Liga Lexis – Blutrote Tinte - Mo Enders - E-Book

Liga Lexis – Blutrote Tinte E-Book

Mo Enders

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Beschreibung

Endlich geht es weiter! Band 2 der Buchwelten-Fantasy – perfekt für Buchliebhaber*innen und Fans von bibliophilen Geschichten Die Liga Lexis ist in Aufruhr: Lady Hamilton, die Protagonistin eines weltberühmten Bestsellers, wurde ermordet! Sofort werden mehrere Agent*innen und Lehrende von Bookford Manor abgesandt, um den Fall aufzuklären. Doch nicht alle kehren lebend zurück.  Während Annies Gefühle aufgrund von Caspians merkwürdigem Verhalten noch vollkommen durcheinander sind, bleibt ihr keine Zeit. Denn sie ist die Einzige, die über die Interlineas – die Welt zwischen den Zeilen – in das zerstörte Buch gelangen kann. Doch in ihren kühnsten Träumen hätte sie sich nicht ausmalen können, auf wen sie dort trifft! Die Spur dieser Person führt sie in eine ganz neue Welt hinter den Welten … Das Fantasy-Highlight geht weiter. Folge Annie zu den tiefsten Geheimnissen der Buchwelt.  - Eine atemberaubende Buchwelten-Fantasy mit viel Humor und packender Spannung erzählt - Für alle Leser*innen, die davon träumen in ihre Lieblingsbuchwelten abzutauchen - Mit einer starken Heldin, die sich selbst treu bleibt und auch in der fantastischen Welt der Buchwesen noch neue Pfade beschreitet - Band 1 der Trilogie ist DELIA-Siegertitel 2025 in der Kategorie »Junge Liebe«

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 528

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Mo Enders

Liga Lexis

Blutrote Tinte

Band 2

 

 

Über dieses Buch

 

 

Alle Bände der Bookford Manor-Trilogie:

 

Band 1: Liga Lexis – Nachtschwarze Worte

 

Band 2: Liga Lexis – Blutrote Tinte

 

Band 3: Erscheint im Herbst 2025

 

 

Weitere Informationen finden Sie unter www.fischer-sauerlaender.de

Biografie

 

 

Mo Enders, Jahrgang 1983, ist schon als Kind zwischen den Zeilen unzähliger Bücher umhergestreift, hat versucht der kindlichen Kaiserin einen Namen zu geben oder mit einem Schirm zu fliegen. Heute erzählt sie ihre eigenen Geschichten und hat damit den besten Job der Welt. Wenn sie nicht gerade in Büchern lebt, wohnt sie in Berlin. 

 

Inhalt

Widmung

Rückblick

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

Epilog

Glossar

Für alle, die täglich kämpfen.

Für Andere, für das Gute.

Gegen Hass und Hetze – trotz allem.

Ihr seid nicht allein.

Rückblick

Als Annie erfährt, dass sie eine Migra ist – ein Wesen halb Mensch, halb Buchfigur –, verändert sich alles für sie. Nicht nur, dass sie ab jetzt auf Bookford Manor, einer geheimnisvollen Akademie an der irischen Küste, unterrichtet wird, nein, sie soll sogar lernen, in Buchwelten zu reisen. Doch in diesen gehen merkwürdige Dinge vor sich und versetzen die Migra in Aufruhr.

Gleichzeitig wirft Annies Herkunft Rätsel auf: Wie konnte sie solange abseits der Migra-Gemeinschaft überleben? Und was hat es mit ihrem Nachnamen auf sich? Schließlich sollten alle Mitglieder der Familie Doyle tot sein. Vom ersten Moment an der neuen Schule schlägt Annie Misstrauen entgegen, und sie wird unter die Aufsicht des ebenso gut aussehenden wie unausstehlichen Caspian de Vries gestellt. Dessen Vater ist ein hohes Tier bei der Liga Lexis, einer Organisation, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, alle Buchwelten zu beschützen.

Gegen jede Vernunft kommen Caspian und Annie sich näher, doch nach ihrem ersten Ausflug in Annies Lieblingsbuch Silberkorn verschwindet Caspian spurlos. Es stellt sich heraus, dass er noch einmal in Silberkorn gereist ist und nun dort feststeckt, weil das Buch von dem Fährmann Charon und seinen Leuten angegriffen und dabei zerstört wurde.

Jetzt kann nur Annie Caspian noch retten. Gemeinsam mit dem Textor Abraxas schreibt sie große Teile von Silberkorn neu und befreit damit nicht nur Caspian, sondern verbannt auch Charon und seine Leute in den Limbus – die Welt der gestrichenen Buchfiguren.

Doch Annies Glück währt nicht lange, denn das Misstrauen ihr gegenüber ist stärker als je zuvor. Schließlich ist kreatives Schreiben für Migras normalerweise tödlich. Als sich Caspian daraufhin dem Drängen seines älteren Bruders beugt und Annie verlässt, bleibt Annie keine Zeit den Schock zu verdauen. Lady Hamilton, die Heldin einer der berühmtesten Bestseller-Reihen der Welt, wurde ermordet, und ihr Tod löst ein Idea-Vakuum aus, das unzählige Migras in Gefahr bringen wird …

Prolog

Er saß auf der Rückbank des Wagens und versuchte, sich nicht zu übergeben. Wenn es überhaupt etwas gab, das seine Situation noch verschlimmern könnte, dann wäre es wohl, auf ihre teuren Sitze zu kotzen.

Frank und Miranda hatten schon seit Stunden kein Wort mehr an ihn verloren. Seitdem sie sich in London von Sondra verabschiedet hatten, herrschte eisiges Schweigen im Wagen. Die beiden Reaper waren fertig mit ihm. Von einem Moment auf den anderen, dafür aber unmissverständlich.

Sie hatten in den letzten Monaten so viel Zeit zu dritt verbracht, hatten sich Essen, Hotelzimmer und Atemluft geteilt, und an manchen Abenden hatte Juri das Gefühl gehabt, den beiden nähergekommen zu sein. Einmal war er sogar kurz davor gewesen, Miranda zu küssen. Und er hatte geglaubt, dass sie ihn zurückgeküsst hätte. Doch das war wohl eine Illusion gewesen. Zwischen Migras und Reapern würde es niemals so etwas wie Nähe geben, geschweige denn Freundschaft – oder gar Liebe. Das wusste er spätestens jetzt. Wann immer er nun Franks Blick im Rückspiegel auffing, umfasste dieser das Lenkrad noch ein bisschen fester und trat das Gaspedal mit grimmiger Miene und mahlendem Kiefer durch. Holte noch den letzten Rest aus dem Motor heraus, der ohnehin die meiste Zeit heulte wie ein verwundeter Tiger. Die absurde Geschwindigkeit machte Juri allerdings keine Angst. Ein schwerer Unfall wäre vielleicht sogar das Beste, das ihm passieren konnte.

Er wagte es nicht, zu fragen, wohin sie ihn brachten. Oder gar, was jetzt geschehen würde. Schließlich wusste er es bereits. Die beiden brachten ihn zu ihr.

Sie hatten London und die Britischen Inseln schon lange hinter sich gelassen und rasten mittlerweile durch die aufkommende Dunkelheit über französische Küstenstraßen. Irgendwo hier bewohnte die wohl berüchtigtste Frau der Welt ein gewaltiges Schloss. Falls sie überhaupt eine Frau war und kein Dämon. Oder etwas völlig anderes.

Juri wusste nicht, was ihn mehr quälte – die schreckliche Angst vor ihr oder die Erinnerung an das, was in London geschehen war.

Das Mädchen, das sie tagelang verfolgt hatten, deren Idea er über Kilometer hinweg immer wieder aufgespürt hatte, war tot. Sie hatte sich eine Pistole an die Schläfe gepresst, ihn kurz angesehen und abgedrückt. War lieber gestorben, als sich den Reapern auszuliefern. Da war keine Angst in ihrem Blick gewesen, kein Zweifel. Nur Mut und Entschlossenheit. Beides Dinge, die Juri schon vor langer Zeit verloren hatte. Er verstand nicht, wie es ihr gelungen war, so lange ums Überleben zu kämpfen und dann so bereitwillig zu sterben. Sie hatte länger überlebt als die meisten von ihnen und dann, im letzten Moment, nicht gezögert. Beides sprengte sein Vorstellungsvermögen.

Gwynevere McNeil. Das war ihr Name gewesen. Juri hatte ihr Blut ausgelesen, nachdem sie ihren Tod festgestellt hatten. Es war Miranda gewesen, die ihn gezwungen hatte, den Teststreifen in die winzige Blutlache unter Gwyneveres Kopf zu halten. Sie wusste ganz genau, dass er kein Blut sehen, geschweige denn riechen konnte. Spätestens da war ihm klar geworden, dass sie ihm die Schuld geben würden für das, was passiert war. So wie immer. Und dass er büßen würde.

Um an das Blut zu gelangen, hatte er das Mädchen zur Seite schieben, sie anfassen müssen. Ihr Körper war bereits leichter geworden, er hatte zugesehen, wie ihr dunkelbraunes Haar immer heller wurde. Und er hatte die Idea gesehen, die aus ihrer Kopfwunde geströmt war. Diesen Anblick würde er zeit seines Lebens nicht vergessen, wie lange das auch noch sein mochte. Juri hatte wie zufällig seine Hand über die Schusswunde gehalten, um so viel von der seltenen Kraft in sich aufzunehmen, wie er konnte. Und sich dabei wie ein Leichenfledderer gefühlt. Doch er hatte sich nicht zurückhalten können, schließlich lebte er selbst seit Monaten nur noch von kleinsten Rationen. Nun würde er für immer wissen, welche Bücher dieses Mädchen geliebt hatte. Die Idea hatte ihm eine Ahnung davon gegeben, wer sie gewesen war.

