld.
Geduckt huschten wir über die Wiese, entgegen dem Wind aus Nordwesten, das Gras um unsere Knöchel seufzend. Vor uns wuchsen die Laubbäume zu einem Wäldchen und das Wäldchen zu einem dichten Wald. Was auch immer die Krähen aufgescheucht hatte, war verschwunden. Vielleicht ein Bär oder ein Luchs. Oder ein Wyvern.
Ich schob den Gedanken fort, kämpfte mich durch das Unterholz, konnte dennoch hektische Blicke zwischen den dicken Baumstämmen nicht unterlassen. Bunte Blätter raschelten an ihren Ästen, die einzigen Farbflecken in dieser trüben Welt. Selbst Haruns rotbrauner Haarschopf glomm dumpf, ein verschwommenes Leuchtfeuer, dem ich folgte. Die langen Strähnen hatte ich ihr am frühen Morgen geflochten und mit einem Lederband zusammengebunden, so wie sie mir meine.
Als wir einen geeigneten Platz für unser Nachtlager im Schutze einer gewölbten Felswand gefunden und ein kleines Feuer entfacht hatten, war der Regen abgeklungen. Die Nacht umschlang uns. Trotz der willkommenen Wärme konnten die Flammen weder meine Tunika noch meinen Umhang trocknen. An die Felswand gelehnt zerrte ich mit den Zähnen an salzigem, getrocknetem Fisch und altem Brot. Karges Essen, das mir dennoch bleiern im Magen lag.
Tiefer in Iskállir einzudringen, wäre zu gefährlich. Was, wenn wir auch morgen auf kein Wild trafen? Die Fünf Stämme mussten ihre Vorräte miteinander teilen, aber wir konnten nur teilen, was wir besaßen. Und der Winter stand uns noch bevor.
Eines jedoch würde sich nie ändern. Die Opfer, die alle Stämme unserem Oberhaupt bringen mussten. Die größte Ehre, nannten sie es. Der hohe Preis für den Schutz eines Halbgottes.
Nein, daran durfte ich nicht denken, nicht an sie. Ich lauschte den geflüsterten Gesprächen der anderen, dem leisen Summen eines Liedes von Hór neben mir, bis die Erschöpfung mich übermannte.
* * *
Ein Rufen riss mich aus dem Schlaf. Mein Name. Wankend kam ich auf die Beine, mein Herz rasend wie mein Blick über unser Lager. Sanftes, blaugraues Dämmerlicht schlich in den Wald hinein. Um das schwach rauchende Lagerfeuer herum erwachten die anderen.
Harun. Sie fehlte, hatte mich nicht zur Ablösung der Wache geweckt. Ich rief nach ihr, meine Stimme schrill. Entferntes Klirren von Eisenklingen war die Antwort. Ein grauenhaftes Klagelied.
Die Dvangnir. Sie waren hier. Eine Begegnung mit ihnen war noch nie kampflos ausgegangen. Auf meinem rechten Unterarm, inmitten meiner Tätowierung, trug ich den Beweis in Form einer Narbe dafür.
»Waffen«, schrie ich, schnappte mir meinen Bogen, wartete nicht auf die Jäger. Im Sprint band ich den Köcher an meinen Gürtel. Meine Finger waren fahrig.
Geäst zerbrach unter meinen Sohlen. Ich sprang über einen umgestürzten Baum, überzogen mit Moosen und Fungi. Stimmen riefen durcheinander. Die anderen folgten mir dichtauf, hinaus aus dem Wald und auf die nebelverhangene Wiese. Abrupt blieb ich stehen, keuchte.
Gestalten erhoben sich in der grauen Luft. Schlichen von allen Seiten auf uns zu wie die aasfressenden Krähen am Tag zuvor. Vierzehn, fünfzehn, sechzehn. Sie trugen Kettenhemden und Rundschilde, die weiß und hellblau bemalt waren. Dvangnir-Krieger. Das Wyvern-Volk.
Ein gezischter Fluch wich durch meine Lippen. Mir wurde schwindelig. Was habe ich getan? Wieso habe ich die Jäger hierhergeführt?
Nicht fern von mir lag ein regloser Schemen, fuchsrotes Haar im tannengrünen Gras. Harun.
Ein Mann kniete auf ihr, die Klinge besudelt mit dunklem Blut. Mein Herz zerriss, meine Beine drohten, mich zu Boden zu zerren. Ich schrie, aber aus meinem Mund entwich kein Ton.
Innerhalb eines Wimpernschlages lag mein Pfeil am Bogen, die Sehne bis zu meinem Wangenknochen gezogen. Ein einzelner, präziser Schuss. Ich verfehlte mein Ziel nie. Menschen sind bestialischer als Tiere, hatte mir meine Mutter einst erzählt. Mit einem erbitterten Schuss fallen sie genauso.
Die Eisenspitze meines Pfeils durchbohrte das ungeschützte Fleisch seiner Kehle, einen Fingerbreit über seinem Kettenhemd. Die Wucht warf den Mann zurück. Ich hatte sein Herz hinter den kleinen Eisenringen zerfetzen wollen. Es sollte schmerzen wie meines.
Brüllend fielen die Aasfresser über uns her. Rasselnd trafen sich ihre Klingen, Schwerter und Beile mit unseren.
Meinen Bogen in der Hand, rannte ich zu Harun, schlängelte mich durch die Kämpfenden, schlitterte auf der matschigen Erde.
Ein Mann sprang mir in den Weg. Das Schwert verfehlte meinen Kopf. Ich fiel auf ein Knie, zerrte mein Beil von meinem Gürtel. Seine Stiefelspitze traf meine Rippen, schien sie zu zersplittern, sein Schild krachte gegen meinen Arm. In meinem Handgelenk brach etwas. Heulend stürzte ich zu Boden. Ich schmeckte Dreck, rollte mich auf den Rücken, versuchte zu stehen, da nagelte er mich mit seinem Fuß auf der Brust fest.
Wilde Augen unter seinem Helm stachen in meine. »Aruls Pack«, spieh er aus, umfasste sein Schwert mit beiden Händen und stach zu.
Er keuchte. Aus seiner Kehle ragte eine blutverschmierte Pfeilspitze. Gerade rechtzeitig kroch ich davon, bevor er mich unter sich begraben konnte. Mein Blick fiel auf Hór, der am Waldrand mit seinem Bogen stand, mir zunickte. Sein zweiter Pfeil an der Sehne wanderte über das Schlachtfeld, fand jedoch kein Ziel, ohne seine Gefährten zu verletzen. Er zog sein Schwert und warf sich ins Gefecht.
Tote lagen auf der Wiese verstreut, färbten das Gras rot. Ich erstarrte. Eine Dvangnir-Frau hackte ihr Schwert in den Bauch einer Tyral-Jägerin. Disrik hatte einen Schild des Feindes erobert, schmetterte ihn in das Gesicht seines Angreifers. Das scharfe Knirschen von Klingen drang in meine Ohren. Ich wollte sie mir zuhalten, wollte fliehen.
Harun. Schmerz pochte in meinem rechten Handgelenk. Ich zwang mich auf die Beine, lief und fiel zwischen meiner Freundin und dem toten Mann ins feuchte Gras. Blut sickerte aus ihrer zerrissenen, rechten Schulter, durchtränkte ihre Tunika. Ihre Haut war aschen. Schwach flatterten ihre Lider. Sie starrte hinauf in den düsteren Wolkenhimmel.
Meine zittrigen Finger legte ich an ihre kühle Wange. »Harun, bleib wach.« Meine Stimme brach. Aus meinem Beutel holte ich ein sauberes Tuch, presste es auf ihre Wunde. »Es tut mir so leid. Ich … Ich hätte uns nicht –« Tränen stachen in meinen Augen. Ich kannte die Gefahren. Wieso hatte ich die Jäger dennoch hergeführt?
Ein winziges Lächeln stahl sich auf ihre Lippen. »Ich habe keine Angst. In Illdunheim werde ich …« Sie nahm einen tiefen, rasselnden Atemzug. »Werde ich Gyrdin wiedersehen.« Ihr Kopf kippte zur Seite.
