Like Shadows We Hide - Ayla Dade - E-Book
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Like Shadows We Hide E-Book

Ayla Dade

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Beschreibung

Wenn sie über das Eis fliegt, denkt sie nur an ihn – doch sie darf ihn nicht lieben ...

Schon ihr Leben lang fühlt sich Harper in dem luxuriösen Anwesen ihrer Eltern wie in einem goldenen Käfig. Zu deren Verbitterung hat sie als Eiskunstläuferin an der renommierten iSkate in Aspen nur mittelmäßigen Erfolg. Als Harper dem attraktiven Olympiasieger Everett begegnet, schöpft sie zum ersten Mal Hoffnung, dass jemand endlich erkennt, wer sie wirklich ist. Doch diese Hoffnung vergeht so schnell wie eine Schneeflocke, als sich herausstellt, dass Everett ihr neuer Trainer ist. Eine Beziehung zwischen den beiden ist damit streng verboten. Harper spürt, dass Everett sich immer mehr vor ihr verschließt, um ihrer beider Karrieren nicht aufs Spiel zu setzen. Auch sie versucht, die Distanz zu wahren – obwohl alles, wonach sie sich sehnt, seine Nähe ist. Doch Harper ahnt nicht, dass Everett noch weitaus dunklere Gründe hat, sich ihn von ihr fernhalten …

Erlebe ein Feuerwerk der Gefühle im Wintersportparadies Aspen – mit den weiteren Bänden der zauberhaften Winter-Dreams-Reihe:

1. Like Snow We Fall
2. Like Fire We Burn
3. Like Ice We Break
4. Like Shadows We Hide

Die Bände der Reihe sind unabhängig voneinander lesbar.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 542

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AYLA DADE wurde 1994 geboren und lebt mit ihrer Familie im Norden Deutschlands. Sie hat Jura studiert, nutzt aber am liebsten jede freie Minute zum Schreiben. Die Seiten ihrer Romane füllt die beliebte Buchbloggerin mit großen Emotionen an zauberhaften Schauplätzen. Wenn sie sich nicht in die Welt ihrer Bücher träumt, verbringt sie ihre Zeit mit Sport und kuschligen Lesestunden vor dem Kamin. Bereits mit Like Snow We Fall und Like Fire We Burn, den ersten beiden Bänden ihrer Winter-Dreams-Reihe, eroberte sie die Herzen ihrer Leser*innen und die Bestsellerliste im Sturm.

Heiß geliebt von Leser*innen, Blogger*innen und der Presse:

»Eine Eiskunstläuferin, die nach den Sternen greift. Ein Snowboarder, der die Herzen höher schlagen lässt. Und ein Ort, der eine lebendige Postkarte sein könnte. Zum Wegträumen schön!« Bestsellerautorin Lilly Lucas über Like Snow We Fall

»Diese New-Adult-Romance ist der perfekte Lesestoff für kalte Tage.« OK! über Like Snow We Fall

»Dieses Buch, die Geschichte von Aria und Wyatt, ist alles auf einmal: Gänsehaut, Herzschmerz, Poesie, Liebe und all das, was dazwischen liegt!« alexandra_nordwest über Like Fire We Burn

»Das Buch ist ein Wohlfühlroman sondergleichen und großartig geschrieben.« Literaturblog »Buechegge« über Like Fire We Burn

Außerdem von Ayla Dade lieferbar:

Like Snow We Fall

Like Fire We Burn

Like Ice We Break

AYLA DADE

LIKE SHADOWSWE HIDE

Roman

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2023 by Penguin Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

Redaktion: Steffi Korda

Umschlagabbildung und -gestaltung: www.buerosued.de

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-29453-3V001

www.penguin-verlag.de

Liebe Leser*innen,

dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte. Deshalb findet sich am Ende eine Triggerwarnung. Achtung: Diese enthält Spoiler für das gesamte Buch. Wir wünschen allen das bestmögliche Leseerlebnis.

Ayla Dade und der Penguin Verlag

Für diejenigen da draußen, die verlernt haben,

für eigene Träume einzustehen – es ist nie zu spät;

kämpft

habt Mut

und versteht, dass nur ihr die Herrscherinnen und Herrscher über das Königreich seid,

das sich

euer Leben nennt.

Und für Valerio, in der Hoffnung, dass

Mama in dir die Kraft entfachen wird,

jeden Weg als richtig zu erachten –

wenn er denn zu deinem Glück führt.

Könnte sein, dass ich dich lieben will

Und könnte sein, dass ich’s nicht kann

Könnte sein, dass mein Herz zerbricht,

und ich nicht weiß, ob es heilt, irgendwann

Vielleicht sind wir bereit, vielleicht sind wir es nicht

Vielleicht sehen wir nur Dunkelheit inmitten

hellen Lichts

Vielleicht sind du und ich die Antwort,

vielleicht auch nur wir selbst,

vielleicht könnte ich mich finden,

in der Art, wie du mich hältst

Könnte sein, dass ich kaum weiß,

wie lieben wirklich geht,

könnte sein, dass es ganz einfach ist,

weil meine Welt sich um dich dreht

Ayla Dade

Harper

Ein Pferd. Es sollte ein verdammtes Pferd werden. Aber als die Proportionen irgendwann ausgeartet sind und ich mit dem Pinsel immer dickere, unförmige Kreise aneinanderreihte, entstand ein undefinierbares Etwas.

Das schwarze Ding aus Acrylfarbe ruiniert Arias farbenfrohe Malereien, die sich rund um den Gully ausbreiten.

»Was zur Hölle ist das?« Mit verstörtem Gesichtsausdruck starrt Aria auf mein mutiertes schwarzes Pferdemonsteralbtraumdämonengedöns. »Oh mein Gott, Harper. Du hängst seit einer Viertelstunde an diesem Ding, und ich denke die ganze Zeit, da kommt ein richtiges Kunstwerk raus. Das kann doch nicht dein Ernst sein! Wir müssen es übermalen.«

»Es ist schwarz, Aria. Viel Spaß dabei, die Farbe zu überdecken.«

»Wenn William das sieht, dreht er durch!«

»So schlimm ist es auch wieder nicht.«

»Doch. Du kennst ihn. Immer im Sinne Aspens und der Verwaltung. Er ist verrückt, penibel und sehr leicht reizbar.« Aria beugt sich vor, um mein Kunstwerk genauer zu betrachten. Mit den Pinselborsten deutet sie auf den missglückten Reiter auf dem Rücken des Pferdes. »Was soll das sein? Eine brennende Kaulquappe?«

»Ein Mensch.«

Aria blinzelt. »In welchem Universum ist das ein Mensch?«

»In meinem.«

»Und das hier?« Skeptisch beäugt sie den unteren Teil der Zeichnung. »Ein explodierter, auslaufender Euter?«

»Ein Bein. Aber die Farbe ist verlaufen, und jetzt sieht es irgendwie … ja, es sieht aus wie ein explodierter Euter. Stimmt.«

Arias Blick huscht von meiner Zeichnung zu ihren vielen bunten Blumen. »Wir sollten den Gully mit schönen Bildern verzieren, damit Aspens Winterparadies noch harmonischer wirkt. William hat kein Wort von verstörender Kunst gesagt. Er wird uns köpfen.«

»Und wenn.« Ich zucke die Achseln, tauche meinen Pinsel in rote Farbe und beginne, die schwarzen Konturen zu akzentuieren. »Die Welt ist nicht immer fröhlich. Sollen sich die Touristen eben mit melancholischer, tiefgehender Kunst beschäftigen. Ich meine, sie werden dieses Bild ansehen und denken: Wow, was will uns der Künstler hiermit sagen? Geht es um Ängste? Innere Konflikte? Was ist dem Wesen passiert, dass es diese Dunkelheit in sich trägt?«

»Sie werden das Bild sehen und sich fragen, welches Kleinkind mit dem Pinsel spielen durfte.«

»Guck dir Picasso an. Seine Bilder sehen aus wie von einem Dreijährigen und gehen für astronomische Summen weg.« Mit einer gespielt eleganten Geste streiche ich mir das Haar zurück und blinzle affektiert. »Ich denke, ich bin eine Künstlerin.«

»Und ich denke, es ist schade, dass dein Bruder nicht mehr in Aspen lebt. Er konnte dich immer so gut bändigen.«

»Tja, wenn man Karriere als angehender Sänger an immer anderen Orten der USA macht, ist man mehr damit beschäftigt, sich selbst zu bändigen als seine kleine Schwester.«

Aria seufzt. »Ich werde dich nie wieder fragen, ob du mir bei der Verschönerungsaktion hilfst. Oder, besser gesagt: Ich werde nie wieder Williams Stadtversammlungen schwänzen, um überhaupt zu so etwas verdonnert zu werden.« Aria legt den Pinsel beiseite, überkreuzt die Beine mit den dicken Boots an den Füßen, und wechselt in den Schneidersitz. Sie zurrt den Reißverschluss ihrer Daunenweste bis zum Kinn und blickt zum Glockenturm im Zentrum unseres Städtchens. Auf den weißen Stufen häuft sich herangewehtes goldbraunes Laub. »Besser, ich verklickere Wyatt das so schnell wie möglich. In den letzten Wochen musste ich vier Gullys verzieren. Ich kann nicht mehr. Mir gehen die Pinterest-Vorlagen aus.«

»Du könntest William bitten, stattdessen sein Geschäft zu entstauben.« Meine Mundwinkel zucken. »Darum bettelt er seit Wochen. Er hat sogar eine Anfrage auf @Apsen getwittert.«

»Hab ich gesehen.« Aria verdreht die Augen, rappelt sich auf und beginnt, die Malutensilien zusammenzupacken. »Und Vaughn hat es retweetet und kommentiert. Wieso will er freiwillig ein Vintagekino mit Vintagemöbeln und Vintageteppichen und tausendfachem Vintageklöderkram entstauben? Hat er keine Hobbys?«