Während er sein Gesicht in der dunklen Fensterscheibe betrachtete, dachte er wieder darüber nach, es ihnen zu sagen. Dass Gwynevere etwas versteckt hatte, hinter der Wandvertäfelung. Ein Buch oder Manuskript. Juri hatte die Umrisse deutlich durch das Holz schimmern sehen, hatte die ungewöhnliche Idea-Konzentration am ganzen Körper gespürt.

Gwynevere, das war ihm nun klar, war für dieses Buch gestorben. War damit kreuz und quer durch Irland, Schottland und England gefahren, auf der Flucht vor ihnen. Hatte kaum angehalten, um Pausen zu machen. Wie viel Angst hatte sie in den letzten Tagen ausgestanden? Und wo hatte sie sich versteckt, bevor sie im Hauptquartier aufgekreuzt war? Gab es doch noch einen Ort, den die Reaper übersehen hatten? Das Mädchen war erst sechzehn Jahre alt gewesen, ein Schulkind. Doch Bookford Manor war einer der Orte gewesen, die sie in der sogenannten »ersten Säuberung« verwüstet hatten. Wo hatte sie sich also verkrochen?

Die Nachricht von der Zerstörung des alten Schlosses hatte ihn damals tief erschüttert. Auch er war einst auf diese Schule gegangen. Genau wie seine kleine Schwester Kamilla. Hatte sie auch so ausgesehen, als die Idea sie verlassen hatte? So wie Gwynevere? Juri schluckte die Galle, die ihm bei diesem Gedanken hochkam, wieder herunter.

Noch einmal versuchte er, Blickkontakt mit Miranda aufzunehmen, doch die starrte weiterhin aus dem Fenster. Also verschränkte er seine Arme und schloss die Augen. Nicht, weil er schlafen, sondern, weil er einfach nichts mehr von alledem sehen wollte.

Es war schwer zu sagen, wie viel Zeit verstrichen war, als der Wagen abrupt zum Stehen kam. Träge schlug Juri die Augen auf … und konnte kaum glauben, was er vor sich sah.

Sie befanden sich auf irgendeinem französischen Dorfplatz, inmitten einer aufgebrachten Menschenmenge. Die Leute johlten und schrien, Juri hörte das Splittern von Glas und das keckernde Lachen von Menschen, die gerade das Lebenswerk anderer zerstörten. Es war der Sound der neuen Welt. Er musste nicht lange suchen, bis er den Grund für das alles entdeckte: einen kleinen Kiosk, der lichterloh in Flammen stand.

»Na, sieh mal einer an«, sagte Frank und grinste Miranda an, die sich mit zufriedenem Gesichtsausdruck in ihrem Sitz räkelte.

Eine Frau mit hochgesteckten, blonden Haaren und in der blutroten Uniform der Reaper kam auf das Auto zu, und Frank ließ die Scheibe der Beifahrerseite herunter.

Wie immer, wenn er einen fremden Reaper sah, hatte Juri das Bedürfnis, sich so klein wie möglich zu machen. Am liebsten unsichtbar. Unbehaglich drückte er sich tiefer in den Autositz, erfüllt von dem kindlichen Wunsch, einfach zu verschwinden.

»Frank, Miranda«, die Frau nickte den beiden Reapern freundlich zu, dann wandte sie sich Juri zu. Ihr abschätziger Blick wanderte über seine tätowierten Buchzitate, seine schäbige Kleidung und den feinen Schweißfilm, der sein Gesicht benetzte. Mit hochgezogenen Brauen bemerkte sie seine schneeweißen, langen Haare, die in seiner Familie so verbreitet und ein Grund dafür gewesen waren, dass sie ihn überhaupt so schnell gefunden hatten. Als alles angefangen hatte. Denn leider ließen sich Migra-Haare nicht mit handelsüblichen Drogerieprodukten dunkler färben – das hatte er auf die harte Tour gelernt.

»Wir lassen gerade einen Kioskbesitzer hochgehen, der heimlich Bücher unter der Ladentheke verhökert hat«, erklärte sie und zeigte hinter sich auf den wütenden Mob. »Hier an der Küste haben wir noch häufiger damit zu tun. Es gibt nach wie vor Menschen, die sich in Lebensgefahr bringen, um am Meer zu sitzen und zu lesen.«

Frank schüttelte den Kopf und schnalzte mit der Zunge. »Manche Leute lernen es wohl nie, was?«

Die Frau grinste. »Ach, ich glaube, die Lektion hat sich dem da nun nachhaltig eingebrannt.« Sie zeigte mit dem Kopf in Juris Richtung. »Und ihr? Wo fahrt ihr die Ratte hin?«

»Zu Ma…«, gab Frank knapp zurück, aber Miranda rammte ihm den Ellbogen in die Seite und brachte ihn damit zum Schweigen. Frank sog scharf Luft durch die Zähne und korrigierte sich. »In die Zentrale.«

Die Neugier der Frau schien geweckt. Sie betrachtete ihn nun eingehender und legte den Kopf schief. »Was hat er denn angestellt?«

Miranda drehte sich um und sah Juri das erste Mal seit dem frühen Morgen in die Augen. Ihre waren kalt und hart wie zwei hellgraue Kiesel.

»Wir haben eine flüchtige Migra verfolgt. Sie hat sich erschossen, bevor wir sie befragen konnten«, hörte er Frank sagen, doch Juri hatte nur Augen für Miranda. Ein Teil von ihm hoffte immer noch, zu ihr durchdringen zu können.

Die fremde Frau zuckte unbeeindruckt die Schultern. »Eine weniger. Das ist doch eine gute Nachricht.«

»Ja«, sagte Miranda, ohne den Blick von ihm zu lösen. »Aber die Ratte verschweigt uns etwas. Und sie wird ihn sicherlich zum Reden bringen.«

Die Reaper lachten. Alle drei. Der Gedanke an seine bevorstehenden Qualen amüsierte sie. Bei dem Geräusch drehte sich ihm endgültig der Magen um, und was er so lange mit aller Kraft versucht hatte zu vermeiden, war plötzlich unausweichlich: Juri kotzte auf die sauteure Ledergarnitur des Autos.

Geschockt fuhr Miranda hoch und stieß mit einem lauten Schrei die Beifahrertür auf. Auch Frank stieg fluchend aus dem Wagen.

Juri würgte und hustete noch, als sich die riesige Hand des Reapers wie ein Schraubstock um seinen Oberarm schloss. Mit einem Ruck wurde er aus dem Auto gerissen.

»Was fällt dir ein?«, brüllte Frank, und wie immer, wenn er richtig wütend wurde, zog er seine Pistole und hielt sie Juri an den Kopf.

Der junge Migra kannte das zwar schon, doch dies war das erste Mal, dass Franks Hand dabei zitterte. Er hatte sich kaum noch unter Kontrolle.

»Es war keine Absicht«, keuchte Juri. »Es ist nur …«

»Du elender Mistkerl!«, schnitt ihm Frank das Wort ab. Er schleuderte Juri zu Boden, seine Knie prallten hart und schmerzhaft auf das Kopfsteinpflaster.

Irgendwo in seinem Körper knackte und knirschte es – er war sich sicher, dass etwas gebrochen war. Vielleicht eine Kniescheibe? Juri machte sich keine Illusionen. Auch er hatte kaum noch Zugang zu Idea. Auch sein Körper degenerierte, wurde allmählich heller und brüchig wie altes Papier.

Er fühlte mehr, als dass er es sah, wie sich die Aufmerksamkeit auf dem Dorfplatz verlagerte. Weg von dem brennenden Kiosk hin zu ihrer kleinen Gruppe. Auch war es leiser geworden. Die Menschen warteten. Aufgepeitscht und voller Vorfreude. Sie lauerten auf das nächste Blutbad. Das nächste Drama. Wann, fragte er sich, würden sie wohl endlich satt sein? Wie lange noch, bis sie das Interesse verloren?

»Dafür wirst du bezahlen«, zischte Miranda dicht an seinem Ohr. Sie kniete neben ihm. Juri hob den Blick und bemerkte, dass ihre Augen aufgeregt funkelten.

Erst jetzt erkannte er, dass Mirandas Hand den Griff eines silbernen Hartschalenkoffers umschloss. O nein. Nein, nein, nein. Juri riss die Augen auf. Er ahnte, was sie vorhatte. In diesem Koffer befanden sich seine Bücher und somit das Einzige, das ihm in dieser Welt überhaupt noch etwas bedeutete. Mit einem Zahlenschloss gesichert, dessen Kombination nur Frank und Miranda kannten.

Mit diesem Koffer kontrollierten sie ihn schon seit Monaten. Es war seine ganz persönliche Hundeleine. Seine Lebensversicherung. Damit hatten sie ihn zu allem gezwungen, was ihm Nacht für Nacht den Schlaf raubte. Wenn er spurte, durfte er jeden Abend ein paar Stunden lesen. Doch in Wahrheit war dies seine Schwäche, die sie auf ihrer Jagd nach Gwynevere immer wieder ausgebremst hatte. Wenn Juri nicht wenigstens ein paar Stunden am Tag lesen konnte, degenerierte er schnell und war ihnen binnen vierundzwanzig Stunden schon zu nichts mehr nütze.

So war es mit allen Ratten, wie sie Migras wie ihn nannten.

