Like a good girl – Denn sie wissen, was du getan hast - Claire Eliza Bartlett - E-Book

Like a good girl – Denn sie wissen, was du getan hast E-Book

Claire Eliza Bartlett

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Beschreibung

Drei Mädchen, drei Geheimnisse, ein Mord

Die Rebellin. Die Streberin. Die Cheerleaderin. Das tote Mädchen.

Wie jede gute Highschool in Amerika hat die Jefferson-Lorne-High alles davon. Nach dem schockierenden Mord an Emma Baines stehen drei ihrer Mitschülerinnen ganz oben auf der Liste der Verdächtigen: Claude, die notorische Partygängerin. Avery, die Kapitänin der Cheerleader. Und Gwen, die angehende Klassenbeste.
Jede der drei hatte etwas zu verbergen, und die einzige Frage, die sich die Polizei stellt, ist: Welche von ihnen hat Emma, die alle nur als das „gute Mädchen“ kannten, auf dem Gewissen? Doch die Dinge sind nicht immer so wie sie scheinen, und Emma hatte selbst Geheimnisse, von denen niemand etwas ahnt. Während immer mehr Lügen ans Licht kommen, tickt die Uhr. Denn Emmas wahrer Mörder läuft noch frei herum – und es ist nur eine Frage der Zeit, bis ihm ein weiteres Mädchen zum Opfer fällt.

Ein aktueller und fesselnder Thriller in Zeiten von #MeToo – Spannung bis zur letzten Seite.

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Seitenzahl: 466

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Claire Eliza Bartlett

Like a Good Girl

Aus dem Englischen von Mareike Weber

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen

TRIGGERWARNUNG:

In diesem Buch werden Themen wie sexualisierte Gewalt und Drogenmissbrauch angesprochen.

Erstmals als cbt Taschenbuch Juni 2022

© 2022 für die deutschsprachige Ausgabe

cbj Kinder- und Jugendbuch Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Copyright © 2020 by Glasstown Entertainment, LLC

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »The Good Girls« bei Glasstown Entertainment, LLC, an imprint of HarperCollins Publishers, New York

Aus dem Englischen von Mareike Weber

Umschlaggestaltung: Guter Punkt, München, unter Verwendung mehrerer Motive von © iStockphoto (AlbinaTiplyashina, e71lena, YunYulia, DaLiu, monkeybusinessimages, Rawf8)

sh · Herstellung: AW

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-27754-3V002

www.cbj-verlag.de

Für alle Mädchen, die sich nicht Gehör verschaffen konnten; für die Mädchen, die ignoriert und abgewimmelt wurden, dafür bestraft, sie selbst zu sein. Ich werde euch immer glauben.

Prolog Das tote Mädchen

Das Ende meines Lebens beginnt hier.

Ein regnerischer, nasskalter Herbst hat den Fluss unter mir in ein brüllendes Ungeheuer verwandelt. Felsen ragen aus dem Wasser wie spitze Zähne, tiefschwarz in schäumendem Weiß. Das Blut stockt in meinen Adern, als sich die verwitterten Planken hinter mir senken – jemand ist mir gefolgt, auf die kleine Brücke über Anna’s Run.

Auch ich bin gerannt. So lange, dass ich vergessen habe, wie es sich anfühlt, nicht zu rennen. Mein ganzer Körper ist noch auf Flucht ausgerichtet.

Doch dafür ist es jetzt zu spät. Es heißt, Anna’s Run fordert jedes Jahr ein Opfer. Der Wind streicht um meinen Hals und legt sich wie eine Fessel um mich.

Die Gestalt am Ende der Brücke kommt näher. Ich versuche, mich umzudrehen, aber die Welt um mich herum beginnt zu rasen. Das Wasser rauscht, mein Blut rauscht. Vor meinen Augen dreht sich alles – so schnell, dass der Rest von mir nicht mehr mitkommt.

Und dann spitzt sich alles auf einen Punkt zu. Ein Bild: die Hand, die auf meinen Oberkörper zukommt. Ein Geräusch: das Getöse des Wassers um einen Körper. Ein Gefühl: Kälte, die alle Gedanken auslöscht, sogar die Erinnerung an deinen eigenen Namen auslöscht. Kälte, die den Atem aus deinen Lungen raubt.

Alles ist mir geraubt worden. Meine Zukunft, mein Leben – und jetzt mein Körper, mit Haut und Haaren verschlungen von Anna’s Run und den Albträumen dieses Ortes. Selbst meine Geschichte gehört nicht mehr mir.

So ist das, wenn du tot bist. Du kannst nicht mehr erzählen, was als Nächstes passiert.

Kapitel 1 Die vorlaute Schlampe

MUÑEZ: Wir haben Donnerstag, den 6. Dezember 2018. Es ist sieben Uhr fünfundfünfzig. Kommissarin Muñez verhört Claude Vanderly. Wir danken Ihnen für Ihre Zeit, Miss Vanderly. Sie werden sich wahrscheinlich fragen, warum wir …

CLAUDE: Es geht um das tote Mädchen, nicht wahr?

Oh, sorry. Emma, meine ich. Aber deshalb wollen Sie doch mit mir reden, oder? Weil ich die Person bin, die am ehesten was darüber weiß? Weil ich die Person bin, die am ehesten etwas damit zu tun hat?

MUÑEZ: Wir haben lediglich ein paar Fragen.

Claude: Klar. Sie picken sich zufällig das Mädchen heraus, das an der Jefferson-Lorne am häufigsten Trouble hat. Aber ich hab nichts damit zu tun, fangen wir mal so an. Ich meine, ich bin Feministin. Ich ziehe nicht durch die Gegend und bringe Mädchen um. Und ich kann Ihnen auch nicht groß bei den Ermittlungen helfen. Ich hab Emma gar nicht richtig gekannt. Sie war eine ziemliche Einzelgängerin, aber mit Avery hat sie manchmal abgehangen. An Ihrer Stelle würde ich Avery Cross fragen, was Emma gestern Abend in der Nähe von Anna’s Run zu suchen hatte. Oder was für Feinde sie vielleicht hatte.

Muñez: Miss Vanderly, im Moment sprechen wir mit Ihnen und nicht mit Miss Cross.

CLAUDE: Ich will ja nur nicht Ihre Zeit verschwenden. Aber wie Sie wollen. Dumm nur, dass ich ein wasserdichtes Alibi habe. Kennen Sie Jamie Schill? Direktor Mendoza kennt ihn, nicht wahr, Sir? Jamie geht auf diese Schule. Und wir sind befreundet.

Etwas mehr als befreundet, um ehrlich zu sein. Tja. Sie dürfen raten, was ich gestern Abend gemacht habe.

MUÑEZ: Niemand will Ihnen etwas vorwerfen. Es handelt sich um eine reine Standardprozedur. Wir versuchen nur, einen zeitlichen Ablauf zu rekonstruieren. Und aufgrund der … bisherigen Beweislage wird ein Großteil der Schülerschaft in die Ermittlungen einbezogen. Können Sie uns sagen, wann genau Sie zuerst von Emma erfahren haben?

CLAUDE: Na gut. Okay, das erste Mal habe ich davon gehört … Also, das war heute Morgen. Bei Jamie zu Hause.

Als ich aufwachte, lag Jamie neben mir und drückte seine Nase in meinen Rücken. Ja, seine Nase, ihr Perversen. Er verkriecht sich nachts immer unter der Decke, wenn ihm kalt ist. Das geht dann schon fast in Richtung Kuscheln. Für einen Moment dachte ich, dass ich vor dem Wecker aufgewacht wäre und ein paar wunderbare wohlige Minuten für mich allein hätte. Dann klopfte Jamies Mom an die Tür und er rekelte sich grunzend. Es war 6:45 Uhr. Der Wecker hatte schon vor fünfzehn Minuten geklingelt. Ups.

Mrs Schill wusste nicht, dass ich bei Jamie übernachtet hatte. Sie ist eine von diesen ahnungslosen Müttern, die glauben, dass ihr Sohn Jungfrau bleiben wird, bis er heiratet. Nichts versetzt einen Jungen so sehr in Panik wie der Versuch, seine Sexfreundin vor der Frau geheim zu halten, die ihn aus ihrer Vagina gewürgt hat. Jamies Zustand wechselte ungefähr in einer Zehntelsekunde von komatös zu hellwach und panisch. Ich landete in einem wirren Haufen auf dem Fußboden. »Versteck dich«, zischte er.

»Guten Morgen erst mal«, grummelte ich. Aber eigentlich war das nicht ganz fair. Wir haben nie einen auf feste Beziehung gemacht. Er weiß, dass ich dann austicke, und das ist ein Grund, warum ich überhaupt außerhalb von Schule und Partys Zeit mit ihm verbringe.

