Linas Geheimnis - Karin Koch - E-Book

Linas Geheimnis E-Book

Karin Koch

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Beschreibung

Linas Leben steht kopf. Erst zieht ihre beste Freundin weg, dann kommt die Sache mit dem peinlichen Video. Alle haben es gesehen und es wird sie auf ewig lächerlich machen. Und als es fast nicht mehr schlimmer werden kann, wächst auf Linas Stirn ein Horn. Ein richtiges Horn, so groß dass es sich nicht verstecken lässt. Lina versteht das alles nicht. Gut, dass wenigstens Leo zu ihr hält ... Die spannende, unerhörte Geschichte eines starken Mädchens.

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Seitenzahl: 196

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Karin Koch

Linas Geheimnis

Mit Illustrationen von Magdalena Fournillier

Peter Hammer Verlag

Mitten auf meiner Stirn

Mitten auf meiner Stirn wächst ein gigantisches, giftgrünes Horn. Wenn die Sonne scheint, glitzert es ein bisschen. Das sieht dann wenigstens so mittelhübsch aus.

Wäre ich ein Einhorn, würde ich mich ja gar nicht beschweren, aber ich bin ein Mädchen. Ich heiße Lina und bin fast dreizehn. Auf der Stirn eines Mädchens hat ein Horn nichts zu suchen. Schon gar nicht, wenn es bereits halb so lang ist wie mein Lineal und immer weiterwächst.

Wenn ich morgens aufwache, renne ich als Erstes ins Bad und gucke in den Spiegel. Und jedes Mal hoffe ich dann, dass ich immer noch schlafe und nur träume, ich hätte ein Horn. Ich versuche zu glauben, dass ich im Traum in den Spiegel gucke und ein hässliches Horn hämisch zurückguckt.

»Lina, komm endlich aus dem Bad! Ich bin spät dran!«, ruft meine Mutter. Ich reagiere nicht. Schließlich träume ich ja nur. Da hämmert sie an die Tür. Sie hämmert lange.

»Lina!«

Spätestens jetzt muss ich einsehen, dass das alles kein Traum ist. Ich schließe das Bad auf. Mit hängenden Schultern schlurfe ich an meiner Mutter vorbei in mein Zimmer. Sie ruft etwas, aber ich höre nicht hin. Ich krieche zurück ins Bett und frage mich, wie das passieren konnte. Jeden Tag frage ich mich das. Ich liege auf dem Rücken und will mir die Decke über den Kopf ziehen. Sie ist zu kurz, denn wenn ich sie über das Horn ziehe, gucken unten meine Füße raus.

Wie hat das alles nur angefangen?

Ich glaube, es fing damit an, dass Ella umgezogen ist. Sie zog nicht einfach in eine andere Straße oder in eine andere Stadt. Und auch nicht in ein anderes Land wie Polen oder Holland. Meine beste Freundin Ella wohnt jetzt in China. Geht’s überhaupt noch weiter weg?

Aber vielleicht fing es auch am ersten Schultag nach den großen Ferien an. Das war nämlich auch der erste Schultag ohne Ella, und an dem Tag fühlte ich mich zum ersten Mal, als hätte die Welt ein kleines Loch bekommen, durch das mein Leben tropft.

Ganz alleine stand ich an der Bushaltestelle und lauschte dem Tropfen, statt mit Ella über die Ferien zu quatschen. Ellas Umzug war drei Wochen und zwei Tage her, und ich war noch immer genauso fertig wie an dem Tag, an dem sie mir erzählt hat, dass sie weggeht.

Der Bus kam. Ich stieg ein und ließ mich neben Hilal auf den Sitz plumpsen. Sie sitzt immer ganz vorn, damit sie sofort aussteigen und zur Schule rennen kann. Kein Mensch versteht, warum sie als Erste im Klassenzimmer sein will. An diesem Tag war sie noch meine zweitbeste Freundin.

»Der Platz ist besetzt, Lina«, sagte Hilal zur Begrüßung.

»Korrekt«, habe ich gesagt. »Weil, jetzt sitze ja ich drauf.«

»Nein, ich meine, ich halte den Platz frei«, hat Hilal erwidert.

»Für wen?«

»Für jemanden.«

»Für jemanden? Für wen?«, fragte ich.

»Ist doch egal, oder?«, sagte Hilal und guckte schnell weg.