»Wirf ihn ins Feuer«, forderte Miranda mit kalter Stimme und schob Juri den Koffer hin.

»Aber …«, krächzte er. »Aber …«

Aber dann sterbe ich, schoss es ihm durch den Kopf, und er wollte lachen, als ihm klar wurde, dass es ihnen nicht nur egal, sondern vielleicht sogar ganz recht so war. Sie würden Juri nicht vermissen. In ihren Kerkern saßen noch Dutzende wie er.

An seinem Ohr klickte es, und Juri wusste, dass nun auch Miranda ihre Waffe entsichert hatte. »Los jetzt. Oder ich übernehme das für dich.«

Er biss die Zähne zusammen und stemmte sich auf die Füße. Dabei fühlte er einen stumpfen Schmerz im linken Ellbogen. Jetzt wusste er, was da eben so geknackt hatte. Immerhin waren es nicht seine Beine gewesen.

Seine zitternden Finger umschlossen den Koffergriff, und es kostete ihn alle Kraft, das schwere Ding hochzuheben. Im Inneren lagen Bücher von Leigh Bardugo, Jonathan Franzen, Suzanne Collins, Mary Lu und Kazuo Ishiguro. Die Idea, die, wenn auch nur schwach, von ihnen ausging, gab ihm genug Kraft zu tun, was getan werden musste.

Sie und die Gedanken an Gwynevere. An den entschlossenen Blick dieses jungen Mädchens. An ihre Hand, die nicht gezittert hatte. Einmal in seinem Leben wollte Juri stark sein. Für sie. Und für das verborgene Buch.

Dutzende Augenpaare folgten ihm, als er schweren Schrittes über den Dorfplatz ging, die Flammen vor Augen und drei Schusswaffen im Nacken. Er wusste, dass es keinen Ausweg mehr gab.

Die Hitze, die vom brennenden Kiosk ausging, war enorm. Juris Blick fiel auf einen alten, gebeugten Mann, der flankiert von zwei Reapern etwas abseits stand. Seine weißen Haare zeigten zerzaust in alle möglichen Richtungen, die Wangen waren rußverschmiert. Doch sein Blick war klar. Der Mann schluchzte nicht. Er bettelte auch nicht. Nur die hellen Striemen, die seine Tränen auf das rußige Gesicht zeichneten, zeigten überhaupt, dass er weinte. Er nickte Juri knapp zu. Juri nickte zurück. Dieser Mann hatte länger gekämpft als er selbst. Dabei war er nur ein Mensch. Nur ein Mensch. Das hatte Juris Vater immer gesagt.

In diesem Moment drehte der Wind, und der dicke Qualm, der bisher über die Hausdächer abgezogen war, schlug ihm entgegen und stach in seinen Lungen. Hinter sich hörte er die Menge keuchen. Auch die Gaffer wurden von dem dichten Rauch eingehüllt.

»Cours, mon garçon!«, hörte er da eine Stimme rufen, und er wusste, dass sie zu dem alten Mann gehörte. Und dass er gemeint war.

Renn, mein Junge. Es war, als würde Juri aus langem Schlaf und endlosen, bösen Träumen erwachen. Dieser Mann erinnerte ihn daran, dass er, solange er noch lebte, Entscheidungen treffen konnte. Er hatte einen Kopf zum Denken. Und Beine, die ihm gehorchten.

Wie ferngesteuert setzte sich Juri in Bewegung. Er rannte los, dem dichten Rauch entgegen und direkt in den brennenden Kiosk hinein. Er achtete nicht auf die Flammen, er hielt nicht inne, um herauszufinden, ob seine Kleidung oder sein Haar Feuer gefangen hatten. Er sah sich nicht um, sondern durchmaß den kleinen Laden mit wenigen Schritten, während kokelnde Papierfetzen auf ihn niederregneten wie glühende Schneeflocken. Die Luft war so heiß, dass er nicht wagte einzuatmen.

Hinter dem Verkaufstresen fand er eine Tür, einen kleinen Raum, ein eingeschlagenes Fenster. Ohne nachzudenken, hievte Juri erst seinen Koffer und dann sich selbst durch die Öffnung wieder nach draußen. Die Scherben schnitten durch seine Kleidung, in seine Haut. Der verletzte Ellbogen pochte, und Juri wusste nicht, woher er die Kraft für die nächsten Schritte nehmen sollte. Doch dann kamen sie wie von selbst.

Renn, mein Junge.

Und Juri rannte.

1

»Annie, vielleicht sollten wir für heute besser Schluss machen!«

Abraxas’ Stimme drang wie durch Watte an mein Ohr, und ich hob den schmerzenden Kopf. Der Raum, in dem wir saßen, verschwamm kurzzeitig vor meinen Augen. Ich hatte zu lange aufs Papier gestarrt, meine Umgebung rückte nur ganz allmählich wieder in den Fokus. Was sich, zugegeben, nicht besonders lohnte.

Wir hatten uns in einem abgelegenen Bereich der Bibliothek unter Bookford Manor ein behelfsmäßiges Lager eingerichtet, in dem wir arbeiten konnten. Seit fast zwei Wochen versuchten wir hier, die Buchreihe Vielleicht niemals, vielleicht zu reparieren. Und zwar auf dieselbe Weise, wie es uns bei meinem Lieblingsbuch Silberkorn gelungen war: Indem ich eine Textstelle zitierte und versuchte, sie mit passender Idea zu speisen, damit Abraxas sie in die Geschichte einweben und diese so wieder reparieren konnte. Aber es klappte einfach nicht.

Ich nieste und rieb mir die juckende Nase. Staub tanzte im Licht der alten Glühbirne, die unsere beiden Tische beleuchtete. Hier, zwischen eingestaubten, vergessenen Reiseromanen, erinnerte nichts mehr an Abraxas’ behaglichen Glaskubus. Nur Zett leistete uns treu Gesellschaft. Doch auch seine Anwesenheit konnte nicht wiedergutmachen, was der Textor alles verloren hatte.

Nicht nur mir selbst, auch Abraxas fiel es schwer, unter diesen Bedingungen zu arbeiten. Doch wie immer klagte er nicht, sondern machte sich vor allem Sorgen um mich.

Mein Freund musterte mich forschend über den Rand seiner Brille hinweg, als hätte er auch nach zwei Wochen vergeblicher Mühen immer noch Angst, ich könnte mich übernehmen und bei dem Versuch, ein Buch zu retten, direkt vor seiner Nase zu Papier werden. Ich rang mir ein Lächeln ab und streckte mich genüsslich in alle Richtungen. Meine Wirbel knackten, als ich den Kopf kreisen ließ und tief durchatmete.

»Noch ein letzter Versuch«, beschloss ich.

Abraxas nickte. »Einer noch. Dann musst du dich wirklich ausruhen.«

Ich nickte ebenfalls, auch wenn es mir widerstrebte, an eine Pause zu denken. In der momentanen Situation fühlte sich jede Stunde Schlaf, die ich mir gönnte, wie Verrat an. Ratlos blätterte ich im ersten Band der Vielleicht-niemals-vielleicht-Reihe herum und konnte nicht entscheiden, welche Stelle ich als Nächstes versuchen sollte, durch meine Feder wieder zum Leben zu erwecken. Sie sagten mir alle nichts. Nutzlose Wörter, stumpfe Aneinanderreihungen, endlose Absätze türmten sich vor meinen Augen auf wie ein Meer aus Buchstaben, die keinen Sinn ergaben.

Es war mir nicht einmal gelungen, eine ganze Seite am Stück zu lesen, weil zwischen diesen Zeilen überhaupt kein Leben mehr war. Falls sich überhaupt noch Idea in diesem Buch oder den anderen Bänden der Reihe befand, dann fühlte ich sie nicht.

Das Problem war, dass ich die Reihe vor Charons Attentat auf Lady Hamilton nie gelesen hatte. Die Charaktere waren mir völlig fremd, ihre Sorgen und Nöte nur Schemen für mich. Zwar wusste ich natürlich mittlerweile, welche Geschichte hier erzählt wurde. In endlosen Gesprächen auf der Krankenstation hatte ich mir von anderen Lernenden, die Idea aus der Reihe gezogen hatten, viel darüber erzählen lassen, in der Hoffnung, ich würde endlich ein Gefühl für diese Bücher entwickeln. Könnte die prächtigen Ballsäle sehen, in denen nächtelang getanzt worden war, und hätte die schlagfertige, geistreiche und so gar nicht damenhafte Lady Hamilton vor Augen, die nicht nur für die Wortgefechte mit ihrem Mann James rund um den Erdball geliebt worden war. Doch ich wusste kaum, wer die Frau gewesen war, deren Ermordung die Lexis in die größte Krise seit fast hundert Jahren gestürzt hatte. Hatte keine Ahnung, wie sich die Welt dieser Bücher anfühlen sollte. Wie sie sich für Millionen Menschen und Migras rund um den Globus angefühlt hatte, bevor die Katastrophe eingetreten war.

Tief in meinem Inneren war ich sicher, dass meine Versuche, diese Buchreihe zu retten, aussichtslos waren.

Was wir allerdings auch alle wussten, war, dass ich trotzdem nicht aufgeben durfte. Einfach, weil es mir schon einmal gelungen war, ein Buch zu retten – und zwar vor den Augen einiger Ratsmitglieder. Außerdem gab es mir in all dem Chaos wenigstens etwas zu tun. Das war besser, als in meinem Zimmer zu sitzen und dabei ständig an Caspian zu denken.