»Sei still«, drängte Jamie. Halb stieß er mich, halb rollte er mich in Richtung Kleiderschrank, während er gleichzeitig meine Jeans, mein T-Shirt und mein Handy einsammelte. Mit seinem Hundeblick sah er mich noch einmal flehend an. Das muss ich ihm lassen: Er hat unglaubliche Augen. Sie sind braun, mit einem grünen Ring darin, groß, und umrahmt von diesen irren Wimpern, für die ich so ziemlich alles tun würde. Er starrte mich an, ganz offensichtlich nicht mehr bei der Sache. »Du bist wunderschön«, seufzte er. Das sagt er immer, kurz bevor er mich küsst.

Ich habe nichts gegen Knutschen am frühen Morgen. Ich hielt ihn an seinem T-Shirt fest und beugte mich vor, als es noch einmal klopfte. »Bärchen? Bist du in Ordnung da drinnen?« Jamies Mom hat so eine zuckersüße Stimme, dass mir die Kotze hochkommt.

Wir erstarrten. »Ich bin beim Anziehen.« Diesen Trick wendet Jamie oft an, wenn ich da bin. Normalerweise funktioniert das.

Aber dieser Morgen war alles andere als normal. »Ich muss mit dir reden.«

Jetzt sah Jamie so aus, als würde ihm die Kotze hochkommen. »Sorry«, flüsterte er, löste meine Hand von seinem T-Shirt und knallte die Kleiderschranktür vor meiner Nase zu. Ich saß im Dunkeln, halb schwindelig und halb schlafend. Meine Augen fühlten sich an, als wären sie voller Sand. Ich musste vergessen haben, gestern Abend meine Kontaktlinsen rauszunehmen. Meine Knie drückten gegen die Schranktür. Und dann fiel mir der Geruch auf. Die meisten Jungenzimmer müffeln wie eine kalte Turnhalle. Jamies roch nach seinem Deo, sauber und frisch und irgendwie angenehm.

Da ich mich nicht anziehen konnte, ohne die Tür aufzutreten und Mrs Schill einen wunderschönen guten Morgen zu wünschen, entsperrte ich mein Handy.

In dem Moment begann ich zu begreifen: Das würde ein seltsamer Tag werden.

Es fing damit an, dass ich eine Unmenge von Nachrichten von meiner Mutter bekommen hatte. Mom ist nicht wie die Mrs Schills dieser Welt. Es ist ihr scheißegal, ob ich bei einem Jungen übernachte. Sie textet mir nicht alle paar Minuten, wenn ich später nach Hause komme, als sie gesagt hat. Sie sagt mir nicht einmal, wann ich nach Hause kommen soll. Aber jetzt stapelten sich die ungelesenen Nachrichten geradezu, der reinste Sorgen-Berg. Schon bei dem Gedanken, diesen Berg zu erklimmen, hätte ich mich am liebsten wieder hingelegt – aber das hätte auch dazu geführt, dass die Schranktür aufgegangen wäre und ich mich unfreiwillig Jamies Mom in meiner ganzen Glorie präsentiert hätte. Also atmete ich tief durch, machte mich auf das Schlimmste gefasst und klickte auf die erste Nachricht.

Will nur kurz checken, ob du ok bist? Schreib bitte zurück xxx

Liebes, ich weiß ich mach so was sonst nicht, aber bitte texte kurz zurück.

Bitte melde dich.

Bei Anna’s Run ist was passiert.

»… Anna’s Run«, sagte Mrs Schill im selben Moment. Ich tastete nach meinem Handy, das mir aus den Fingern rutschte.

»Davon weiß ich nichts«, sagte Jamie. »Was ist denn los?«

»Ich muss jetzt zur Arbeit. In der Schule werden heute wahrscheinlich viele Gerüchte umgehen. Denk dran: Glaub nicht alles, was du hörst.« Ich presste mein Gesicht an mein Knie und unterdrückte ein Schnauben. Ich wette, Mrs Schill glaubt alles, was sie über mich hört. »Und wenn du uns brauchst, ruf uns an. Okay?«

»Okay.« Jamies Stimme klang gedämpft. Bestimmt gab ihm seine Mutter gerade eine dicke Umarmung. Sie sieht aus, als würde ein Windstoß sie zerknicken wie einen dünnen Zweig, aber diese Frau wäre in der Lage, Knochen zu brechen, wenn sie wollte.

Jamie wartete eine Ewigkeit, bevor er beschloss, dass es sicher wäre, mich aus dem Schrank zu lassen. In der Zwischenzeit waren meine Füße aufgewacht und wieder eingeschlafen. Ich stützte mich an der Schrankwand ab und richtete mich mühsam auf. »Ich glaube, die Luft ist rein. Mom geht gleich aus dem Haus. Ich muss noch schnell duschen und dann gehen wir.«

»Und was ist mit meiner Dusche?«

Er zog einen Mundwinkel hoch. »Du brauchst keine. Du riechst gut.«

»Lügner«, schimpfte ich, aber ich lächelte zurück. Als Jamie im Badezimmer verschwunden war, schnupperte ich prüfend unter meinem Arm. Gott sei Dank gibt es Deospray.

Wenigstens hatte ich Zeit, meine Mom anzurufen, während Jamie unter der Dusche war. Sie ging gleich nach dem ersten Klingeln ran. »Claude?«

»Nee, Darth Vader.«

»Das ist nicht witzig«, blaffte sie, aber ich konnte ihre Erleichterung spüren. Etwas von der Anspannung schien aus ihrer Stimme zu weichen, als sie fragte: »Bist du okay? Wo bist du?«

Wie ich schon sagte, Mom fragt mich nie solche Dinge. »Ich hab bei Jamie übernachtet. Mir geht es gut, alles ist gut. Was ist denn los?«

Mom holte tief Luft. »Jemand hat angefangen, was rumzuerzählen. Gestern Abend gab es einen Vorfall auf der Brücke bei Anna’s Run.«

Ein Vorfall. Klingt bedrohlich. Aber ganz ehrlich, Jefferson-Lorne ist die Art von Kaff, in dem alles Mögliche zu einem Drama aufgebauscht wird, einfach aus Jux und Tollerei. Und Jefferson-Lorne ist eine brodelnde Gerüchteküche. Ich sollte das wissen, denn ich bin Gegenstand so ziemlich aller Gerüchte, die ich höre.

»Keine Panik«, sagte ich zu ihr. »Es war bestimmt nur ein Scherz. Kommt ja oft vor, dass die Leute irgendwelchen blöden Scheiß machen.«

»Kommt auch oft vor, dass jemand bei Anna’s Run ums Leben kommt«, sagte Mom.

Anna’s Run ist unser One-Stop-Shop für Lokallegenden. Die kleine Flussbiegung wirkt harmlos, sogar idyllisch – doch das sanft dahinfließende Wasser verbirgt eine hinterhältige Strömung, die das tiefe Flussbett ausgehöhlt hat. Wenn du hier ins Wasser gehst, wirst du runtergezogen und mit der Strömung mitgerissen, bevor du überhaupt kapierst, was los ist. Der Sog des Wassers macht es unmöglich, dich zu befreien – so heißt es zumindest in den Legenden. Na ja, da heißt es auch, dass der Fluss aus dem Nirgendwo entsprungen ist, nachdem Annas Hexenzirkel hingerichtet wurde, und dass die Strömung sich anfühlt wie die Finger eines toten Mädchens, die dich in die Tiefe ziehen. Wer nicht aus der Gegend kommt, versteht das nicht. In unserer Stadt ist Anna wie eine Göttin. Eine Naturgöttin, die besänftigt werden muss. Überall sonst in Colorado haben die Leute Angst vor Blizzards und Borkenkäfern und Waldbränden; bei uns ist es der Fluss. Aber manche Leute machen sich einen Scherz daraus. Sie denken, dass sie den Fluss kontrollieren können, oder sich selbst; dass sie sich in der Nähe eines Naturphänomens, das jeden innerhalb von dreißig Sekunden töten kann, sicher fühlen können. Also, ich würde mich nie mit diesem Ort oder seinem Ruf anlegen. Aber es ist eben nicht jeder mit Intelligenz gesegnet. So weit eine kleine Weisheit aus meinem Highschool-Leben.

MUÑEZ: Sie kennen also Anna’s Run?

CLAUDE: Alle hier kennen Anna’s Run. Ich war zehn Jahre alt, als ich anfing, dort abzuhängen. Damals haben meine Freunde und ich uns Mutproben ausgedacht, um den Geist herbeizurufen – Sie wissen schon, Annas Geist. Sie klaut Silber, Gabeln und Löffel und so ein Zeug und hängt sie in die Bäume am Fluss. Wenn die Leute dann auf die Bäume klettern, um die Sachen zurückzuholen, fallen sie ins Wasser und kommen nicht wieder raus. Anna zieht sie in die Tiefe, drückt sie unter die Wasseroberfläche, sodass sie nicht wieder hochkommen können. Ich hab mal eine Flasche Wein mitgenommen und in den Fluss geworfen. Die Flasche ist flussabwärts wieder aufgetaucht, leer. Ich schätze, Anna bekommt nicht alle Tage einen Merlot zu trinken.

MUÑEZ: Laut lokalem Polizeibericht sind Sie schon einmal bei Anna’s Run festgenommen worden.

CLAUDE: Ja, vielleicht.