Vorsichtig drehte ich ihn zu mir, stützte ihn. Nein, sie würde nicht in das Reich der Toten einziehen. Nicht, solange ich sie festhielt, sie schützte. »Sag das nicht. Ihr werdet leben, ihr beide.« Meine Lüge war bitter auf meiner Zunge, und sie wusste es.
»Odra –«
Ein markerschütterndes Brüllen zerfetzte die Luft. Nicht nur Harun verstummte, auch die Kämpfenden, die wenigen, die noch aufrecht standen. Mein Körper schien im eisigen Fjord zu versinken. Doch da war etwas anderes. Ein seltsames Summen, irgendwo in mir.
Tief über den wippenden Baumwipfeln hinweg schwebte ein riesiger Schatten. Beinahe geräuschlos bewegte sich der Wyvern, zog einen langen, spitz zulaufenden Schwanz hinter sich her. Kurz und kräftig schlugen seine mächtigen Schwingen, bevor er sich auf der Wiese niederließ. Heftig war der Windstoß, der uns erfasste, zerrte an unseren Haaren, unserer Kleidung. Erneut überkamen mich panische Gedanken. Lauf. Flieh. Aber ich konnte Harun nicht im Stich lassen. Ich klammerte mich an sie.
Vom Rücken des silbrig geschuppten Wyverns glitt elegant eine Frau. Schwarze Kriegsbemalung maskierte ihre obere Gesichtshälfte und ihren hochgewachsenen Körper ummantelte eine Lederrüstung. Ravnarr, Stammesfürstin der Dvangnir, Bändigerin der Wyvern.
Forscher und rascher wurden ihre Schritte, dann stürzte sie auf mich zu. Ihre Hand entblößte die Schneide eines Schwertes. Benommen sprang ich auf die Füße, ergriff mein Beil mit den linken Fingern. Wie sollte ich kämpfen mit nutzlosen Händen?
»Tötet sie alle«, schrie Ravnarr ihren Kriegern zu. Hinter ihr brach erneut das Gefecht aus, und ihre Klinge wollte mein Gesicht zerschneiden.
Nur mit einem Sprung zur Seite konnte ich mich retten. Immer und immer wieder wich ich ihren Hieben aus, parierte ungeschickt, betete, sie würde bald ermüden.
»Kämpfe, Feigling«, knurrte sie. Ihr Gesicht war von Zorn verzerrt. Blonde Strähnen klebten auf ihrer schwarzbemalten Stirn.
Ich atmete gegen den Schmerz, trat nach ihren Beinen. Sie packte meinen Zopf im Nacken, legte mir ihr Schwert quer über die Kehle. Für einen flüchtigen Moment glaubte ich, ein Flackern in ihren eisigen Augen zu erkennen. Verwirrung? Zweifel?
»Ich will dich nicht bekämpfen«, brachte ich hervor, in meinem Körper ein brennendes Prickeln. »Sind nicht schon zu viele von unseren Völkern gestorben?«
»Für Reue ist es zu spät.« Sie schlug mir ins Gesicht.
Ich stürzte in den Matsch. Vergrub mein gebrochenes Handgelenk unter meinem Gewicht, heulte auf. Blutgeschmack entfaltete sich auf meiner Zunge.
»Athkandrú!«, schrie Ravnarr. »Vánal.« Feuer.
Furcht lähmte mich, meine Gedanken. Kalter Schlamm tränkte meine Kleidung. Ich zitterte am ganzen Leib.
Mit einem tiefen Grollen in der Kehle kam der Wyvern auf mich zu, gestützt auf seine Flügel mit messerlangen Klauen. Hörner ragten aus seinem massigen Schädel und im geöffneten Maul bleckte er seine Zähne. Sein heißer, fauliger Atem blies über mein Gesicht. Ich kniff meine Augen zusammen, horchte auf dieses seltsame Surren in mir. Spürte ich die Macht dieser Kreatur?
Mein Herz pochte voller Furcht. Ich werde sterben. Werde in Illdunheim einziehen und der Totengöttin begegnen.
Eine Ewigkeit schien zu verstreichen. Wieso geschah nichts? Oder war ich längst tot, das Feuer so verheerend, dass ich den Schmerz nicht einmal gespürt hatte?
Ich öffnete die Augen. Der Wyvern schnaubte und wandte sich ab. Nur die düstere Wolkendecke lag über mir. Mein Keuchen durchdrang meine wirren Gedanken.
»Rakas Sichel«, fluchte Ravnarr. »Rückzug!« Ihre Stimme schallte über die Wiese. Sie lief zu ihrem Reittier, kletterte über den ledrigen Flügel hinauf, und zusammen schwangen sie sich in die Lüfte. Ihre verbliebenen Krieger stürzten in den Wald.
Wie betäubt starrte ich ihnen hinterher. Weshalb zogen sie sich zurück? Was war geschehen?
Ich wagte nicht, zu unseren Überlebenden zu blicken. Wie viele hatten wir verloren? Den Schmerz in meinem Handgelenk ignorierend, kroch ich zu Harun, küsste ihre Wange und versprach ihr, sie sicher nach Hause zu bringen.
Hór starb, bevor wir unser Dorf Grimvir erreichten. Seinen Körper begruben wir mitsamt seinen Waffen und vollzogen die Riten, damit Raka, die Göttin der Toten, ihn in Illdunheim empfangen konnte. Auf der gesamten Heimreise begleitete mich sein gesummtes Lied in meinen Gedanken. Er hatte mir das Leben gerettet.
Acht weitere Jäger waren von den Dvangnir niedergestreckt worden. Niemand war unverletzt davongekommen. Haruns Wunde hatte ich mit einem glühenden Messer versiegelt, aber sie war kraftlos und blass.
Nach sieben beschwerlichen Tagen wuchs vor uns die Schlucht am Fuße der Skeyjafjör, der Ewigen Berge, hinter der unser Dorf verborgen lag. Furcht und Erleichterung verflochten sich in meinem Inneren. Ich war zu Hause, doch bald wusste der gesamte Stamm, weshalb unsere Jagd gescheitert war. An meinen Händen klebte Blut.
Nur ein einzelner Pfad, der durch die Felsen mäanderte, führte zu unserem Dorf Grimvir. Im Westen schmiegte es sich an einen Fjord, der wiederum ins Eismeer mündete, in dem Geschichten zufolge weiter im Norden riesige Eisschollen und -berge schwammen. Niemand wagte sich so weit hinaus. Niemand wollte den Kreaturen begegnen, die dort hausten.
Das Eingangstor, verkeilt zwischen den Felswänden, wurde uns von zwei Wachen geöffnet. Es dauerte nicht lange, da scharten sich die Menschen um uns, wollten wissen, was geschehen war. Überlappende Stimmen überschwemmten mich, klagende Rufe drückten mich wie eine Strömung unter Wasser. Ich kämpfte gegen Schwindel, suchte einen Fluchtweg.
Dichte Wolken hingen tief. Das gesamte Dorf war in düsteres, gelbgrünes Licht getaucht. Es roch nach Regen, nach einem Sturm. Meine Haut kribbelte. War dies eine Warnung der Erdgeister? An mich?
Unter das Summen mischte sich die vertraute Stimme meiner Ziehmutter Irava. Sie zog mich aus der Menge, umarmte mich fest. An ihrer Brust weinte ich stumm.
»Es ist meine Schuld. Ich habe sie auf die andere Seite des Hílrajü geführt.«
Irava strich mir über den Hinterkopf. »Dich trifft keine Schuld, Ránavai. Haben die Dvangnir euch angegriffen?« Ich nickte.
»Odra Aschetochter.« Der harsche Gruß ließ mich zusammenfahren.
Rasch trocknete ich meine Tränen und wandte mich an unsere Stammesfürstin Vanadis. Schützend hielt ich mir mein pochendes Handgelenk.
Aschetochter. Vanadis selbst hatte diesen Beinamen gewählt, wie sie jedem im Alter von dreizehn Jahren einen Beinamen verlieh, in einer Zeremonie der Tyral, in der wir die Kinder, die wir waren, hinter uns ließen und zu Erwachsenen wurden. Aschetochter, weil ein verängstigtes Mädchen in den Trümmern eines von Wyvern niedergebrannten Dorfes gefunden worden war. Damals war ich neun Jahre alt gewesen, vielleicht zehn. Ich besaß keine Erinnerung an den Tag, noch wie mein Leben davor ausgesehen hatte.