»Ich versuche es hiermit«, beschloss ich und tippte auf ein Streitgespräch zwischen Lady Hamilton und dem blutjungen James, der ihr offenbar vorschreiben wollte, in Röcken auf einem Damensattel zu reiten. Da konnte ich mich doch wohl einfühlen.

Also schrieb ich die Worte auf und versuchte, mich dabei voll und ganz in die junge Frau hineinzuversetzen, die Lady Hamilton im ersten Teil der Reihe noch gewesen war. Vielleicht könnte es auf diese Weise gelingen. Immerhin war die Lady nach dem Tod ihrer Eltern ganz allein zu einer fremden, adligen Familie geschickt worden, um auf deren Landsitz zu leben. Gemeinsam mit dem überaus gut aussehenden, charmanten und unerträglichen James Hamilton, dem Sohn der Lordschaften.

Ein Waisenkind, ein großes fremdes Schloss, ein arroganter Arsch … das klang doch verdächtig nach meinem eigenen Leben. Bis auf die Sache mit dem Damensattel jedenfalls. Ich ließ meine Finger knacken und griff nach dem Stift.

Noch während ich schrieb, begann Abraxas mit seiner Arbeit. Er hatte das Buch an derselben Stelle aufgeschlagen und versuchte, die Idea, die aufs Papier quoll, in die kaputte Geschichte einzuweben. Es sah aus wie ein verrückter Tanz.

Während wir arbeiteten, füllte sich der Raum mit schrecklichen Misstönen. Kratzige Geigenklänge mischten sich mit einem schiefen Durcheinander aus Flötenspiel. Dazu, so klang es, wurde ein Cembalo aufs Fürchterlichste traktiert. Idea, die erfolgreich repariert wurde, klang ganz anders. Harmonisch. Zwar hatte jedes Buch seine ganz eigene Musik, die Abraxas mit seiner Kunst hörbar machen konnte, aber eine Sache hatten sie alle gemeinsam: Ihre Idea erzeugte Melodien. Keinen Krach.

»Es hat keinen Sinn, Annie«, seufzte Abraxas in diesem Moment dann auch. »Die Idea, die du kreiert hast, ist zwar stark, aber sie passt nicht in die Geschichte.« Er sah mich mit einem flüchtigen Lächeln an. »Auch wenn du die Wut der Protagonistin wirklich spürbar gemacht hast.«

Frustriert knallte ich den Stift auf meinen Notizblock und stieß ein Schnauben aus. Dann verbarg ich mein müdes Gesicht in den Händen. »Es tut mir so leid«, murmelte ich. »Ich hätte die Bücher lesen sollen, als es noch möglich war.«

»Sie hätten dir doch sowieso nicht gefallen«, gab Abraxas zurück.

Ich verschränkte die Arme. »Das kannst du gar nicht wissen.«

»Es ist ohnehin zwecklos, über verschüttete Milch zu weinen«, entgegnete der Textor schulterzuckend.

Plötzlich hob Zett, der die ganze Zeit auf meinem Schoß gedöst hatte, den Kopf und spitzte alarmiert die Ohren. Auch ich horchte auf. Schritte näherten sich. Ich tauschte einen Blick mit Abraxas, der sich stirnrunzelnd erhob. Es war mitten in der Nacht. Wer sollte da den Weg bis in diese Tiefen der Bibliothek auf sich nehmen?

Die Antwort kam wenig später in Form zweier schneeweißer Haarschöpfe um eines der nächsten Bücherregale gebogen. Hector und Hyacintha Abraham hielten auf uns zu, gefolgt von zwei Frauen, die ich wiedererkannte. Sie gehörten ebenfalls dem Hohen Rat an.

Der Vorsitzende des Hohen Rates, Hector Abraham, der in einem silbernen Leinenanzug mit passender Weste wie immer aussah wie aus dem Ei gepellt, würdigte Abraxas kaum eines Blickes, sondern wandte sich direkt an mich: »Gibt es irgendwelche Fortschritte?«, fragte er, ohne sich die Mühe zu machen, uns überhaupt zu begrüßen. Der Bruder unserer Rektorin und Vater von Jahrgangskratzbürste Anthea musterte mich mit einem kühlen, fast schon berechnenden Blick, und der Knoten in meinem Magen wuchs beträchtlich. Betreten schüttelte ich den Kopf.

Hector legte den Kopf schief. Er wirkte wie eine Raubkatze, die sich zum Sprung bereit machte. Ihre Beute fest im Blick.

»Seit zehn Tagen verkriecht ihr euch hier unten, ohne irgendwelche Ergebnisse zu erzielen. Wie kann das sein?«

Instinktiv hob ich das Kinn. Zwar war ich es gewohnt, infrage gestellt zu werden, doch heute Nacht war meine Haut sehr, sehr dünn. Seit ich Bookford Manor das erste Mal betreten hatte, verlangte irgendjemand von mir, zu beweisen, dass ich würdig war, hier zu lernen. Der Gemeinschaft der Migras anzugehören. Dieselbe verdammte Luft zu atmen wie sie.

Nur, weil ich den Nachnahmen Doyle trug und lange Jahre unentdeckt unter Menschen gelebt hatte, glaubten einige Migras, irgendetwas stimme nicht mit mir. Und Hector Abraham ließ sie gern in dem Glauben.

Ich war es so leid. Immerhin tat ich alles, was in meiner Macht stand, um die Welt zu schützen, die auch ihn am Leben hielt. So viele Worte tanzten mir rebellisch auf der Zunge herum – alles, was ich in diesem Augenblick tun konnte, war zu schweigen.

»Wir haben mit eigenen Augen gesehen, wozu du imstande bist«, sagte eine der Frauen, die Hector begleitete, und verschränkte die Arme. Sie war dabei gewesen, als es mir gelungen war, Caspian auf dieselbe Weise aus einem kaputten Buch zu retten, bei der ich jetzt so kläglich versagte. Mein Gehirn kramte verzweifelt nach ihrem Namen. Wilhelmina de Castro? »Da ist es schon etwas merkwürdig, dass nun überhaupt nichts passiert. Wir fragen uns, warum das so ist«, fuhr sie fort, und ich hatte nicht übel Lust, sie aufzufordern, es doch einfach selbst einmal zu versuchen. Stift und Papier lagen bereit, es konnte sofort losgehen. Doch natürlich war ihr nicht danach, ihr Leben aufs Spiel zu setzen. Migras, die Geschichten aufschrieben, gingen ein hohes Risiko ein, das nicht selten tödlich endete. Und ich war da die Ausnahme, die die Regel bestätigte.

»Erklär es uns«, forderte nun die zweite Frau, Rani Kumani, ruhig und verschränkte die Arme. Dabei raschelte der Stoff ihres prächtigen Saris hörbar.

Kumani war eine Frau, die nicht laut werden musste, um sich Gehör zu verschaffen, und nicht drohen musste, um ernst genommen zu werden. Ein Blick von ihr reichte völlig, damit mir kalt wurde. Ich schluckte und sah der Rätin in die Augen.

»Ich tue wirklich, was ich kann«, erklärte ich mit, wie ich hoffte, fester Stimme. »Wir arbeiten Tag und Nacht, ich mache kaum etwas anderes. Aber bisher ist es mir nicht gelungen, passende Idea herzustellen.«

»Annie hat Vielleicht niemals, vielleicht nie gelesen«, kam Abraxas mir zu Hilfe. »Sie weiß nicht, wie sich die Idea der Reihe angefühlt hat, als sie noch intakt war. Und jetzt ist sie so kaputt, dass die Reste nicht einmal reichen, um eine Ahnung zu bekommen. Kein Wunder, wenn Sie mich fragen. Das Herz dieser Reihe ist schließlich tot.«

»Wir haben dich aber nicht gefragt, Orphyn«, fuhr Hector ihn an, und Abraxas knirschte hörbar mit den Zähnen. Hectors Augen waren kalt wie eiskalte Bergseen, doch seine Stimme hatte einen unbefangenen Plauderton, als er mich fragte: »Glaubst du, dass du es noch schaffen kannst, Annie?«

Sein Blick durchbohrte mich, und ich hasste es. Immerhin wurde ich selbst halb wahnsinnig darüber, dass es nicht funktionierte.

»Ich weiß einfach nicht, wie«, antwortete ich wahrheitsgemäß und schämte mich, weil es sich anfühlte, als würde ich das Handtuch werfen.

»Gibt es noch jemanden, der es versuchen kann?«, fragte Kumani und sprach damit Abraxas das erste Mal direkt an.

»Viele Migras, die die Reihe früher geliebt haben, sind noch immer zu schwach, um überhaupt aus dem Bett aufzustehen.« Abraxas seufzte und rieb sich mit der flachen Hand durchs Gesicht »Außerdem bezweifle ich sehr, dass außer Annie noch jemand in der Lage wäre, Idea-Stränge zu produzieren, die überhaupt stark genug wären, die Geschichte zu restaurieren. Wir sprechen hier schließlich von einem Weltbestseller. Für so ein Unterfangen braucht es schon Annies spezielle Gabe.«

»Wir haben es seit vielen Jahrzehnten nicht mehr ausprobiert«, gab Hector achselzuckend zurück. »Vielleicht ist Annie nicht die Einzige, die diese Gabe in sich trägt, sondern nur die Einzige, die töricht genug war, sie zu benutzen, obwohl es verboten ist. Wer sagt uns, dass es sich nicht lohnen könnte, noch nach anderen zu suchen, die sind wie sie?«

»Das wäre ein Todesurteil, Hector«, mischte sich Hyacintha Abraham ein, die bisher an ein Bücherregal gelehnt eher unbeteiligt gewirkt hatte. Rätin Kumani und Rätin de Castro nickten.