MUÑEZ: Vielleicht?

CLAUDE: Ich meine, ich erinnere mich nicht an eine Begebenheit im Besonderen.

MUÑEZ: Sie erinnern sich nicht daran, wegen verdächtiger Aktivitäten und öffentlicher Ruhestörung verhaftet worden zu sein? So lautete damals die Anklage.

CLAUDE: Hören Sie, Kommissarin, die Polizei hasst mich, und die Polizei hasst meine Mom. Ich habe nie irgendwas gemacht, was die anderen in meinem Alter dort nicht auch gemacht haben. Geht es hier jetzt um meine Polizeiakte oder um mein Alibi?

Während ich mir mit einer Hand meine Klamotten überzog, hörte ich Mom am anderen Ende der Leitung seufzen. Ihre Stimme wurde weicher. »Ich wollte dich nicht anmotzen. Es war eine aufreibende Nacht. Und du hast nicht zurückgetextet …«

»Sorry«, sagte ich, als Jamie in einer Wolke von Bodyspray aus dem Badezimmer kam. »Hab wohl schon geschlafen.«

»Okay.« Sie seufzte wieder. »Ich hab dich lieb, Süße. Einen guten Schultag und mach nichts, was ich nicht auch tun würde.« Das ist ein alter Witz in der Familie Vanderly. Mom war der absolute Schrecken der Highschool. Einige meiner Lehrer sprechen geradezu ehrfürchtig von ihr.

Jamie und ich gingen um ein paar Straßenecken zu meinem Auto. Ich parke immer am Spielplatz, sodass Mrs Schill am Morgen das Auto der satanischen Verführerin nicht auf ihrer Einfahrt stehen sieht. Jamie fläzte sich auf den Beifahrersitz, während ich meinen Rucksack in den Kofferraum schmiss. »Hast du es nicht allmählich satt, immer Verstecken zu spielen?«

»Nee.« Um das einmal festzuhalten: Es ist nicht so, dass ich mich ständig nachts in fremde Jungenzimmer schleiche. Aber ich mag Jungs. Ist das ein Verbrechen? Hast du es nicht allmählich satt – das ist so ein typischer Satzbeginn für einen Jungen, der eine feste Beziehung will. Meiner Erfahrung nach wollen die Jungs nur eine feste Beziehung, wenn ich häufiger Sex habe als sie.

Also ließ ich Janines Motor an – Janine ist mein Sechsgang-Honda, 2014er-Modell, dunkelgrau, falls Sie das notieren wollen – und fragte: »Was hat deine Mom denn nun von Anna’s Run erzählt?«

Jamie zuckte die Schultern. »Ach, seltsames Zeug. Blabla.« Er sah mich von der Seite an und zog eine Augenbraue hoch. »Wahrscheinlich hat jemand in der Nacht einen Kojoten gehört und Angst bekommen.«

»Oder jemand ist nach zu viel Gras eingepennt und hatte einen komischen Traum«, stieg ich auf das Spiel ein. Mit Jamie kann man herrlich herumspinnen. Außerdem hielt ihn das davon ab, seinen Wie-wäre-es-mit-einer-festen-Beziehung-Vorschlag herunterzustammeln, den er sich ganz offensichtlich zurechtgelegt hatte.

»Oder ein Sex-Kult wollte seine Geräuschkulisse vertuschen«, sagte er.

Ich prustete los, während ich aus der Parklücke fuhr. »Oh mein Gott, wer würde denn in diesem Kaff einem Sex-Kult beitreten?«

»Es sind immer die Leute, die man für besonders respektabel hält.« Jamie machte eine geheimnisvolle Handbewegung. »Ich tippe auf Mr Cross.«

»Dieses Ekelpaket.« Mr Cross besitzt die meisten der Baufirmen in der Gegend. Das ist so ein Typ, der auch drinnen Sonnenbrille trägt und mit dem Bürgermeister und dem Gouverneur bekannt ist. Jemand, der schon mal alle Teenager zu einer Poolparty einlädt und eine Jacht vor seinem Haus stehen hat, auch wenn wir in Scheiß-Colorado leben.

»Wo fährst du denn lang?«, fragte Jamie, als ich von der Hauptstraße abbog.

»Wir nehmen die landschaftlich schönere Strecke«, sagte ich.

»Claude«, stöhnte er.

Aber ich wollte Anna’s Run sehen.

»Wir werden da überhaupt nichts sehen können. Außerdem haben wir dann keine Zeit mehr für unsere Frühstücksburritos.« Jamies Stimme klang auf einmal etwas misstrauisch. Seitdem er einmal gesehen hat, dass ich mein Mittagessen ausgelassen hab, bildet er sich ein, dass ich magersüchtig sein könnte. »Nimm wenigstens einen Schluck von meinem Shake.« Er reichte mir den Becher mit dem Protein-Trunk, den seine Mom ihm jeden Morgen hinstellt.

»Nein, danke. Da hat Zement ja mehr Geschmack.« Ich hob eine Hand, um seinen Protest abzuwehren. »Jetzt chill mal. Ich hab was zum Mittag dabei – das kann ich auch zum Frühstück essen.«

»Wir könnten trotzdem noch Burritos kaufen«, murmelte er und sackte tiefer in seinen Sitz. Armer Kerl. Er ist es gewohnt, dass alles nach seinem Willen geht.

Dumm für ihn, dass ich es auch gewohnt bin, meinen Willen durchzusetzen. Wir fuhren zu Anna’s Run.

Normalerweise hätte ich die Fahrt genossen. Die Waldluft dort draußen ist so frisch und sauber. Von der Straße aus sieht man die Berge, blaugraue Gipfel, auf denen fast das ganze Jahr über etwas Schnee liegt. Immer wieder gibt es Abzweigungen, die zu Dutzenden von Wanderwegen führen, sich weiter in die Rockies schlängeln oder hinauf zur Diamondback Ridge (ein cooler Platz für Partys, übrigens). Und natürlich zu Anna’s Run.

Das Wasser stand hoch. Das hörte ich schon aus dem Auto, auch wenn ich den Fluss durch die Bäume noch nicht sehen konnte. Ich war oft genug dort draußen, um es mir vorstellen zu können. Knarrende Brücke, Felsen scharf wie Messerklingen.

Jamie hatte recht gehabt: Wir würden nichts sehen können. Die Abzweigung zu Anna’s Run wurde von drei Polizeiwagen blockiert. Am Straßenrand, wo der Asphalt auf hohes Gras traf, standen noch mehr Autos. Ich ließ Janine im Schneckentempo fahren. Durch das Rauschen des Flusses hörte ich die Rufe der Männer, die den Wald durchkämmten.

»Die suchen nach was«, sagte Jamie.

Ich hatte nicht viel Zeit, darüber nachzudenken. Einer der Bullen hatte uns gesehen und kam auf uns zu. Und es war nicht irgendein Bulle. Es war Vize-Polizeipräsident Bryson, mein Erzfeind im Jefferson-Lorne Police Department. Der Mann hat mich auf dem Kieker, und das schon seit er mich beim Schulfest mit seinem Sohn in der Garderobe erwischt hat. Ich unterdrückte den Impuls, das Fenster hochzufahren und davonzubrausen.

Bryson lehnte sich auf den Fensterrahmen. »Kann ich den Herrschaften irgendwie behilflich sein?«, fragte er und musterte mich voller Verachtung.

Jamie versuchte sich als mein weißer Ritter. »Wir sind auf dem Weg zur Schule, Sir.«

Bryson musterte weiter mein Gesicht. »Wohnen Sie nicht am anderen Ende der Stadt, Miss Vanderly?«

»Ich habe meinen werten Freund hier abgeholt.« Ich klimperte mit den Wimpern. »Wir gehen jetzt Burritos frühstücken. Wollen Sie mitkommen?«

Bryson funkelte mich noch einen Moment länger an. Ich war mir sicher, dass er uns auffordern würde, rechts ranzufahren, um das Auto nach Gras abzusuchen – dabei hab ich gar keinen Stoff, das nur am Rande. Doch dann rief jemand nach ihm und er wandte sich ab. »Fahren Sie weiter. Und auf dem Rückweg kommen Sie besser nicht hier lang. Sie haben hier nichts zu suchen, Miss Vanderly.«

Alles in allem nicht die schlimmste Begegnung mit Bryson. Als ich den ersten Gang einlegte, ließ Jamie sich nach vorn fallen und sackte mit dem Kopf gegen das Armaturenbrett. »Warum haben wir das bloß gemacht?«, stöhnte er. »Was, wenn er Mom erzählt, dass du mich zur Schule gefahren hast?«

»Reg dich ab«, sagte ich und tätschelte sein Knie. »Der hat im Moment offensichtlich Wichtigeres im Kopf als dein Privatleben.« Ich warf noch einen Blick in den Rückspiegel und beobachtete die Szene. Noch mehr Autos hielten am Straßenrand und spuckten Erwachsene in Anzügen und Uniformen aus. Es sah ganz so aus, als würde sich ein Suchtrupp auf den Weg machen. Oder eine Verbrecherjagd beginnen. »Ist das etwa das FBI? Oh, ich wette, die suchen nach dem Sex-Kult.«

Doch Jamie war nicht mehr zum Scherzen aufgelegt. »Wir sollten jetzt nicht irgendwelche Mutmaßungen aufstellen. Die Gerüchteküche der Schule anzuheizen, hilft bestimmt nicht weiter.«

Ich lachte nur. »Okay, Mom.«

Jamie beugte sich über sein Handy, während ich weiterfuhr. Sein Groll hing schwer in der Luft. »Was liest du gerade?«, fragte ich, um die Stimmung aufzulockern.