»Na, wie du meinst«, habe ich geantwortet und bin aufgestanden. Zu dem Zeitpunkt habe ich mich noch nicht gewundert. Jeder hat mal einen komischen Tag, vor allem wenn es der erste nach den großen Ferien ist.

An der nächsten Haltestelle stieg Pauline aus der 7a ein. Pauline setzte sich neben Hilal, als wäre das normal. Sie schüttelte ihre langen Haare und Hilal schaute sie begeistert an.

Pauline ist sehr hübsch. Und sie liebt es, wenn man sie bewundert. Eigentlich macht sie den ganzen Tag nichts anderes als hübsch sein und bewundert werden. Ich würde sie gerne strohdumm finden. Aber Pauline hat letztes Jahr einen Preis in Mathe gewonnen. Da wurde sie sehr bewundert.

Ich saß also im Bus und verstand nichts mehr. Es war noch gar nicht lange her, da hatte Hilal geschworen, sie würde niemals Pauline bewundern. Genauso wenig wie Josi, Isa, Ella und ich. Nie und niemals würden wir Pauline den Gefallen tun. Wir würden sie einfach nicht beachten. Aber jetzt saß Pauline neben Hilal und wurde ausgiebig angehimmelt. Und da wunderte ich mich dann doch.

In der großen Pause bin ich zuerst aufs Klo gegangen. Danach lief ich wie immer zu unserem Treffpunkt. Er liegt ein wenig versteckt hinter dem Notausgang. Fünf riesige, runde Steine sind da aufgestapelt. Keiner kann einen sehen, wenn man dort sitzt, und der Lärm der anderen Kinder ist kaum zu hören. Es hat ein ganzes Schuljahr gedauert, bis alle kapiert haben, dass dieser Ort mir, Hilal, Josi, Isa und Ella gehört.

Doch an dem Tag thronte Pauline auf Ellas Stein. Er ist der höchste von allen. Hilal und Josi schauten von unten zu ihr rauf. Isa war nicht da, die war schon am ersten Schultag krank. Das hätte mir komisch vorkommen sollen, aber hinterher ist man immer schlauer.

Paulines Füße standen auf meinem Stein.

»Was machst du denn hier?«, habe ich Pauline gefragt, und sie hat genau gehört, was ich eigentlich gemeint habe: Verschwinde gefälligst!

»Hi Lina«, hat Pauline geantwortet und ihre langen, glänzenden Haare zurückgeschüttelt. Hilal sagte gar nix, Josi guckte nur kurz zu mir und dann schnell wieder zu Pauline. Die bunten Perlen an Josis Zöpfchen klackten leise. Sie sehen immer so toll aus zu ihrer dunklen, fast schwarzen Haut.

»Hast du was von Ella gehört?«, fragte Pauline scheinheilig. Ihre blauen Augen strahlten wie Edelsteine.

»Seit wann interessierst du dich für Ella?«, fragte ich pampig.

»Schon immer. Ella ist witzig und schlau. Und jetzt ist sie in China«, antwortete Pauline mit zuckersüßer Stimme.

»Jo, genau. In China«, sagte ich. In Wirklichkeit dachte ich: Ella kann dich nicht ausstehen, Pauline. Genauso wie ich.

»Mir schickt sie jeden Tag Bilder«, hat Josi da gesagt. »Dir nicht?«

»Mein Handy ist kaputt, Josi. Das weißt du genau!«

»Sie hat es gegen die Wand gepfeffert. Als Ella gesagt hat, dass sie wegzieht«, erklärte Hilal, und da reichte es mir.

»Ach Käse!«, habe ich geschrien. »Das geht Pauline doch überhaupt nichts an, Hilal!«

»Du musst nicht so schreien, Lina«, hörte ich Pauline noch. Aber da war ich schon losmarschiert und um die Ecke gebogen.

Ich hatte noch immer keine Ahnung, was hier abging. Aber es gefiel mir nicht.

In dem Moment wäre ich fast gegen Leo gerempelt. Ich hatte vergessen, dass er immer alleine an der Ecke rumhängt. Da steht er und isst sein Pausenbrot aus einer alten Keksdose. Leo ist in unserer Klasse und total seltsam. Also, irgendwie ist er sogar richtig peinlich. Seine Haare sind zu lang und die Hosen zu kurz und er hibbelt herum und stottert. Und er ist ungefähr dreimal so groß wie der Rest unserer Klasse. »Nanu«, sagte er verdattert. Dann biss er in sein Käsebrot.