Hector presste die Lippen fest aufeinander. Schließlich sagte er: »Dann beenden wir dieses Experiment heute Nacht. Morgen wird eine Gedenkfeier für Lady Hamilton abgehalten. Wenn sie nicht wiederkommt, sollten sich diejenigen, die sie geliebt haben, wenigstens von ihr verabschieden können.«

Gänsehaut überzog meinen Körper bei diesen Worten. Ich fühlte mich so elend, als hätte ich Lady Hamilton eigenhändig getötet; dabei war es mir nur nicht gelungen, sie wiederzubeleben.

Charon und sein Gefolge hatten Lady Hamilton umgebracht, nicht ich. Glaubte man den Berichten der Migras, die in jener Nacht im Buch waren, hatte er sogar eigenhändig das Messer geführt, das ihre Kehle aufgeschlitzt hatte.

Es war seine Schuld. Das wusste ich. Doch unter Hector Abrahams Blick fühlte es sich an wie meine.

»Ist das wirklich nötig, Hector?«, schaltete sich Rätin de Castro ein.

Der Vorsitzende rieb sich die Schläfen. »Wir haben doch darüber gesprochen, Wilhelmina«, gab er zurück, und ich hatte das Gefühl, als fiele es ihm schwer, seine Fassade des ruhigen Politikers aufrechtzuerhalten.

»Haben wir. Und ich verstehe nicht, warum wir nicht wenigstens versuchen, Lady Hamilton zu ersetzen. Das haben wir früher in solchen Fällen immer gemacht.«

»Dafür ist es längst zu spät«, zischte Rätin Kumani. »Das Buch ist komplett zerstört.«

»Außerdem gibt es einen Haufen guter Gründe, es nie wieder zu tun. Das weißt du genau. Und jetzt will ich nichts mehr davon hören«, sagte Hector scharf, und für einen kurzen Moment hatte ich das Gefühl, dass alle im Raum mich anstarrten.

Kumani nickte. »Ich bin Hectors Meinung. Es ist viel zu gefährlich.«

De Castro runzelte die Stirn. »Das sollte ich selbst wohl am besten wissen«, hielt sie dagegen. »Immerhin habe ich acht Jahre in einem Buch gedient.«

Ich riss die Augen auf. »Das geht?«, fragte ich, perplex und fasziniert zugleich. Davon hatte ich noch nie gehört.

Hector Abraham holte gerade tief Luft, da hob Hyacintha energisch die Hand. »Darf ich euch daran erinnern, dass Annie trotz allem noch immer eine Schülerin ist? Sie hat jetzt wirklich schon genug gehört, das nicht für ihre Ohren bestimmt war, und sowieso gehört sie dringend ins Bett.« Ihr Lächeln wirkte genauso unecht wie das ihres Bruders, als sie sich mir zuwandte und ergänzte: »Ich möchte, dass du jetzt auf dein Zimmer gehst, Annie. Schlaf dich aus, dein Tag war lang genug. Ich halte die Entscheidung meines Bruders für weise. Du hast getan, was du konntest. Jetzt ist es Zeit, Lady Hamilton zu verabschieden.«

»Aber –«, wollte ich zu einem Protest ansetzen, als Abraxas aufstand und mich ebenfalls hochzog.

»Ich bin auch sehr müde«, erklärte er, und die Rektorin verstand.

»Wir ziehen uns zurück.« Sie suchte meinen Blick. »Kommst du, Annie?«

»Ich muss hier noch ein paar Sachen zusammenpacken«, log ich, und die Rektorin nickte knapp. Dann verließ die Gruppe unsere behelfsmäßige Werkstatt. Kaum waren sie außer Hörweite, platzte es aus mir heraus: »Es gibt eine Möglichkeit, tote Buchfiguren zu ersetzen? Warum weiß ich nichts davon?«

Abraxas bedachte mich mit einem fast schon gequälten Gesichtsausdruck. »Du stellst viel zu viele Fragen. Je weniger du weißt, desto sicherer bist du, Annie«, antwortete er, ohne mir damit wirklich eine Antwort zu geben. »Lass dir das von jemandem sagen, der es am eigenen Leib erfahren musste.«

»Aber Hector hat doch selbst gesagt …«

»Hector Abraham ist ein sehr gefährlicher Mann«, fiel Abraxas mir ins Wort. »Vor allem für jemanden wie dich. So viel Macht erlangt man nicht durch Freundlichkeit, und noch weniger erhält man sie damit. Dein Leben bedeutet ihm nichts, das hat er doch schon bewiesen, Annie!«

Ich schluckte und legte mir unwillkürlich die Hand an den Hals.

»Werd nicht unbequem. Stell keine Fragen. Hast du mich verstanden?« Abraxas’ Stimme war eindringlich, seine schwarzen Brauen wanderten in Richtung Haaransatz und ich musste wieder einmal schlucken, als mein Blick auf seine Haarstoppeln fiel. Nach dem Einsturz seines Glaskastens hatte er sich die schönen langen Locs abrasiert.

Ich nickte. Eine Gänsehaut hatte sich überall auf meinem Körper ausgebreitet, weshalb ich die Arme schützend um meine Schultern schlang.

»Gut.« Abraxas lächelte. »Und jetzt geh schlafen. Du hast es dir wirklich verdient.«

 

Ich suchte meinen Weg durch das labyrinthartige Gewirr aus Gängen, Höhlen und Stollen aus dem Bauch der Bibliothek nach oben. Was einfacher klang, als es in Wirklichkeit war. Seit einem weiteren Teileinsturz vor über einer Woche war es noch komplizierter geworden, sich in der riesigen Bibliothek unter Bookford Manor zurechtzufinden. Einige Gänge waren noch immer verschüttet, andere einsturzgefährdet und wieder andere gesperrt, weil rund um die Uhr Reparaturarbeiten stattfanden.

Die Ratsmitglieder, so schien es, waren noch langsamer als ich. Vielleicht hatten sie sich sogar verlaufen, denn als ich den Saal mit Kriminalliteratur der Fünfzigerjahre betrat, hörte ich auf einmal wieder ihre Stimmen. Ich hielt inne und schob mich hinter eines der hohen Regale, um nicht entdeckt zu werden.

»… wird nicht viel nützen«, sagte Rani Kumani gerade auf ihre strenge, nüchterne Art. »Scandally Royal scheint auch betroffen zu sein. Und wer weiß, wie viele noch!«

»Vielleicht ist es Zeit, Hector«, ergänzte eine Stimme, die ich als die von Rektorin Abraham erkannte. Sie klang sanft und fast schon tröstend.

Ich hörte Hector Abraham vernehmlich seufzen. »Gut«, befand er nach einem Moment angespannten Schweigens. »Ich rufe Alicia an.«

Ihre Schritte entfernten sich, und ich wartete noch eine Weile angespannt, bis ich mich aus meiner Deckung wagte. Ein weiteres Buch war also betroffen. Das war zwar abzusehen gewesen, die Neuigkeit traf mich dennoch hart.

Als ich die großen, höher gelegenen Hallen erreichte, konnte ich wieder etwas freier atmen. Hier war es nicht ganz so still und einsam wie in dem tiefer liegenden Bereich, in dem ich momentan die meiste Zeit verbrachte. Im Gegenteil – die große Halle, in der zeitgenössische Literatur zu finden war, wirkte regelrecht einladend auf mich. Nach dem Zusammenbruch von Vielleicht niemals, vielleicht waren viele Lernende in die Bibliothek umgezogen, um sich von dem riesigen Idea-Verlust zu erholen, und hatten die Halle in einen großen Schlafsaal verwandelt, der Tag und Nacht eine chaotische Gemütlichkeit ausstrahlte.

Ein Großteil schlief bereits auf den Feldbetten, die überall zwischen den Bücherregalen Platz gefunden hatten. Manche lasen noch im blassen Licht der Leuchtschrift, in der unentwegt Zitate an die Höhlendecke projiziert wurden. Während ich mir einen Weg durch die Regale und Feldbetten bahnte, über Bücherstapel, Taschen, Rucksäcke, Kuscheltiere, benutzte Teller, Tassen und Klamottenstapel hinwegstieg, wurde ich von einer Welle der Zuneigung ergriffen. Trotz allem Ärger und all der Scham erinnerte ich mich wieder daran, warum ich mir die Tage und Nächte eigentlich um die Ohren geschlagen hatte. Nicht, weil der Hohe Rat es von mir erwartete, und auch nicht, um mich zu beweisen oder die Zweifel, die einige Migras noch gegen mich hegten, endlich auszuräumen. Nein. Ich hatte es für sie getan. Für uns alle. Weil ich verzweifelt einen Weg finden wollte, die Welt der Migras zu schützen.

Kurz überlegte ich, bei Fitz und Arabella vorbeizuschauen, einfach nur, um ganz selbstsüchtig in den Arm genommen zu werden. Fitz’ kleine Schwester war ein großer Fan der Reihe um Lady Hamilton gewesen und war ziemlich schnell nach dem Einsturz lethargisch und sehr blass geworden, weshalb sie nun zusammen mit Fitz hier unten schlief.

Doch ich entschied mich gegen einen Besuch bei den beiden. Wahrscheinlich waren sie ohnehin nicht mehr wach, und aufwecken wollte ich sie auch nicht. Vor allem Arabella brauchte jeden Schlaf, den sie bekommen konnte, um wieder auf die Beine zu kommen.