»Wieder was über Lily Fransen. Kann man die Sache nicht mal ruhen lassen?«

»Nein«, sagte ich knapp und handelte mir noch einen verwirrten Blick von Jamie ein. »Seien wir doch mal ehrlich, die einzige Gerechtigkeit, die sie je bekommen wird, besteht darin, dass Senator Huntertons Name so lange wie möglich durch den Dreck gezogen wird. Und das soll nicht aufhören.«

»Und was, wenn er unschuldig ist?«, wandte Jamie ein.

Der Klassiker. Die erste Frage ist immer: Aber was, wenn er unschuldig ist? Nie heißt es: Aber was, wenn er schuldig ist und sie die letzten fünfundzwanzig Jahre mit dem Trauma gelebt hat, als Teenager belästigt worden zu sein, ohne jeden Beistand von der Justiz?

Ich schätze, dieser Satz eignet sich nicht als Stammtischparole.

»Also, ich hab jetzt keine Lust, dir zu erklären, was für ein Flachwichser du bist, wenn du so was sagst«, blaffte ich. Jamie rutschte im Sitz hinunter und scrollte weiter.

»Verdammte Scheiße«, stieß er plötzlich hervor.

»Was?« Ich sah reflexartig in den Rückspiegel. Keine Bullen, die uns folgten. Kein Wild, das auf die Straße springen wollte.

»Hast du das gesehen?« Er hielt mir sein Handy vor die Nase.

»Jamie, Schatz. Ich fahre.«

Ich dachte, es wäre irgendein Katzenvideo. Oder noch so ein Meme von Lily Fransens verheultem Gesicht bei einem Senator-Hunterton-Verhör.

Mit dem Video hatte ich nicht gerechnet.

Als wir auf den Parkplatz der Highschool fuhren, griff ich endlich nach dem Handy. Und in dem Moment kapierte ich das Ausmaß dieser ganzen Scheiße.

Ich konnte nichts darauf erkennen. Das Bild war total pixelig. Der Film war offensichtlich mitten in der Nacht aufgenommen worden, mit einer sauschlechten Kamera. Und hören konnte ich auch nichts. Das Tosen des Flusses übertönte alles. Aber ich konnte die zwei Gestalten ausmachen – eine hell, eine dunkel. Eine klein, eine groß. Und sie standen auf der Brücke über Anna’s Run.

Dann bewegte sich die dunkle Gestalt und plötzlich stand nur noch eine Person auf der Brücke. Ein kurzes Aufblitzen von blassem Haar und die helle Gestalt war verschwunden. Das Geländer hing zersplittert über dem Wasser. Das Bild fror ein.

»Ach du Scheiße«, wiederholte ich.

»Genau.«

Ich hätte am liebsten gewendet und wäre sofort wieder vom Schulparkplatz gefahren. Aber Jamie legte eine Hand auf meinen Arm und diese Hand fand irgendwie den Weg zu meiner Hand und drückte sie. »Wird schon werden«, sagte er. Wie ich schon sagte, er ist ein unwiderstehlicher Lügner. Und so brachte er mich dazu, aus dem Auto auszusteigen.

Am Bordstein vor den Eingangsstufen parkte ein Polizeiwagen aus Fort Collins. Sie sind wirklich von der schnellen Truppe, das muss man Ihnen lassen. Als mein Blick auf den Streifenwagen fiel, wusste ich sofort, dass das tote Mädchen jemand von unserer Schule sein musste. Und ich wusste, dass Sie alle mit mir sprechen wollen würden.

Die vorlaute Schlampe hat immer etwas damit zu tun, nicht wahr?

Kapitel 2 Die Wölfe

Die Korridore sind still, geräuschlos, wie der Stausee vor einem Gewitter. Die Luft ist schwer von Entsetzen und Trauer. Drei Schülerinnen bahnen sich ihren Weg durch diesen Nebel, die Bewegungen langsam, das Klacken der Absätze auf dem Linoleumboden gedämpft.

Trotzdem weiß es jeder. Die Wölfe kommen.

Die Tür zum Sekretariat öffnet sich und Claude Vanderly marschiert heraus. Sie sieht aus, als wollte sie dieses Gewitter lostreten, aus vollem Halse die Stille durchbrechen. Die dünne Schale, in der alle eingekapselt sind, zerschmettern und die Wut rauslassen. Sie fährt mit ihren abgekauten Fingernägeln durch pechschwarzes Haar und wirft sich ihren Rucksack über eine Schulter. Dann dreht sie sich um und stößt mit den drei Mädchen zusammen. Ihre Bücher und Handys fallen auf den Boden. Claude bückt sich und hebt ihre Sachen auf, ohne aufzusehen.

»Sieh mal an, wenn das nicht Vampirella ist.« Eines der Mädchen grinst. »Treibt sich hier am helllichten Tag herum.«

Die Mädchen sind das genaue Gegenteil von Claude: klein und zierlich, wo Claude groß und schlaksig ist. Ihr Liebreiz täuscht über eine gewisse Scharfkantigkeit hinweg, mit der sie sich zusammen bewegen – synchron, als wäre alles, was sie im Leben tun, Teil eines Cheerleading-Programms.

Die zwei außen sind schwarz gekleidet, aber nicht wie Claude – sie tragen Schwarz als Farbe der Trauer, nicht als Statement. Das Mädchen in der Mitte, ihre Anführerin, trägt ein pinkfarbenes Sweatshirt über ihrem dunklen Rock und schwarzen Leggings.

Das ist Avery Cross. Die Königin der Wölfe – im Schafspelz natürlich. Die blonden Haare hat sie zu ihrem üblichen hohen Pferdeschwanz zusammengebunden.

»Also. Du bist als Nächstes dran.« Claude richtet sich auf und mustert Avery von Kopf bis Fuß.

»Du hast mit ihnen geredet?«, fragt Avery.

Claude zuckt mit einer Schulter. »Geredet, Fragen zu meinem Lebenswandel beantwortet – wie auch immer.«

Die zwei Mädchen zu beiden Seiten von Avery rücken näher an sie heran – bereit, ihresgleichen zu beschützen. Claudes Gesichtsausdruck verwandelt sich für einen Moment in Hohn, als ihr Blick die Mädchen streift.

»Ich finde … ich finde es nett, dass du bei den Ermittlungen hilfst.«

Claudes Schnauben klingt eher verärgert als amüsiert. »Helfen? Niemand hilft den Bullen, Aves. Zumindest niemand, der Verstand hat.«

Avery reckt das Kinn. »Ich helfe.« Sie wippt auf ihren Fersen.

Claude hebt die Augenbrauen. Sie legt den Kopf schief und grinst. »Wie ich sagte.«

Die Mädchen auf beiden Seiten von Avery funkeln sie an. »Und was wollten sie von dir, Grufti? Gehörst du zu den Hauptverdächtigen?«, fragt ein Mädchen, das genauso einen braunen Pferdeschwanz trägt wie Avery.

»Lyla«, zischt Avery. Sie blickt mit flehenden Augen zu Claude auf. »Was wissen sie? Ich meine, was sagen sie über Emma? Glauben sie, dass sie okay ist?«

»Wer ist schon okay nach Anna’s Run? Sie ist tot, und das wissen auch alle.« Claude sieht nicht, wie Avery zusammenzuckt – oder vielleicht doch und deshalb redet sie weiter. »Sie werden nie rausfinden, was mit ihr passiert ist, genau wie bei all den anderen Mädchen, die dort umgekommen sind.«

»Halt die Klappe, Claude«, blafft Lyla. Sie hakt sich bei Avery unter. »Hör nicht auf sie. Es wird alles gut.«

Claude verdreht die Augen. »Na klar. Die Welt ist voller Feen und Regenbögen und Einhornküsse. Und wenn du es dir nur fest genug wünschst, taucht Anna aus dem Wasser auf und gibt uns Emma zurück.« Sie tritt mit einem Doc Marten gegen den anderen. »Schlag einfach weiter deine magischen Schuhe zusammen, Dorothy.«

Averys Wangen färben sich rot. Ihre Füße wippen auf und ab und ihre Hände umklammern die Riemen ihres Rucksacks. Die Härte in ihrer Stimme lässt sogar ihre Freundinnen zurückweichen. »Nur weil ich nicht so verbittert bin wie du, heißt das noch lange nicht, dass ich nicht in der realen Welt lebe.«

Claude beugt sich vor. »Emma ist tot. Alle denken das. Und die Polizei wird dasselbe machen, was sie immer gemacht hat – eine Weile im Dunkeln tappen und Emma dann vergessen.«

»Das ist nicht wahr«, fährt Avery sie an. Sie atmet schwer und federt auf ihren Fersen auf und ab, als wollte sie zu einem Sprint ansetzen. Sie holt tief Luft und senkt ihre Stimme. »Sie werden herausfinden, was passiert ist. Und ich würde mich nicht wundern, wenn sie nicht nur beweisen, dass du unrecht hast, sondern auch, dass du eine Lügnerin bist.«

Die Tür des Sekretariats öffnet sich noch einmal und zwei Männer kommen heraus. Einer sieht aus wie frisch aus dem Referendariat, blonde Haare und Milchbubi-Gesicht, mit einem allzu eifrigen Lächeln. Mr Pendler, unterrichtet Englisch und Journalistik, Emmas Beratungslehrer. Der andere hat silberne Strähnen in seinem braunen Haar und Bart und trägt eine Trillerpfeife um den Hals. Mr Garson, Vertrauenslehrer, Cheftrainer der Lacrosse-Mannschaft und des Cheerleading-Teams, dreifach ausgezeichnet mit dem Preis für den besten Pädagogen im Landkreis.