Vanadis’ scharfer Blick begutachtete mich. Eine prunkvolle Fibelkette hielt ihren blauen Umhang und auch ihr blondes Haar war mit Bronzeperlen verziert. Sie und Irava hatten ihre Kindheit miteinander verbracht.
»Folge mir«, sagte Vanadis. »In Aruls Halle wirst du uns berichten, was vorgefallen ist.«
»Lass sie doch zuerst zur Ruhe kommen.« Irava hielt mich schützend, als wäre ich ein Kleinkind.
»Nein. Arul will jetzt wissen, wieso unsere Jäger so lange verschwunden waren. Und ich auch.«
Meine Hände wurden feuchtkalt, aber ich antwortete mit einem Nicken. Vanadis hatte mich zur Anführerin der Jäger ernannt, nun musste ich auch wie eine hinter meinen Entscheidungen stehen. Ich suchte in der Menge nach Harun, aber jemand musste sie bereits fortgebracht haben.
Aruls Halle thronte auf dem höchsten Hügel im Dorf. Ein zweistöckiges Langhaus, das Strohdach glühend in der Sonne, welche ein Loch in die Wolkendecke gerissen hatte. In die gekreuzten Firstpunkte des Daches waren Knotenmuster und Tiere geschnitzt, manche von ihnen rot und gelb bemalt.
Ein sinkendes Gefühl wuchs in meiner Brust. Allzeit vermied ich es, in die bloße Richtung der Halle zu sehen. Nur ein einziges Mal hatte ich sie betreten, vor wenigen Monden, als Vanadis meine neue Position verkündete. Uvalr, ein grandioser Bogenschütze, war seinen Verletzungen erlegen, nachdem auch er auf die Dvangnir gestoßen war.
Vanadis erklomm vor mir den Pfad, blickte über ihre Schulter, und ich schloss zu ihr auf. Begleitet wurden wir von vier ihrer Kriegerinnen, gekleidet in ihren Lederrüstungen, an ihren Gürteln Eisenschwerter mit kunstvoll geschmiedeten Knäufen. Wachen öffneten uns die Flügeltür. Drinnen begrüßte uns flackerndes Flammenlicht, Wärme, die mir überraschend ins Gesicht schlug. Wie ein Bach zog sich das Herdfeuer durch den Steinboden, spaltete die Halle. Ein innerer Balkon verlief ringsherum unter dem hohen Gebälk. Mehrere Türen führten zu angrenzenden Räumen.
Suchend huschte mein Blick hin und her, aber die Fehvéki in ihren weißen Gewändern waren nicht hier. Junge Frauen, die Arul erwählte, um ihm in seiner Halle zu dienen, bevor er sie an die Wyvernkönigin opferte. Zweimal im Jahr fand dieses grausame Schauspiel statt; vier Tage nach der Sommer- und Wintersonnenwende. Denn diese Bestie war, was unseren Frieden bedrohte. Sie konnte den Hílrajü durchbrechen und musste besänftigt werden. Es war falsch, widerwärtig, und doch die einzige Lösung.
Auch Gyrdin lebte nun hier. Einst eine begnadete Heilerin, Haruns ältere Schwester und meine Geliebte, bevor sie uns allen im vergangenen Frühling genommen wurde. Der bittere Preis, den so viele Frauen irgendwann zahlen mussten.
Wie erging es ihr? Hatte sie große Furcht? Ich wollte sie sehen, sie halten und nie mehr loslassen.
Mein Herz zog sich zusammen und mein Zorn drängte mich zu wüten wie damals, als man sie mir aus den Armen gerissen hatte. Besäße ich die Macht, würde ich diesen widerwärtigen Kreislauf zerschlagen. Aber selbst ein Halbgott konnte die Wyvernkönigin nicht töten.
Nur mit Mühe behielt ich die Fassung. Meine Fingernägel hatten halbmondförmige Kerben in meine Handflächen gegraben.
Arul erwartete uns. Er saß auf seinem Thron aus Eichenholz, auf dessen Rückenlehne links und rechts geschnitzte Bärenköpfe prangten. Gewandet war er in einem roten Kaftan, prächtig bestickt mit den Rankenmustern der Tyral. Blassblondes Haar umrahmte seine bärtigen Wangen. Ein junger Mann, dem die Zeit nichts anhaben konnte. Ein Halbgott, der die Stämme Tyral, Riskar, Kvila, Bravik und Fjatu unter sich vereint hatte, als er mit Magie vor zwanzig Jahren den Hílrajü erschuf. Nur wenige Monate zuvor waren noch unzählige Döfer den Wyvern zum Opfer gefallen. Arul hatte so vielen Menschen ein angstfreies Leben ermöglicht.
»Ich sehe, unsere Jäger sind zurückgekehrt«, drang seine klare Stimme durch die Halle.
Vanadis trat neben seinen Thron, verneigte sich. »Großer Arul.«
Ihre Kriegerinnen blieben hinter mir, als stünde ich hier als Angeklagte eines unverzeihlichen Vergehens.
Flüchtig blickte ich zurück. Sank dann auf die Knie, mein Blick auf den Steinboden geheftet. Luft staute sich in meiner Lunge und ich blies sie leise durch meine Lippen. »Es gab einen Vorfall.«
»Einen Vorfall?« Er sprach sanftmütig. Nichts schien ihn je aus der Ruhe zu bringen, dennoch schwang etwas Bedrohliches in seiner erhabenen Stimme, das mich stets schaudern ließ. »Erhebe dich und komme näher.«
Ich tat wie befohlen, versuchte, meine Gedanken zu sortieren. Ein lautes Knacken im Herdfeuer durchbrach die unheimliche Stille, erschreckte mich. »Ich bin der Fährte eines Wildschweins gefolgt. Wir haben erneut den Hílrajü überquert.«
»Wozu?«
Meine verschränkten Finger auf meinem Rücken verkrampften sich. Schmerz zuckte durch mein rechtes Handgelenk. »Ich habe keinen anderen Weg gesehen. Es wird immer schwieriger, in unseren Wäldern Wild zu fangen.« Meine Stimme gewann an Grimmigkeit. Ich musste vorsichtig sein.
Arul brummte. »Was ist dann geschehen?«
»Die Dvangnir sind über uns hergefallen, als wir schliefen. Harun ist verletzt. Hór ist tot und Faja und Kuthor und …« Ich biss mir auf die bebende Unterlippe.
Hinter mir keuchte eine der Kriegerinnen. Geflüster folgte. Vanadis’ Blick glitt zu ihr, fürsorglich wie der einer Mutter. Kuthors Gemahlin hatte vor Kurzem ihr erstes Kind bekommen.
Die trockene Wärme der Halle erreichte mich nicht mehr. Mein Inneres wurde zu Eis. Erneut sah ich mich Auge in Auge mit dem Wyvern, roch den fauligen Atem. Die Stammesfürstin der Dvangnir hatte versucht, mich bei lebendigem Leib zu verbrennen. Wieso hatte ihr Biest mich verschont? Niemand überlebte eine Begegnung mit ihr.
Einige Herzschläge lang überlegte ich, auch von diesem Vorfall zu erzählen, entschied mich dann dagegen. Ich wollte nicht mehr Aufmerksamkeit auf mich ziehen. Ich war entkräftet, sehnte mich nach der Stille ohne Menschen.
Arul stand von seinem Thron auf. Eine lange Kette mit kleinen Goldscheiben klimperte gegen seine Brust. Ein stechender Laut in meinen Ohren. »Sieh mich an, Odra Aschetochter. Wie viele haben überlebt?«
Widerwillig folgte ich auch diesem Befehl. Ich musste meinen Kopf in den Nacken legen, um ihm ins Gesicht zu sehen. Direkt seinen Blick zu erwidern, wagte ich nicht. »Fünf.«
»Eine bedauerliche Zahl. Aber die Schuld ist nicht deine. Was du getan hast, hast du für die Tyral getan.« Er legte eine Hand auf seine Brust. Ringe blinkten im Schein des Feuers. »Húva ajast.«
Ich schluckte hart. »Húva ajast.«
»Ruhe nun. Du hast es dir verdient.«
In vielen Nächten träumte ich von diesem verhängnisvollen Tag, selbst noch zwei Monde später. Träumte von glühenden Augen, von heißem Atem, der mir das Fleisch von den Knochen brannte. Spürte die eisigen Finger der Wyvernbändigerin, die meine Kehle zerdrückten, und eine Pfeilspitze, die aus meiner Brust ragte.
