Ligurisches Erbe - Armin Fuhrer - E-Book

Ligurisches Erbe E-Book

Armin Fuhrer

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Beschreibung

Bestseller-Autor Sebastian Wolf sucht im malerischen Bergdorf Montalto Ligure nach Ruhe und Inspiration für seinen nächsten Thriller. Doch als der Dorfpfarrer brutal ermordet wird, findet sich der Schriftsteller inmitten einer Serie mysteriöser Todesfälle wieder. Besteht ein Zusammenhang zu einer alten Dorflegende? Während sich zwischen den engen Gassen und der drückenden Sommerhitze Liguriens die Mordopfer häufen und die Zeit davonläuft, arbeitet Wolf mit Ispettore Flavotti zusammen, um den Täter zu finden. Kann er das Rätsel lösen, bevor der Mörder sein grausames Werk vollendet?

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Seitenzahl: 397

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Armin Fuhrer

Ligurisches Erbe

Kriminalroman

Impressum

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Satz/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © FrankvandenBergh / iStock.com

und JannHuizenga / iStock.com

ISBN 978-3-7349-3378-3

Haftungsausschluss

Personen und Handlung sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Kapitel 1

PadreCrosetto überquerte den kleinen Vorplatz von San Giovanni Battista und ging direkt auf die Eingangstür der Kirche zu. Die Luft flimmerte zwischen den jahrhundertealten Häusern, die frühe Abendstunde hatte noch keine Abkühlung gebracht. Der Schweiß lief ihm in den Nacken. PadreCrosetto hätte vielleicht geflucht wegen dieser unsäglichen Hitze, die ganz Ligurien schon seit einiger Zeit beherrschte, aber als Mann Gottes war ihm das natürlich untersagt. Und außerdem: War nicht jeder Tag, den der Herr ihm schenkte, ein Grund, dankbar zu sein – ganz gleich, ob es nun unerträglich heiß oder kühl und nass war? Schließlich konnte jeder Tag der letzte sein, den man auf Gottes Erde wandelte. So in seine Gedanken versunken, erreichte er die große, schwere Flügeltür, drückte den Griff herunter, stemmte sich leicht gegen das massive Holz und trat ein. Drinnen spürte er die angenehme Kühle des alten Kirchengebäudes. PadreCrosetto lächelte unmerklich. Er fühlte sich bestätigt – der Herrgott ließ einen eben niemals im Stich, und sei es, dass er einem nur kühle Luft zum Atmen schickte.

Ohnehin liebte er diesen heiligen Ort, dieses Haus Gottes, ein prächtiger Bau aus dem 16. Jahrhundert, in dem er dem Herrn nun schon seit 17 Jahren seinen Dienst erwies. Dass das Altarbild des bekannten Renaissancekünstlers Ludovico Brea den Gläubigen nur zur Hälfte hier, an seinem angestammten Platz, Trost spenden konnte, weil die andere Hälfte im Pariser Louvre ausgestellt war, ärgerte ihn zwar immer wieder aufs Neue. Aber wer war er, die Entscheidungen des Herrn infrage zu stellen? Und wenn Gott meinte, das Altarbild sollte geteilt werden, dann sollte es eben so sein.

Jeweils eine Kerze brannte rechts und links neben dem Altar. Der Padre sorgte höchstpersönlich dafür, dass sie rechtzeitig durch neue ersetzt wurden, bevor sie erloschen. Er befeuchtete die Finger der rechten Hand im Weihbecken und bekreuzigte sich. Etwas Zeit blieb ihm noch, bevor sein Besucher eintreffen würde, und so setzte er sich in die letzte Reihe, um für einen Moment die Aura der Kirche in sich aufzusaugen. Wie jeden Tag seit 17 Jahren. Es war ein Ort der Stille und der Erbauung, an dem er seinen Frieden und seine Ruhe fand.

Wer war nur dieser Mensch, der ihn gestern angerufen und kurzfristig um die Beichte gebeten hatte? Dass Fremde sich in die Kirche San Giovanni Battista verirrten, kam nicht oft vor, mal abgesehen von den Touristen, die durch das Gassengewirr von Montalto Ligure streiften und dann irgendwann auch vor der Kirche standen. Aber diesem Menschen war es nur um die Beichte gegangen. Warum? Padre Crosetto würde ihm diese Frage nicht stellen, denn das ging ihn nichts an. Er musste seine Gründe haben, schließlich lief alles nach Gottes Plan ab. Für den Padre hatte es so geklungen, als gehöre die Stimme am Telefon zu einem jüngeren Mann, aber das konnte auch täuschen. Wie dem auch sei: Natürlich versagte ein Mann Gottes einem Hilfesuchenden den Wunsch, die Beichte abzulegen, nicht. Und außerdem, das musste sich PadreCrosetto heimlich eingestehen, konnte es spannend werden, einmal andere Sünden zu hören als die der Dorfbewohner – genauer gesagt die der wenigen, die überhaupt noch zur Beichte kamen.

Der Pfarrer blickte auf seine Uhr. Es war zwei Minuten vor sechs, sein Besucher musste jeden Moment kommen. Zeit also, sich in den Beichtstuhl zu begeben, der sich in der fensterlosen Seitenwand rechts vom Eingang befand, fast ganz in die Ecke gedrückt. PadreCrosetto stand auf, ging zum Beichtstuhl, öffnete die für den Pfarrer vorgesehene rechte Seite, trat ein und setzte sich auf die Holzbank. Innen war es stockdunkel. Kaum hatte der Padre Platz genommen, hörte er, wie die Kirchentür geöffnet wurde. Pünktlich, dachte der Padre zufrieden. Er vernahm Schritte, die sich schnurstracks auf den Beichtstuhl zubewegten. Merkwürdig, schoss es PadreCrosetto durch den Kopf. Wer sich in San Giovanni Battista nicht auskannte, musste sich normalerweise erst an die schwache Beleuchtung gewöhnen und suchte den Beichtstuhl in seiner dunklen Ecke meist eine Weile.

PadreCrosetto hörte, wie sich die Tür auf der anderen Seite des Beichtstuhls mit einem leichten Knarren öffnete und der Besucher eintrat. Er setzte sich ebenfalls auf die Holzbank, dann herrschte einen Augenblick Stille, nur unterbrochen durch das schwere Atmen des Fremden.

»Schön, dass du gekommen bist, mein Sohn«, sagte Crosetto. »Wie kann ich dir helfen?«

Der Mann hinter dem mit einem dunkelroten Vorhang verhängten Gitterfenster räusperte sich. »Danke, dass Sie so kurzfristig Zeit für mich haben, Padre.« Dann stockte er, bevor er fortfuhr: »Ich möchte die Beichte ablegen.«

Crosetto nickte. »Gerne. Worüber möchtest du reden?«, fragte der Pfarrer.

»Padre, ich werde sündigen.«

Crosetto glaubte, sich verhört zu haben. »Du meinst doch sicher, dass du bereits gesündigt hast«, warf er ein.

»Nein, Padre, ich meinte es, wie ich es gesagt habe: Ich werde sündigen«, antwortete der unsichtbare Gast hinter der Wand.

Crosetto war verwirrt, wusste nicht, was er erwidern sollte. Ehe er sich aus seiner Überraschung gelöst hatte, stürmte der andere aus dem Beichtstuhl, riss die Tür auf der Seite des Padres auf und stürzte sich auf ihn, schlang ein dünnes Seil um seinen Hals und zog es zusammen. Crosetto löste sich aus seiner Erstarrung, versuchte, sich zu wehren. Doch der Fremde zog das Seil unbarmherzig fester. Panisch riss der Padre die Augen auf. Er hatte keine Chance. Sein Widerstand wurde schwächer und schwächer, bis Crosetto schließlich in sich zusammensackte.