Ich erhebe mich und folge Aria die Straße herunter. Die Zeiger der algengrünen Standuhr im viktorianischen Stil stehen zwischen Nachmittag und Abend. Goldene Blätter wehen über die Straße und tragen ein raschelndes Geräusch mit sich, ehe sie von einem roten Hydranten gestoppt werden. Ich liebe die Atmosphäre dieser Kleinstadt. »Es ist Vaughn, A. Der Typ verkörpert jedes Jahr verstörende Theaterfiguren in Susans Aufführungen und hat sich ein fragwürdiges Edgar-Allan-Poe-Gedicht über seinen kompletten Rücken tätowieren lassen. Du solltest aufhören, ihn verstehen zu wollen.«

Aria seufzt. »Vermutlich.«

Mit den Wildlederhandschuhen streiche ich über den Stoff meines grauen Cape-Mantels. »Aria?«

»Ja?«

»Ich muss dir etwas sagen.«

»Was denn?«

»Etwas Lebenswichtiges.«

»Okay?«

Ich bleibe stehen, drücke mir die Hände auf die Brust und verziehe das Gesicht zu einer leidenden Grimasse. »Dein Seel wird einstens einsam sein, in grauer Grabsgedanken Schrein – kein Blick, der aus der Menge weit, noch stört deine Abgeschiedenheit.«

»Keine Ahnung, was mich mehr verstört«, sagt Aria. »Edgar Allan Poes Worte oder die Tatsache, dass du dieses gruselige Gedicht auswendig kennst.«

»Nur, weil Vaughn in den Sommermonaten keine Gelegenheit ausgelassen hat, oberkörperfrei mit seiner Gitarre herumzulaufen.«

»O Gott, erinnere mich nicht daran. Ich habe Albträume von der mutierten Wolfsbehaarung auf seiner Brust.« Aria öffnet die Tür zu Kates Diner.

Eine schillernde Glocke kündigt uns an. Im Inneren empfangen uns die sanften Töne von Taylor Swifts»Willow«. Hinter dem Tresen wirft Kate, die Mutter unserer Freundin Gwen und Besitzerin des Diners, einen Blick über die Schulter, während sie am Automaten auf den durchgelaufenen Kaffee wartet. Das angenehme Gemurmel der Gästestimmen verteilt sich im Geschäft. Es riecht nach fettigen Hamburgern und Pommes.

»Da sind ja unsere Straßenkünstler.« Kate streicht sich eine braune Haarsträhne hinter das Ohr und wirft uns ein schnelles Lächeln zu. »Wie sieht der Gully aus?«

»Wie bunte Farben eines glücklichen Lebens, kurz bevor der apokalyptische Reiter erscheint. Machst du uns zwei Cappuccini, Kate? Für mich mit Mandelmilch.« Mit einem Lächeln stelle ich mich an den Tresen. Aria folgt mir.

Knox sitzt auf einem der Barhocker. Er sieht überhaupt nicht mehr nach ehemaligem Snowboardstar aus. Aber so, wie er sein Sandwich gerade verschlingt, auch nicht nach Psychologiestudent. Und wenn ich verschlingt sage, meine ich genau das. Er VERSCHLINGT es. Sehr geräuschvoll. Sehr ansehnlich. Sehr meine-Eltern-würden-einen-Kollaps-kriegen.

»Hey.« An seinem Mundwinkel klebt Mayonnaise. »Hast du Laffy Taffys dabei, Harper?«

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Warum sollte ich?«

Er zuckt die Achseln. »Hast du doch immer.«

»Diese Phase ist vorbei, seit wir aus der Middle School raus sind, Knox.« Ich zupfe an den Fingerspitzen meiner Handschuhe und schiebe sie mir in die Manteltaschen. Mein Blick ist auf Kates Hinterkopf gerichtet. Gerade drapiert sie zwei Zuckertütchen auf der Untertasse für den Kaffee. Ich kann Knox nicht ansehen. Zumindest nicht lange, ohne einen unangenehmen Stich in meiner Magengegend zu spüren. Vor drei Jahren hat er mir das Herz rausgerissen. Seitdem bemüht er sich, unsere Freundschaft wieder aufzubauen, aber … na ja. Zerrissene Herzen verzeihen nicht so leicht. Immerhin hängt ihr Leben davon ab.

»Geh zu Woodn’s rüber und kauf dir welche.«

»Kein Bock.«

Neben mir seufzt Aria. »Du bist ein faules Schwein geworden, seit du mit dem Snowboarden aufgehört hast.«

»Davor auch schon.« Knox schiebt sich das letzte Stück Sandwich in den Mund. »Außerdem gebe ich meinen Muskeln die Möglichkeit, sich zu erholen. Das ist sehr legitim, ja? Und ich gehe joggen. Jeden Morgen.«

»Weil Paisley dich zwingt«, ergänze ich. »Sie sollte den Verkäufern in Aspen ein Süßigkeiten-für-Knox-Verbot aussprechen. Dein Blut besteht aus Zucker.«

Knox’ Lippen umspielt der Ansatz eines Lächelns. »Das würde mir gar nichts ausmachen. Ich würde trotzdem an meine Ware kommen.«

»Deine Ware.« Aria lacht auf. »Sind wir jetzt bei Narcos?«

»Zehn Millionen für Twinkies«, sage ich mit gespielt rauer Stimme. »Aber Vorsicht, Jones. Ich erwarte Diskretion!«

Knox Mundwinkel zuckt. »Jones?«

»Keine Ahnung.« Kannst du bitte aufhören, mit mir zu sprechen? Ich kriege gleich keine Luft mehr. »Klang mafialike.«

»Überhaupt nicht. Und außerdem würde ich es einfacher angehen. Je unkomplizierter, desto unauffälliger. Pass auf.« Auf seinem Barhocker dreht er sich nach rechts, lässt seinen Blick einmal durch das Diner schweifen und zerknüllt seine unangetastete Serviette, um sie einem Jugendlichen gegen den Kopf zu schleudern. Ich glaube, es ist einer von den Jungs aus dem Heim, denen Knox kostenlose Snowboardstunden gegeben hat. »Hey, Trevor!«

Dieser wirft ihm einen genervten Blick zu. »Was willst du?«

»Ich gebe dir zehn Dollar, wenn du zu Woodn’s gehst und mir Laffy Taffys holst.«

»Nö.«

»Zehn Dollar und eine weitere Stunde Snowboardnachhilfe.«

Trevor lässt sein Baguette sinken und erhebt sich. »Gib mir drei Minuten.«

Neben mir schüttelt Aria den Kopf. »Sklaventreiber.«

»Er wird bezahlt!«

»Ich kann meine Mutter fragen, wie die Rechtslage zum Thema Kinderarbeit aussieht.« Ich nehme mir die bordeauxfarbene Baskenmütze vom Kopf und streiche mir die Strähnen über die Schultern. Im Licht der Glasvitrine spiegelt sich mein fuchsrotes Haar. Es glänzt. Kein Spliss, natürlich. Frizzlehair würden meine Eltern unter keinen Umständen zulassen. Lieber monatlich ein Heidengeld für Haarpflegeprodukte und Friseurbesuche ausgeben, denn, Gott bewahre, wenn die Nachbarn sehen würden, dass die Spitzen ihrer Tochter leiden … Herzinfarktgefühl hoch zehn für die Davenports. »So als Staatsanwältin geht sie damit sicher sehr neutral um.«

Knox’ Grinsen wird breiter. Er nimmt sein Glas Cola in die Hand und deutet damit auf mich und Aria. »Allein seid ihr erträglich. Zusammen werdet ihr zu einem doppelköpfigen, zynisch-sarkastischen Hund mit Fleischzähnen.«

»Was sind Fleischzähne?«, fragt Aria.

»Ja, so spitze halt. Wie bei einem Monster.«

»Dann sag doch Monsterzähne. Bei Fleischzähnen denke ich an geschliffene Hackbeile oder so.«

Entgegen meiner Erwartung muss ich lachen. Normalerweise herrscht zwischen Knox und mir eine komische Atmosphäre. Ich fühle mich beschissen, und er hat ein schlechtes Gewissen, das er mit dummen Witzen kaschiert. Aber es bessert sich. Und, siehe da, er steht neben mir und ich kann sogar lachen. Fortschritt um des Fortschritts Willen, oder wie war das?

Kate schiebt unsere Tassen über den silbergrauen Marmor der Theke. Sie wirft Knox einen amüsierten Blick zu, während sie einen Schokoladenmuffin aus der Vitrine holt und auf einen Teller legt. »Bin gespannt, was deine Freundin sagt, wenn sie und Gwen vom Wettkampf zurück sind und ich ihr erzähle, dass du während ihrer Abwesenheit zum Grumpyfrog mutiert bist.«

»Grumpyfrog?« Ich nehme einen Schluck von meinem Cappuccino. Siedend heiß fließt er meine Kehle hinunter. Für mich eine willkommene Ablenkung, um nicht über ihre Worte nachdenken zu müssen.

Wenn sie und Gwen vom Wettkampf zurück sind.

Der Wettkampf, für den ich mich nicht qualifizieren konnte. Der Wettkampf, der seit Wochen Gesprächsthema bei mir zu Hause ist. Wie konntest du es wagen, dich so gehen zu lassen, Harper? Ist dir bewusst, wie viel uns dein Trainer kostet – und du schaffst es dennoch nicht, dich zu qualifizieren? Schämst du dich nicht, uns vor allen anderen derart zu erniedrigen? Die Gardeners erkundigen sich ständig nach deinem Erfolg – was sollen unsere Nachbarn von uns denken, wenn sie erfahren, dass du zu schlecht warst?

Bla. Bla. Blaaaaaaah.

Knox wedelt mit der Hand durch die Luft. »Kate vergleicht mich neuerdings mit diesem Meme.«

»Welches Meme?«, fragt Aria, ehe sie sich ihren Milchbart mit dem Handballen fortwischt.