»Ihr wisst doch, was die Schulordnung zu Lärm auf den Korridoren sagt, Mädels«, mahnt Mr Garson.

Claudes Dock Martens stoßen noch einmal aneinander. Klack, klack, klack.

»Und wir wollen doch nicht gegen die Schulordnung verstoßen, nicht wahr, Aves?«

Lyla tritt vor. Ihr Pferdeschwanz schwingt hin und her. »Avery versucht wenigstens, zu helfen. Alle werden sich denken, dass du verhört worden bist, weil du immer bei Anna’s Run abhängst und sonst was machst. Du weißt doch bestimmt über alle zwielichtigen Dinge Bescheid, die sich dort abspielen, stimmt’s? Wenn du nicht sogar selbst darin verwickelt bist.«

»Meine Damen.« Mr Pendler legt eine Hand auf Lylas Schulter. Sie spannt sich an, aber er lenkt sie zurück. »Dies ist eine furchtbare Zeit für alle. Ich erwarte nicht, dass Sie sich konzentrieren können, aber glauben Sie mir, die Unterrichtsroutine wird Ihnen guttun.«

Mr Garson räuspert sich. Mr Pendler nimmt seine Hand von Lylas Schulter. »Miss Vanderly?«, sagt Garson, »soweit ich weiß, haben Sie jetzt Mathe?«

Claudes höhnisches Lächeln ist preisverdächtig. »Viel Glück, Dorothy«, murmelt sie und rempelt Lyla mit der Schulter an, als sie vorbeistolziert.

»Hexe«, antwortet Avery kaum hörbar. Ihre Wimpern sind schwer von ungeweinten Tränen.

»Lyla? Natalie? Sollten Sie nicht alle im Unterricht sein?«, fragt Mr Pendler.

Lyla und Natalie bringen es nicht fertig, ihm direkt in die Augen zu sehen. Lyla zieht Avery näher zu sich heran. »Wir sind zur emotionalen Unterstützung hier. Aves braucht uns.«

Averys Blick ist immer noch auf den Boden gerichtet. Pendler schwankt, ist unsicher. Doch Mr Garson schüttelt den Kopf. »Ich weiß, es ist schwer, aber die Polizei wird Sie allein sprechen wollen. Schaffen Sie das?« Avery nickt. »Zurück in den Unterricht, meine Damen. Und Avery« – er fischt ein Tempo aus seiner Tasche – »kommen Sie rein.«

Avery geht auf die offene Tür zu, bleibt aber auf der Schwelle stehen. Der Blick, den sie zurückwirft, gilt nicht Lyla und Natalie, sondern der hochgewachsenen Gestalt, die den Korridor hinuntergeht, bald nur noch ein Schatten im Sonnenlicht, das durch die Fenster fällt. Dann holt sie ihr Handy hervor und beginnt zu tippen.

Kapitel 3 Die Cheerleader-Kapitänin

CLINE: Wir haben Donnerstag, den 6. Dezember 2018. Es ist acht Uhr neunundvierzig. Dies ist Kommissar Cline. Befragt wird Avery Amelia Cross, richtig?

AVERY: Ja.

CLINE: Danke, dass Sie sich bereit erklärt haben, mit uns zu sprechen. Bitte nehmen Sie sich Zeit. Ich kann mir vorstellen, wie schwierig das für Sie sein muss.

AVERY: Es ist … schon okay. Ich meine, natürlich ist es nicht okay. Emma, oh mein Gott. Es ist einfach unvorstellbar, wissen Sie? Seit ich davon weiß, kann ich an nichts anderes mehr denken. Ich muss ständig heulen. Gott, mein Make-up muss total verschmiert sein.

Entschuldigen Sie, es ist furchtbar, in so einem Moment über solche Sachen nachzudenken. Meine Mutter sagt auch immer, dass ich so konfus bin. Es ist nur – Emma war doch gestern noch da. Wir haben unser Cheer-Programm besprochen. Es war wie an jedem anderen Tag, und jetzt …

Entschuldigung, haben Sie noch ein Taschentuch?

CLINE: Können Sie uns erzählen, wie Sie von der Sache mit Emma erfahren haben?

AVERY: Es war heute Morgen. Ich weiß, dieses … Video ist schon mitten in der Nacht im Netz verbreitet worden, aber nach neun checke ich Facebook nicht mehr. Gestern hab ich den ganzen Abend an meinem Cheer-Programm gearbeitet, mit meiner besten Freundin Lyla. Sie ist auch im Cheerleading-Team und ich übernachte oft bei ihr, damit wir proben können. Dann hab ich uns heute Morgen zur Schule gefahren.

Ich hab mir schon gedacht, dass etwas nicht stimmt, als ich den Streifenwagen gesehen habe. Es steht ja schließlich nicht jeden Tag ein Polizeiauto vor der Schule. Aber selbst dann dachte ich nur, dass vielleicht jemand mit Gras erwischt worden ist. Claude Vanderly ist so eine, die abgeführt werden könnte, weil sie etwas Besonderes in ihrem Schließfach aufbewahrt hat.

Wir haben auf dem Weg zur ersten Stunde noch Witze darüber gemacht. Normalerweise haben wir noch ein paar Minuten für uns, weil wir früher dran sind als die anderen.

Heute nicht.

Im Klassenzimmer war es schon total voll und laut. Aber das Geplapper hörte auf, als ich reinkam.

Für einen Moment war ich sicher, dass es um mich ging. Ich weiß, dass die anderen über mich reden. Bei Wettkämpfen kommentieren sie jede meiner Bewegungen, beim Mittagessen zählen sie die Kalorien auf meinem Teller. Die Angst kroch mir von meinem Magen die Kehle hoch und für eine Sekunde hatte ich das Gefühl, mich gleich übergeben zu müssen. Sie werden denken, du bist schwanger. Ich schluckte.

Das Cheer-Team hatte sich in einer Ecke versammelt. Und alle weinten. Der Weg zu meinem Platz kam mir vor wie der schrecklichste Laufsteg der Welt. Alle starrten mich an, und nicht auf die gute Weise. Ihr Flüstern ging wie eine Welle durch den Raum. Ich überprüfte meinen Bauch, die Kurven meiner Hüften.

Natalie sprang von ihrem Stuhl auf und umarmte uns beide fest. »Es tut mir so leid, Aves«, sagte sie mit erstickter Stimme. Tränen strömten über ihre Wangen und hinterließen Spuren auf ihrem geschminkten Gesicht. »Wie geht es dir bei all dem?«

»B-bei all was?«, stammelte ich. Noch immer spürte ich jeden Blick, der mich durchbohrte.

Natalie bemerkte unsere verblüfften Gesichter und ihre rot geränderten Augen weiteten sich. »Oh mein Gott. Ihr habt doch das Video gesehen, oder?«

»Was für ein Video?«

»Oh mein Gott. Ohmeingott.« Natalie beugte sich vor. »Shay, gib mal dein Handy.«

»Die Schwarte hat es konfisziert«, sagte Shay und tupfte ihre Augen mit einem Taschentuch ab. »Genau wie deins.«

Ich zog den Reißverschluss meines Rucksacks auf und holte mein Smartphone raus. Normalerweise nehme ich mein Handy im Unterricht nicht raus, aber ich musste wissen, was los war. Was hatte mein Team in Tränen ausbrechen lassen? Was hatte die ganze Klasse dazu gebracht, vor 7:45 Uhr auf ihren Plätzen zu sitzen?

Natalie nahm mir das Telefon aus der Hand. Als sie es mir zurückreichte, hatte sich schon ein ganzer Pulk von Schülern hinter mir versammelt. Sie drängten sich hinter meinem Rücken, berührten meine Schultern. Ich spürte ihren Atem in meinem Nacken und bekam eine Gänsehaut.