*

Verwundert stellte Signora Girelli fest, dass die Tür von San Giovanni Battista nicht verschlossen war. Üblicherweise traf PadreCrosetto, mit dem sie an diesem Morgen zur Beichte verabredet war, nach ihr ein. Viel gab es zwar nicht, was sie zu beichten hatte, aber es war besser, das am frühen Morgen zu erledigen und den restlichen Tag mit einer erleichterten Seele zu begehen. So begann sie bereits seit zwölf Jahren jede neue Woche. Vielleicht, so dachte sie, hatte PadreCrosetto sich wegen der Hitze schon sehr früh zu seinem täglichen Zwiegespräch mit dem Herrn in die Kirche begeben. Kein Wunder, denn bereits jetzt, um acht Uhr, stand die heiße Luft zwischen den alten Gemäuern.

Valentina Girelli trat ein, benetzte ihre Finger mit Weihwasser, bevor sie sich bekreuzigte, kurz niederkniete und irgendetwas vor sich hin murmelte, was wie »Geehret seist du, oh Jesus Christus« klang. Dann ging sie direkt zum Beichtstuhl, um sich innerlich auf ihr Gespräch mit dem Padre vorzubereiten.

Kaum hatte sie auf ihrer Seite Platz genommen, überkam sie das Gefühl, nicht allein zu sein. »Padre? Sind Sie schon da?«

Doch der Padre antwortete nicht. Daraufhin zog sie vorsichtig den Vorhang der Zwischenwand zur Seite – und sah ihn. PadreCrosetto lehnte an der Wand und starrte sie mit weit aufgerissenen Augen an. Der Mund stand offen, die Zunge hing heraus. Signora Girelli stockte der Atem, dann schrie sie los. Sie schrie so laut, wie sie noch niemals in ihrem Leben geschrien hatte.

*

Einige Stunden zuvor

Kurven. Immer wieder Kurven. Nahm das denn gar kein Ende? Sebastian Wolf erinnerte sich gar nicht daran, dass die Strecke bergauf sich so hingezogen hatte. Seit er ganz oben auf dem Berg einen kurzen Halt eingelegt hatte, um den Ausblick in das Valle Argentina zu genießen und Jackie die Möglichkeit zu geben, ihr Geschäft zu erledigen, waren doch mindestens 20 Minuten vergangen. Seitdem ging es ständig bergab, die Straße wand sich wie eine Schlange den Berg hinunter, sodass Wolf nicht schneller als 50 Kilometer pro Stunde fahren konnte. Langsam reichte es ihm, immerhin war er seit gestern Morgen unterwegs: von Hamburg über die Autobahn nach Heidelberg, wo er bei seinem alten Herrn für eine Nacht einen Zwischenstopp eingelegt hatte, dann durch Österreich und über den Brenner, schließlich durch Norditalien, vorbei an Mailand und Turin. Bei seinem Vater war es gewesen wie jedes Mal. Man konnte die Gespräche abends beim Wein und morgens beim Frühstück in einem seiner gerne wiederholten Sätze zusammenfassen: »Junge, ich bin unendlich stolz auf dich, aber du musst dir unbedingt wieder eine Frau suchen.« So ging es immer, wenn er den Alten besuchte, seit sechs Jahren, seit Ella gestorben war. »Sie würde wollen, dass du wieder heiratest« – sein Vater war wirklich hartnäckig, was dieses Thema betraf. Für ihn war es unvorstellbar, dass ein Mann mit Mitte 40, ein so erfolgreicher zudem, nicht verheiratet war. Sein Vater hatte Ella gemocht und respektiert, von Anfang an. Ihre Wärme, ihre Intelligenz. Aber nun war Ella bereits so lange tot, da sei es an der Zeit, sich wieder umzuschauen, meinte er.

Immer dieselbe Leier, dachte Wolf, während er in die nächste scharfe Kurve steuerte. Er musste sich konzen­trieren. Der warme Fahrtwind war angenehm, die Sonne stand schon tief in seinem Rücken. Als er oben auf dem Gipfel Pause gemacht hatte, hatte er das Hardtop zurückgeklappt. Der weiße Mercedes Benz SL 380 Cabrio mit den grauen Ledersitzen war genau das richtige Auto für diese ligurische Serpentinenstraße. Schnittig lag er in den Kurven, und ja, er bot genau den Fahrspaß, den der Verkäufer Wolf versprochen hatte, als er sich den Wagen das erste Mal angeschaut hatte. Dass er sich dieses Auto geleistet hatte, hatte er bis heute nicht bereut.

Wolf bemerkte, dass er langsam müde wurde. Er drehte sich kurz um. Jackie lag angespannt in ihrem offenen Korb und blinzelte ihn an. Die Kurven machten ihr zu schaffen, ebenso die Hitze – auch für sie waren die elf Stunden im Auto eine sehr lange Zeit. Vermutlich gefühlt noch viel länger als für ihr Herrchen. Aber für eine sechs Jahre alte, sehr quirlige Jack-Russel-Dame nahm sie die lange Fahrt erstaunlich gelassen hin.

Um sich wach zu halten, schaltete Sebastian Wolf das Radio ein, aber es erklang nur ein eintöniges Rauschen. Er drehte am Knopf, um einen Sender zu finden. Und plötzlich hörte er es: »Ti amo, ti aaamo, ti amo …« Er erstarrte für eine Sekunde. Das durfte doch nicht wahr sein. Musste ausgerechnet jetzt dieses Lied gespielt werden? Eigentlich eine unsagbare Schnulze, aber es war »ihr« Lied gewesen, als sie vor zehn Jahren hier gewesen waren. Ein alter Song, irgendwann aus den Siebzigern, damals ein großer Hit. In den heißen Sommernächten hatten sie das Lied auf der Stereoanlage in der Casa Principessa gespielt, immer und immer wieder, und dazu auf der Terrasse unter dem ligurischen Sternenhimmel geschwoft, bevor sie … Wenn ich eines Tages mal einen kitschigen Liebesroman schreiben wollte, könnte ich diese Szene verarbeiten, dachte er und stellte das Radio wieder ab. Als er die nächste scharfe Kurve nahm, wurde er aus seinen Gedanken gerissen. »Benvenuti a Montalto Ligure« war direkt dahinter auf einem leicht eingedellten und etwas verwitterten Schild zu lesen. Er hatte sein Ziel erreicht, endlich.

Tatsächlich folgte eine weitere Kurve, ehe er wirklich im Ort war. Die Straße wurde noch enger. Auf der Beifahrerseite reihten sich die alten Häuser aus Felssteinen aneinander und darüber schloss gleich die nächste Reihe an, sodass es von unten aussah, als seien sie direkt übereinandergestapelt wie zerbeulte Schuhkartons. Gleich am Ortseingang führte ein schmaler Weg hinauf in das düstere Gassenlabyrinth des Dorfes. Auf der rechten Seite standen kleine Einfamilienhäuser, dahinter ging es steil bergab in das grüne Tal. In der Ferne war der halb offene Tunnel zu sehen, durch den die Straße nach unten führte und dann irgendwann auf die Autobahn stieß. Fuhr man weiter am Meer entlang, kam man zur französischen Grenze bei Ventimiglia. Um diese Jahreszeit, im Juni, begann die Hochsaison. Viele Touristen verbrachten ihren Urlaub am Strand oder fuhren nach Imperia und Sanremo, um zu shoppen oder das leckere Essen in einem der zahlreichen Restaurants zu genießen. Dagegen verirrten sich nach Montalto bestenfalls ein paar Geschichtsinteressierte, die das wahre, historische Ligurien suchten.