Auch an diesem Morgen erwachte ich schweißgebadet, in meiner Nase der Geruch von Rauch. In diesem Traum hatten Wyvern unser Dorf niedergebrannt, selbst der Fjord stand lichterloh.
Seufzend rieb ich mir das Gesicht. Im dämmrigen Licht schwenkte mein Blick zu den anderen drei Betten im hinteren Teil unseres Torfhauses. Sie waren leer. Ich schälte mich leise fluchend aus den warmen Fellen und klaubte eine lange Tunika und ein mit Mustern besticktes Überkleid aus der Holzkiste am Fußende meines Bettes. Um meine Taille befestigte ich einen breiten, brettchengewebten Gürtel aus dreierlei Farben. Wollsocken und Winterschuhe wärmten meine kalten Füße. Mit meinem Knochenkamm entwirrte ich mein Haar, folgte dann den gedämpften Stimmen hinter der hölzernen Abtrennung in den vorderen Teil der Hütte.
»Wieso hat mich niemand geweckt?« Vergebens verbarg ich meinen Unmut.
An einem Tisch entlang der Wand saßen Irava, ihr älterer Bruder Jondir und Harun. In ihren Händen Messer, die Schwarzwurzeln, Zwiebeln und Lauch zerhackten.
»Du hast die vergangenen Tage hart gearbeitet«, erwiderte Irava. »Wir wollten dich ruhen lassen.« Fältchen gruben sich in ihre Wangen, als sie mir zulächelte. Ihr rechtes Bein hatte sie von sich gestreckt; eine schlecht verheilte Verletzung, die sie sich vor einigen Jahren im Kampf gegen die Dvangnir zugezogen hatte.
Ich trat an das lodernde Feuer in einer Grube im Steinboden, wärmte meine Finger im weißen Dampf, der aus einem Kessel waberte. Der kräuselnde Rauch der Flammen entfloh durch ein Loch in der Decke.
Jondir beäugte mich amüsiert. »Du siehst zerzaust aus. Du solltest dich im Fjord erfrischen gehen.«
Ich schnitt eine Grimasse, schauderte. »Ein heißes Bad wäre mir lieber.«
Harun, die ihnen schmunzelnd, wenn auch schweigend gegenübersaß, schnitt ungeschickt mit der linken Hand eine Schwarzwurzel in Stücke. Langsam war sie wieder zu Kräften gekommen, die zerfetzten Muskeln in ihrer Schulter würden jedoch nie vollständig heilen. Nie mehr würde sie einen Pfeil schießen können. Als Schützin war sie nutzlos.
Der Bruch in meinem Handgelenk war rasch verheilt. Was blieb, waren die Schuldgefühle. Indem ich die Jäger hinter den Hílrajü geführt hatte, hatte ich nicht nur Haruns Leben zerrüttet. Das gesamte Dorf betrauerte neun Schwestern und Brüder.
»Odra.« Sanft zog Irava an meiner Hand, drückte mir eine Holzschale mit halbierten Zwiebeln in die Arme. Der scharfe Geruch biss in meinen Augen. »Werfe sie in den Kessel, und dann hol uns einen Eimer Wasser.«
Wenn sie lächelten, glichen sie und Jondir einander. Beide besaßen ein weiches Gesicht und einen braunen Schopf, durchzogen mit grauen Strähnen. Rabenschwarz war mein eigenes Haar, meine Haut hellbraun, nicht rosig wie ihre. Dass Irava und ich nicht blutsverwandt waren, war kein Geheimnis. Doch kannte ich keine andere Mutter außer ihr.
Ich küsste ihre Stirn und stürzte die Zwiebeln in das kochende Wasser. Gehüllt in einen Wollmantel mit Kaninchenfell, trat ich hinaus in die eisige Morgenluft, einen Eimer unter dem Arm. Raureif glitzerte auf den Grashalmen, und vereinzelte Sonnenstrahlen blinzelten durch die dünne Wolkendecke auf Grimvir hinab.
Auch an kalten Tagen wartete Arbeit auf die Tyral. Tiere, die gefüttert werden wollten. Werkzeuge und Waffen, die in schmorenden Schmieden mit Hämmern gefertigt oder repariert wurden. Fischerboote, die, bevor der wahre Frost den Fjord überzog, auf Strand gesetzt werden mussten.
Ich schritt den Weg zwischen den Torfhäusern entlang, die ich im Traum hatte brennen sehen. Oder waren es Erinnerungen, die zurückkamen? Der Gedanke schwoll unangenehm in meinem Magen an.
Unter meiner Kapuze verbarg ich mein Gesicht, mied es, den Menschen in ihre zu blicken. Erst gestern hatte ich mich erneut bei Hórs trauernder Frau entschuldigen müssen, wohl wissend, dass keine Worte ihr Leiden lindern konnten.
Weißer Dampf wich zittrig aus meinem Mund. In der Mitte des Dorfes, vor dem Langhaus der Taverne, warf ich den Eimer des Brunnens den Schacht hinab, lauschte dem vertrauten Plätschern. Ich kurbelte ihn hoch und schüttete das Wasser in meinen Eimer, während mein Blick unweigerlich hinauf zu Aruls Halle glitt. Jemand schien mein Herz zusammenzudrücken.
»Odra.« Haruns Stimme hinter mir ließ mich zusammenfahren. Rotgesichtig kam sie vor mir zum Stehen. Im gefrorenen Gras knarzten ihre Schritte. Sie hielt ihren rechten Arm seltsam angewinkelt an ihrem kurvigen Körper, wollte mir dennoch den Eimer abnehmen. Ich verkeilte ihn zwischen meinen Füßen. »Irava braucht kein Wasser.«
»Ich weiß.« Die Kochgewohnheiten meiner Mutter kannte ich wie das geschmeidige Holz meines Bogens unter meinen Fingern. Sie wollte mich mit einfachen Aufgaben ablenken.
Kein Tag verging, an dem ich nicht versuchte, die dunklen Gedanken zu ersticken, wie sie drohten, mit mir dasselbe zu tun. Die meiste Zeit verbrachte ich in den Wäldern, in der Hoffnung, auf Wild zu stoßen. Nachdem ich am Abend zuvor mit der raren Ausbeute von vier Kaninchen und zwei Fasanen heimgekehrt war, half ich Hórs Schwester und einigen Nachbarn ihre neue Scheune fertigzustellen, hatte Holzbalken gestemmt und Nägel hineingeschlagen. Meine Arme schmerzten.
Auf Haruns Gesicht lag Sorge. »Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, du meidest mich. Weil ich ein Krüppel bin?«
»Sag das nicht.« Schwelendes Unbehagen erklomm mein Gesicht.
»Du bist noch stiller als gewohnt. Was quält dich so?«
»Der kommende Winter.« Meine Ausrede war keine Lüge. Der Gedanke an die Wintersonnenwende erfüllte mich mit kaltem Grauen. Aber darüber sprachen wir nicht. Nicht mehr.
Über unseren Köpfen flog eine Schar aufgescheuchter Spatzen in Richtung des Fjords. Einige Herzschläge lang folgte mein Blick ihnen, bevor Harun meinen Arm berührte.
»Ich möchte nicht, dass dieser Unfall uns spaltet wie eine Axt das Feuerholz. Wir haben überlebt, was gibt es Wichtigeres?«
Unfall. Ich biss meine Zähne aufeinander. In meinem Inneren pochte nun etwas anderes. Hass. Hass auf die Frau und ihre Bestie, die mich in meinen Träumen heimsuchten, deren Krieger beinahe Harun getötet hätte.