»Das ist echt creepy«, sagte Kyle Landry, der Lacrosse-Captain. Er klang richtig schadenfroh. Ich wollte ihm sagen, wenn er es so creepy fände, könnte er ja auch aufhören, seine Weichteile an meine Schulter zu drücken und wieder an seinen Platz zurückgehen, aber – na ja, so ein Mädchen bin ich nicht.

Das Video war total pixelig, aber sobald ich ihre schlanke Gestalt sah, das eisblonde Haar, wusste ich Bescheid. Emma. Zu hören war nur das Tosen von Anna’s Run.

Und dann – der Stoß.

Ich konnte nicht atmen. Sobald das Video zu Ende war, schwoll das Flüstern um mich herum wieder an. Maschinengewehrartig wurden Mutmaßungen abgegeben, während das Video automatisch noch einmal abgespielt wurde.

»Es muss jemand Starkes gewesen sein.«

»Definitiv ein Kerl.«

»Und mindestens fünfzehn Zentimeter größer als Emma.«

Ein Schatten fiel auf uns. Die anderen Schüler stoben auseinander wie Herbstblätter in der Strömung. Ich sah zu dem wenig entzückten Gesicht von Mrs Willingham auf.

»Guten Morgen, Miss Cross. Es tut mir leid, ich weiß, das muss ein Schock für Sie sein. Die Handys sind für den Rest des Schultages konfisziert.« Die Schwarte, wie wir Mrs Willingham nennen, streckte die Hand aus und ich reichte ihr widerstandslos das Smartphone. Es war auch nicht so, dass ich dieses Video noch mal sehen wollte. Ich wünschte, ich hätte es mir nie angesehen.

Die Schwarte hob ihre Stimme. »Das gilt für alle. Keine Handys, keine Zweithandys. Eure Eltern können im Sekretariat anrufen, wenn sie euch kontaktieren müssen. Ich muss noch mal für einen Augenblick aus dem Zimmer, und ich erwarte, dass sich alle gesittet verhalten.« Während sie sprach, wanderte ihr Blick zur Tür hinüber, als wüsste sie schon, wer gleich ins Zimmer kommen würde.

Einen Moment später schlurfte Claude Vanderly herein. Sie trug dieselben Klamotten, die sie schon gestern angehabt hatte. Ihr dicker Goth-Eyeliner war verschmiert, als wäre sie gerade mit dem Freund irgendeines Mädchens aus dem Garderobenschrank gekrochen. Wie üblich.

Die Schwarte sprach einen Moment mit ihr. Claude sah angepisst aus. Dann ließ sie ihren Blick durchs Klassenzimmer wandern.

Sie und ich bemerkten es im selben Moment. Es waren nur noch zwei leere Plätze übrig – einer direkt vor Kyle und seinen Kumpeln, und einer neben mir.

Der Platz neben mir hätte Emmas Platz sein sollen. Das hätte sie respektieren sollen. Aber Claude schob ihre schlaksigen Beine unter den Tisch und knallte ihren Rucksack zwischen uns auf den Boden.

Ich war bereit, die Provokation zu ignorieren. Claude muss jeden Tag mindestens einmal im Zentrum eines Dramas stehen, und da gieße ich nicht noch Öl ins Feuer. Aber Lyla, ganz BFF, wollte Claude klarmachen, dass sie sich nicht alles herausnehmen kann. Außerdem hat Lyla Claude nie verziehen, dass sie versucht hat, letztes Jahr auf dem Schulfest meinen Freund zu verführen, um dann das Gerücht zu verbreiten, dass ihr das gelungen wäre. Lyla legte eine Hand auf meinen Arm, als wollte sie sagen, Überlass das mal mir, und sagte laut zu Claude: »Ich hab ein Kruzifix in meinem Rucksack, falls du dir das mit dem Exorzismus noch mal überlegt hast.«

Claude drehte langsam den Kopf, als hätte sie uns gerade erst bemerkt. Wie ich schon sagte, sie weiß, wie man ein Drama inszeniert. »Ist doch bestimmt ein prima Accessoire für deinen antifeministischen Preppy-Look.« Sie sah mich an und gähnte. »Guten Morgen, Miss Sonnenschein.«

»Männerfeindliche Barbie«, murmelte ich. Es rutschte mir so raus. Ich versuche eigentlich immer, auf so was nicht einzusteigen, aber ehrlich mal: Wie kann Claude so tun, als ob alles beim Alten ist? Kann nicht mal der Tod eines Mädchens sie überzeugen, dass die Welt sich nicht nur um sie und ihre seltsamen Ansichten dreht?

Trotzdem bereute ich es sofort. Ich war gestern spät ins Bett gekommen – Extra Cheer-Training mit Lyla – und ich war total erschossen. Ich fühlte mich, als wäre ich selbst durch Anna’s Run geschwommen. Und nun das … ich habe einfach nicht die Energie, mich mit Claude auseinanderzusetzen. Nicht heute.

CLINE: Gab es in der Vergangenheit Konflikte zwischen Claude und Emma?

AVERY: Ich weiß nicht. Wird Claude denn verdächtigt?

CLINE: Bleiben wir doch bei Emma.

AVERY: Aber … ich meine, wenn Emma bei Anna’s Run war, warum sollte Claude nichts damit zu tun haben? Claude ist doch ständig da draußen. Nicht, dass ich sie dort gesehen hätte. Anna’s Run ist der unheimlichste Ort in dieser Gegend, deshalb höre ich ungern was darüber und gehe schon gar nicht dorthin. Verstehen Sie? Aber … na ja, Claude wurde dort letztes Jahr wegen Vandalismus verhaftet. Das hat zumindest Emma erzählt, und ihr Dad war der Polizist, der Claude festgenommen hat.

Sie kennen ihn bestimmt. Hauptkommissar Baines, der Polizeichef.

Wie auch immer, Emma hat mir erzählt, dass es gar nicht um Vandalismus ging. Es ging um Hexerei. Gruselige Opferriten und so was. Claudes Mom ist Rechtsanwältin und hat dafür gesorgt, dass der Bericht geändert wurde, aber Claude redet von Anna, als wäre sie eine reale Person. Als könnte sie … mit ihr kommunizieren oder so.

CLINE: Was denken Sie denn über Anna’s Run?

AVERY: Es gibt massenhaft Geistergeschichten über Anna. In der Mittelschule haben wir uns immer solche Storys erzählt, wenn wir beieinander übernachtet haben. Wir behaupteten, dass der Fluss dort mit einem Fluch belegt war. Aber als wir auf die Highschool kamen, begriffen wir: Es ist einfach ein Ort, wo Jugendliche hingehen, wenn sie etwas Verbotenes machen wollen, ohne dass ihre Eltern es mitbekommen. Gras rauchen zum Beispiel oder Alkohol trinken. Oder, Sie wissen schon, andere Dinge miteinander. Dinge, die Claude Vanderly … ziemlich gut kann.

Aber Emma hing nie dort ab. Emma ist echt total brav. Ganz abgesehen davon, dass ihr Dad ausgeflippt wäre, wenn er es rausgefunden hätte. Ich hab keine Ahnung, warum sie gestern Abend bei Anna’s Run gewesen sein sollte, aber sie muss einen guten Grund gehabt haben. Vielleicht war sie auf der Flucht vor jemandem, jemandem …

CLINE: Haben Sie irgendeine Idee, wer Emma etwas Böses gewollt haben könnte?

AVERY:Nein, keine Ahnung.

CLINE: Niemand hier oder in ihrem privaten Umfeld?

AVERY: Emma hatte keine Feinde – na ja, außer Gwen Sayer vielleicht. In gewissem Sinne. Ich meine, sie waren Konkurrentinnen um das Devino-Stipendium. Aber so richtige Feinde hatte Emma nicht. Sie war immer am Lernen, aber nett zu allen. Sie hatte keinen Freund und verbrachte so viel Zeit mit AGs und so was, dass sie gar keine Zeit hatte, sich Freunde oder Feinde zu machen. Früher war sie gut mit Lizzy Sayer befreundet … aber als Lizzy dann starb, sagte Emmas Dad, er wolle nicht, dass sie mit solchen Leuten Umgang hätte. Wenn sie also nicht beim Cheer-Training war, oder bei der Schulzeitung, oder im Debattierklub, war sie zu Hause. Und auch wenn sie total normal und wirklich wunderbar war, hing ihr nach der Sache mit Lizzy Sayer ein gewisser Ruf an.

Lizzy ist in der Nähe von Anna’s Run umgekommen. Denken Sie, das ist ein Zufall?

Ich weiß, das ist schon zwei Jahre her, aber Emma war, nun ja, sehr interessiert an Lizzys Tod. Es war etwas heikel, zumal Gwen in unserer Stufe ist und nicht darüber reden will. Es war ein Unfall, nicht wahr? Was gibt es dazu noch zu sagen?

Emma war überzeugt, dass es überhaupt kein Unfall war. Je mehr sie sich damit beschäftigte, desto schlimmer wurde es. Sie war … besessen. Ich benutze das Wort nicht gerne, aber das war sie. Immer wieder fing sie damit an. Sie kam zu spät zum Cheer-Training, übernahm Extra-Schichten bei der Schulzeitung … Wir machten uns alle Sorgen, aber schließlich konnte sie niemand davon abhalten zu recherchieren, oder? Es war ja nicht verboten oder sonst was.