Wolf bremste abrupt. Fast wäre er an dem Parkplatz vorbeigefahren, der wie ein Balkon über dem steilen Abgrund hing. Er kriegte gerade noch die Kurve, parkte und ließ das Dach hochfahren. Nun wurde Jackie munter und sprang auf, wie immer, wenn das Auto hielt – für sie das Zeichen, dass es endlich weiterging. Obwohl selbst für einen Jack Russel zierlich und klein, war sie eine energische Hundedame, die ihrem Herrchen nun durch Winseln und Bellen sehr deutlich zu verstehen gab, dass es genug sei mit der langweiligen Autofahrt. »Braves Mädchen«, sagte Wolf, nachdem er ausgestiegen war und die Beifahrertür geöffnet hatte. Er legte ihr das Geschirr an, holte sein Gepäck aus dem Kofferraum und nahm den Hund an die Leine. Jetzt erst bemerkte er, wie heiß die Luft war. Es mussten mehr als 30 Grad sein, aber durch den angenehmen Fahrtwind war ihm das gar nicht aufgefallen. Jackie machten die Temperaturen offenbar nichts aus, sie tanzte an der Leine, sprang und wollte endlich losrennen. »Nicht so schnell, ich bin ein alter Mann«, sagte Wolf, aber Jackie stürmte unbeirrt weiter.

Wolfs Gepäck bestand aus einem großen, schweren Koffer, der alles enthielt, was man in einem italienischen Sommer so brauchte – und das war nicht viel. Sein Gewicht resultierte aus den Büchern, die er im Gepäck hatte. Romane, ein paar Geschichtswerke, keine Krimis. Dazu kam das wichtigste Utensil seiner Reise: seine Olympia Carrera de luxe MD. Eine elektrische Schreibmaschine vom Feinsten, an der er in den nächsten Wochen viele Stunden verbringen würde. Denn Sebastian Wolf wollte unter der italienischen Sonne nicht einfach Urlaub machen, er wollte arbeiten, und zwar hart. Hier sollte sein neuestes Werk entstehen. In der Abgeschiedenheit und weit entfernt vom hektischen Hamburg, wo ihn ständig sein Agent störte, Journalisten wegen eines Interviews anriefen und manchmal sogar Fremde an der Haustür klingelten, weil sie ein Autogramm wollten. Das alles würde ihm in Montalto nicht passieren. Hier kannte ihn niemand und nur ausgewählte Leute wussten überhaupt, dass er sich in diesem kleinen, von der Welt abgewandten Dorf befand. Hier konnte er in Ruhe arbeiten, lange Spaziergänge mit Jackie in der herrlichen Natur unternehmen oder mal einen Nachmittag am Strand verbringen und in seiner selbst gewählten Einsamkeit konzentriert schreiben. Schließlich war sein Ziel, in den nächsten Wochen seinen neuen Thriller zu vollenden, ein Buch über einen Serienmörder im Rotlichtviertel von Hamburg-St. Pauli. Es sollte sein sechster Roman werden und er spürte den Druck von allen Seiten. Die Vorgänger waren große Erfolge gewesen, schon sein Erstling Das Lachen des Mörders hatte voll eingeschlagen. »Vielleicht solltest du dich irgendwohin zurückziehen, um ganz ungestört schreiben zu können«, hatte ihm sein bester Freund Martin wegen all des Trubels um Wolfs Person geraten, als sie vor knapp zwei Monaten in einem schicken, etwas überkandidelten französischen Restaurant essen gewesen waren. Martin war Professor für italienische Geschichte an der Hamburger Universität und verstand, dass ein Autor für sein Schaffen Ruhe brauchte. Die beiden hatten sich vor 25 Jahren während des Studiums kennengelernt.

»Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist«, hatte Wolf auf Martins Vorschlag geantwortet. »Außerdem wüsste ich auch gar nicht, wohin. Es müsste ein eigenes Haus sein, irgendwo, wo es sehr ruhig ist. Kein Hotel oder so.«

»Fahr in mein Haus in Montalto. Es ist den ganzen Sommer frei, du kannst so lange dort wohnen, wie du möchtest.«

Sebastian war geradezu aufgebraust. »Auf gar keinen Fall!« Mit diesem Haus, mit diesem Ort verbanden ihn zu viele Erinnerungen. Schöne Erinnerungen, die gerade deshalb so schmerzlich waren. Denn in diesem Haus hatte er schon einmal einen Sommer verbracht, zehn Jahre zuvor, mit Ella.

Doch Martin hatte nicht lockergelassen, und er konnte hartnäckig sein, sehr sogar. Also hatte Wolf schließlich widerwillig zugestimmt. Ein paar Wochen später stieg er in sein Auto und machte sich auf den Weg nach Süden. Nach Montalto Ligure, dieses kleine, so wundervolle wie skurrile Bergnest in Ligurien. Diese Reise würde auch ein Ausflug in die Vergangenheit werden, und er hatte Angst, sich der Erinnerung zu stellen.

Nun also war er da. Er kannte den Weg zur Casa Principessa, wie Martins Haus hieß, auch nach zehn Jahren noch genau. Vom Parkplatz führte ein schmaler Pfad ins Zentrum. Mit dem Auto konnte man hier nicht fahren, sodass man alles Gepäck durch die engen Gassen schleppen musste. Wolf ließ Jackie von der Leine, die sofort losstürmte, ohne zu wissen, wohin es eigentlich ging. Die Gasse, die sich zwischen den Hunderte Jahre alten Steinhäusern ihren Weg bahnte, war steil, gleich musste er um die Ecke nach rechts. Das erste Haus war noch immer eine unbewohnte Ruine, aus der Büsche wuchsen, genau wie damals. Er ging weiter, vielleicht 30 Meter, dann bog er links ab. Er passierte die kleine Kapelle, die seit Jahrhunderten gerne von Brautpaaren für romantische Hochzeiten genutzt wurde. »Kapelle« war ein großes Wort – es handelte sich eigentlich nur um einen Raum, der zur Gasse hin offen war und auf der gegenüberliegenden Seite durch unverglaste Fenster einen fantastischen Blick ins Tal bot. Sah man die Gasse entlang, erblickte man bereits die Terrasse der Casa Principessa, die den schmalen Weg überspannte. Wolf ging etwa 30 Meter weiter, bog nach links in einen Gang, der als Tunnel unter dem darüberliegenden Haus führte – und in diesem Tunnel befand sich die dicke weiße Tür, die er zehn Jahre zuvor einen Sommer lang so oft durchschritten hatte.