»Es tut mir leid«, sagte ich. »Ich kann nicht aufhören, an diesen Tag zu denken. Ich hätte auf die anderen hören sollen.«
»Und sind wir dir nicht gefolgt?« Sie nahm meine Hand, drückte sie. »Egal, wie lange du darüber grübelst, die Vergangenheit kann niemand beeinflussen. Dort leben nur die Geister, die wir nicht länger sind.«
Meine Brust zwickte und bevor ich etwas erwidern konnte, lag ich schon in ihren Armen. Ich hielt mich an ihr fest.
»Wage es ja nicht, zu denken, du wirst mich je wieder los.« Ein Schmunzeln lag in ihren Worten, verhalf mir ebenfalls zu einem Lächeln.
Harun war das erste Kind, dem ich vor elf Jahren begegnet war, als Irava mich nach Grimvir gebracht hatte. Südlich des Hílrajü, in einem von Wyvern zerstörten Dorf, hatten sie und eine Gruppe von Kundschaftern mich gefunden. Ich war die einzige Überlebende gewesen. Ganz gleich, wie sehr ich versuchte, Bilder aus meiner Kindheit hervorzurufen, da war nur das aufgeweckte, rothaarige Mädchen, das mir mein Haar flechten wollte.
Nebeneinander schlenderten wir durch unser Dorf, gaben den Wassereimer bei Irava ab. Die Sonne strahlte ohne Wärme auf unsere Häupter, schmolz dennoch den Raureif. Zurück blieben glitzernde Tropfen auf den Grashalmen. Wenn die Erdgeister gnädig waren, würden sie uns einen milden Winter schenken.
»Irava will meine Mutter zum Essen einladen«, sagte Harun, als wir am grauen Strand auf einer Bank aus groben Holzbalken saßen. Vor uns erstreckte sich der dunkelblaue Fjord.
Ich schob meine kühlen Finger zwischen meine Oberschenkel. »Hast du schon mit ihr geredet?«
»Nein. Das letzte Mal flehte sie mich an, wieder nach Hause zu kommen.« Sie lächelte traurig. »Mir gefällt es bei euch.«
»Mit dir haben Irava und Jondir eine bessere Gesellschaft als mit mir.«
»Meine Witze sind besser als deine, das ist wahr.«
Und sie schaffte es erneut. Ich lachte wie ein Kind, erkannte meine eigene Stimme kaum. Es tat so gut, dieses Vertraute, beinahe Vergessene. Meinen Kopf lehnte ich gegen ihren Arm, beobachtete das funkelnde Spiel von goldenen Sonnenstrahlen auf dem stillen Fjord. Die Klippen ragten steil empor, und auf ihnen thronten üppige Nadelwälder.
Hinter uns schallte das Hämmern der Bootsbauer. Vor einigen Wochen überraschte ein verheerender Sturm die Fischer auf offener See. Vier Boote zerschellten an den Felsen, eines verschwand gänzlich, mitsamt Besatzung. Die Natur war wahrlich ungezähmt und grausam wie die Wyvern.
Was lag wohl jenseits des Fjords, auf der anderen Seite des Eismeeres? Warteten dort fremde Welten und aufregende Abenteuer? Doch würde ich überhaupt meine Heimat verlassen wollen, wenn die Gelegenheit danach rief?
»Ich werde sie einladen«, sagte Harun entschlossen und zerrte mich in die Wirklichkeit zurück. »War ich zu harsch zu ihr? Ich bin noch immer ihre Tochter. Aber seitdem Gyrdin …« Sie hielt inne, brauchte ihre Gedanken nicht auszusprechen. Ihr Schmerz war auch meiner, selbst nach all den Monden.
Die Wintersonnenwende war in einigen Wochen. Nur vier Tage danach fand die nächste Opfergabe statt. Und es gab nichts, was wir dagegen tun konnten. Niemand stellte sich gegen den Halbgott, der über uns herrschte, und überlebte.
Endlos erstreckte sich das dunkle Meer über den westlichen Horizont. Das Klatschen der Wellen, wie sie sich schäumend an den tückischen Felsen in Ufernähe brachen, war der einzige Klang in meinen Ohren.
Ich hockte auf einer niedrigen Klippe, die wenige Meter unter mir im Sand verlief, und ein schneidender Windstoß blies mir die Fellkapuze vom Kopf. Am grauen Strand sonnten sich hunderte Seehunde. Tiere, die man an unseren Küsten im Norden nur selten fand. Erneut hatte ich den Hílrajü überquert und Iskállir betreten, war für mehrere Stunden südwärts gewandert, allein. Denn ich durfte unsere Jäger nicht ein weiteres Mal in Gefahr bringen. Doch wir mussten genügend Fleisch pökeln und in unseren Eiskammern einlagern, bevor der Winter uns mit seiner Grausamkeit überraschte.
Meine Finger legte ich um den Bogen auf meinem Rücken. Ich hielt inne. Seehunde hatte ich noch nie erlegt. Konnten meine Pfeile ihre Haut durchdringen? Würde ich überhaupt eines der Tiere nach Grimvir schleppen können?
Lange Gräser wisperten um meinen Körper. Mein Blick wanderte über meine rechte Schulter, wo der Hílrajü schon längst außer Sicht war, dann hinauf zum Himmel. Verzweiflung hatte mich an diesen Ort gelockt. Verdammte Närrin! Hier bin ich leichte Beute für einen Wyvern. Oder für die Dvangnir.
Ich schlug meine Faust auf die weiche Erde. Riss eine Handvoll Gras heraus und zerrieb es, bis der süßliche Geruch in meine Nase stieg und meine Haut sich grün färbte.
Meinen Kopf legte ich in den Nacken. Am Himmel zogen nur vereinzelt schiere Wolken. Wie viele Wyvern in diesem Land die Lüfte beherrschten, wie viele die Stammesfürstin der Dvangnir gezähmt hatte, wusste niemand, aber sie alle unterlagen der Wyvernkönigin. Vjaramal, deren Berghöhle irgendwo in den Skeyjafjör lag.
Mit einem frustrierten Laut in der Kehle erhob ich mich und schob meine Finger in die warmen Fäustlinge. Ich schlitterte die von der Natur geschliffenen Felsen hinab, kam auf dem Sand zum Stehen. Er war noch feucht von der Flut und bröckelte unter meinen Sohlen. Die Luft roch nach Algen, die auf dem Strand verteilt lagen, nach Salz, den ich auf meinen Lippen schmeckte.
Vorsichtig näherte ich mich den Seehunden durch die aufragenden, schwarzgrauen Felsen. Das Fell mancher glänzte in der Sonne. Falls sie mich bemerkt hatten, waren sie unbeirrt, dennoch blieb ich auf Abstand.
Wie ein Stein in den Gezeiten versank meine Hoffnung. Selbst mit Seilen würde es Tage dauern, bis ich einen dieser Körper bis nach Grimvir gezerrt hatte.
Mein Magen grollte. Entnervt setzte ich mich mit geräuchertem Fisch in den Sand, meinen Rücken an die Felsen gelehnt, meinen Blick hinaus auf die tosenden Wellen gerichtet. Irgendwo dort draußen lagen ferne Länder, fremde Kulturen. Ein seltsamer Gedanke.
Als Mädchen hatte ich die Geschichten über die einstigen Seefahrer geliebt. Jedes Kind im Tal der Kalas Undras, das Tal der ersten Menschen, kannte sie. Auf großen Langbooten, die Bugs dekoriert mit geschnitzten Tierköpfen, segelten einst die Fünf Stämme über das raue Meer, trieben Handel mit Ländern weit im Westen und Süden.
Akránvir hatte all das verändert. Der Götterkrieg, der auch ihr Untergang gewesen war. Gottheiten starben oder hatten sich aus Herjurheim, dem Land der Sterblichen, zurückgezogen. Wir sprachen nur noch die Namen weniger aus. Die Erdgeister waren nun die wahren Herrscher über unsere Welt, über Wind und Wetter.
Ohne den Schutz der Götter hatten sich die Seefahrer nicht mehr auf das Meer hinausgewagt und ihre Boote verwitterten. Ich kannte nur unsere Fischerboote. Wenn die Erzählungen die Wahrheit sprachen, waren die Langboote doppelt oder dreifach so groß gewesen. Gab es auf der anderen Seite des Meeres Länder, in denen wir sicherer waren, in denen wir uns weder vor Wyvern noch Hunger fürchten mussten? Könnte ich meine Heimat einfach so verlassen?