Doch dann kam es zu diesem Vorfall.

CLINE: Erzählen Sie mir von diesem Vorfall.

AVERY: Es war in diesem Anti-Drogen-Seminar, zu dem wir am Anfang des Schuljahres alle gehen mussten. Ich glaube, Direktor Mendoza und Mr Garson hatten das ins Leben gerufen, damit wir eine Verbindung zueinander aufbauen. Als würden wir dann nicht stockbesoffen in die Schlucht bei Anna’s Run stürzen, sondern unsere Probleme mit Kuscheltherapie lösen oder so was. Keine Ahnung. Die Moderatorin war echt nett und hat sich total viel Mühe gegeben. Doch dann meldete sich Emma und stand auf und sagte: »Lizzy Sayer hat sich nicht das Leben genommen. Und sie ist auch nicht an einer versehentlichen Überdosis gestorben.« In einem Tonfall, als würde sie das Lunch-Menü bekannt geben. »Lizzy wurde ermordet.«

Die ganze Schule spielte verrückt. Ein paar Leute buhten – sie glaubten, Emma wollte Ärger heraufbeschwören oder versuchte, Aufmerksamkeit zu bekommen. Ein paar andere riefen Fakten in den Raum, die über den Fall bekannt waren. Dass Lizzy zwei leere Flaschen Jack Daniel’s im Kofferraum gehabt hatte, zum Beispiel, und genügend Alkohol im Blut, um sternhagelvoll zu sein. Die arme Seminarleiterin wusste überhaupt nicht, was sie machen sollte. Direktor Mendoza und Vertrauenslehrer Garson führten Emma aus dem Zimmer und das nächste Mal, als ich sie sah, verlor sie kein Wort mehr über die Sache.

Und wer weiß, wie ihr Dad reagiert hat, als er herausfand, was sie gemacht hatte. Meine Eltern würden bestimmt ausflippen, und ihr Dad ist mega-streng.

CLINE:Hat diese Strenge vielleicht Emmas Beziehung zu jemandem beeinträchtigt?

AVERY: Das hat all ihre Beziehungen beeinträchtigt. Sie ging nach der Schule oder den AGs immer direkt nach Hause und zu Hause durfte sie nicht ins Internet. Nie. Ihr Dad ist überzeugt, dass jedes Mädchen im Netz Emma zu Tode mobben will und jeder Junge im Netz ihr ein … Sie wissen schon … schicken will. Ein Dick Pic. Das hat mich immer geärgert, weil ich unsere Cheerleading-Videos auf YouTube stelle und eigentlich erwarte, dass die Mädels das dann üben. Aber sie tat mir auch immer sehr leid. Ich weiß nicht einmal, was sie zu Hause gemacht hat, wenn ihr Dad Dienst hatte. Aber sie wollte ihn nie wütend machen. Er wusste über alles Bescheid, was sie aß; er wusste, wo alles in ihrem Zimmer war …

CLINE: Könnte Emma gestern Abend heimlich das Haus verlassen haben, um jemanden zu treffen?

AVERY: Sie meinen den Typen, der sie von der Brücke geschubst hat? Schon möglich. Aber ich weiß nicht, wer das sein könnte. Und Emma hätte auch keinen Hinweis darauf hinterlassen, den ihr Dad hätte finden können.

Nein, halt. Sie hatte ein Tagebuch. Ich glaube, sie hat nur darin geschrieben, wenn sie hier war, aber das ganz sicher jeden Tag.

CLINE: Sie haben dieses Tagebuch gesehen? Wissen Sie, wo sie es aufbewahrt hat?

AVERY: Hm, in ihrem Spind vielleicht? Aber jetzt, wo Sie es sagen – ich habe Emma das Tagebuch nie herausnehmen oder zurücklegen sehen.

CLINE: Das war sehr hilfreich, Miss Cross. Wirklich. Vielen Dank für Ihre Zeit.

AVERY: Keine Ursache. Ich will doch helfen und ich will Gerechtigkeit für Emma. Wirklich, ich mache alles dafür. Sagen Sie einfach Bescheid.

Okay?

Kapitel 4 Die Zurückgelassenen

Über dem Haus der Sayers liegt Stille, wie schon lange. Selbst die Nachbarshunde bellen nicht, wenn sie in die Nähe des Zauns kommen. Die Fensterscheiben sind voller Flecken und vom Dach hängen einige lose Schindeln. Die Rosensträucher sind verwildert und ihre trockenen braunen Zweige überwuchern den handtuchgroßen Vorgarten, verstopfen die Regenrinne und wickeln sich um die Zaunpfosten. Alles ist braun an diesem klirrend kalten Dezembertag.

Ein Zeitungsjunge wirft die Morgenzeitung die Treppenstufen hinauf und radelt schnell weiter. Senator Huntertons Gesicht, voller selbstgefälliger Wut, landet in den welken Blättern vor der Haustür. Die Schlagzeile lautet: HUNTERTON: ICH VERGREIFE MICH NICHT AN KLEINEN MÄDCHEN.

Drinnen im Haus ist die Luft stickig, als wäre seit Lizzy Sayers Tod kein Fenster auch nur einen Spalt weit geöffnet worden. Um den runden Esstisch stehen immer noch vier billige Klappstühle mit Kunstlederpolster. Sie sind vollkommen zerschlissen und aus den Nähten quillt Schaumstoff. Nur auf einem der Stühle sitzt im Moment jemand – Gwen hat einen Kaffee und einen Teller mit einer Scheibe Toast vor sich stehen. Das Essen hat sie ganz vergessen, während ihre Finger über ein zerkratztes iPhone scrollen, das sie in der Schule von Heather Halifax bekommen hat. Sie hebt nicht einmal den Blick, als ihr Vater ins Zimmer kommt, doch als er ihr einen Kuss auf die Stirn drückt, murmelt sie »Morgen« und dreht ihr Display zur Tischplatte.

»Alles in Ordnung? Ich sehe, du hast dich fürs Büro angezogen«, sagt Mrs Sayer. Ihre Stimme hat noch immer den walisischen Singsang, mit dem sie vor einundzwanzig Jahren hierhergezogen ist. Sie steht am Herd ihrer kleinen Fertigküche, deren weißes Laminat durch den Dreck von Jahrzehnten, Brandflecken und Abnutzung vergilbt ist, und gießt etwas dünnflüssigen Teig in eine Pfanne. Sie weiß immer noch nicht, wie man fluffige Pfannkuchen macht. Neben der Pfanne brodelt das Wasser im elektrischen Wasserkocher; zwei Becher mit schon einmal aufgegossenen Teebeuteln stehen bereit.

»Ich dachte mir, ich nehme lieber nur einen halben Tag frei. Ihr wisst ja, wie Mecklin ist.«

Das wissen sie. Mr Mecklin war der Erste, der ihnen jede Hilfe anbot, als Lizzy starb. Der Letzte, der ein Urteil darüber fällte, wie viel Alkohol sie im Blut gehabt hatte und was das für Mr und Mrs Sayer als Eltern bedeutete. Der Einzige, der anbot, die Kosten für eine psychologische Betreuung der Familie zu übernehmen.

Aber es ist einfacher, so zu tun, als hätte Gwens Vater einen harten Hund als Chef, statt der Wahrheit ins Auge zu sehen – dass nämlich Mr Sayer dieses Haus genauso hasst wie sie und davonlaufen will.

»Ich mache gerade Pfannkuchen«, sagt Mrs Sayer leise.

Ihr Mann gibt ihr einen Kuss auf die Wange. »Da bin ich aber wirklich neidisch. Die werden bestimmt köstlich. Gwen, lass es ruhig angehen heute, okay?«

Gwen guckt noch immer gebannt auf ihr Handy. »Warum?« Sie lässt es nie ruhig angehen. Und darauf ist sie auch stolz.

Ihre Eltern zögern. Sie sehen abwechselnd einander und dann ihre Tochter an. In ihren Blicken liegt so vieles, was sie nicht in Worte fassen können. Schließlich füllt Gwens Mutter kochendes Wasser in die Teebecher und gibt in jeden einen Schuss H-Milch. »Wir denken, du solltest heute zu Hause bleiben.«

Das Handy fällt mit einem dumpfen Rums auf den Tisch. »Ganz bestimmt nicht.« Gwens Stimme klingt wie ein harter Donnerschlag.