Wolf war bei dem steilen Aufstieg mit dem schweren Koffer und der sommerlichen Hitze ganz schön ins Schwitzen gekommen. Jackie war längst vorausgelaufen. Hier konnte sie sich austoben, die Leine brauchte sie nicht. Wolf erinnerte sich an die vielen Katzen, die die engen Gassen und unbewohnten, oft zu Ruinen verkommenen Häuser bevölkerten. Als er sie rief, kam Jackie schwanzwedelnd angelaufen. Er stellte den Koffer vor der Haustür ab, öffnete den Reißverschluss einer Seitentasche und kramte das Schlüsselbund heraus: ein großer, dicker und alter Schlüssel und ein deutlich kleinerer, der zum zweiten, modernen Schloss gehörte. Er steckte zuerst den großen Schlüssel in das alte Türschloss, drehte ihn zweimal um und hörte und spürte das Knacken des Bolzens. Dann öffnete er mit dem anderen Schlüssel das zweite Schloss und drückte die schwere Tür auf. Er trat in einen Vorraum, in dem eine alte Truhe aus massivem Holz stand. Drei Schritte neben der Tür führte eine Wendeltreppe hinauf in den ersten Stock. Jackie flitzte an ihm vorbei nach oben. Wolf fluchte über sein Gepäck, das er die enge Treppe hi­naufschleppen musste. Als er im ersten Stock angekommen war, stellte er es schnaufend ab. Er befand sich im Wohnraum, und ohne sich umzuschauen, ging er zum Tisch und setzte sich erschöpft auf einen Stuhl.

Als sich sein Atem beruhigt hatte, blickte er sich um. Die Casa Principessa galt früher als das vornehmste Haus im Dorf. Man erzählte sich, dass es von einer Herzogin erbaut worden sei – daher der Name. Der große alte Holztisch, laut Martin ein Stück aus dem 17. Jahrhundert, stand noch am selben Platz wie bei Wolfs letztem Besuch, genauso der uralte Schrank, in dem das Geschirr aufbewahrt wurde. Ein Fernseher war hinzugekommen und das Sofa in einer Nische im hinteren Teil des Raums, in der auch ein kleiner Schreibtisch stand, ebenfalls neu. Sein Blick fiel auf die Küche, neu und ausgestattet mit modernster Technik. Wolf drückte sich aus dem Stuhl hoch, öffnete die Doppeltür mit den Glasfenstern zur Terrasse und trat hinaus. Sofort erfasste ihn wieder die Atmosphäre von damals. Die Terrasse mit ihrem filigranen Geländer war zugleich eine Brücke über die Gasse unter ihm. Blickte man geradeaus, schaute man über die Dächer der Häuser in Richtung der Berge, die sich auf der anderen Seite des Valle Argentina erhoben. Rechts prangte die Wand eines Hauses, das unbewohnt schien, die Fenster waren blind vor Schmutz. Links reihten sich pittoreske alte Häuser aus Felssteinen aneinander, als würden sie sich gegenseitig stützen.

Die Casa Principessa verfügte über drei Schlafzimmer, zwei davon lagen im zweiten Stock. Wolf entschied sich, das Schlafzimmer im ersten Stockwerk zu nutzen. Der Raum war selbst bei strahlendem Sonnenschein düster und angenehm kühl, weil sein Fenster zum Innenhof hin lag, der nur wenige Meter breit und tief war und in den kaum Licht fiel. Im Raum stand eine alte Badewanne mit filigranen geschwungenen Füßen. Wolf erinnerte sich, wie er und Ella damals diese Wanne genossen hatten – nicht nur, um zu baden. Er seufzte. Ihm war von Anfang an klar gewesen, dass diese Reise eine Herausforderung für ihn werden würde, denn es gab fast nichts an diesem Ort, das ihn nicht an Ella erinnerte. »Vielleicht hat dein Trip ja auch eine therapeutische Wirkung«, hatte Martin gesagt. Wolf fing sich wieder und ging eine weitere enge Treppe ins nächste Stockwerk hoch. Die Schlafzimmer würden in den kommenden Wochen leer stehen.

Als er wieder nach unten ging, klopfte es an der Haustür. »Na, das geht ja gut los«, murmelte er leicht verärgert über die Störung, schließlich war er kaum angekommen. Er stieg die Treppe ins Erdgeschoss und öffnete die Tür. Vor ihm stand eine attraktive Frau Mitte 30 und lachte ihn an.

»Überraaaaschung«, sagte sie auf Deutsch und zog dabei das »a« lang. »Ich bin Melanie, aber meine Freunde nennen mich Mel. Mir gehört das einzige Restaurant im Ort und Martin bat mich, Ihnen für heute Abend und morgen früh ein wenig Proviant vorbeizubringen. Er war sich sicher, dass Sie daran selbst nicht denken würden.« Sie hielt Wolf einen Korb entgegen.

*

Commissario Alberti Brignone schwitzte. Diese Hitze! Er wischte sich mit einem Taschentuch über die Stirn. Klein und rundlich, wie er war, stand der Commissario Capo der Polizia di Stato mitten auf dem Platz vor der Kirche San Giovanni Battista, während die Sonne gnadenlos auf die kahle Stelle an seinem Hinterkopf brannte. Schlechter hätte die neue Woche gar nicht beginnen können. Ein Mord, und dann auch noch abgelegen in diesem kleinen Kaff. Auf dem Weg in sein Büro hatte er noch gehofft, sich den ganzen Tag an seinen Schreibtisch vor den Ventilator setzen und so tun zu können, als arbeite er die Akten irgendeines abgeschlossenen Falles auf. Doch kaum war er, leicht verspätet, in der Polizeistation eingetroffen, kam sein junger Kollege ins Zimmer gestürzt. »Wir haben einen Mord!«, hatte der Ispettore aufgeregt gerufen. Das geschah in Imperia und Umgebung nicht alle Tage, und für Mario Flavotti war es tatsächlich der erste Mord in seiner noch jungen und hoffnungsvollen Karriere.

Sein Chef ließ sich kurz darüber Bericht erstatten, was bislang bekannt war. Der Bürgermeister des kleinen Dorfes Montalto hatte den Mord gemeldet. Der Pfarrer sei in seiner Kirche erdrosselt aufgefunden worden. Merda. Brignone erkannte, dass er um diesen Fall nicht herumkommen würde, denn Montalto Ligure fiel nun einmal in seinen Zuständigkeitsbereich. Die hatten dort ja nicht einmal einen Dorfpolizisten. Brignone war ein alter Fuchs, seit 30 Jahren im Dienst für Recht und Ordnung. Er wusste, wie man lästige Arbeit von sich wegschieben konnte. Warum, so lautete sein Motto, sollte man sie selbst erledigen, wenn andere das auch tun konnten? Doch dieses Mal, das musste er sich eingestehen, gab es keine Möglichkeit, sich zu drücken. Er blickte auf seinen jungen Mitarbeiter, der Feuer und Flamme war. Ein Mord! Eine bessere Chance, sich zu profilieren, konnte es für einen Ispettore, der gerade erst seit ein paar Monaten ins wahre Leben geworfen worden war, doch gar nicht geben.

Missmutig begab sich Brignone, gefolgt von Flavotti, zu seinem Wagen und die beiden machten sich auf den Weg zum Tatort. Imperia lag an diesem Montagmorgen schon unter einer Hitzeglocke, von der leichten Meeresbrise, die hier sonst wehte, war nichts zu spüren. Sie fuhren aus der Stadt nach Westen heraus, die Küstenautobahn am Meer entlang und bogen schließlich auf die SP 548. Von nun an ging es über die kurvenreiche Straße bergauf. Missmutig blickte Brignone aus dem Fenster. Den Weg säumten halb vertrocknete Büsche, Olivenbäume, die in der Hitze zu leiden schienen, und selbst das Knäuelgras, das eigentlich gerade Blütezeit hatte, welkte vor sich hin. Als er an Flavotti vorbei nach links schaute, wo am Rand der schmalen Straße der Abhang steil abfiel, sah er die ligurische Bilderbuchkulisse, für die die Touristen hierherkamen – blauer Himmel, eine bergige Landschaft, hier und da eine alte Kirche oder ein kleines Bergdorf, bei dem man sich fragte, wie die Häuser sich eigentlich an den rasanten Felsen festkrallen konnten, ohne abzustürzen. Und hinten das Meer, das sich irgendwo am Horizont mit dem Himmel zu vereinen schien. Segelboote trieben als kleine weiße Punkte auf dem blauen Wasser.