In meine Gedanken schlichen sich fast vertraute Bilder von verkohlten Häusern. Nicht zum ersten Mal fragte ich mich, ob sie meine erste Heimat zeigten, oder ob es bloß eine Einbildung war, mein Versuch, mich zu erinnern. Manchmal dachte ich an dieses alte Leben, an die Frau, die mich geboren hatte, an den Vater, der mich geliebt hätte. Irgendwo in Iskállir lag meine Vergangenheit. Mein Blut war das der Dvangnir, des Feindes, und es wäre eine Lüge, zu behaupten, das Leben als Tyral wäre ein besseres. Wir, die nur wegen grausamen Opfergaben lebten.
Ein Kreischen wie Eisenklingen in einer Schlacht zerriss die Stille. So laut, dass ich mir instinktiv die Ohren zuhielt. Selbst in meine Knochen schien es zu schneiden.
Panisch stoben die jaulenden Seehunde auseinander und ihre grauen Körper glitten in die Wellen.
Mein Herz raste. Ich sprang auf, kauerte mich zwischen die Felsen. Zerrte meine Kapuze hoch, wobei meine Fingerknöchel gegen den rauen Stein schabten. Ich zischte. Blutstropfen quollen hervor.
Ein Wyvern rauschte über das Meer hinweg. Er war nicht allein. Ihm folgte ein zweiter, weitaus größerer, schlug kräftig mit den silbernen Schwingen. Saß da jemand auf seinem Rücken? Waren dies Ravnarr, Anführerin der Dvangnir, und ihre gezähmte Bestie? Aus seinem Maul schoss eine Flammensäule; sie verfehlte den vorderen knapp.
Die Schuppen der kleineren Kreatur schimmerten dunkelgrün. Sie wankte, sackte tiefer über die Wellen. Mein Atem stockte. Fehlte ein Stück des Flügels?
Der silberne Wyvern holte auf, flog über dem anderen, krallte mächtige Klauen in seinen Rücken. Erneut schallte ein qualvolles Kreischen über den Strand. Mein Hinterkopf stieß gegen einen Felsen, als ich zusammenzuckte. Ich grub meine Fingernägel tief in meine Oberschenkel.
Die kleinere Kreatur riss sich los, kippte die Schwingen und machte kehrt. Ihre Hinterbeine schnitten durch die Wellen. Dunkles Blut floss vom Rücken hinab, vermischte sich mit dem Meerwasser.
Mit einem einzigen Flügelschlag erreichte ihn der Silberne und biss ihm den Kopf ab. Keuchend schlug ich meine Hände vor den Mund, beobachtete ungläubig, wie die Körperteile des toten Wyverns auf die Wellen klatschten und versanken. Das Meer brodelte, dampfte wie ein Kessel mit heißer Suppe. Sein Töter flog über mich hinweg und verschwand.
Wenn dies wahrhaftig die Anführerin der Dvangnir gewesen war, weshalb tötete sie Wyvern? War sie nicht ihre Bändigerin?
Ich zitterte am ganzen Leib. Mir war schwindelig. Nie zuvor hatte ich mehr als einen Wyvern gesehen. Nie zuvor war ich Zeugin geworden, wie sie sich zerfetzten.
* * *
Nach einer verdrießlichen Nacht mit wirren Gedanken in einer Höhle im Hrtendur Wald, geborgen im Hílrajü, betrat ich in der darauffolgenden Abenddämmerung die Schlucht, die mich nach Hause führte. Selbst in völliger Dunkelheit kannten meine Füße den sich windenden Pfad.
Wie Riesen ragten die Felsen links und rechts in den dunklen, fliederfarbenen Himmel auf. Als Irava mich als Kind nach Grimvir brachte, hatte ich mich vor ihnen gefürchtet, im Glauben, sie würden sich jeden Moment erheben und mich zerdrücken. Sie musste mich durch die Schlucht tragen, zum Protestieren war ich zu erschöpft gewesen. Irava liebte es, mir diese Geschichte immer und immer wieder mit einem Grinsen zu erzählen.
Nun hatte ich ihr etwas zu erzählen. Vor meinem inneren Auge brannten die Bilder von dem Wyvern, dem der Kopf vom Hals getrennt wurde. Ich schauderte.
An Grimvirs Eingangstor zwinkerten mir Fackeln entgegen, hießen mich willkommen. Ich sehnte mich nach heißem Met, nach einem Feuer, vor dem ich meine müden Füße wärmen konnte. Bei dem Gedanken an Essen knurrte mein Magen.
Narn, einer der beiden Wachen, öffnete mir das Tor. »Du wirst in Aruls Halle erwartet.«
Ich verschluckte mich beinahe an meiner Spucke. »Was?«
»Er will dich sehen.«
Bei Rakas Sichel, fluchte ich, verfluchte mich selbst. Hatte Arul meinen Gang auf die andere Seite des Hílrajü bemerkt? Ich hatte nicht mal einen Fasan erlegt. Der Hunger in meinem Magen verwandelte sich in einen würgenden Knoten. Was wollte er von mir?
Kohlenpfannen und Fackeln erleuchteten die Wege durch das Dorf. Ich zog meinen Umhang enger um meine Schultern. Wenige Leute waren in dieser kalten Nacht noch unterwegs. Gegröle und Gelächter drangen aus der Taverne, als ich den Marktplatz überquerte. Ich glaubte, selbst Gurolfs dröhnende Lache zu hören. Er war das, was einem Vater am nächsten kam, aber Irava und ich hatten in den vergangenen Jahren kaum ein Wort mit ihm gewechselt. Er trank zu viel, hatte sie gedemütigt. Nachdem er sie geohrfeigt hatte, hielt ich ihm ein Messer an die Kehle. Danach kehrte er nicht mehr nach Hause zurück.
Mit jedem Schritt, den ich Aruls in Dunkelheit ummantelter Halle näherkam, wurden meine Finger in den Handschuhen eisiger. Zwei Kohlenpfannen warfen ihr oranges Licht auf den Eingang und die Wachen davor. Mein Kommen wurde erwartet.
Drinnen machte das längliche Herdfeuer die Luft stickig. Von den Holzbalken des inneren Balkons baumelten mehrere Laternen an Eisenketten, dennoch blieben viele Ecken und das Gebälk düster. Aruls Thron war leer. Die Halle war leer. Hinter mir schloss sich die Tür hart. Ich fuhr zusammen.
Auf dem oberen Treppenabsatz erhaschte ich den Saum eines weißen Kleides, hörte das leise Schließen einer anderen Tür. Eine Fehvéki. Kannte ich sie, oder gehörte sie zu einem der anderen vier Stämme? War es Gyrdin?
Wunden in meinem Herzen, von denen ich naiv geglaubt hatte, sie wären verheilt, rissen auf. Dieser Ort, ich sollte hier nicht sein. Keine dieser Frauen sollte hier sein. Seit der Erschaffung des Hílrajü vor zwanzig Jahren hatten so viele hier bereits gelebt und waren von Arul geopfert worden. Damals hatten die Fünf Stämme ihn für seinen Schutz als Oberhaupt ausgerufen. Stammesfürsten herrschten jeweils über sie, aber nichts geschah ohne Aruls Einwilligung.
Die stickige Wärme ließ mich unter meinen Kleiderschichten schwitzen, aber es war nicht heiß genug. Ich zupfte meine Fäustlinge von den Händen, wollte mir eine der Lampen nehmen und den Thron lichterloh brennen sehen, wollte die gesamte Halle in Schutt und Asche legen.
Eine der Türen auf der rechten Seite der Halle öffnete sich. Arul trat hinaus, das Haar fiel ihm feucht um die Schultern, sein Gesicht war rosig. Er raffte sich ein grünes Gewand um die Hüften und knotete einen Ledergürtel darum.
Statt seinem Thron näherte er sich mir. Er lächelte. »Verzeih meine Verspätung. Ich hoffe, du wartest noch nicht allzu lange.«
Meine Finger verkrampfte ich um die Fäustlinge. »Nein.«
Er winkte mich heran, ließ sich elegant auf seinem Thron nieder, schlug ein Bein über das andere. Meine Beine zwang ich zu knien.