Kate gibt ein kurzes Lachen von sich, ehe sie um die Theke herumgeht und einem Gast den Schokomuffin bringt. Knox hingegen hält sein Handy in die Höhe, um uns das Bild eines weinenden Comicfroschs zu zeigen, der eine Hand an die verregnete Fensterscheibe gelegt hat. »Der hier.«

Ich neige den Kopf. »Gibt’s ja nicht. Was für eine verblüffende Ähnlichkeit.«

Knox will etwas entgegen, doch in diesem Augenblick wehen von Instrumenten begleitete Gesangstöne durch die geöffneten Fenster ins Diner. Wir wirbeln zeitgleich herum und sehen hinaus. In der Ferne erkenne ich ein paar näherkommende Personen auf der Straße. Allen voran Aspens spirituelle Bewohnerin Spirit Susan, die Enden ihrer orangen Seidenstola flatternd im Wind. Sie sieht aus, als würde sie ihre Truppe in den Kampf führen.

»Was ist da los?«, ruft Camila, Wyatts Schwester. Sie sitzt mit einer Freundin in der hinteren Nische des Diners, zwischen ihnen Milchshakes, und reckt den Hals. »Was machen die?«

»Der Herbstmarsch, glaube ich.« Ich trinke einen letzten großen Schluck, leere meinen Cappuccino damit bis zur Hälfte, und stelle die Tasse ab. »Lasst uns rausgehen. Letztes Jahr haben sie Bratapfelpunsch und Spekulatius verteilt.«

»Oh mein Gott, ja.« Knox springt förmlich von seinem Hocker. »Ich hab so Bock auf Spekulatius.«

Ich frage mich, wie Knox in den vergangenen zwei Jahren seine definierten Muskeln behalten konnte. Jedes Mal, wenn ich ihn sehe, schiebt er sich irgendetwas zu essen in den Mund. Jedes. Mal.

Wir gehen nach draußen. Frische Herbstluft umspielt mein Haar. Die fuchsroten Härchen kitzeln meine Wangen. Ein paar Häuser weiter erkenne ich eine weitere Traube von Menschen, die sich aus Patricias Plunderstübchen drängen. Gegenüber laufen Touristen aus Ruths B&B. Eilig schlüpfen sie in ihre Mäntel und ziehen sich Mützen und Stirnbänder über die Ohren. Alle Aufmerksamkeit richtet sich auf Spirit Susan, die mit wilden Schlägen ihre Bongos bearbeitet. Neben ihr schreitet Aspens Straßenmusikant Vaughn voran – Gott sei Dank ist es zu kalt, um seinen nackten Oberkörper zu präsentieren. Mir ist gerade nicht nach dunklem Kräuselhaar. Mit geschickten, schnellen Bewegungen fahren seine Finger über die Saiten seiner Gitarre. Und hinter ihm … geht Arias Mutter Ruth. Ich wechsle einen ungläubigen Blick mit meiner besten Freundin. Sie macht genauso große Augen wie ich. Ruth war nie der Typ für Susans verrückte Aktionen. Meistens hat sie sich darüber amüsiert – wie alle.

Aber jetzt macht sie mit. Und trägt sogar ein goldenes Becken in der Hand. Nach jeder Strophe des Songs, den sie alle singen, schlägt sie die zwei Schellen aneinander. Ihr Gesichtsausdruck erinnert jedoch an einen Trauermarsch. Er passt nicht zu der fröhlichen Melodie.

Dieses Jahr hat Spirit Susan sich für ein Kinderlied entschieden. In unterschiedlichen Stimmfarben, hoch und tief, schief und sauber, weht der melodische Text durch die von Laub bedeckte Stadt.

Autumn leaves are changing colours, changing colours, changing colours,

Autumn Leaves are changing colours – all over town.

»Ich werde für den Rest der Woche einen Ohrwurm haben«, murmle ich. Neben mir nickt Aria. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie Trevor Knox eine Tüte Laffy Taffys überreicht.

»Ich frage mich, ob Mom eine Wette verloren hat.« Aria klaut Knox einen Laffy Taffy Erdbeere, den er sich gerade aus der Tüte genommen hat. Sie reißt die Verpackung mit den Zähnen auf und schiebt sich das Bonbon in den Mund. »Oder ob Spirit Susan ihr einen Dämon vorbeigeschickt hat, um sie zu bezirzen.«

»Du und deine obsessive Faszination für Dämonen«, murmle ich.

»Wie auch immer, von jetzt an werde ich sie bei jeder Gelegenheit damit aufziehen, dass sie hinter Vaughn und Su das Becken geschlagen hat und voll dabei war. O Gott, ihr ernster Gesichtsausdruck auch noch. Wie geil. Ich muss es filmen, damit ich es an Weihnachten abspielen kann. Warte.«

Gegenüber, auf der Wiese vor dem Glockenturm, bereiten Susans Tochter Ella und ein paar ihrer Freundinnen die Fässer mit Bratapfelpunsch vor. In den Kartons neben ihnen stapeln sich Spekulatius-Verpackungen. Knox ist der Erste, der über die Straße rennt – obwohl die Marschkapellengruppe uns noch nicht einmal erreicht hat. Wir folgen ihm, und kurze Zeit später tunke ich meinen Keks in heißen Punsch.

»Ist das William?« Aria deutet hinter der Gruppe auf eine entfernte Kutsche. »Bildet er das Schlusslicht?«

»Würde erklären, weshalb deine Mom mitmacht. Bestimmt hat er sie überredet. Die beiden liebestrunkenen, süßen …«

»Stoooopp!« Aria kneift die Augen zusammen und wackelt mit dem Kopf. Sie sieht aus wie ein nasser Welpe nach seiner ersten Dusche. »Ich bin sehr glücklich darüber, dass ich bei Wyatt wohne und mir die verliebten Tuscheleien der beiden nicht mehr anhören muss. Also ruf sie mir nicht in Erinnerung, oder ich stopfe dir Knox’ Laffy-Taffy-Tüte in den Mund, um dich zum Schweigen zu bringen.«

»Nur über meine Leiche«, sagt dieser. »Nimm doch Harpers Schal!«

»Der ist aus Kaschmir«, entgegnet Aria.

Knox hebt seine Süßigkeiten hoch. »Und die sind aus Zucker.«

Ich verenge die Augen und blicke weiterhin zu William. Das klackernde Geräusch der Rundeisen an Ansgars Hufen gellt über den Marktplatz. Jetzt, wo William sich nähert, erkenne ich die große Faltbox neben seinem Schoß. Sein grimmiger Blick geht starr geradeaus, die buschigen, ergrauten Augenbrauen berühren sich beinahe. Williams Lippen sind gespitzt. Er erinnert mich an Präsident Snow aus Tribute von Panem.

Autumn leaves are falling down, falling down, falling down …

»Der plant doch schon wieder irgendetwas.« Unsicher beiße ich mir auf die Unterlippe. »Beten wir, dass er meinen Pferdedämon auf dem Gully nicht bemerkt. Wenn er so aussieht wie jetzt, ist er unberechenbar.«

Vor uns kommt die Marschkapelle zum Stehen. Ihr Lied ist beendet, die Mitglieder streuen auseinander und der Marktplatz füllt sich. Mit besorgtem Gesichtsausdruck mustert Aria mich. Sie öffnet den Mund, um etwas zu entgegnen.

Doch in diesem Moment stößt ihre Mutter zu uns. Unwirsch lässt sie das goldene Becken ins Laub fallen und zieht sich das gehäkelte Stirnband vom Kopf, um sich die Schläfen zu reiben. »Kann mich jemand aus diesem Albtraum wecken?«

»Du hast dich super gemacht, Ruth.« Knox lüpft die Augenbrauen. »Grazil und professionell. Laffy Taffy?«

»Nein, danke.« Ruth verdreht die grünen Augen. »William kann froh sein, dass es meinen Gelenken momentan besser geht. Sonst hätte ich niemals zugestimmt, diese Tortur mitzumachen. Mir klingeln immer noch die Ohren von Susans lauten Bongos. Kein Wunder, dass sie immer so schreit, wenn sie ständig auf diesen Dingern rumschlägt.«

»Spüre ich eine gewisse Anspannung, Mom?« Mit einem Grinsen beißt Aria von ihrem Spekulatius-Keks ab. »Wieso hast du überhaupt mitgemacht? Du weißt schon, dass ich dich nun ewig damit aufziehen werde? Und versuch gar nicht, es zu leugnen. Es ist alles auf Video.«

»Ach, frag nicht.« Ruths Blick huscht zu William, der vom Fahrersitz seiner Kutsche herunterklettert und nach der Faltbox greift. »Will ist seit Tagen gereizt.«

»Er ist immer gereizt«, entgegne ich. In meiner Umhängetasche vibriert mein Handy. Ich sehe aufs Display. Meine Mom. Kurz zögere ich, dann lehne ich den Anruf ab. Aria schenkt mir einen mitfühlenden Blick. Sie hat den Namen natürlich gelesen. Ich hasse das. Dieses Mitleid in den Augen. Jeder denkt bloß, das ist Harper, die mit den strengen Eltern. Das ist Harper, die verbitterte Eiskunstläuferin, die so selten lächelt. Das ist Harper, die noch nie in Jogginghose und fleckigem Pulli an einem Sonntagmorgen gesichtet wurde.

Harper, das Püppchen. Harper, das Designermädchen. Harper, die Unnahbare.

Sie alle sehen mich an, als würden sie mich kennen. Was sie wohl sagen würden, wüssten sie, dass mein Verhalten, mein Aussehen und die Distanz, die ich in einer Aura um mich herumtrage, Ausdruck einer Manipulation auf Weltklasseniveau sind. Was sie wohl sagen würden, wüssten sie, dass ich unter Schlafproblemen leide, weil ich mich frage, wer ich sein könnte, wenn man mich ließe. Dass in meinem Kopf immer ein und dieselbe Frage umherwirbelt, ein schwindelerregender Strudel aus verzerrten Worten, die sich zusammensetzen und wieder auseinanderstoben, weil es für mich keine Antwort gibt.