Schließlich erreichten sie Badalucco und kurz danach Montalto Ligure. Flavotti hielt am Straßenrand. Brignone fluchte, weil er wusste, was ihm jetzt bevorstand – der Gang durch die engen Gassen, die bis zur Kirche steil nach oben führten. Als die beiden bei San Giovanni Battista eintrafen, herrschte auf dem Platz helle Aufregung. Eine kleine Menschenmenge hatte sich versammelt und die Anwesenden diskutierten aufgeregt miteinander. Ein Mann mittleren Alters löste sich aus der Menge und kam den Polizisten mit eiligem Schritt entgegen. »Sind Sie der Commissario aus Imperia?«

Brignone stellte sich und seinen Kollegen vor. »Und Sie sind?«

Sein Gegenüber nahm ein wenig Haltung an. »Rossetto, Filippo Rossetto, der Bürgermeister von Montalto Ligure. Ich habe Sie angerufen.«

Du unglücklicher Mensch, schoss es Brignone durch den Kopf, während er sich für den Anruf bedankte. »Es gibt also eine Leiche? Wo ist sie?«

Der Bürgermeister wies Richtung Kirchentür. »Wenn Sie erlauben, gehe ich vor.« Rossetto genoss sichtlich die Blicke der anderen, als er mit den Polizeibeamten die Kirche betrat.

Brignone atmete auf. Drinnen war es deutlich kühler als draußen, und selbst der junge Flavotti, dem die Hitze sonst nichts auszumachen schien, holte tief Luft. Rossetto führte die Männer zum Beichtstuhl. Beide Türen des Beichtstuhls standen sperrangelweit auf.

Brignone trat näher und blickte ins Innere der rechten Seite. Er brauchte einen kurzen Moment, bis sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, dann erkannte er, was es drinnen zu sehen gab. Ein Mann, offensichtlich tot, starrte ihn aus weit aufgerissenen Augen an, der Mund war geöffnet, die Zunge hing heraus. »Aha«, sagte der Commissario, trat zurück und gab Flavotti ein Zeichen, dass er ebenfalls einen Blick hineinwerfen sollte. »Wurde hier irgendetwas angefasst oder gar verändert?«, fragte Brignone an Rossetto gerichtet.

Der Bürgermeister richtete sich etwas auf und antwortete in leicht beleidigtem Ton: »Natürlich nicht! Nachdem man mich informiert hat, habe ich die Kirche sofort schließen lassen, damit sie niemand mehr betreten konnte.«

Die erste gute Nachricht an diesem unglückseligen Tag für Commissario Brignone. »Ich vermute, es handelt sich bei dem Toten um den Pfarrer?«

Der Bürgermeister nickte und bekreuzigte sich mit einer flüchtigen Geste. »PadreCrosetto, ja, richtig. Madonna, wer tut so etwas?«

Brignone schaute sich um, doch auf den ersten Blick fiel ihm nichts Ungewöhnliches auf. Er gab den anderen mit einem Kopfnicken zu verstehen, dass sie die Kirche wieder verlassen sollten.

Sie waren nur wenige Minuten in der Kirche gewesen, aber die Hitze erschlug Brignone fast, als sie wieder hi­naustraten. Auf dem Platz wartete immer noch die aufgeregte Menge. »Sagen Sie den Leuten, sie sollen nach Hause oder zur Arbeit gehen. Hier gibt es nichts zu sehen«, forderte er den Bürgermeister auf. Und an Flavotti gewandt: »Das volle Programm, Informieren Sie Dottore Fabbri von der Gerichtsmedizin und Spurensicherung, lassen Sie die Kirche absichern. Danach kommen Sie wieder zu mir. Ich befrage inzwischen denjenigen, der die Leiche entdeckt hat.« Ihm fiel auf, dass er noch gar nicht gefragt hatte, wer den armen Padre im Beichtstuhl eigentlich gefunden hatte, und er stellte die Frage an Rossetto.

»Das war la Signora Girelli, Valentina Girelli«, antwortete dieser.

»Gut, ich möchte sie umgehend sprechen. Wo können wir die Zeugin vernehmen?« Rossetto schlug vor, dafür sein Büro im Rathaus zu nutzen, und Brignone war einverstanden.

»Rathaus« war eine wohlwollende Bezeichnung für das Gebäude. Ursprünglich hatte es als Schule gedient, aber seit mehr als 30 Jahren gab es in Montalto zu wenige Kinder. Die wenigen verbliebenen Schüler mussten daher täglich mit dem Bus ins 35 Kilometer entfernte Imperia fahren. Immerhin hatte das Rathaus eine verputzte Fassade. Es war in einer Farbe irgendwo zwischen dunklem Pink und hellem Lila angestrichen. Auch war es jünger als die meisten anderen Gebäude des Ortes, höchstens 200 Jahre alt. Brignone und Rossetto nahmen in zwei alten Ledersesseln im Büro des Bürgermeisters Platz. Der schwitzende Commissario bedankte sich für das große Glas Wasser, das der Bürgermeister ihm auf den Tisch stellte. Die Tür öffnete sich und eine völlig aufgelöst wirkende ältere Frau betrat in Begleitung Flavottis den Raum. »Das ist la Si­gno­ra­ Girelli«, beeilte sich Rossetto, die Dame vorzustellen.

Brignone wies auf den dritten Sessel, und die Frau setzte sich. Flavotti holte sich den Stuhl des Bürgermeisters hinter dem Schreibtisch hervor, setzte sich und forderte sie mit sanfter Stimme auf: »Erzählen Sie doch bitte, was passiert ist.«

Valentina Girelli brach in Tränen aus. »So schrecklich«, schluchzte sie, »so schrecklich. Der arme Padre. So ein guter Mensch!« Eine Weile stotterte sie unzusammenhängend, bis der Kommissar weniger sanftmütig nochmals darum bat, dass la Signora ihm doch bitte berichten würde, wie sie die Leiche gefunden hatte. Er wollte das stickige Büro so schnell wie möglich wieder verlassen.

Signora Girelli sagte schließlich aus, und dem Commissario wurde schnell klar: Diese Frau hatte nicht mehr gesehen als er selbst – den toten Padre, der mit weit aufgerissenen Augen und offenem Mund auf der Bank im Beichtstuhl saß.

»Was war der Padre für ein Mensch?«, fragte er die Frau, die sich noch immer nicht beruhigt hatte.

»Ein so guter«, war die Antwort.

»Geht es etwas genauer?« Brignone wurde langsam ungeduldig.

Bürgermeister Rossetto legte seine Hand auf die der alten, zitternden Frau. Als sie sich gefasst hatte, begann sie zu erzählen, stockend zwar, aber doch zusammenhängend. PadreCrosetto sei vor 17 Jahren als junger Mann aus Neapel nach Montalto gekommen. Er sei allseits beliebt gewesen, auch bei denen, die sich nicht dem Wort Gottes verbunden fühlten, was zum Bedauern der Frau immer mehr wurden. Er habe stets ein Ohr für die Sorgen der Menschen gehabt, habe daran geglaubt, dass der Herr für jeden einen Plan hatte und ihm den Weg weisen würde.