»Möchtest du heißen Met? Er wird dir guttun.«
Überrascht hob ich halb den Blick auf seine Brust. Mein Mund war trocken. Nein, wollte ich sagen. »Gerne.«
Arul klatschte in die Hände. Lange dauerte es nicht, da schwang die hinterste Tür auf. In ihren Armen ein Tablett mit Krügen haltend, schritt eine junge Frau hinaus, ihr fuchsrotes Haar, wie es im Schein der Laternen glühte, dasselbe wie Haruns.
Kalte Finger zerdrückten mein Herz. Gyrdin. Sie sah so anders aus. Dürrer und blasser in ihrem einfachen, weißen Wollkleid, ihre Augen erfüllt mit unendlichem Kummer, als sie in meine starrten. Über ihr Schlüsselbein verliefen weiße Runen hinauf zu ihrem Hals. Runen, wie jede Fehvéki sie trug. Niemand kannte ihre Bedeutung.
Das Tablett schwankte, die Krüge klapperten gegeneinander. Ihr Name zerfiel auf meiner Zunge zu Asche, drohte mich zu ersticken. So vieles hatte ich ihr damals sagen wollen, doch die Gelegenheit wurde mir geraubt – wie sie aus meinen Armen. Eines warmen Frühlingsabends waren wir beisammen gewesen, hatten uns geliebt. Am nächsten Morgen nahmen Aruls Wachen sie mit, hatten mir in mein verweintes Gesicht geschlagen, als ich versucht hatte, sie davon abzuhalten. Danach hatte ich Gyrdin nicht mehr gesehen. Die Fehvéki verließen kaum und nur bewacht die Halle, und niemandem war es erlaubt, mit ihnen zu sprechen.
»Ihr kennt euch«, sagte Arul mit geschmeidiger Stimme.
Gyrdin erschrak. Das Tablett entglitt ihr und die Krüge schlugen auf den Steinboden auf, verschütteten den dampfenden Met.
Ich schnellte zu ihr, hockte mich vor sie, griff nach einem der Krüge. »Gyrdin«, hauchte ich, so leise, ich wusste nicht, ob sie mich gehört hatte.
Der Saum ihres Kleides war durchnässt. Ich berührte ihren Arm, aber sie schnellte zurück, mied meinen Blick.
Arul umfasste ihren Oberarm, zog sie auf die Füße. Er nahm mir den Krug ab und drückte ihn in ihre Hände. »Räum das auf. Dann bringst du unserem Gast neuen Met.«
»Das ist nicht nötig«, sagte ich rasch. Gyrdin war bereits auf dem Weg zur hintersten Tür.
»Ich bestehe darauf. Komm, lass uns setzen. Du siehst müde aus.« Mit einer Handgeste bedeutete er mir, ihm zu einem langen Tisch unter dem inneren Balkon zu folgen.
Ich setzte mich mit einem schwelenden Stein in der Brust, lehnte meinen Bogen gegen die Tischplatte. Kalte Kerzen standen darauf und Wachs klebte auf dem Holz. Arul schloss seine Faust um einen Docht, zog sie fort, und die Kerze brannte. Ungläubig beobachtete ich, wie er drei weitere entzündete. Seine Magie hatte einen Schutz gegen die Wyvern erschaffen, und dennoch kribbelte es unter meiner Haut. Das orange Licht flackerte zwischen uns.
»Du warst erneut in Iskállir. Allein. Was war der Grund?« Eindringlich sah er mich an, seine Augen schwarz wie erkaltete Kohle. Unergründlich waren sie und sein Gesicht, ein Gemisch aus weise und knabenhaft. All die Zeit der Welt kniete vor dem Sohn der Totengöttin Raka, der Herrscherin des Winters.
Ergebenheit vortäuschend senkte ich den Blick. »Ich hoffte auf Wild.«
Gyrdin kehrte zurück, stellte zwei dampfende Krüge vor uns ab. Ihre Hände zitterten und es kostete mich all meine Kraft, sie nicht zu ergreifen. Dann war sie wieder fort.
Nie zuvor hatte ich sie so verängstigt gesehen. Es schmerzte mehr als der Schnitt einer Klinge. Wusste sie, welche Fehvéki das nächste Opfer war? War sie es selbst?
Etwas barst in mir, die Mauer, die ich um mein Herz errichtet hatte. All die vergangenen Monde hatte ich versucht, sie aus meinem Gedächtnis zu verbannen, hatte mir eingeredet, es wäre besser, sie zu vergessen. Vergessen war weniger schmerzhaft als die Gewissheit, dass meine Geliebte einem jähzornigen Wyvern geopfert würde.
Damals war ich untätig gewesen, hatte nichts ausrichten können. Ich musste sie befreien, aber wie?
Arul lehnte seine Arme auf den Tisch, schob seinen Krug zwischen beide Hände. »Niemand begibt sich allein in das Land der Wilden. Hat Vanadis dir nicht ihr Vertrauen geschenkt, indem sie dich zur Anführerin der Jäger ernannte? Habe ich dir nicht meines gegeben? Ich habe dich nicht für jemanden gehalten, der Regeln missachtet und mich hintergeht.« Er sprach sachte, doch der bedrohliche Unterton entging mir nicht. »Ich dulde keinen Ungehorsam.«
Mein Magen verdrehte sich. Das, was er mir androhte, kannte ich, hatte es gesehen. Blut, das an aufgeplatzten Rücken hinablief. Verbrannte Handflächen. Fingerknochen, die niemals richtig heilen würden.
Ich rutschte von der Bank, fiel vor ihm auf die Knie, verneigte meinen Kopf tief. »Vergebt mir, Großer Arul. Ich habe nicht nachgedacht.«
Finger umfassten mein Kinn, hoben es an, zwangen mich, ihn anzusehen. Seine Berührung traf etwas in meinem Inneren, wie die Wucht eines Pfeiles sein Ziel. Es regte sich, heiß und zornig, und gleichzeitig vertraut. Verzerrte Bilder huschten vor meinen Augen herum wie ein Traum, an den ich mich versuchte, zu erinnern. Gegen meine Rippen donnerte mein Herz.
»Dir sei vergeben«, sprach Arul milde, und als er mich losließ, verblassten die Eindrücke zu einer zittrigen Verwirrung. Auf seinem Gesicht kein Anzeichen, dass er dasselbe gespürt hatte. War es seine Magie? Was hatte er mit mir getan? »Enttäusche mich nicht erneut, Odra Aschetochter.«
»Das werde ich nicht«, brachte ich hervor.
Ich verließ die Halle, sog gierig die eisige Nachtluft ein. Meine Gedanken waren schwindelerregend. Irgendwann fand ich mich am Fjord wieder, ohne mich zu erinnern, wie ich dorthin gelangt war. Ich lehnte mich gegen den Baum eines Wäldchens, welches das Ufer im Süden umschlang, rieb meine Handflächen über die raue Rinde, lauschte dem sanften Plätschern des Wassers.
Die Ruhe wollte nicht kommen. Ein Sturm wütete, prickelte unter meiner Haut, brach einen Damm, und die Flut schlug von innen gegen die Wände meines Körpers. Ich krallte meine Finger in meine Haare.
Arul würde Gyrdin opfern. Ob nach dieser Wintersonnenwende oder im folgenden Sommer. Es würde geschehen. Sie würde sterben.
Harun, beruhige dich.«
»Beruhigen?« Sie trat gegen einen Stein, der mit einem Platschen im Bach versank. Trat mit ihrer Stiefelspitze in die dichte Nadeldecke und hinterließ eine Grube. »Viel zu lange habe ich stillgesessen. Du auch!«
Aruls Drohung hatte mich in der vergangenen Nacht nicht schlafen lassen. Als der Morgen graute, hatte ich Harun mit kargen Worten in den Hrtendur-Wald gelockt, an einen Ort, an den wir seit Jahren gemeinsam kamen. Ein kleiner Wasserfall stürzte sich an einer ruppigen, von Farn und Moosen bedeckten Felswand in einen breiten Bach und mündete in einigen Stunden Fußmarsch in einen See. Oft hatte Gyrdin uns hierher begleitet.