Who the fuck is Harper Davenport?

»Harp?« Aria stupst mich mit dem Ellbogen an. »Alles okay?«

»Ja.« Ich räuspere mich. Schnell lasse ich mein Handy in der Tasche verschwinden. »Was ist mit Will, Ruth? Wieso ist er gereizt?«

Arias Mutter blickt sehnsüchtig zum Punschstand. »Ich geh dir welchen holen, Mom«, sagt Aria.

Ruth nickt und lächelt dankbar, dann sagt sie: »Sein Enkel kommt in die Stadt. Er ist nervös. Hat ihn in letzter Zeit nicht so häufig gesehen. Williams Tochter ist eine freiheitsliebende Seele. Sie ist vor einer gefühlten Ewigkeit abgehauen, um eine Weltreise zu machen, und ihr Mann konnte Aspen nie viel abgewinnen. Er hat die Stadt verlassen und den kleinen Jungen mitgenommen.« Sie seufzt schwer. »Es waren schreckliche Wochen damals. William hat so gelitten.«

Über den Rand seiner Tasse schenkt Knox Ruth einen ungläubigen Blick. »Will hat eine Tochter?«

Wieder nickt sie. »Ist jung Vater geworden. Mit achtzehn. Sein Enkel müsste in eurem Alter sein.«

»Wann kommt er?«, frage ich.

Ruth zuckt die Achseln. »Wissen wir auch nicht so genau. Irgendwann diese Woche. Ihr könnt euch vorstellen, was diese Ungewissheit mit Will macht. Er braucht Planung. Präzise Informationen. Alles ganz exakt. Aber gerade ist alles schwammig, weil niemand ihm Bescheid gibt, und das macht ihn wahnsinnig.«

»Deshalb hast du zugestimmt, beim Herbstmarsch mitzulaufen?« Aria ist zurück. Sie reicht ihrer Mutter die dampfende Tasse in Form einer Kastanie. »Um der tickenden Bombe namens William Gifford keinen Grund zur Explosion zu geben?«

»Richtig.« Ruth mustert den Apfelpunsch. »Ist da Alkohol drin? Ich habe das Gefühl, ich brauche ganz, ganz dringend einen kleinen Nebelschleier, der mich Susans Bongos vergessen lässt.«

»Nope.« Mit dem Kopf deutet Knox auf Trevor, der nicht weit entfernt mit ein paar Kumpels Vaughns Tattoo mustert, das dieser schon wieder jedem Bewohner in seinem Radius stolz präsentiert. »Aber ich kann meinen Laufburschen fragen, ob er ins Diner geht und deinen Punsch mit einem Shot aufpeppt.«

Ruth seufzt. »Du bist ein großes Vorbild für Trevor, Knox. Du solltest aufhören, das auszunutzen.«

»Ich bezahle ihn. Jedes Mal!« Ruth wirft ihm einen mahnenden Blick zu. Knox lacht und hebt entwaffnend die Arme. »Okay, okay. Nächstes Mal …«

»Gehst du selbst«, sagt Ruth.

»Zahle ich mehr.«

Meine Mundwinkel verziehen sich zu einem schmalen Lächeln. Aria deutet mit dem Kinn über Ruth’ Schulter. »Mom, dein Liebhaber nähert sich.«

»Okay, egal, was kommt«, murmelt Ruth, »erwähnt auf gar keinen Fall folgende Dinge: Wurzeltee, Basentabs, Dreiviertelmond, feste Termine und Milbenbettwäsche.«

Ich blinzle. »Milben …«

»Psst, er kommt!«

»Hallooo, meine Damen und Herren.« William baut sich vor uns auf. In den Händen trägt er seine rote Faltbox, die mit Trennwänden aus Pappe versehen ist. Auf jeder Trennwand steht ein Buchstabe. William trägt lila Plüschohrenschützer und seinen Trenchcoat, der aussieht, als wäre er ein tausendfach geflickter Detektivmantel. Sherlock Holmes in alt und seltsam und nicht so cool.

»Und ich dachte, das machen nur Deutsche.«

William runzelt die Stirn. »Was machen nur Deutsche, Harper?«

»Socken in Sandalen.« Ich deute auf seine Füße.

William sieht ebenfalls hinunter. Er wackelt mit den Zehen, die in dicken, gehäkelten Socken von Ruth stecken. »Ich verstehe nicht«, murmelt er. »Es ist noch zu warm für feste Schuhe. Aber auch zu kalt für barfuß. Ein Mittelding schien mir angebracht.« Verwirrt blickt er zu Ruth, die mir in dieser Sekunde einen warnenden Blick zuwirft.

»Was?«, frage ich. »Ich habe keins der verbotenen Wörter gesagt!«

William blickt bloß noch verwirrter. »Was für Wörter?«

Ruth knirscht mit den Zähnen. »Schon gut, Will. Harper macht Witze.«

»Ich verstehe ihre Witze nicht.«

»Musst du auch nicht.« Aria deutet auf die Kiste. »Was ist das?«

»Sind das Stempelkarten?« Knox blinzelt. »Will, hast du meinen Tipp endlich angenommen und welche für das Oldtimer herstellen lassen?«

William schnalzt mit der Zunge. »Natürlich nicht, Junge. Ein gratis Kinobesuch nach zehn gekauften Tickets erscheint mir recht verschwenderisch. Du hast keinen Unternehmergeist.«

Ein goldbraunes Ahornblatt landet in der Kapuze meines Mantels. Der Stiel kitzelt meinen Hals. Ich zupfe es heraus und lasse es auf den Boden fallen. »Erzähl, Will. Was sind das für Karten?«

Stolz reckt er das Kinn. »Mein Enkel wird nach Aspen kommen.«

»Und?« Ich kratze mir den Nasenrücken. Das Wildleder der Handschuhe streicht angenehm weich über meine Haut. »Kommt jetzt irgendeine seltsame Aktion, wie immer, wenn etwas Neues in der Stadt los ist?«

Williams Hals wird fleckig. Die Röte kriecht unter dem Stehkragen seines Detektivmantels hinauf. »Es ist wichtig, dass Everett sich schnell zurechtfindet.«

Aria zieht die Unterlippe ein und lässt sie wieder vorschnappen. »Okay, also. Was haben wir?« Sie zählt an den Fingern ab. »Dein Enkel kommt nach Aspen. Du stehst mit Stempelkarten vor uns, die bewirken sollen, dass er sich schnell zurechtfindet. Ich rate zuerst: Sind das Stadtkarten, markiert mit jedem Laden und Wohnort?«

»Dann wären es nicht so viele Karten«, murmelt Knox. »Es müsste bloß eine für Everett geben.«

»Also irgendetwas, das an die Bewohner verteilt wird. Und den Buchstabenfächern nach zu urteilen, bekommt jeder eine individuelle.« Mein Handy vibriert erneut. Ich ignoriere es. »Wow, ich bin stolz auf mich. Vielleicht sollten wir Jacken tauschen, Will.«

»Warum?« Stirnrunzelnd blickt er auf seinen Sherlock-Mantel hinab. »Er wird dir nicht passen.«

»Ich vergesse immer wieder, dass du resistent gegen Ironie bist.« Seufzend deute ich auf seine Faltbox. »Erzähl, was hast du für uns?«

Ruth stößt den angehaltenen Atem aus. »Es graust mir vor eurer Reaktion. Deshalb werde ich jetzt verschwinden. Ins Diner. Und mir meinen verdienten Shot abholen. Wir sehen uns zum Abendessen, Aria?«

»Klar, Mom.«

»Kommt Wyatt auch?«

»Er versucht es zu schaffen, aber er weiß nicht, wie lange das Eishockeytraining heute geht.«

»Alles klar. Bis später.«

Sie haucht William einen Kuss auf die Wange und geht über die Straße rüber zum Diner. Die leuchtende Neonreklame wirft bunte Reflexionen auf den Asphalt.

»Also.« William kramt drei Kärtchen aus der Box. »Davenport, Moore, Winterbottom.« Er reicht die quadratischen Papprechtecke mit daran befestigter Sicherheitsnadel herum. Ich nehme meine Karte entgegen und mustere sie. Ganz oben, mit dickem schwarzen Edding geschrieben, steht mein Name.

Harper Davenport.

Und darunter, fein säuberlich aufgelistet, Charaktereigenschaften.

Distanziert.

Kühl.

Selbstbewusst.

Zynisch.

Eitel.

Traurig.

Ehrgeizig.

Kämpferherz.

Ich blinzle. Die Wörter verschwimmen vor meinen Augen, ein einheitlicher schwarzer Klecks. Fast wie mein Dämonenpferd. Mein Hals schnürt sich zu.

»Hier kannst du Credits sammeln«, höre ich Will sagen. Er klingt weit, weit entfernt. Aus dem Augenwinkel erkenne ich, wie er mit einem Finger auf Arias Karte deutet. Zwischen uns wabert ein chaotischer Nebelschleier; der Ausdruck meiner Gedanken. »Für jede erledigte Aufgabe gibt es einen Stempel. So kann Everett sehen, wer am fleißigsten ist, und sucht sich hoffentlich die richtigen Freunde, und …«

»Das war das Unsensibelste, was du je getan hast, Will.« Ich gebe mir größte Mühe, das Zittern in meiner Stimme zu verbergen. Um nicht schwach zu wirken, recke ich das Kinn vor und drücke die Schultern zurück. Eine solide Haltung. Niemand bemerkt, dass in mir eine feste Mauer wankt. Ich blähe die Nasenflügel. »Das hier«, ich halte die Karte in die Höhe, »ist nicht okay.«

Aria versucht, auf mein Pappstück zu linsen. Ich drücke es an mich, damit sie die Wörter nicht sieht. Ihre sind vermutlich alle positiv. Auf Knox’ Gesicht erkenne ich eine neutrale Miene. Ich könnte wetten, auf seiner Karte stehen ebenfalls ein paar verletzende Wörter, aber ihm geht es nicht so nahe wie mir. Er ist, wie er sein will. Ich bin, wie man mich haben will. Das ist ein Unterschied.