»Du … bei allem, was im Moment los ist, brauchst du vielleicht etwas … Zeit, um die Dinge zu verarbeiten.«

»Nein.« Gwens Hände ballen sich auf dem Tisch zu Fäusten. Der Blick ihrer Mutter fällt sofort darauf. Gwen zwingt sich, ihre Finger zu lösen, und legt ihre Hände flach auf die Plastiktischdecke mit dem Rosenmuster. »Ich brauche keine Zeit. Die Entscheidung über das Devino-Stipendium wird heute bekannt gegeben. Da kann ich nicht einfach schwänzen. Was, wenn das meine Chancen zunichtemacht?«

»Bestimmt nicht. Die Entscheidung steht wahrscheinlich schon seit Wochen fest. Wir haben schon in der Schule angerufen und gesagt, dass du heute nicht kommen kannst.«

»Ich kann doch nicht einfach blaumachen. Ich halte das nicht aus, den ganzen Tag nicht Bescheid zu wissen.« Gwens wütender Blick geht zwischen den Eltern hin und her. Ihre Hände zittern.

Ihr Vater presst die Lippen aufeinander. »Es gibt nichts mehr zu diskutieren, Gwen. Ich habe heute Morgen mit Direktor Mendoza gesprochen und die Schule ist ein Pulverfass. Die Hälfte der Schüler bleibt zu Hause, niemand lässt seine Kinder mit dem Bus fahren, die AGs nach Einbruch der Dunkelheit fallen aus. Du wirst dich besser konzentrieren können, wenn du zu Hause lernst.«

Gwen schnaubt, als würde sie gleich explodieren. »Das kann doch nicht euer Ernst sein.«

»Wir erteilen dir Hausarrest, wenn es sein muss«, sagt Mrs Sayer.

»Weil ich in die Schule gehen will? Echt jetzt, Mum, ich bin nicht Lizzy.«

Für einen furchtbaren Moment herrscht regungslose Stille im Raum. Aus Mrs Sayers Gesicht weicht das Blut. Ihre Hand umklammert den Pfannenwender. Der Wasserkocher gibt ein lautes Geräusch von sich.

Gwen versucht, die Situation zu retten. »Ich verstecke keinen Alkohol und keine Tabletten unter meinem Bett. Ich will einfach nur zur Schule gehen. Wie an einem normalen Tag.«

Mrs Sayer verschränkt die Arme. »Es ist kein normaler Tag. Du gehst nicht.« 

Tagebucheintrag

Emma Baines – Freitag, 16. Juni 2017

Ich hab es kaum abwarten können, nach Hause zu kommen und das hier aufzuschreiben. Die ganze Zeit hat sich dieses mulmige Gefühl in meinem Magen ausgebreitet und mich runtergezogen. Ich konnte nichts zu Mittag essen. Dad hat mich nach Hause gefahren, weil er dachte, ich wäre krank. Und jetzt, wo er zurück im Büro ist, kann ich endlich versuchen, diesem seltsamen mulmigen Gefühl auf den Grund zu gehen, das meine Hände zittern lässt.

Das Sommerpraktikum war bisher ziemlich langweilig. Ich dachte, ich würde zu sehen bekommen, wie die Polizisten mit betrunkenen Pennern kämpfen oder Aussagen von reichen Ski-Tussis zu Protokoll nehmen, wenn irgendein Vandale den Audi des Ehegatten zerkratzt hat. Ich hatte sogar gehofft, dass Dad mich auf Streife mitnehmen würde. Stattdessen hab ich die letzten zwei Wochen im Archiv verbracht und massenhaft Staub eingeatmet. Wahrscheinlich werde ich das einzige Mädchen in Colorado sein, das nach den Sommerferien blasser ist als vorher.

Ich habe die Fälle der letzten Zeit nach Nummern neu sortiert. Die Typen vom JLPD haben echt keine Ahnung von ordentlicher Archivierung. Eigentlich soll ich die Akten nicht lesen und normalerweise interessiert es mich auch nicht – wen juckt es, dass Claude Vanderly mal wieder nach Sperrstunde bei Anna’s Run erwischt wurde? Wen juckt es, dass Mrs Cross in diesem Jahr sechzehn Beschwerden wegen Lärmbelästigung eingereicht hat?

Doch dann sah ich ihre Akte. Lizzys Akte.

Ich hatte das Gefühl, als hätte mir jemand einen Schlag in den Magen verpasst. Ich setzte mich auf den gammeligen Drehstuhl oder brach vielmehr darauf zusammen. Lizzys Akte lag schwer auf meinem Schoß, vollgestopft mit Aussagen, Fotografien, Gutachten … ein ganzer Stoß Papier und monatelange Ermittlungen, die alle auf eine simple Schlussfolgerung hinausliefen: Lizzy Sayer hat Selbstmord begangen.

Lizzy war wie eine große Schwester für mich. Und wäre sie tatsächlich meine Schwester gewesen, wäre ich nie so blind gewesen wie Gwen. Ich hätte nie zugelassen, dass sie sich nach dem neunten Schuljahr so verändert. Ich hätte nie zugelassen, dass sie sich das Leben nimmt. Und ich hätte nie, nie aufgehört mich zu fragen … wie ist das passiert? Wie war aus der superschlauen Lizzy das Mädchen geworden, das um acht Uhr morgens betrunken zur ersten Stunde kam?

Der redigierte Bericht ist in der Schule wie ein versautes Magazin herumgereicht worden. Natürlich hab ich den auch gesehen. Aber heute habe ich die unzensierte Akte in den Händen gehalten.

Nicht öffnen, sagte meine warnende Stimme. Das ist meine Stimme der Vernunft oder zumindest der Sachlichkeit. Diese warnende Stimme ermahnt mich, was Dad tun würde, wenn er mich erwischt, was mir Minuspunkte für das Devino-Stipendium einbringen könnte, womit ich mir Ärger mit Direktor Mendoza einhandeln würde oder wodurch ich zum Gespött des Wolfsrudels werden könnte.

Was, wenn Dad reinkommt, um etwas zu holen? Was, wenn er die Überwachungskameras überprüft? Mein Puls begann zu rasen.

Aber ich habe immer gewusst, dass Lizzys Wahrheit eine andere sein muss als die, die in dem zensierten Bericht dargestellt wird. Ich habe mir immer gewünscht, noch ein letztes Mal mit ihr zu sprechen. Und diese Akte zu lesen kam dem am nächsten. Ich schlug sie auf.

Die meisten Stellen, die der Öffentlichkeit vorenthalten wurden, waren persönliche Daten und Dinge, die in den Augen meines Dads eine »moralische Gefahr« für die Bürger darstellten. Da war zum Beispiel eine aufgerissene Kondomverpackung auf der Rücksitzbank von Lizzys Auto. Unter UV-Licht waren Körperflüssigkeiten nachgewiesen worden, die man nie weiter untersucht hatte, weil man sie für »zu alt« hielt, um für die Ermittlungen eine Rolle zu spielen.

Und da waren Fußspuren.

In der Nacht, in der Lizzy starb, regnete es, ein kurzer Gewitterschauer, der Anna zum Tosen brachte und alle Windspiele in Lorne klirren und klappern ließ. Das Gewitter war schon vorbei, als Lizzy nach Gwens Angaben das Haus verließ. Deshalb muss die Erde locker und feucht gewesen sein, ungewöhnlich für Colorado. Die Abdrücke sind auf den Fotos deutlich zu sehen, und sie stammen offensichtlich von großen Schuhen. Die Polizei erwähnte sie überhaupt nicht im Bericht. Es kann natürlich sein, dass die Fußspuren schon da waren, bevor Lizzy ihr Auto abstellte und die Schlucht hinunterstolperte. Immerhin ist es ein viel benutzter Wanderweg.

Oder aber in der Nacht, als sie starb, war jemand bei ihr. Jemand, der nie gefunden wurde.

LORNE EXAMINER ONLINE

6. Dezember 2018, 11 Uhr

Offizieller Ermittlungsbeginn im Fall der vermissten Emma Baines

Die Polizei hat Emma Baines heute Morgen offiziell als vermisst gemeldet. Die junge Frau, eine engagierte Schülerin der Jefferson-Lorne High School, wurde zuletzt von ihrem Vater, dem Leiter der hiesigen Polizeibehörde, gesehen, bevor er am Montag zu seiner Abendschicht aufbrach.

»Sie ist ein gutes Mädchen«, sagte Polizeichef Baines gegenüber dem Examiner. »Sie lässt sich nicht auf Drogen oder Alkohol ein. Sie arbeitete auf ein Stipendium für die Universität Boulder hin.« Baines beteuerte des Weiteren, dass Emma ihre meiste Zeit damit verbracht habe, zu Hause zu lernen oder von der Schule unterstützte AGs zu besuchen, was Emmas Mitschüler bestätigten. Sie war eine der Finalistinnen für das Devino-Stipendium, ein volles Bachelor-Stipendium, das an akademisch und moralisch herausragende Schülerinnen und Schüler vergeben wird, die finanzielle Unterstützung gebrauchen können.

Die gesamte Jefferson-Lorne Gemeinde ist an der Suchaktion beteiligt, und Polizeieinheiten aus anderen Ortschaften wie Westminster sind zur Unterstützung herbeibeordert worden. Ein Video, das ein von der Physiognomie her ähnliches Mädchen zeigt, wie es von der Brücke über Anna’s Run gestoßen wird, ist heute am frühen Morgen auf Emmas Facebook-Seite gepostet worden und wird einer genauen Untersuchung unterzogen.