Ich hatte die Bibliothek schon fast verlassen, als ungewohnte Geräusche und gedämpfte Stimmen meine Aufmerksamkeit auf sich zogen. Als ich mich umdrehte, konnte ich beobachten, wie eine Gruppe Migras die Treppe hochgestiegen kam, die hinunter zu den Oxys führte. Bei ihrem Anblick sog ich zischend Luft durch die Zähne, denn selbst im Schummerlicht der Leuchtschrift war zu erkennen, dass mit den dreien etwas nicht stimmte. Zwei Frauen, die ich noch nie gesehen hatte, stützten einen schwer verletzten Mann. Eine der beiden sah selbst auch nicht gerade gut aus, ihre Stirn zierte eine Platzwunde, und ein Auge war zugeschwollen. Die andere wirkte äußerlich unverletzt. Ihr Kopf zuckte wachsam hin und her, und als sie mich bemerkte, warf sie mir einen derart stechenden, durchdringenden Blick zu, dass ich mich lieber schnell wieder abwand.

Es war nicht das erste Mal, dass ich in der Bibliothek auf verletzte Agent*innen traf, doch erst jetzt begriff ich, dass sie es offenbar in immer mehr Büchern mit Charons Leuten zu tun bekamen. Natürlich. Die ganzen verletzten Migras waren Beweis genug, dass sich der Kampf längst nicht mehr auf Vielleicht niemals, vielleicht beschränkte. Worüber in der Schule jedoch kein Wort verloren wurde.

Ich verließ die Bibliothek und betrat einen der Fahrstühle, von denen auch nur noch die Hälfte in Betrieb war.

Als sich die Aufzugtüren gerade schließen wollten, bemerkte ich ein kleines Mädchen, das hektisch winkend auf mich zurannte. Ihre nackten Füße klatschten vernehmlich auf dem Steinfußboden, und irgendwie wirkte das Geräusch zu laut in meinen Ohren. Ich schob meine Hand in die Lichtschranke, um die Türen aufzuhalten. Vielleicht wollte sie ja mit nach oben fahren.

»Annie Doyle?«, fragte sie stattdessen außer Atem, kaum dass sie mich erreicht hatte, und ich nickte.

»Ich hab was für dich.« Die Kleine lupfte das Oberteil ihres gestreiften Schlafanzugs an und zog eine zerlesene Taschenbuchausgabe von Peter Pan hervor, die sie mir entgegenstreckte. »Hier«, sagte sie und grinste verschwörerisch.

Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte, lächelte aber freundlich. »Danke, aber ich habe meine eigene Ausgabe«, erklärte ich und wollte ihr das Buch damit wieder zurückgeben, doch das Mädchen schüttelte energisch den Kopf.

»Die hier ist etwas ganz Besonderes.« Die letzten Worte betonte sie mit weit aufgerissenen Augen. »Du solltest unbedingt reinlesen. Okay?«

»Okay. Ich werde es mir ansehen«, versprach ich, und das Mädchen nickte zufrieden. Dann machte sie auf dem Absatz kehrt und rannte zurück in die Bibliothek. Ich sah ihr stirnrunzelnd nach, während sich die Aufzugtüren schlossen und ich auf das E für Erdgeschoss drückte.

In der Eingangshalle herrschte absolute Stille. Diese Stille war neu und hatte Bookford Manor nach dem großen Beben ereilt. Wo früher viel gerannt, gelacht und gerufen worden war, war das Flüstern eingezogen. Das Wegschauen. Das Auf-dem-Zimmer-Bleiben. Bookford Manor hatte sich gemeinschaftlich dazu entschlossen zu trauern. Ohne ein Wort darüber zu verlieren. Doch ich musste zugeben, dass die Stille an meinen Nerven zu zerren begann. Sie machte jeden Schritt und jeden Handgriff, jedes Wort um so vieles lauter.

Zwar war es mittlerweile kurz vor ein Uhr nachts, doch normalerweise war das noch keine Uhrzeit, in der auf Bookford Manor diese Art der Stille herrschte. Heute Nacht hörte ich jeden meiner eigenen Atemzüge. Auch die Tafel, die normalerweise klappernd über die Reisen mit den Schuloxys informierte, regte sich nicht. Seit Caspian in der Lexis zurückgeblieben und Lady Hamilton ermordet worden war, war es uns Lernenden nicht mehr ohne Weiteres möglich, die Oxys zu benutzen. Oberon hatte die Tür mit einem Zahlenschloss gesichert, und nur, wer die Kombination für den aktuellen Tag kannte, konnte den Bereich betreten. Wollte man reisen, musste man sein Anliegen bei Hüter Fornax vorbringen und hoffen, dass die Reise genehmigt wurde. Was beides zuletzt immer seltener vorgekommen war.

Plötzlich überfiel mich eine so bleierne Müdigkeit, dass ich kurz überlegte, mich einfach in den nächstbesten Sessel sinken zu lassen, um nicht hoch in mein Turmzimmer steigen zu müssen. Die träge Idea, die zwischen den Polstern gespeichert war, würde wohl binnen Sekunden dafür sorgen, dass ich einschlief – und vielleicht sogar die Albträume fernhalten. Was ein verlockender Gedanke war, gelang es mir doch immer schlechter, die Ruhe zu finden, die ich für erholsamen Schlaf brauchte. In meinem Kopf war einfach viel zu viel los.

Doch die bildliche Vorstellung, bereits in wenigen Stunden sabbernd und schnarchend von einer Horde Fünftklässler oder, noch schlimmer, Anthea und ihrem Gefolge hier vorgefunden zu werden, ließ mich dann doch den langen Aufstieg in mein Turmzimmer antreten. Mit einer weiteren zehrenden Nacht in den Knochen und tausend Fragen im müden Kopf.

Zett lag schon ausgestreckt auf meinem Bett, als ich die Tür öffnete. Ich hatte aufgegeben, mich zu fragen, wie er das immer machte. Genau wie die Katzen schien er einen anderen Weg in mein Zimmer hinein und wieder hinaus zu kennen.

Ich gab ihm eine große Portion Trockenfutter und füllte sein Wasser auf. Wir waren beide zu der stummen Übereinkunft gekommen, dass ich jetzt für diese Dinge verantwortlich war. So wie er selbst war auch sein Napf eines Tages vollkommen unverhofft hier aufgetaucht, und ich hatte den Wink mit dem Zaunpfahl verstanden.

Eine Weile kraulte ich ihn gedankenverloren hinter den Ohren, während ich versuchte, die letzte Stunde zu verarbeiten. Erst, als ich meine Glieder schwerfällig aus den Klamotten schälte, fiel mir das Buch wieder ein, das mir die Kleine vorhin bei den Fahrstühlen gegeben hatte. Ich zog es gemeinsam mit Silberkorn aus der geheimen Innentasche meiner dünnen Trainingsjacke, die mir Gewandmeister Tamino freundlicherweise eingenäht hatte. Seit ich wusste, dass ich das einzige Exemplar von Silberkorn besaß, das überhaupt existierte, ließ ich das Buch kaum noch aus den Augen.

Das Exemplar von Peter Pan, das ich nun in den Händen hielt, wirkte hingegen überhaupt nicht wie etwas Besonderes, sondern wie eine stinknormale Billigausgabe. Ich blätterte einmal rasch mit dem Daumen durch die Seiten, wobei ein winziger Zettel herausfiel und zu Boden segelte. Neugierig bückte ich mich danach.

Das zusammengefaltete Stück Papier erinnerte mich an die Briefchen, die während Unterrichtsstunden die Runde machten. Nur viel, viel kleiner. Zusammengefaltet war das Ding nicht größer als meine Fingerkuppe, und hätte mir das Mädchen dieses Taschenbuch nicht mit einem so vergnügt-verschwörerischen Blick überreicht, hätte ich es wohl für Müll gehalten und einfach weggeworfen. Doch nun war ich schlagartig wieder hellwach und ein bisschen aufgeregt. Schließlich wusste ich ja, wer in diesem Buch wohnte.

Also setzte ich mich an meinen Schreibtisch und knipste das Licht an. Dann fummelte ich behutsam den stramm zusammengefalteten kleinen Zettel auseinander, nur um festzustellen, dass dort zwar Worte standen, diese aber so klein waren, dass ich sie selbst dann nicht lesen konnte, wenn ich meine Nase ganz dicht ans Papier drückte. Doch das war zum Glück kein großes Problem.

Aus der untersten Schublade meiner Kommode, dort, wo ich alles verstaute, was ich zum Tätowieren brauchte, kramte ich meine Stirnlupe hervor. Wenn man, so wie ich, Tattoos nur von Hand mit einer Nadel stach, war es ratsam, dafür eine Lupe zu Hilfe zu nehmen. Im Gegensatz zu Leuten, die ihre Tattoos mit Maschinen stachen, zog ich keine Linien, sondern baute sie auf. Punkt für Punkt für Punkt.

Ich streifte mir das schwarze Gummiband, an dem die Stirnlupe befestigt war, über den Kopf und klappte das Vergrößerungsglas nach unten. Nun konnte ich lesen, was mir Peter Pans sehr wehrhafte und gefühlsstarke Fee geschrieben hatte: Wir müssen reden. Samstagabend warte ich ab neun Uhr in Silberkorns Höhle. Komm dort hin.

Ich ließ den Zettel sinken. Wir müssen reden. Himmel, ja, das mussten wir wirklich! Aber um mit ihr reden zu können, brauchte ich erst einmal ein Oxy. Und für eine Reise in ein Buch, das gerade von Charon und seinen Leuten überfallen worden war und Caspian fast das Leben gekostet hätte, bekäme ich wohl kaum eine offizielle Reiseerlaubnis.