»Ich verstehe nicht«, murmelt Will. Er wirkt betroffen. Natürlich versteht er nicht. Er hat keine Ahnung, was okay ist und was nicht. Er wollte niemanden verletzen. William ist einfach so. Er ist komisch. In diesem Fall hat er an seinen Enkel gedacht und die Intention verfolgt, ihm schonungslos ehrlich über jede Bewohnerin und jeden Bewohner in Kenntnis zu setzen. Ob das richtig oder falsch ist, daran denkt er nicht. Die Empathie geht bei ihm oft verloren. Und normalerweise ist es mir egal. Aber jetzt nicht. Jetzt tut es weh.

»Ich werde diese Karte nicht tragen. Mir egal, was du sagst. Mir auch egal, wenn du deine bescheuerte Satzung um einen Punkt erweiterst. Ich werde. Diese Karte. Nicht tragen.«

Williams Gesichtszüge verhärten sich. »Das finde ich nicht in Ordnung von dir, Harper.«

»Und ich finde diese Aktion nicht in Ordnung!« Ich werfe die Karte zurück in seine Faltbox. William zuckt zusammen. »Ich verschwinde.«

»Harper«, murmelt Aria sanft. Sie legt eine Hand auf meine Schulter, aber ich schüttle sie ab.

»Ich melde mich später bei dir, A.«

»Versprochen?«

»Klar.«

Jetzt gerade will ich nur weg. Ich spüre Knox’ sengenden Blick auf mir, und das nimmt mir die Luft zum Atmen. Wenn Williams Karte ehrlich wäre, würden andere Wörter auf dem roten Pappstück stehen.

Distanziert, weil ängstlich.

Kühl, weil Selbstschutz.

Zynisch, weil frustriert.

Eitel, weil manipuliert.

Ehrgeizig, um Erwartungen zu erfüllen.

Aber ein paar Wörter waren echt. Ich habe ein Kämpferherz. Ich bin traurig. Vielleicht haben diese Attribute sogar mehr als die negativen dazu beigetragen, William anzufahren. So merkwürdig er auch ist, Williams Blicke gehen tief. Er versteht mehr, als viele denken würden. Und das will ich nicht, denn es könnte bewirken, dass ich mir wünsche, gerettet zu werden. Eine weitere dunkle Hoffnung, die mich in den tiefen Wirbel aus schwarzen Tönen reißen würde. Niemand außer mir selbst kann mich retten. Und wenn ich es nicht schaffe, bringt es nichts, meine Gefühle in die Hände anderer zu legen.

Meine getöteten Lichtblicke wären brutale Messerstiche in vernarbte Wunden.

Everett

Das Auto rattert den Highway herunter. Mein Großvater starrt angespannt über das Lenkrad hinweg, die faltigen Hände fest um das Leder gelegt. Tannen rauschen an uns vorbei und hinter ihnen, grau und gewaltig, die Bergketten Aspens. Noch immer habe ich die Finger in meinen Rucksack gekrallt, während mir das Herz bis zum Hals schlägt und ich nur daran denken kann, dass ich in wenigen Minuten in das Haus meiner frühen Kindheit zurückkehren werde. Dann rauscht der Nebel in meinem Hirn weiter zu meiner Mutter. Zu meinem Vater. Und als ich in den Rückspiegel sehe und das kleine Mädchen im hinteren Teil des Wagens betrachte, werde ich hart und ungnädig in einen anderen Teil meines Lebens katapultiert. Wenn mich jemand fragen würde, was für einen Wunsch ich an dem beschissensten Tag meines Lebens gehabt habe, wären es diese zwei Worte:

Mich auflösen.

Nichts spüren. Nichts sehen. Nichts wahrnehmen. Meine Existenz eine schwindende Ladung Energie in der Realität. Lieber hätte ich dieses Schicksal gewählt als mich dem Albtraum meiner zerstörten Träume anzunehmen. Meiner zertretenen Zukunft. Mich mit dem Bild eines abgewrackten, gefallenen Turms anzufreunden, der einst in schillernden Goldfarben in den freiheitsblauen Himmel ragte.

Jetzt ist alles schwarz.

Der Turm, der meine Träume verkörperte. Das Leben, das ich führe. Rotierende Gedanken in meinem frustrierten Hirn. Und mein Herz. Vor allem mein Herz.

Als der Bulle mit dem kleinen Mädchen vor mir stand, wusste ich nicht, was abgeht. Ich war kurz davor, zu den Olympischen Spielen zu fahren. Zum zweiten Mal. Ich war auf dem Höhepunkt meiner Karriere. Im Hintergrund liefen die Vorbereitungen für ein interaktives Sportcamp, das ich gründen wollte. Choreografen von überall lagen mir zu Füßen. Scheiße, ich wurde sogar gefragt, ob ich in der Jury von America’s Got Talent sitzen will! Die Sportwelt vergötterte mich. Vor allem die Frauen. Und wie sie das taten.

Das Mädchen hatte zwei kurze braune Zöpfe, die gen Himmel ragten. Wie heruntergebrannte Kerzenstumpen. Rosa glitzernde Zopfgummis. Große blaue Murmelaugen, die gefühlt ihr ganzes Gesicht einnahmen. Ich dachte, es wäre das Kind des Polizisten. Ich dachte, er wäre arm dran gewesen und hätte seine Tochter mit zur Arbeit nehmen müssen, weil der Kindergarten geschlossen hatte oder whatever. Ich weiß noch, dass ich gedacht habe, das arme Kind, muss sich die Scheiße reinziehen, die ein Bulle am Tag so zu Gesicht bekommt.

Jetzt denke ich nur, wie dumm ich war. Wie dumm, Everett.

Meine Haare waren noch feucht von der Dusche. Ich erinnere mich, wie mir die nassen Tropfen in den Nacken liefen. Im Schlafzimmer pennte irgendein One-Night-Stand und ich habe gewartet, dass sie aufwacht, damit ich sie abservieren konnte. Ich genoss mein Singleleben. Ich genoss, mich auszuprobieren, nicht festzulegen, jede Schönheit anzubeißen und erfreute mich daran, dass jede von ihnen anders schmeckte.

»Mr. Gifford?«, sagte der Polizist. Ich nickte bloß. Dachte an einen Strafzettel, den er mir fürs Falschparken geben würde. Mein Auto blockierte regelmäßig die beschissene Auffahrt meines Nachbarn, die er eh nie benutzte, weil er so ein drahtiger Fahrradtyp mit hautengen Radlerhosen war.

Der Bulle atmete tief durch. Das ist eine der Kleinigkeiten, die sich mir ins Gedächtnis gebrannt haben, weil ich noch dachte: ›Wieso tut er so ernst, wenn es um einen Strafzettel geht?‹

»Dürften wir kurz reinkommen?«

An dieser Stelle blinkte eine imaginäre Alarmsirene in meinem Kopf. Der Strafzettel war vergessen. Ich dachte an meinen Vater. An meine Mutter. War ihnen etwas passiert? An meine Halbschwester, die als Soldatin im Irak kämpfte. Was waren meine letzten Worte an sie gewesen? Konnte sie geborgen werden oder hatte eine Explosion das unmöglich gemacht?

Meine Gedanken rotierten. Ich bekam kaum mit, wie ich dem Polizisten einen schwarzen Kaffee auf den Holztisch stellte. Die dunkle Brühe schwappte über. Dem Kind bot ich nichts an. Nicht, weil ich ein Arschloch war oder so, sondern weil ich es längst vergessen hatte. Das Mädchen hatte sich hinter der Küchentür in die Hocke gesetzt und spielte mit seinen Schnürsenkeln.

»Vielleicht wollen Sie sich lieber setzen«, meinte der faltige Typ mit schütterem Haar.

Ich setzte mich nicht. Meine Beine waren taub. In meinem Kopf piepte es. Ich konnte nur an meine liebevolle Halbschwester denken, die ihr Leben für unser Land riskiert hatte. Würde ich irgendwann vergessen, wie ihre Stimme klang?

»Nun, Mr. Gifford …« Der Blick des Polizisten huschte zu dem Mädchen. Mit dem Plastikding der Schnürsenkel fuhr sie die Maserung im Laminat nach. Sein Blick war ernst, als er wieder zu mir sah. »Sie sind jung.«

Ich blinzelte. Nickte. »Zweiundzwanzig.«

Der Polizist verzog keine Miene. Ich hatte keine Ahnung, was hier abging.

»Nun«, wiederholte er. Kratzte sich an seinem stoppeligen Kinn. Aus dem Schlafzimmer rief der One-Night-Stand nach mir. Ich ignorierte sie. Der Bulle auch. »Es wird vermutlich ein Schock für Sie sein, vor allem im Anbetracht Ihres Alters. Das Gericht besteht auf einen DNA-Test, um die Unterlagen vorbereiten zu können.«

Ich hatte absolut keine Ahnung, wovon der Typ sprach. Zwischen uns breitete sich eine gespenstische Stille aus, an die ich mich erinnere, als würde dieser Moment nie vorbeigehen. Bis zu dem Augenblick, in dem der Schalter der Kaffeemaschine umklickte und sie ausschaltete.

»Sie ist nur meine Halbschwester«, sagte ich. »Wir haben denselben Vater. Aber ich könnte … könnte ich sie trotzdem sehen? Mich von ihr verabschieden? Ich meine, wir können den DNA-Test machen, keine Frage. Ich würde nur gern … Ich will sie noch einmal sehen.«

Zum ersten Mal an diesem Morgen ließ der Polizist eine Regung zu. Verwirrung spiegelte sich auf seinen nüchternen Zügen. Verwirrung … und Schock.