»Hatte er Feinde?«, fragte Flavotti.

»Aber nein, natürlich nicht!«, schoss es förmlich aus Si­gno­ra Girelli heraus. »Warum auch? Wer hätte ihm etwas Böses wollen?«

Brignone räusperte sich. »Na ja, immerhin wurde er ermordet.«

Die alte Frau heulte auf und versank schluchzend in ihrem tiefen Sessel. Brignone erkannte, dass aus ihr nicht mehr herauszuholen war. Abrupt stand er auf. Bloß raus aus diesem stickigen Büro! Auch Flavotti und Rossetto erhoben sich.

»Was haben wir?«, fragte Flavotti, während er das Auto vorsichtig die Serpentinen hinunterlenkte. Die Polizisten genossen die kalte Luft der Klimaanlage.

»Nichts«, antwortete sein Chef. »Absolut nichts.«

Flavotti war, seit er vor einem halben Jahr den Dienst in Imperia angetreten hatte, nicht nur der Meinung, dass das einzig Außergewöhnliche an seinem Chef sein Vorname war, denn er hieß Alberti und nicht Alberto – die Verbreitung der beiden Namen stand etwa in einem Verhältnis von 1:99 –, er fand auch, dass der Commissario mehr Motivation an den Tag legen könnte. Andererseits: Der gute Mann war 60 und dämmerte seiner Pension entgegen. Er selbst würde niemals so werden, schwor sich der gerade mal halb so alte Flavotti. Aber jetzt, während sie zurück ins Büro fuhren, musste er ihm recht geben: Was diesen mysteriösen Fall betraf, hatten sie tatsächlich nichts in der Hand. Ein hartes Stück Arbeit lag vor ihnen.

*

Er schlug das dicke großformatige Buch an einer willkürlichen Stelle auf und fuhr mit Mittel- und Zeigefinger sanft über die Seiten. Das Licht der Kerze auf dem Tisch war gerade hell genug, um die handgeschriebenen Sätze lesen zu können. »7. August 1621: Das Werk des heutigen Tages ist getan. Es folgen drei weitere Opfergänge. Dann schließen wir das Buch der Sühne für 100 Jahre, auf dass unsere Nachfahren es zur gegebenen Zeit wieder öffnen werden.« Er blätterte weiter nach vorne. »16. Juli 1521: »Wir haben heute zum zweiten Mal die Pflicht unserer Generation befolgt. Fünf weitere Opfergänge werden folgen«, las er. Die Flamme der Kerze flackerte leicht. »So soll es auch in unserer Generation sein«, sprach er leise vor sich hin. »Auch wir werden unserer Pflicht zur Rache nachkommen. Sieben Mal, so wie es uns der Ahnherr aufgetragen hat. Und dann werden wir die Aufgabe an unsere Nachfahren weiterreichen, auf dass sie in 100 Jahren so handeln, wie wir es tun.« Er schloss das Buch. Liebevoll legte er die flache Hand auf den Buchdeckel, als wollte er eine unsichtbare Kraft, die von dem Buch ausging, in sich aufsaugen. Dann stand er auf, ging zu einem Tresor aus dickem Stahl, öffnete die Tür, legte das Buch hinein und verschloss die Tür wieder mit einem Zahlencode. Kein Unbefugter durfte dieses Buch in die Hände bekommen, niemals! So war es seit Jahrhunderten und so sollte es noch viele Jahrhunderte sein. Er blies die Kerze aus und tastete sich in der Dunkelheit zur Tür, unter der ein schmaler Lichtschein zu sehen war, öffnete sie und verließ zufrieden den Raum. Die Zeit, auf die er seit Jahren gewartet hatte, war gekommen. Er hatte gezeigt, dass er bereit war, die Aufgabe, die ihm gestellt worden war, zu erledigen. Und er würde es wieder tun.

Kapitel 2

Nachdem sein unerwarteter Besuch sich am Sonntagabend verabschiedet hatte, hatte Sebastian Wolf den Korb in die Küche getragen. Darin befanden sich eine Tupperdose mit einem Nudelgericht, eine weitere mit einer großen Portion Tiramisu, ein kleines italienisches Brot und eine Flasche Weißwein, sogar gekühlt. Dazu ein kleines Stück Käse und eine Packung Kaffee, wohl für das Frühstück. Beim Anblick der Leckereien bekam Wolf Hunger. Sein alter Kumpel hatte recht gehabt: An Verpflegung für den ersten Abend hatte er nicht gedacht, nur eine große Dose mit Futter für Jackie hatte er eingepackt. Er hatte sich mit dem köstlich duftenden Nudelgericht auf die Terrasse gesetzt und dazu den Wein genossen. Inzwischen war es stockdunkel geworden. Auf dem Berg auf der anderen Seite des Tals hatte er ein paar einzelne Lichter entdeckt, vermutlich von frei stehenden Häusern. Kein Geräusch war zu hören gewesen. Wolf hatte einfach nur dagesessen und an nichts gedacht. Oder hatte er vielleicht gerade an Ella gedacht? Jetzt, am Morgen danach, konnte er sich einfach nicht mehr daran erinnern. Irgendwann war die Flasche leer gewesen und der Wein hatte Wirkung gezeigt. Er war noch mit Jackie vor die Tür gegangen, hatte sich danach auf sein Bett gelegt und war in einen tiefen Schlaf versunken.

In dem abgedunkelten Zimmer war es noch angenehm kühl. Wie spät mochte es wohl sein? Die Tatsache, dass Jackie so munter war, deutete darauf hin, dass der Morgen schon ein Stück vorangeschritten sein musste, denn die Hundedame erhob sich gewöhnlich nicht vor 9.30 Uhr. Wolf tastete nach seinem Smartphone. 10.17 Uhr! Er hatte fast zehn Stunden durchgeschlafen, das passierte sonst nie. Wenn nur dieser Hund nicht wäre! Jackie sprang wild auf dem Bett herum, aus dem leisen Knurren war ein lautes Bellen geworden. »Ja, du Terrorterrier, ich mach dir was zu fressen«, sagte er und schwang sich aus dem Bett.

Er stieg die kleine Treppe ins Wohnzimmer hinunter, von dem die offene Küche abging. Er öffnete die Jalousie der Terrassentür und hielt sich eine Hand vors Gesicht. Der helle Tag blendete ihn und die Hitze schlug ihm entgegen. Kein Windhauch war zu spüren, die Sonne brannte vom wolkenlosen Himmel herunter. Er ging in die Küche und gab Jackie ihr Futter. Die Hundedame verschlang es gierig. »Keine Bange, ich fresse dir doch nichts weg«, sagte Wolf. Er kochte sich Kaffee, packte das Brot und den Käse von Melanie auf einen Teller und setzte sich auf die Terrasse, nachdem er den Sonnenschirm aufgespannt hatte.

Was würde er heute tun? Nicht viel. An Schreiben war noch nicht zu denken. Wolf musste sich darauf stets mental vorbereiten wie ein Sportler auf einen wichtigen Wettkampf. Heute musste er erst einmal einkaufen, dann würde er mit Jackie einen Spaziergang machen. Das war der Plan. Während er noch leicht benebelt und in Gedanken versunken unter dem Sonnenschirm saß, hörte er unter sich plötzlich Stimmen. Zwei Frauen kamen die Gasse entlang, sie sprachen laut und aufgeregt miteinander. Kurz bevor sie die Terrasse unterquerten, bemerkten sie ihn. Ein fremder Mann in der Casa Principessa – offenbar war etwas Interessanteres vorgefallen, sonst wäre diese Entdeckung wohl Gesprächsthema Nummer 1 im Dorf gewesen. Die beiden Frauen schauten auf und Wolf grüßte sie. Sie grüßten kurz zurück und vertieften sich sofort wieder in ihre angeregte Diskussion. Dann waren sie auch schon unter der Terrasse und seinem Blick entschwunden.