Ich saß, ein Knie an meinen Körper gezogen, auf einem der sieben Felsbrocken, die wie achtlos zurückgelassene Holzspielzeuge neben dem Bach verstreut lagen. Meine Handfläche rieb ich in Kreisen auf dem rauen Stein, genoss das sanfte Kribbeln.
»Hörst du mir überhaupt zu?« Harun blieb vor mir stehen, musste den Kopf in den Nacken legen.
Ich schabte meine Hand härter über den Felsen. »Arul hat mir gedroht, als würde er meine Gedanken kennen.«
»Du glaubst, er kann Gedanken lesen?«
»Ich weiß es nicht. Aber wenn dem so ist, sind wir bald tot.«
»Gyrdin auch.« Ihr Gesicht glühte vor Verzweiflung, ihr Unterkiefer trat hervor. Als sie erneut sprach, war ihre Stimme gramgebeugt. Der Kloß in meiner Kehle wollte mich ersticken. »Wir müssen etwas tun.«
Ja, doch müssten wir einen Halbgott bestehlen und ungesehen aus Grimvir fliehen. Eine felsige Schüssel, dessen Eingangstor bewacht war, und der Fjord so kalt, dass wir erfrieren würden, bevor wir die Freiheit riechen könnten.
Mein Blick senkte sich auf das blauschwarze Geflecht auf meiner Haut, das unter meinem gerafften Ärmel zum Vorschein kam. Der Weltenfluss Dhurassyn, aus dem unsere Welt entsprungen war, schlängelte sich von meinem Handrücken meinen Arm hinauf. Platziert in der Mitte war der Kopf eines einst mächtigen Bären. Ghartur, ein Zeichen großer Stärke und Unbeugsamkeit, denn genau an diesem Ort hatte er vor Jahrhunderten einen Riesen bekämpft und getötet. Der Riese versteinerte, zerfiel in sieben Bruchstücke; auf einem von ihnen saß ich.
Auch ich brauchte diese Stärke, wenn ich mich gegen einen Halbgott stellen wollte, musste grimmig wie Ghartur sein. Doch was ich unter all meiner aufgestauten Wut fand, war ein lähmendes Gefühl, der Gedanke, nicht nur Gyrdin zu verlieren, sondern auch Harun und mein eigenes Leben.
Ich schwang meine Beine vom Felsbrocken hinab und landete auf sicheren Füßen auf dem weichen Waldboden aus braunen Tannennadeln. »Bevor Gyrdin erwählt wurde, wollten wir fliehen. Es war ihre Idee, als wüsste sie, was ihr bevorstand.«
In Haruns Blick floss Schmerz. Ich wollte ihn lindern, wollte ihr versprechen, dass kein Leid uns befallen würde. Aber das wäre eine Lüge. Ich nahm sie in den Arm, drückte sie vorsichtig an mich; ihre Schulter schmerzte ihr noch immer. Sie blieb starr.
»Es ist falsch«, murmelte sie gegen meine Schulter. »Alles. Wir sollten so jemandem niemals dienen. Er sollte diese Opfer nicht von uns verlangen.«
»Wenn ich wüsste, wie, würde ich die Fehvéki befreien. Aber was hält Arul davon ab, neue Unschuldige zu finden? Wer besänftigt Vjaramal?«
»Ich weiß es nicht.« Sie trat einen Schritt zurück, fuhr sich über die geflochtenen Strähnen an ihrem Haaransatz. »Aber ich werde nicht dabei zusehen, wie meine Schwester an die Königin verfüttert wird.«
Eisiger Wind blies aus dem Norden, spielte mit den knarzenden Ästen der Nadelbäume. Ich fröstelte, schmiegte mich in meinen Umhang. Düstere Wolken verdrängten hellere, tauchten auch den Wald in Trostlosigkeit. Es dauerte nicht lange, da fielen die ersten, winzigen Eiskristalle vom Himmel.
Harun hatte recht. Zu lange hatten wir stillgesessen. Niemals könnte ich mir verzeihen, nicht versucht zu haben, sie zu befreien. Zwei Tage nach der Wintersonnenwende fand die nächste Opfergabe statt. Uns blieben zwölf Tage.
»Ich werde sie holen, morgen Nacht«, sagte ich, entschlossener, als ich mich fühlte.
Harun lächelte grimmig. Schneeflocken verfingen sich in ihrem Haar. »Wir beide.«
»Nein, ich gehe allein.« Neckend verpasste ich ihr einen Schlag auf den Arm. »Sich unbemerkt fortzubewegen ist meine Stärke, nicht deine.«
Ihr Lächeln wurden zu einem scharfen Grinsen. Dieses Mal wob sie mich in eine Umarmung, gab mir einen Kuss auf die Stirn.
»Húva ajast.« Ich blickte ihr fest in die Augen.
»Húva ajast.«
Dein Blut ist mein. Alles würde ich versuchen, um sie in Frieden zu wissen. Mein Leben würde ich für ihres geben. Versagen durfte ich nicht.
Aruls Worte hallten in mir wider, krallten sich an meine Furcht. Enttäusche mich nicht erneut.
* * *
Als müsste es im gesamten Dorf durch die kalte Nachtluft schallen wie der Hammer in der Hand eines Schmiedes, pochte mein Herz.
Gefrorenes Gras knarzte unter meinen Sohlen. Meinen Umhang dicht um meinen Körper geschlungen, hockte ich mich zwischen die Büsche am Fuße des Hügels, auf dem Aruls Halle in den blauschwarzen Himmel ragte. Schwach erkannte ich die weißen Kuppen des Gebirgskammes, der Grimvir im Norden umschlang.
Ich dankte den Erdgeistern, dass der Schneefall nicht angedauert hatte. Dennoch gefror die Natur erneut, sobald die Sonne verschwunden war.
Der Mond schimmerte immer wieder zwischen den Wolken hindurch. Still lag das zweistöckige Langhaus da, so still wie der Rest des Dorfes. Zu laut rang mein Atem in meinen Ohren. Im flackernden Leuchtkegel der Kohlenpfannen saßen zwei Wachen neben dem Eingang an die Wand gelehnt und auf ihre grün-weißen Schilde gestützt.
Trotz der Kälte schwitzten meine Hände. Ich zupfte an meinen Fäustlingen und rieb sie über meine Oberschenkel. Harun wartete in der Nähe des Dorfeinganges, würde dort die Wachen außer Gefecht setzen. Was wir taten, war Verrat. Niemals könnten wir nach Grimvir zurückkehren. Niemals würde ich Irava wiedersehen. Der Gedanke traf mich wie ein Faustschlag. Wir hatten ihr nichts von unserem Plan erzählt. Sie hätte ihn uns ohnehin ausgeredet.
Ein letzter tiefer Atemzug, dann jagte ich den Hügel hinter der Halle hinauf. Blieb erst stehen, als ich mich gegen die Holzwand des Langhauses drückte und mit der Dunkelheit verschmolz. Ich schlich an der Wand entlang, fand, was ich suchte. Eine hölzerne Luke, die in den Keller führte. Wenn dieser geschaffen war, wie der der Taverne, dann würde er mich ins Innere bringen.
Vorsichtig hob und schob ich an der eisernen Verriegelung. Beim Öffnen der Luke fiepten die Scharniere wie gejagte Mäuse. Über meine Haut huschte ein Kribbeln. Ich hielt inne, lauschte. Schwang mich dann lautlos hinein.
Es war so dunkel, selbst Schemen meiner Umgebung wollten nicht hervortreten. Der Geruch von Staub, kaltem Stein und altem sowie frischem Holz kroch in meine Nase. Ich tastete umher, fand jedoch keinen Halt. Auf Knien bewegte ich mich Stück für Stück vorwärts. Die Rundungen von Fässern formten sich unter meinen Handflächen, die Kanten von Kisten, und langsam formte sich auch ein Bild des Kellers in meinen Gedanken.
Mein Weg führte mich geradeaus, als hätte man mir bereits einen Pfad geebnet, als bewilligte das Schicksal meinen Plan. Ich umschloss die untere Sprosse einer Leiter und zog mich auf die Füße. Ein zittriger Seufzer entwich mir. Der einfachste Teil war überstanden.