»Olivia Carmichael ist Ihre Halbschwester?«

Seinen letzten Satz hörte ich kaum. Ihr Name, der ihm über die schmalen Lippen gehuscht war, hatte mich in einen düsteren Strudel schwerer Gedanken gestoßen. Wispernde Stimmen begleiteten mich. Sie klangen angriffslustig. Angsteinflößend. Leise, doch einnehmend. Sendeten mir Bilder, die ich nicht sehen wollte. Der eiskalte Ton kroch mir über die Haut und hinterließ eine Gänsehaut in meinem Nacken. Und das, obwohl sie alle dasselbe sagten. Eine bloße Wiederholung seiner Worte.

Olivia Carmichael. Olivia Carmichael. Olivia Carmichael. Olivia Carmichael.

»Was …« Mein Hals kratzte. Ich räusperte mich. »Was ist passiert?«

Er ließ sich Zeit mit seiner Antwort. Nippte an seinem Kaffee. Nahm ein Papiertuch aus dem Serviettenständer und wischte die Tropfen auf, die ich verursacht hatte. Schließlich sah er auf, und sein Blick erwürgte mich. Seine Worte bewirkten, dass mir schwindlig wurde. Die Wahrheit schmerzte. Sie brannte sich mir ins Herz und hinterließ klaffende Wunden in meiner Kehle, denn ich konnte kaum schlucken.

Er bückte sich zu seiner Diensttasche und holte ein Dokument heraus, das er zu mir zusammen mit einem DNA-Kit über den Tisch schob. »Es wurde gerichtlich angeordnet, Mr. Gifford.«

Ich habe auf das Dokument herabgeblickt und mich gefühlt, als wäre es mein Todesurteil. Die dicke Druckerschwärze nahm mir jeden Zweifel, an den ich mich hatte klammern wollen. Ich sah von dem Dokument zu dem Mädchen und zum Bullen. Das musste ein verdammter Scherz sein. Ein richtig dreckiger, ja, aber ein Scherz.

»Sie hatte ein Kind? Ich soll …«

Er war bereits dabei, das DNA-Kit vorzubereiten. Für ihn war das hier Routine. Für mich war es der Höhepunkt eines Horrorfilms. »Miss Carmichael gab an, dass Sie sich um sie kümmern würden. Das Wohl des Kindes steht an erster Stelle. Wir können verstehen, wenn Sie in Ruhe über all das nachdenken müssen. Vielleicht Ihre Eltern um diese Aufgabe bitten. Sich eventuell dazu entscheiden, Alaska in einem Heim aufwachsen zu lassen. Immerhin sind Sie sehr jung. Aber dennoch, sie bat darum …«

Ich konnte nichts sagen. Kein einziges, verdammtes Wort kam mir über die Lippen. Was an diesem Tag passierte, war unmöglich. In den vergangenen sieben Jahren hatte ich nie etwas von einem Kind gehört. Olivia hätte etwas gesagt. Sie hätte … Es wäre …

»Bitte kurz den Mund öffnen, Mr. Gifford.«

Ich öffnete den Mund. Doch ich spürte kaum, wie er sich an meiner Spucke bediente. Ich sah bloß dieses Mädchen an, das mit seinen Schnürsenkeln spielte, und erkannte so viel Ähnlichkeit.

Diese Augen. Dieser Mund. Diese Wangenknochen.

Meine Kehle brannte. Ich war kurz davor, mit dem Kopf auf dem Boden aufzuschlagen.

»Sir«, sagte ich irgendwann, als er längst mit dieser DNA-Scheiße fertig war. Ich fühlte mich transparent. Wie ein Schleier zwischen zwei Welten. Alles in mir protestierte. »Ich kann das nicht. Ich … Das geht nicht. Ich habe Dinge zu tun. Wichtige Dinge.«

Der Bulle sah mich an. Und dann lächelte er. Ich werde dieses Lächeln nie vergessen, während er den Deckel auf das Röhrchen mit meiner Spucke schraubte. Es hat sich in meine Seele gebrannt und bildet das Deckblatt des Buches der schlimmsten Stunde meines Lebens.

»Es gibt dieses Sprichwort«, hat er gesagt. »Von diesem Schriftsteller. Kinder halten uns nicht von Wichtigerem ab. Sie sind das Wichtigste.«

Dieser Satz war die größte Lüge des Universums. Vielleicht nicht für andere, aber für mich. Immer wieder denke ich an dieses Zitat. Es war das Erste, das mir durch den Kopf ging, als ich das Ergebnis des DNA-Tests sah, der mich mit Olivia verband. Es war der Satz, an den ich dachte, während ich überlegte, Alaska in ein Heim zu geben. Es war der ausschlaggebende Punkt, es nicht zu tun, in der Hoffnung, die Worte wären wahr. In der Hoffnung, ich würde noch erkennen, wie richtig dieser Satz doch wäre. Nicht nur der Satz. Vor allem meine Entscheidung.

Aber bisher wehte mir keine Bestätigung durch die traurigen Gedanken, die sich täglich in meinem Kopf ausbreiten. Jeden Tag erfüllt mich der Wunsch, den Bullen auf der Wache aufzusuchen und ihm eine runterzuhauen, weil er ein verdammter Lügner ist.

»Habt ihr im Flugzeug etwas gegessen?«, reißen die plötzlichen Worte meines Großvaters mich aus den düsteren Gedanken. Noch immer umklammert er das Lenkrad seines alten Pick-ups, als wäre es sein persönlicher Schutzschild. »Wir könnten sonst beim Diner halten. Kates Diner. Es ist im Zentrum. Da geht eigentlich jeder hin, also, nur damit du weißt, dass es ein großer Anlaufpunkt der Bewohner ist. Sie macht sogar meinen Wurzeltee. Okay, die letzte Woche über waren die Zutaten nicht lieferbar, also habe ich mir einen eigenen zusammengebrüht und mir den Magen verdorben, war wohl irgendetwas Giftiges dabei, aber …«

»Wir haben schon gegessen.«

»Oh.« Die Fingerknöchel färben sich weiß, als er das Lenkrad noch fester umklammert. »Okay. Wie wäre es mit Frühstück morgen? Du und Alaska könntet zu uns ins B&B kommen. Ruth ist ein zauberhafter Mensch. Und sie macht zauberhaftes Essen. Zugegeben, manchmal würde ich gern meine eigene Prise beifügen. Ein bisschen kräuterlastiger. Aber sie lässt mich nicht ran. Sagt, ich wäre zu experimentierfreudig. Wie auch immer, ich bin mir sicher, sie würde sich freuen. Aria auch. Ruths Tochter. Du musst uns nur sagen, was ihr gerne mögt und …«

»Ich muss morgen früher zu der neuen Grundschule. Die Schulleiterin will mich und Alaska kennenlernen und ein paar Dinge besprechen. Alles durchgehen, wozu wir vor unserer Ankunft keine Möglichkeit hatten. Die Schule zeigen. Wir werden uns einen McToast bei McDonald’s holen oder so.«

William keucht. Er presst sich die Hand auf die Brust. Ich bekomme Panik, weil ich denke, er kriegt einen Herzinfarkt. Ich will ins Lenkrad greifen, aber er scheucht meine Hand weg, steuert den Wagen Richtung Ausfahrt, und ich bekomme Panik hoch zwei, weil der Pick-up für einen kurzen Augenblick in alle Richtungen schleudert. Dann hat er sich wieder gefangen, und ich atme geräuschvoll aus.

»McDonald’s«, spuckt er aus, als hätte ich ein widerwärtiges Schimpfwort gesagt. »In Aspen gibt es keinen McDonald’s!«

»Keinen McDonald´s?« Die zarte Kinderstimme erfüllt den Wagen. Alaska klingt fassungslos. »Aber Everett kann nicht kochen. Wie sollen wir überleben?«

Meiner Meinung nach sind Alaska und ich wie Mitbewohner, obwohl sie erst sieben ist. Zwei Buddies, die miteinander auskommen müssen. Fremde, die vor drei Monaten in ein Experiment geworfen wurden und jetzt versuchen, das Beste draus zu machen. Sie vermisst ihre Mommy. Ich vermisse meine Freiheit.

»Geht ins Diner«, sagt William. »Bei Kate gibt es alles. Von Frühstück über Mittag- bis Abendessen. Fettig, süß, gesund. Alles dabei. Aber falls der Wurzeltee wieder vorrätig ist, bestellt keinen. Ich könnte es nicht ertragen, noch einmal auf Entzug zu gehen. Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie sehr es mich belastet hat. Die Schlafprobleme waren ein Albtraum. Ich konnte förmlich spüren, wie meine Organe nach ihren Kräutern gelechzt haben.«

»Als ich bei Everett eingezogen bin, konnte er auch nie schlafen, weil er genervt von mir war.«

Alaska sagt das, als wäre es kein Ding. Sie sagt das, als wäre es die nüchterne Information, dass heute Abend Barbie im Fernsehen läuft.

Ich spüre Williams Aura. Im Ernst. Sie ist siedend heiß und wütend und verurteilend. Vielleicht sind es auch meine Gefühle, aber ich glaube nicht, denn William schenkt mir einen vernichtenden Blick. Seine Schweißdrüsen sind präsent und groß und schreien mich an. Ich hätte nicht gedacht, dass ich so einen Gedanken mal haben würde, aber yep.

Was soll ich sagen? Ja, sie hat recht. Und als sie mich gefragt hat, wieso ich nachts immer in der Küche hocke und Erdnussbutterbrot esse, war ich so irrational und völlig sinnfrei wütend, dass ich meinte, ich könne nicht mehr schlafen, weil sie jetzt bei mir wohnen müsste. Ja, es tat mir leid, und vielleicht hätte ich dieses eine Mal den Mund halten sollen, aber ich kenne mich nicht mit den richtigen Reaktionen in verschiedenen Momenten Kindern gegenüber aus. Ich hatte nie mit ihnen zu tun, bis mir dieses hier vor die Nase gesetzt wurde.

Das ist, als würde man Justin Bieber in seinen wildesten Zeiten ein Kind an die Hand geben.