Gegen Mittag entschloss Wolf sich, mit Jackie eine Runde durch das Dorf zu spazieren. Er lief ohne Ziel los, einfach geradeaus die Via Garibaldi entlang. Die enge Gasse, die sich kaum mehr als zwei Meter breit zwischen den alten Häusern entlangschlängelte, lag in der Hitze wie ausgestorben da. Viele der Häuser, die sie säumten, waren eindeutig unbewohnt, Ruinen, die vermutlich seit Jahrzehnten leer standen. Die Türen waren verbarrikadiert, die Fenster zum Teil zugemauert oder die Scheiben fehlten, und aus manchen wuchsen Büsche heraus. Überall hatten Spinnen ihre Netze gesponnen. Er schritt unter einer Brücke hindurch und kam dann an eine Art Kreuzung. Rechts verlief eine Treppe steil abwärts zwischen den Häusern, bevor sie von einer anderen Gasse gekreuzt wurde. Geradeaus ging es auf der gleichen Ebene weiter. Ja, so hatte er Montalto in Erinnerung – ein Gewirr und Gewimmel von düsteren Gassen, halb verfallenen Treppen, Brücken, Gewölben, Sackgassen, die an einem Hauseingang endeten, Nischen in den Hauswänden, Ruinen … Alles irgendwie unwirklich, wie ein Dorf aus Tolkiens »Der Herr der Ringe«.

Jackie war die Treppe hinabgeflitzt und hinter der nächsten Kurve verschwunden. Doch Wolf entschied sich, die Hauptgasse geradeaus weiterzulaufen. Er erinnerte sich, dass sie zur Kirche führte, vor der ein kleiner umbauter Platz lag. Hierhin waren er und Ella damals in lauen Sommernächten spaziert, denn der Platz strahlte in solchen Nächten eine ganz eigentümliche Atmosphäre aus. Wolf rief seinen Hund und Jackie kam sofort die Treppe wieder hochgeflitzt. Woher sie nur diese Energie nahm, selbst bei dieser Hitze! Wolf passierte ein paar Häuser, vor denen Pflanzen in Kübeln standen und bunte Namensschilder an den Türen angebracht waren – eindeutig bewohnt. Auch ein kleines Geschäft für Kunsthandwerk gab es und eins, das aussah wie eine Schneiderei. Er blieb stehen. Täuschte er sich oder hörte er Stimmen?

Er ging weiter geradeaus und die Stimmen wurden lauter. Und dann entdeckte er vor dem Platz eine Gruppe von Menschen, die sich aufgeregt unterhielten, daneben stand ein Carabinieri. Jackie jagte Richtung Platz. Als Wolf die Menschengruppe erreicht hatte, fiel ihm auf, dass der Platz mit einer Banderole abgesperrt war. Er rief Jackie zurück, für die die Absperrung kein Hindernis darstellte. »Buongiorno«, sagte er zu dem jungen Polizisten, dem es in seiner Uniform sichtlich zu heiß war. »Ist etwas passiert?«

Sein Gegenüber musterte ihn von oben bis unten und antwortete dann: »Ich darf Ihnen leider keine Auskünfte erteilen, Signore.«

Okay, dachte Wolf, dann eben nicht.

»Ein Mord ist passiert, Signore«, sagte ein älterer Mann.

»Der Padre wurde umgebracht«, ergänzte eine Frau. »Der Padre«, wiederholte sie und bekreuzigte sich.

Wolf sah sie ungläubig an. Ein Mord? In Montalto? »Weiß man denn schon etwas über die Umstände oder den Täter?«, fragte er und bekam als Antwort ein stummes Kopfschütteln. In diesem Augenblick öffnete sich die Kirchentür und zwei Männer in schwarzen Anzügen rollten auf einer Bahre einen Sarg heraus und steuerten ihn Richtung Dorfausgang. Er vermutete, dass der Leichenwagen dort geparkt war. Betroffen blieb er noch einen Moment stehen, dann ging er mit Jackie zurück zur Casa Principessa. Ein Mord. Kaum war er in diesem abgeschiedenen Dorf angekommen, wo er in Ruhe an seinem neuen Buch arbeiten wollte, geschah genau das, worüber er sonst nur schrieb. Das würde Martin ihm nie glauben.

Den Nachmittag verbrachte Wolf mit einem Buch auf der Terrasse. Später fuhr er zu einem Supermarkt in Taggia, um sich für die nächsten Tage einzudecken. Dreimal musste er bepackt mit Einkäufen den Weg vom Parkplatz zur Casa Principessa zurücklegen. Obwohl die Strecke nur etwa 100 Meter betrug, war er danach schweißgebadet und fix und fertig.

*

Auch Commissario Brignone schwitzte, da half nicht einmal der Ventilator, den er neben den Schreibtisch gestellt hatte. Er hatte Steine auf seine Unterlagen gelegt, damit sie nicht wegflogen. Merda, dachte er, merda, merda, merda! Es hatte sich noch nichts Neues ergeben, er und sein junger Kollege tappten völlig im Dunkeln. Der Bericht des Gerichtsmediziners hatte auch nur das bestätigt, was ohnehin auf den ersten Blick offensichtlich gewesen war. »Der gute Mann wurde erwürgt, sehr wahrscheinlich mit einem dünnen Seil«, hatte Dottore Fabbri ihm mitgeteilt. »Ansonsten konnte ich nichts Außergewöhnliches feststellen. Nur so viel: Der Tod ist irgendwann zwischen 18 und 21 Uhr eingetreten.«

Eine mysteriöse Geschichte war das. Warum wurde ein offenbar allseits beliebter Padre, ein aufrechter Mann Gottes, ermordet? Und dann auch noch in seiner eigenen Kirche? Und das alles in diesem kleinen Dorf? Brignone nahm den Telefonhörer zur Hand und bat Flavotti zu sich. Bei dieser Hitze waren ihm selbst die paar Schritte ins Nachbarbüro zu viel. »Irgendwas Neues?«, fragte er, als der Ispettore eintrat. Als Antwort erhielt er nur ein Kopfschütteln. »Das ist schlecht. Wir müssen warten, was die Spurensicherung sagt. Sie fahren morgen früh nach Mont­alto und fragen sich durch den Ort, ob irgendjemand irgendetwas gesehen hat.« Flavotti nickte. Brignone stand auf und verabschiedete seinen Mitarbeiter mit dem Befehl, dass er sich morgen nach seiner Rückkehr sofort bei ihm melden solle. Dann verließ er sein Büro und das Kommissariat, setzte sich in sein Auto und fuhr los. Endlich Feierabend, dachte er und freute sich auf das kalte Bier, das zu Hause im Kühlschrank auf ihn wartete.

*

Am nächsten Morgen machte Flavotti sich auf den Weg nach Montalto. Die Straße von Imperia hoch ins Landesinnere war staubtrocken, kein Wunder bei der Dürre, die seit Wochen herrschte. Unterwegs begegneten ihm nur zwei oder drei Autos. Offenbar mieden die Menschen die Straße angesichts der Hitze. Der Ispettore parkte am Ortseingang und machte sich durch die engen Gassen auf den Weg ins Dorfzentrum. Eine Katze trottete ihm entgegen. Als sie ihn bemerkte, verschwand sie im Mauerloch einer Ruine.