Ich streckte mich und gähnte so herzhaft, dass ich das Gefühl hatte, mir den Kiefer auszurenken. Heute Nacht brauchte ich mir den Kopf darüber noch nicht zu zerbrechen. Mit diesem müden Gehirn war ich ohnehin zu nicht mehr viel fähig. Also schlüpfte ich in mein Schlafshirt und dann unter die Decke.

Meine Augen brannten, als ich die Lider schloss, und sofort startete eine Slideshow aus Erinnerungen an Caspian und mich. Das passierte eigentlich immer, wenn ich versuchte einzuschlafen, und es hatte noch nicht aufgehört wehzutun. Mein eigenes Gehirn war mein größter Feind. Dabei wollte ich ihn – und uns – doch einfach nur vergessen.

Zum Glück war ich in dieser Nacht so müde, dass das Kopfkino nach dem Vorspann wenigstens nahtlos in wirre Träume überging.

2

Nach nur sechs Stunden unruhigen Schlafs wurde ich vom lauten Klopfen meiner Zimmernachbarin Psyche geweckt, die mich unbarmherzig aufforderte, aufzustehen, da alle Lernenden in den Speisesaal beordert worden waren. Ich ahnte bereits, wofür, und presste meine Lider so fest ich konnte aufeinander, weil ich nicht wusste, wie ich eine Gedenkfeier für Lady Hamilton überstehen sollte. Frische Scham darüber, dass ich endgültig versagt hatte, wallte in mir auf, und ich war froh, dass nur Fitz und Mac neben dem Rat, Abraxas und der Rektorin überhaupt von meinen Versuchen wussten, Vielleicht niemals, vielleicht zu reparieren. Ich konnte darauf verzichten, missbilligend angestarrt zu werden.

Wenig später betrat ich den großen Saal und staunte nicht schlecht. In den wenigen Stunden, die seit dem Abendessen vergangen waren, war hier alles umgebaut worden. Die Tische, an denen wir normalerweise aßen, standen verwaist an die Wände geschoben, während alle Stühle in langen Reihen aufgestellt waren. Sie standen mit Blick zur Empore, auf der ein mit weißen Rosen geschmücktes Pult aufgebaut war. An die hintere Wand des Saales wurden die Cover der Vielleicht-niemals-vielleicht-Reihe projiziert. Ich atmete tief durch und ließ meinen Blick suchend über die Köpfe der Schülerschaft schweifen, bis ich Mac entdeckte, der mir zuwinkte.

Mit einem gezwungenen Lächeln auf den Lippen schob ich mich durch die Stuhlreihen und ließ mich schließlich auf den freien Platz zwischen meine beiden Freunde Fitz und Mac fallen.

Fitz musterte mich mit dem für sie so typischen Ermittlerinnenblick. »Du siehst aus wie der Tod auf Latschen«, erklärte sie mit dem Fingerspitzengefühl eines Vorschlaghammers.

»Ja, dir auch einen guten Morgen«, nuschelte ich und nahm den Kaffeebecher entgegen, den Mac mir ganz selbstverständlich hinhielt. Er hatte sogar irgendwo einen kleinen Keks aufgetrieben, obwohl das Buffet noch gar nicht aufgebaut worden war. Vielleicht stammte er aus seinem eigenen, schier unerschöpflichen Snackfundus, der sich dank der Carepakete seiner Mutter immer wieder auffüllte.

»Wie spät war es gestern?«, fragte er mitfühlend und ließ die Hand in die Tasche seiner Uniformjacke gleiten, aus der ein leises Knistern ertönte. Dann schob er sich blitzschnell einen Keks zwischen die Lippen.

»Halb zwei oder so«, murmelte ich, bevor ich einen Schluck nahm. »Aber es war ja das letzte Mal.« Seufzend deutete ich mit dem Kopf auf die Empore. »Wir nehmen offiziell Abschied von Lady Hamilton und dem Glauben, dass ich Vielleicht niemals, vielleicht reparieren kann.«

Ich presste die Lippen aufeinander und fühlte, wie mir Tränen in die Augen stiegen. Zu gern wäre ich diejenige gewesen, die alles wieder hinbog. Wie die Heldin in einem Fantasyroman. Die Auserwählte, die mit ihrer besonderen Gabe den Lauf des Schicksals wendet.

»Du wusstest also schon davon«, bemerkte Fitz. Es war keine Frage.

Ich nickte. »Heute Nacht war Abrahams Bruder hier. Zusammen mit zwei Frauen vom Hohen Rat.«

Meine Freunde blickten mich an, doch ich hielt die Augen starr geradeaus gerichtet, während ich weitersprach. »Sie wollten sich über meine Fortschritte informieren. Aber es gibt keine Fortschritte, über die man sich informieren könnte – und das habe ich ihnen genau so gesagt«, erklärte ich düster und nahm noch einen Schluck Kaffee. Er war lauwarm und eigentlich nicht stark genug, um mich wirklich wach zu machen. Doch welcher Kaffee wäre das schon? »Deshalb haben sie beschlossen, das Experiment zu beenden, wie Hector sich ausdrückte.«

Ich rieb mir mit der flachen Hand durchs Gesicht und griff dankbar nach der Hand, die Mac mir hinhielt. »Ich hab’s verkackt«, flüsterte ich.

Fitz stieß mir sanft den Ellbogen in die Rippen. »So ein Quatsch«, zischte sie. »Zieh dir das bloß nicht an, nur weil du die Einzige bist, die es überhaupt versuchen konnte. Nicht du hast Lady Hamilton umgebracht.«

Ich nickte, nur halb überzeugt. Natürlich wusste ich, dass Fitz recht hatte. Mein Kopf wusste es. Aber mein Herz weigerte sich, es auch zu fühlen. Und zumindest bei mir war das Herz das deutlich lautere Organ.

»Ich habe aber noch ein paar andere Dinge erfahren: Früher war es wohl möglich, Buchfiguren durch Agent*innen zu ersetzen, wenn ihnen etwas zustieß«, berichtete ich weiter, so leise ich konnte. »Doch es muss etwas Schlimmes passiert sein, weshalb von dieser Möglichkeit nicht mehr Gebrauch gemacht wird.«

Fitz nickte. »Ich habe meine Großeltern mal darüber reden hören«, flüsterte sie zurück. »Offenbar wurden noch in den Fünfziger- und Sechzigerjahren Spezialagent*innen ausgebildet, die im Ernstfall die Rollen der Protas in den wichtigen Bestsellerreihen übernehmen konnten.«

Ich runzelte die Stirn. »Charon kam mir noch gar nicht so alt vor. Er kann unmöglich damals schon die Bedrohung gewesen sein, oder?«

Fitz schüttelte den Kopf. »Da ging es nicht um so was. Aber es passiert ab und an, dass eine Buchfigur in Interlineas umkommt. Sterben sie einen Tod, der im Buch nicht für sie vorgesehen ist oder verlassen sie den Schutz ihrer Handlung, können sie tatsächlich sterben oder getötet werden. Streit gibt es auch unter Buchfiguren, deshalb gibt es ja die Agent*innen der Liga. Um Meinungsverschiedenheiten zwischen Buchfiguren zu schlichten, bevor die Situation eskalieren kann, und Feindschafen im Keim zu ersticken.«

»Als die Geschichten noch schwermütiger waren als heute, haben sich bestimmt auch ein paar Buchfiguren das Leben genommen«, überlegte Mac flüsternd und sah dabei sehr nachdenklich aus.

Ich nickte. »Das ergibt Sinn. Aber warum wird es nicht mehr gemacht? Im Fall von Vielleicht niemals, vielleicht hätte es viele Migras retten können. Irgendwas muss passiert sein. Und es war Hector Abraham sehr daran gelegen, dass ich nicht erfahre, was genau.« Ich knibbelte nachdenklich an meinem Nagelbett herum. »Ich meine: Was könnte so schlimm sein, dass selbst er davor zurückschreckt?«

»Gute Frage.« Fitz nickte. »Immerhin hat er billigend in Kauf genommen, dass du bei dem Versuch, Silberkorn zu reparieren, draufgehen könntest.«

Ich dachte an den Tag, an dem ich mein Leben aufs Spiel gesetzt hatte, um Caspian aus meinem kaputten Lieblingsbuch zu befreien. Zwar war ich zuversichtlich gewesen, dass mir nichts passieren würde, aber ich war auch bereit gewesen, mir selbst erheblichen Schaden zuzufügen, um ihn zu retten. Hector Abraham hatte meine Bemühungen damals mit Gleichmut, fast schon mit Amüsement beobachtet. Bei der Erinnerung an seinen Blick, während er meinen tollkühnen Plan abgesegnet hatte, überlief mich ein Schauder. »Billigend in Kauf genommen ist gut«, schnaubte ich. »Er war regelrecht sensationslüstern. Nur die Rektorin war zumindest grundsätzlich daran interessiert, mich am Leben zu halten.«

»Ich hätte mir allerdings auch von ihr ein bisschen mehr erwartet«, warf Mac ein, und Fitz nickte heftig. Meine beiden Freunde waren dabei gewesen, als ich ins Büro der Rektorin eingedrungen war, um dem Hohen Rat meinen Plan zu unterbreiten.

»Ja, das war keine ihrer Glanzstunden«, murmelte Fitz. Sie nahm ihre Brille ab, um sie mit dem Ärmel ihrer Sweatjacke zu putzen. Auf ihrer Stirn hatte sich eine schnurgerade Falte gebildet, wie immer, wenn sie angestrengt über etwas nachdachte.