»Dann bringe ich euch direkt nach Hause«, murmelt William. Der Pick-up erreicht die ersten von Häusern gesäumten Straßen Aspens. Gewaltige Berge ragen in den Himmel. Ihre Gipfel küssen die Wolken. »Wie ich dir schon mitteilte, habe ich mein altes Wohnhaus entstaubt, in dem deine Eltern mit dir gelebt haben, und das Rennautobett aus deinem Kinderzimmer durch eines für Alaska ersetzt. Ihr könnt den Raum überstreichen und neu einrichten, wie ihr wollt.« Er zuckt die Achseln. »Ist mein Eigentum, steht aber seit Ewigkeiten leer. Genauer gesagt, seit ihr fortgezogen seid. Also: Tob dich aus.«

»Okay«, sage ich, obwohl ich jetzt schon weiß, dass ich das nicht machen werde. Alaska hat ein Kinderzimmer, und das reicht mir. Ich bin die Art Vormund, der dafür sorgt, dass ihre Grundbedürfnisse im grünen Bereich liegen, aber gehöre nicht zu denen, die darüber hinaus noch besondere Anstrengungen leisten. Ich glaube, dazu gehört väterliche Liebe. Da muss so ein Band sein, das einen unnatürlich stark zu dem Kind hinzieht. Bei uns gibt es dieses Band nicht. Sie ist da. Sie lebt bei mir. Ich kümmere mich. Sie hat meine Träume zerstört. Fertig.

William hält den Pick-up vor einem weißen Haus mit Terrasse und großem Erkerfenster im zweiten Stock. Eine Lichterkette räkelt sich um die Stützbalken der Terrasse und hüllt den Eingangsbereich in warmes Licht. Ich war noch klein, als Mom abgehauen und Dad mit mir nach Michigan gezogen ist. Ich kann mich nicht an dieses Haus erinnern. Es fühlt sich seltsam an. Als würde ich in ein früheres Leben eintauchen.

Die Stufen zur Haustür sind mit Laub bedeckt und der Vorgarten von verwilderten Hecken verwuchert. Ich erkenne verschwommene Gipfel in der Ferne.

»Es war länger nicht vermietet«, sagt William, als wir aus dem Wagen steigen. Alaskas schulterlangen Haare wehen in dem leichten Wind. Sie steht bloß da, ihre Stoffpuppe mit den Spaghettihaaren im Arm, und betrachtet das Haus, als wäre es ein Feind. »Im Garten muss was gemacht werden. Oh, und ich habe jeden Raum mit Weihrauch ausgestattet. In letzter Zeit hatte ich ein ungutes Gefühl, was böse Energien angeht. Besser, wir gehen auf Nummer sicher. Wenn die Luftfeuchtigkeit dir etwas … sonderbar vorkommt, sag mir Bescheid. Es kann sein, dass eure lange Abwesenheit die schwermütigen Sporen aufgewühlt hat.«

Ich nehme den Haustürschlüssel entgegen. »Schwermütige Sporen?«

»Ist doch logisch«, murmelt Alaska. »Der Staub war einsam.«

Williams Miene erhellt sich, als hätte jemand eine Glühbirne angemacht. Er mustert Alaska. In seinen Augen liegt ein bewundernder Schimmer. »Ganz genau! Also, ein bisschen komplizierter ist es schon, aber im Kern hast du recht. Ich erkläre es dir mal genauer, wenn du willst.«

Alaska lächelt nicht. Sie zupft an einer Wollspaghetti ihrer Puppe und tritt von einem Bein aufs andere.

»Nun, ich gehe dann. Mein Salbei erwartet sein Wasser. Ich will ihn nicht verärgern.« William nestelt an dem obersten Knopf seines fragwürdigen Trenchcoats und sieht zum Haus. In seinem Gesichtsausdruck erkenne ich vieles: Schmerz. Nostalgie. Traurigkeit. Er senkt die Lider und schlendert zurück zum Pick-up. »Wenn ihr etwas braucht, melde dich. Ich habe meine Pagernummer in dem kleinen Notizbuch im Flur hinterlassen.«

Ich starre ihn an. »Pager?«

»Ja.«

»Ich habe keinen Pager, Will.«

»Warum nicht?«

»Warum sollte ich?«

Will wirkt perplex. »Um dich mit anderen kurzzuschließen.«

Langsam nehme ich das Handy aus meiner Jackentasche und wackle damit durch die Luft. »Es gibt Handys?«

Er verengt die Augen zu Schlitzen und zeigt mit seinem Wurstzeigefinger in meine Richtung. »Diese todbringenden Dinger. Denkst du, ich werde mich freiwillig mit einem Gerät ausstatten, dessen Strahlen tagtäglich meinen Körper vergiften?« Er schüttelt den Kopf und schnaubt. »Auf keinen Fall! Bitte besorge dir einen Pager, Everett. Mindestens anderthalb Kilometer Reichweite.«

Damit steigt er in seinen Wagen und fährt davon. Er lässt mir keine Möglichkeit, zu widersprechen. Ich sehe ihm nach und kann nicht aufhören, ihn mit meiner Mutter zu vergleichen. Seiner Tochter. Sie sind sich so unähnlich. William betrachtet das Leben auf eine andere Weise. Er scheint in seiner eigenen, kleinen Welt zu leben. Meine Mutter hingegen … na ja. Sie nimmt gar nichts ernst. Hat überhaupt keine Überzeugungen außer der, frei zu sein. Lebt in den Tag hinein und hüpft von einem Ort zum nächsten. Die einzige Gemeinsamkeit ist ihr Sinn für Kleinigkeiten oder Andersartigkeit. Und der seltsame Charakter.

»Everett?« Alaska zupft an meinem Jackenärmel. »Mir ist kalt.«

Ich sehe auf sie hinab. Die Lichterkette erhellt ihre riesigen Kulleraugen. An ihrem Kinn prangt ein Muttermal.

Ich seufze. »Okay. Gehen wir rein.«

Alaska schlurft die Stufen hoch. Die Füße ihrer Wollpuppe streifen das feuchte Laub. Mein Blick ruht auf ihrem kurzen Oberkörper, der in einer zu engen Steppweste steckt. Ich mache mir eine innere Notiz, ihr einen Mantel zu kaufen, und gehe ihr hinterher.

Das Erste, was ich denke, als ich die Tür aufschließe: Es riecht nach Kirche. Vermutlich der Weihrauch, den William überall verteilt hat. Ich schalte das Licht ein und finde mich in einem breiten Flur wieder. Vinyllaminat ziert den Boden, auf dem ein hölzerner Schuhschrank, ein Sideboard und zwei geflochtene Laternen in unterschiedlichen Größen stehen. Die Decke wölbt sich in einem Rundbogen, und an den Wänden hängen eingerahmte Fotos längst vergessener Zeiten. Merkwürdigerweise sind alle entstaubt. Sie zeigen mich als Baby in der Wiege. Als Kleinkind und mit einem Keks in der Karre. Ich muss mir über die Brust reiben, denn plötzlich erdrückt mich ein kalter Schmerz.

Die Tür fällt ins Schloss. Ein schnappendes Geräusch, das mich aus meiner Trance reißt. Alaskas Schritte sind zum Bersten laut in der Stille zwischen uns. Sie sieht zu den Bildern auf.

»Ist das deine Mom?«

Ich folge ihrem Blick. Sie zeigt auf ein größeres Foto, DIN-A4. Ich betrachte es. Meine Mutter hat ein Eis in der Hand, das sie vor mein Kindergesicht hält. Ich lecke an der Schokolade, Mom lacht in die Kamera.

»Ja.«

»Wo ist sie?«

Ich wende mich ab und schnüre meine Boots auf. »In New Mexico.«

»Was macht sie da?«

»Sie wohnt dort.«

»Warum nicht mehr hier?«

»Alaska, zieh deine Jacke und die Schuhe aus.«

»Okay.« Sie schlüpft aus ihrer Weste, setzt sich auf den Boden und zieht den Reißverschluss ihrer Stiefel auf. Dabei sieht sie mich an. »Ist sie im Urlaub?«

»Wer?«

»Deine Mom.«

»Nein.« Ich nehme unsere Schuhe, stelle sie in den Schrank und hänge unsere Jacken in die Garderobe. »Wollen wir uns das Haus angucken?«

Sie zuckt die Achseln. »Okay.«

Es ist verrückt. So verrückt. Wir gehen durch dieses Haus, in dem ich sechs Jahre meines Lebens aufgewachsen bin, und ich habe kaum Erinnerungen.

In jedem Zimmer erkenne ich die wilde Lebensfreude meiner Mutter wieder. Es ist offensichtlich, dass sie sich hier ausgelebt hat. In den Farben der Wände, den bunten Möbeln, der extravaganten und gemütlichen Deko. Alles wirkt durcheinander, aber trotzdem perfekt aufeinander abgestimmt. Kein wildes Chaos, sondern eher gekonnt designed. Im Wohnzimmer wirft Alaska sich auf das rosafarbene Sofa. Das andere ist dunkelgrün, ein bisschen petrol. Auf jeden Fall schön. Wie die Wand, in die der gemauerte Kamin eingelassen ist. Zwischen den Sofas liegt ein altmodischer Strukturteppich in orange-grünen Farben. Der Fernseher steht auf einer Kommode aus dunklem Holz, in der Ecke zwischen zwei Wänden. Und überall, wirklich überall, sind Pflanzen in allen erdenklichen Größen. William muss sie regelmäßig gegossen und gepflegt haben. Alaska fischt nach der dicken Bärenfelldecke auf dem Sofa, in die sie sich einmummelt. Es muss falscher Pelz sein. Mom ist überzeugte Veganerin und Greenpeace-Mitglied, immer schon gewesen, selbst zu den Zeiten vor sechzehn Jahren, als im Supermarkt nur Kichererbsen und Hafermilch angeboten wurden.