Flavotti war gespannt, ob den Bewohnern von Montalto am Sonntagabend, als PadreCrosetto ermordet worden war, irgendetwas Ungewöhnliches aufgefallen war. Er klingelte an einigen Haustüren. Manche Türen öffneten sich, bei anderen hatte er kein Glück. Ob er die Befragung besser abends durchführen sollte, wenn die Leute zu Hause waren? Wie dem auch sei, sein Chef hatte sie für heute früh angeordnet. Obwohl er sein Jackett im Auto gelassen hatte und nur ein Hemd trug, schwitzte er. Etwas zu trinken wäre nicht schlecht, aber in diesem Kaff gab es offenbar kein Lebensmittelgeschäft, und das einzige Restaurant, an dem er vorbeigekommen war, öffnete erst abends. Schade, dachte er, denn es sah einladend aus. Über eine Brücke im ersten Stock gelangte man auf eine angrenzende Terrasse, die vermutlich einen tollen Blick auf das Tal und die grünen Hügel und Berge auf der anderen Seite bot.

Flavotti entschied sich, noch ein paar Häuser an der anderen Seite des Ortes abzuklappern. Wenn man geradeaus vom Kirchplatz die Via San Giovanni Battista hinaufging, brauchte man gut fünf Minuten bis zum Ausgang des Dorfes auf der anderen Seite. Immerhin könnte der Täter ja auch von dort gekommen sein, dachte der junge Polizist. Er passierte ein paar unbewohnte Häuser, bis er eine Art Brücke mit einem verzierten, weiß angestrichenen Eisengeländer erreichte, die an einen großen Balkon erinnerte. Darauf saß ein Mann unter einem Sonnenschirm und las ein Buch. Er hatte offenbar Flavottis Schritte gehört und blickte zu ihm hinab.

»Buongiorno, Signor. Wohnen Sie hier?«, fragte Flavotti.

»Buongiorno. Vorübergehend nur«, antwortete der andere.

Flavotti stellte sich vor und bat darum, dem Mann ein paar Fragen stellen zu dürfen.

Der bejahte und ging nach unten, um dem Besucher die Tür zu öffnen. Er führte den jungen Polizisten auf seine Terrasse und bot ihm einen Stuhl im Schatten des Sonnenschirms an. »Du meine Güte, Sie sehen so aus, als könnten Sie ein kaltes Getränk vertragen.« Nachdem er ein großes Glas kalten Eistee geholt und Flavotti dankbar einen Schluck genommen hatte, sagte er: »Ich habe mich ja noch gar nicht vorgestellt. Mein Name ist Sebastian Wolf.«

»Sie sind Deutscher?«, fragte der Polizist.

»Richtig«, antwortete Wolf, »ich bin Autor und hierhergekommen, um an meinem neuen Buch zu arbeiten.«

Das interessierte Flavotti. »Welches Genre, wenn ich fragen darf?«

»Thriller.«

Flavotti überlegte laut. »Wolf … Wolf … etwa der Sebastian Wolf? Der Bestseller-Autor?« Als Wolf nickte, riss Flavotti erstaunt die Augen auf. »Das ist ja unfassbar! Dass ich Sie hier treffe … Ich habe gerade eines Ihrer Bücher gelesen. Spannend! Ich konnte es kaum aus der Hand legen.«

Wolf bedankte sich. Die Aufmerksamkeit schien ihm unangenehm zu sein. »Ich könnte mir vorstellen, dass Sie wegen des toten Pfarrers kommen?«, fragte er, offenbar, um das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken.

Flavotti räusperte sich verlegen, denn tatsächlich fiel ihm der Grund seines Besuches wieder ein. »Ja, das stimmt. Ich suche nach Zeugen, die am Sonntagabend irgendetwas bemerkt haben. Haben Sie?«

Wolf antwortete mit einer Gegenfrage: »Geht es wirklich um Mord, wie mir jemand aus dem Dorf erzählte? Ist tatsächlich der Padre in seiner Kirche ermordet worden?«

»Oh ja, das entspricht den Tatsachen.«

Wolf rückte seinen Stuhl etwas näher an Flavotti heran, weil die Sonne langsam weitergewandert war und ihn blendete. »Ich bin am Sonntag erst angekommen, etwa gegen sechs Uhr am Abend. Wann ist denn der Mord passiert?«

»Irgendwann zwischen dem frühen Abend und etwa 21 Uhr.«

Wolf schüttelte den Kopf. »Hm, ich kann Ihnen leider auch nicht weiterhelfen. Ich habe rein gar nichts bemerkt, leider.«

Damit hatte Flavotti auch nicht wirklich gerechnet. Gerne hätte er noch mit dem bekannten Autor geplaudert, aber die Pflicht rief, und der Mann hatte ja vielleicht auch gar keine Lust dazu. Also nahm er den letzten Schluck des Eistees, der jetzt schon eher lauwarm war, und erhob sich schwerfällig aus seinem Stuhl. »Falls Ihnen doch noch etwas einfällt, melden Sie sich doch bitte«, fügte er hinzu, zückte aus der rechten Gesäßtasche ein kleines Etui mit Visitenkarten und legte eine davon auf den Tisch.

Wolf begleitete ihn die Treppe hinunter und öffnete ihm die Tür. »Machen Sie es gut und viel Erfolg bei der Mörderjagd«, sagte er zum Abschied.

Auf dem Weg zu seinem Auto machte Flavotti noch kurz Halt beim Bürgermeister. Filippo Rossetto war gerade aus Imperia zurückgekehrt, wo er hauptberuflich als Grundschullehrer arbeitete, und saß mit seiner Frau im abgedunkelten Wohnzimmer. Es gehörte zu den Annehmlichkeiten seines Amtes, dass er das Bürgermeisterhaus bewohnen durfte. Früher hatte Montalto mehr als 1.000 Einwohner gehabt. Heute waren es noch 399, das wusste Rossetto genau. Ach nein, seit Sonntag lebten nur noch 398 Menschen hier. Jedenfalls lohnte sich ein hauptamtlicher Bürgermeister für den kleinen Ort nicht mehr, genau genommen war er schon Ende der Achtzigerjahre abgeschafft worden. Rossetto war bereits seit 32 Jahren in Amt und Würden, er war der erste und bisher einzige nebenamtliche Bürgermeister Montaltos.

Rossetto bat den Besucher in sein Büro. »Nun, haben Sie schon etwas herausbekommen?« Flavotti musste verneinen. Nur eine Neuigkeit hatte er, immerhin eine sehr interessante. »Wissen Sie eigentlich, wer gerade in der Casa Principessa wohnt?«

»Nein. Ist Signore Martin Müller, der Professore aus Amburgo, eingetroffen? Er hat sich noch gar nicht bei mir gemeldet, normalerweise kommt er stets kurz nach seiner Ankunft auf ein Glas Wein vorbei, oder zwei.« Rossetto lächelte vielsagend. Offenbar blieb es meist nicht bei den ein bis zwei Gläsern.

»Nein, es ist ein anderer Herr. Ein Schriftsteller mit dem Namen Sebastian Wolf.«

Rossetto zog überrascht seine Brauen nach oben. »Sie meinen doch nicht etwa den Sebastian Wolf?«

»Doch, genau den«, sagte Flavotti.

Rossetto pfiff leise durch die Zähne. »Aufregend«, murmelte er, »äußerst aufregend.«