Der Saal war mittlerweile mit murmelnden Lernenden gefüllt. Ich sah die blassen Gesichter der Migras, die die letzten Wochen im Krankenflügel verbracht hatten, genauso wie Vertretende des Lehrkörpers und die ganz Kleinen, die gerade erst auf Bookford Manor angefangen hatten. Es waren wirklich alle da.

»Im Archiv steht bestimmt alles über die Gründe, warum Agenten und Agentinnen keine Buchcharaktere mehr ersetzen können, aber da komme ich nicht rein«, murmelte Fitz. »Die Tür ist mit einem Code gesichert, der angeblich neunstellig sein soll.« Sie zuckte resigniert die Schultern. »Da kommen Peters kleine Dietriche nicht gegen an.«

Mac grinste breit und warf mir einen amüsierten Blick zu. Fitz sprach gefühlt jede zweite Woche darüber, wie gern sie ins Archiv der Schule eindringen und sich dort ein bisschen umschauen würde. Glaubte man ihren Ausführungen, fanden sich dort die Antworten auf beinahe all unsere Fragen.

»Schade.« Ich seufzte. »Aber auch irgendwie egal. Sie wollen es ja ohnehin nicht versuchen. Und das, obwohl ein zweites Buch betroffen zu sein scheint.«

Mac sog scharf Luft durch die Zähne. »Was? Noch ein Buch?«

Ich nickte. »Ein Werk namens Scandally Royal«, erklärte ich. »Heute Nacht habe ich schon wieder ein paar verletzte Agent*innen von den Oxys kommen sehen.«

Fitz stieß einen leisen Pfiff aus, und auch Mac wirkte ernsthaft besorgt, dabei brauchte es einiges, um ihn aus der Fassung zu bringen. Zumal er und seine Familie dank ihrer Vampiraffinitäten noch nicht einmal betroffen waren.

»Scandally Royal ist zwar jetzt kein Megaseller, aber das gefällt mir nicht. Viele, die vorher ihre Idea aus Vielleicht niemals, vielleicht gezogen haben, haben sicher zu dieser Reihe gewechselt. Sie stand damals in der Kritik, ein Rip-off der Lady-Hamilton-Saga zu sein«, erklärte er, und ich bekam ebenfalls ein flaues Gefühl im Magen. Welchen Plan verfolgte der Fährmann und warum? Was war sein großes Ziel? Fingerhut, meine Freundin aus Silberkorn, hatte vermutet, er sei auf einen Platz in der Lexis aus, für sich und seine Gefolgsleute. Allerdings hatte der Typ auf mich nicht wie einer gewirkt, der sein Leben in einem romantischen Roman verbringen und Menuett in Ballsälen tanzen wollte. Warum hatte er es jetzt genau auf diese Bücher abgesehen?

»Weißt du mehr darüber?«, fragte Fitz, und ich schüttelte den Kopf.

»Ich nicht, aber Glöckchen womöglich. Sie will mich heute Nacht in Silberkorn treffen, fragt sich nur, wie ich …«

»Liebe Lernende von Bookford Manor«, schallte da Hector Abrahams Stimme durch den Saal und ließ mich zusammenzucken. Ich hatte gar nicht mitbekommen, dass der Oberste den Saal betreten hatte. Er stand neben seiner Schwester auf der Empore am Rednerpult und blickte auf uns herab.

Die beiden Geschwister waren vollkommen in Schwarz gekleidet. Hector trug einen förmlichen schwarzen Anzug, Hyacintha kombinierte ihre Uniformhose mit einer schwarzen Bluse. Genau wie ihr Bruder hatte sie die weißblonden Haare zu einem strengen Zopf geflochten, der zwischen ihren Schulterblättern verschwand.

Sofort kehrte Ruhe im großen Saal ein, und Hector Abraham holte tief Luft. »Heute sind wir alle zusammengekommen, um Lady Hamilton zu gedenken. Einer Buchfigur, die viele von uns geliebt und geschätzt haben, und die auf so tragische Weise aus dem Leben geschieden ist.«

»Ja klar«, flüsterte Fitz sarkastisch. »Ein bestialischer Mord ist wirklich eine tragische Angelegenheit.« Ich nickte zustimmend.

»Diese Zeiten sind schwer für uns alle, und die Zerstörung der Buchreihe hat die Gemeinschaft der Migras hart getroffen. Doch ich möchte euch bitten, nicht nur an euch selbst, sondern auch an ihren Mann, Lord James Hamilton, und all die Buchfiguren aus unserer geliebten Reihe zu denken, deren Leben nun ebenfalls komplett aus den Fugen geraten ist.« Er breitete die Hände aus wie ein Priester, der zur gesamten Gemeinde spricht. »Wir mögen zwar unterschiedlichen Spezies angehören, aber das Blut der Buchfiguren fließt durch unsere Adern. Es verbindet uns, über die Grenzen unserer Welten hinweg. Deshalb erheben wir uns jetzt für drei Schweigeminuten.«

Hector faltete die Hände vorm Körper, und im Saal erklang allgemeines Stühlerücken. Fitz, Mac und ich standen ebenfalls auf.

Ich schloss die Augen und dachte an die Frau mit dem kleinen Hund und dem absurd riesigen Reifrock in der Selbsthilfegruppe. An ihren Tod und die Frage, wer dafür verantwortlich war und warum. Zwar versuchte ich, die Schuldgefühle zu unterdrücken, doch sie kamen so oder so. Diese drei Minuten des Schweigens erschienen mir endlos lang. Ich hatte das Gefühl zu fallen, auch wenn ich nicht sagen konnte, in welche Richtung. Als Hector endlich wieder sprach, war ich regelrecht erleichtert.

»Ihr könnt euch nun setzen«, sagte er, und ich ließ mich zurück auf den Stuhl plumpsen. Zum Schluss hatten meine Beine vor Müdigkeit zu zittern begonnen.

»Um euch allen ein paar Tage Raum für eure Trauer und Erholung zu verschaffen, haben wir eine Entscheidung getroffen, ich übergebe das Wort hiermit an meine Schwester.«

Der Oberste trat zurück, und Hyacintha übernahm das Pult.

»Um den Tod von Lady Hamilton aufzuarbeiten und die Schule noch besser für die Herausforderungen der Zukunft zu wappnen, haben wir heute Nacht gemeinsam mit dem Hohen Rat beschlossen, die Obersten von New York hierher in unsere Schule einzuladen. Heute, in den frühen Morgenstunden, haben alle ihr Kommen zugesichert.«

Diese Neuigkeit zog lautes, aufgeregtes Gemurmel nach sich. Der ganze Saal summte und brummte wie ein Bienenstock.

»Deshalb haben wir weiterhin beschlossen …«, rief die Rektorin über das Gemurmel hinweg, das sogleich abebbte. »Danke schön«, sagte sie lächelnd, als wieder Ruhe eingekehrt war. »Deshalb haben wir beschlossen, die Schule für ein paar Tage zu räumen, soweit möglich. Wie ihr wisst, sind die Schäden an unserem schönen Schloss immens. Wir wollen versuchen, es wenigstens etwas wohnlicher zu gestalten, bevor unsere Gäste eintreffen. Und ihr sollt überdies, so wie der Oberste gerade sagte, Gelegenheit bekommen, die furchtbaren Ereignisse im Kreise eurer Familie zu verarbeiten.«

»Jetzt auf einmal«, murmelte Fitz bissig. »Für den Höchsten Rat geht das also.«

Mac schnaubte in seine Tasse. Sie hatten recht. Nachdem Teile der Schule eingestürzt waren, hatten vor allem einige der Jüngeren immer wieder darum gebeten, nach Hause fahren zu dürfen. Es war ihnen bisher verwehrt geblieben.

»Uns ist natürlich bewusst, dass viele von euch nicht so einfach und schnell nach Hause kommen. Für manche können sichere Passagen durch die Lexis organisiert werden, und wer näher an der Schule wohnt und sich stark genug fühlt, soll einen der Busse nehmen, die in zwei Stunden vom Vorplatz aus starten werden. Wer kann, nimmt befreundete Migras mit zu sich nach Hause, die Lehrenden helfen euch gerne dabei, das mit euren Eltern zu klären. Die meisten eurer Familien dürften jedoch über das Lex-Net bereits über die besondere Situation informiert sein.«

»Lex-Net?«, fragte ich, und Mac warf mir einen belustigten Blick zu.

»Du weißt nicht, was das ist?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Das ist ein Kommunikationssystem für Migras. Die Nutzung ist ausschließlich voll graduierten Erwachsenen vorbehalten. Unsere Eltern kommunizieren so untereinander, der Hohe Rat gibt auf diese Weise auch neue Richtlinien aus oder Stellungnahmen weiter.«

»Es ist ein großes Intranet«, erklärte Fitz. »Wie bei der Polizei. Nicht unmöglich zu hacken, aber doch sehr schwer zu manipulieren.« Sie zwinkerte mir zu. »Die Menschen sollen schließlich nicht wissen, dass es uns gibt, nicht wahr?«

»Wie hast du denn gedacht, wie das läuft?«, fragte Mac. »Mit Eulen?«

Ich schoss meinem Freund einen garstigen Blick zu. »Ich habe überhaupt nicht darüber nachgedacht«, zischte ich. »Seit ich an dieser Schule bin, war ich zu sehr damit beschäftigt, zu überleben oder das Überleben anderer zu sichern. Da hatte ich keine Zeit, mir übers Intranet den Kopf zu zerbrechen.«