Alaska drückt sich die Decke bis ans Kinn. »Die mag ich.«

Ich setze mich auf die Lehne des Sofas und spiele mit dem Schlüsselbund, den ich noch immer in der Hand halte. »Fühlst du dich wohl?«

»Wohler als in der alten Wohnung.«

Ich lache. »Jetzt schon?«

Alaska nickt. Und ich kann sie verstehen. Meine alte Wohnung, in der wir gemeinsam gelebt haben, war unpersönlich. Alle Wände weiß, keine Deko. Ihr Kinderzimmer war improvisiert, weil es eigentlich mein Trainingsraum war. Ich bin so egoistisch gewesen, nicht auf meine Sportgeräte verzichten zu wollen. Also habe ich sie alle in die eine Ecke des Raumes geschoben und in die andere ein einfaches Holzbett, einen Schrank und einen kleinen Schreibtisch gequetscht.

Ich lasse den Blick durch das Wohnzimmer schweifen und seufze. »Diese Pflanzen werden alle sterben.«

Alaskas Kopf wirbelt herum. Sie sieht mich an, als wäre ein Monster hinter mir erschienen. »Sterben?«

Erwähnte ich bereits, dass ich keine Ahnung habe, was man Kindern besser nicht sagen sollte? Yep, also … ich denke, das Wort »sterben« gehört dazu. Innere Notiz: Check.

Mit dem Schlüssel kratze ich mir die Stirn. »Das war nur so dahergesagt.«

»So etwas sagt man nicht einfach so. Die Pflanzen haben Familie! Du kannst sie nicht umbringen, Everett!«

»Ich weiß.« Ich sehe aus dem Fenster. Es wird bereits dunkel, vereinzelte Sterne stehen am Himmel. »Du musst mir helfen, sie zu gießen. Ich vergesse so etwas. Wenn du daran denkst, werfe ich dir jedes Mal einen Vierteldollar in deine Spardose. Ist das ein Deal?«

Ihre Augen leuchten auf. »Deal!«

»Alles klar.« Mit dem Kinn nicke ich in Richtung Flur. »Wollen wir dein Kinderzimmer angucken?«

»Aber nur, wenn es diesmal kein Sportraum ist.«

»Ich versichere dir, das wird es nicht.« Mom ist ein absoluter Sportmuffel. Und Dad … keine Ahnung. Mal hatte er seine Phasen im Fitnessstudio, aber ich bin mir sicher, dass er nie irgendwelche Geräte bei uns zu Hause stehen hatte.

Alaska rennt die Treppe hoch ins erste Stockwerk. Ich folge ihr weitaus weniger enthusiastisch. Vier verschlossene Türen zieren den Flur, und plötzlich werde ich von einer nicht greifbaren Intuition gepackt. Etwas rüttelt in meinem Unterbewusstsein.

»Ich glaube, das ist das Kinderzimmer«, sage ich, deute auf die Tür gegenüber der Treppe und gehe voran. Alaska folgt mir. Ich öffne die Tür – und hatte recht.

Das Erste, was ich denke: William hat die Wahrheit gesagt. Zumindest seine Wahrheit. Zu seiner Zeit hätte man tatsächlich gesagt, dass das hier ein Jungenzimmer ist. Aber glücklicherweise sickert langsam durch, dass blau nicht gleich Junge und pink nicht gleich Mädchen heißen muss. Alaska scheint das ähnlich zu sehen, denn sie öffnet bewundernd den Mund. Auf ihren gepunkteten Socken tappt sie auf den weißen Plüschteppich, mit dem der Raum ausgelegt ist. Eine Wand wurde aufwendig bemalt – vermutlich von Mom selbst. Ein urbaner Dschungel auf cremeweißem Hintergrund. Hohe Pflanzen, zwischen denen sich Affen, Flamingos, Vögel und Löwen tummeln. Ein Kuschelsessel hängt von der Decke, und die Regale wurden selbst gezimmert – in Form eines Elefanten, Affen und Bären. Auf einem steht ein hölzernes Namensschild: Everett. William hat ihr außerdem ein Hausbett besorgt. Ein brauner Stoffhimmel bedeckt die Holzbalken, die das Dach verkörpern.

Langsam geht Alaska durch das Zimmer, betrachtet jeden Zentimeter ganz genau. Sie ist ein Kind mit sehr analysierendem Charakter. Aufmerksam. Mit dem Finger ertastet sie jede glatte Oberfläche, streicht mit der Handfläche über den Teppich und setzt sich auf die Matratze, um auf und ab zu federn. Schließlich schleicht sich ein kleines, kaum sichtbares Lächeln auf ihre Lippen. Vorsichtig legt sie ihre Spaghettipuppe aufs Kopfkissen, sieht mich an und sagt: »Ich fühle mich wohl.«

Perfekt, Everett. Zum ersten Mal sammelst du hundert Punkte für etwas, das nicht dein Verdienst ist.

Ich lehne den Kopf gegen die Türzarge und beobachte Alaska dabei, wie sie das Zimmer inspiziert. Sie hat sich vor dem Affenregal niedergelassen und mustert ein paar Dinosaurier. Während ich sie ansehe, schallt eine Frage durch mein taubes Hirn. Zwei Wörter, die mir seit drei Monaten täglich durch den Kopf gehen.

Warum ich?

Hätte mein Dad nicht sehen können, dass ich hierzu nicht in der Lage bin? Oder eher: nicht in der Lage sein will? Hätte er nicht sagen können: mein Sohn, du bist so jung, du musst dein Leben leben. Ich weiß, Olivia wollte, dass du dich kümmerst. Aber ich helfe dir. Ich unterstütze dich. Weil ich dein dich liebender Vater bin.

Ja, Freunde der Sonne, was soll ich sagen? Hat er nicht gemacht. Hat er halt einfach nicht gemacht. Und jetzt sitze ich hier und fühle mich mit dreiundzwanzig wie ein Mittvierziger, der sich Samstagabends mit der Frage herumschlägt, ob er sich während Anna & Elsa das Popcorn in die Ohren stopfen soll, um sich dieses verfluchte »ich lass los, lass jetzt los« nicht zum siebenundfünfzigsten Mal zu geben. I mean, ja Elsa, wir haben verstanden, dass die Kälte nur ein Teil von dir ist. Danke, du blonder Freigeist, dass du mich daran erinnerst, wie schön es sein könnte, mit einer I-don’t-give-a-fuck-Einstellung durchs Leben zu gehen.

Nein, jetzt mal ernsthaft. Warum hat sich das Universum dazu entschieden, mich am Höhepunkt meiner Karriere vom Podest zu stoßen? Mir alles zu entreißen, was ich mir verdient habe?

Ich war nie ein schlechter Mensch. Habe regelmäßig gespendet. Bedürftigen und geistig zurückgebliebenen Kindern mittels Sporttherapie ein gutes Gefühl geschenkt. Ich habe ehrenamtlich für eine Organisation gearbeitet, die kranken Menschen Wünsche erfüllt. Na gut, vielleicht habe ich hin und wieder ein paar Herzen gebrochen. Und nicht jede Frau so behandelt, wie ich sie hätte behandeln müssen. Und ich entschuldige mich inständig dafür, aber – muss die Bestrafung so hart sein? Was ist mit all den Rockstars, die sich nicht festlegen wollen? Meines Wissens hat bei keinem von denen das Universum angeklopft, ein Kind an der Hand, und gesagt, ja, hallo, ich bin’s, bitte verabschiede dich von deinem Highlife, jetzt ist Kidstime angesagt, Spiel & Spaß, hehe.

»Everett?«

Ich blinzle. Die verschwommenen Farben des Kinderzimmers werden scharf. Alaska sitzt im Schneidersitz auf dem Boden und sieht sich meine alten Pokémonkarten an.

»Hm?«

Sie legt Schillok beiseite und betrachtet Glumanda. »Ich habe Hunger.«

»Ich auch. Das Essen im Flugzeug war nicht gerade das beste, oder?«

Sie schüttelt den Kopf. Die braunen Spitzen ihrer Haare streichen dabei über ihre Schultern. »Warum wolltest du nicht mit dem alten Mann essen?«

Ich seufze. »Das würdest du nicht verstehen.«

»Wieso?«

»Warum willst du immer auf alles eine Antwort haben?«

Sie zuckt die Achseln.

Ich seufze erneut. Diesmal schwerer. »Der alte Mann ist mein Großvater. Wir haben uns lange nicht gesehen. Ich brauche ein bisschen Zeit, um mich an ihn zu gewöhnen.« Ich mache ein paar Schritte ins Zimmer und fange es mit einer ausladenden Geste meiner Arme ein. »An all das hier. Es ist eine große Umstellung.«

»Für mich nicht.«

»Für dich auch.« Ich nehme einen Stoffelefanten von einem Regal und drehe ihn in meinen Händen. Der Rüssel ist halb abgerissen. Ich erkenne die weißen Watteinnereien. Vorsichtig lege ich ihn zurück. »Du merkst es nur nicht so sehr.«

»Aber wenn ich etwas nicht merke, ist es nicht da.«

»Manchmal schon. Du spürst auch nicht, wie viel Kraft dein Herz aufwendet, um zu schlagen. Und trotzdem ist es da.«

Alaska neigt den Kopf. Sie denkt nach. Schließlich legt sie ihre kleinen Finger über die Augen. »Sag mal nichts.«

»Nichts.«

Sie linst zwischen den Fingern hindurch und schenkt mir einen vorwurfsvollen Blick. »Du sollst nicht reden. Nur kurz.«

»Okay.«

Sie schließt die Lücke ihrer Finger wieder. Auf Zeigefinger und Daumen erkenne ich rote Filzstiftfarbe. Ich warte. An ihrem Handgelenk klebt ein abwaschbares Tattoo aus einer Cornflakespackung. Nach ein paar Sekunden lässt sie die Hände sinken, neigt den Kopf erneut und mustert mich.

»Hast recht.«

»Womit?«

»Ich habe nichts gesehen und nichts gehört, aber du warst die ganze Zeit da.«

»Siehst du.« Ich nehme mein Handy aus der Tasche und suche ein Restaurant in der Nähe. »Wollen wir Pizza bestellen?«

»Ist es mit Mommy auch so?«