Ich habe lieber gar nichts gesagt. Denn wenn man mit ihm spricht, sieht er meistens aus, als würde er gleich losheulen. Und wenn man ihm eine Frage stellt, zappelt er nur herum und guckt, als wüsste er, dass ihm die richtige Antwort erst am nächsten Tag einfallen wird. Voll peinlich, wie gesagt.

Ellas Mutter baut übrigens eine Autofabrik in China. Zusammen mit Tausenden von Chinesen wahrscheinlich. Zuerst ist sie immer hin- und hergeflogen. Aber dann hatte Ellas Vater genug davon, dass er seine Frau nur so selten sieht. Deshalb ist Ella mit ihm und Ben nach China gezogen. Ben ist ihr kleiner Bruder. Er ist erst zwei und kann noch gar nicht richtig sprechen. Vermutlich spricht er bald Chinesisch.

Bis zur Mittagspause hatte ich mich beruhigt. Als einzige Schule weit und breit gibt es bei uns eine richtige Mensa. Ich stürmte zur Essensausgabe, damit ich noch was von den Fleischbällchen mit roter Soße kriegte, und balancierte das Tablett mit voll beladenem Teller zu unserem Tisch. Ich wartete auf Hilal und Josi. Irgendwas konnte nicht mit ihnen stimmen. Vielleicht waren sie ja von einem bösen Fluch getroffen worden, der sie gezwungen hatte, sich mit Pauline zu befreunden oder so was.

Endlich kamen sie. Aber irgendwie wirkten sie, als wären sie am liebsten woanders.

»Was wollt ihr denn mit Pauline?«, habe ich gefragt.

»Ich finde sie nett«, hat Josi gesagt und in ihrer Kartoffelsuppe gerührt.

»Seit wann denn das?«

»Sie zeigt uns, wie man krasse Videos macht. Und sie hilft uns, Follower zu kriegen«, erklärte Hilal.

»Videos? Follower? Bei Instagram?«, fragte ich entgeistert.

»Kein Mensch ist noch bei Insta«, sagte Josi. »Wir sind jetzt bei Dudop.«

»Aber das geht doch erst ab 14!«

»Paulines große Schwester hat sich für uns angemeldet. Ist ja nicht verboten, oder?«, sagte Hilal.

Also doch vom Fluch getroffen, dachte ich. Vom Dudop-Fluch. »Und das findet ihr toll? Videos, auf denen ihr total geschminkt mit dem Po wackelt und so?«

»Du musst es ja nicht machen, oder?«, meinte Hilal.

»Du kannst es ja sowieso nicht machen ohne Handy«, hat Josi gesagt.

»Das war gemein, Josi«, habe ich geantwortet. Aber Josi schüttelte nur gleichgültig ihre Zöpfchen zurück. Schweigend löffelte ich meinen Teller leer und sah die beiden nicht mehr an.

Plötzlich stand Pauline am Tisch. Sie sah aus, als könnte sie ein bisschen Bewunderung gebrauchen. Dann setzte sie sich auch noch zu uns. Da habe ich gemacht, dass ich wegkam. Und schon wieder wäre ich fast gegen Leo gerannt.

»Hallo. Du noch mal«, sagte er und lächelte komisch.

»Lass mich in Ruhe«, habe ich gefaucht. Für diesen Tag hatte ich genug mit seltsamen Leuten zu tun.

Später bin ich dann alleine im Bus nach Hause gefahren.

»Mama, ich brauche ein neues Handy«, sagte ich, als meine Mutter am Abend von der Baustelle kam. Sie ist Bauingenieurin. Genau wie Ellas Mutter. Sie kennen sich vom Studium und sind beste Freundinnen. Genau wie Ella und ich. Nur dass meine Mutter ihr Handy nicht gegen die Wand geworfen hat, weil ihre Freundin umziehen wird.

»Ein neues Handy. Aha«, sagte meine Mutter. »Wir haben eine Abmachung, Lina. Erinnerst du dich?«

Klar erinnerte ich mich. Weil ich mein Handy mutwillig zerstört habe, muss ich mir selbst ein neues kaufen.

»Mein Geld reicht nicht«, sagte ich.

»Kauf dir ein gebrauchtes.«

»Das ist krass peinlich.«

»Dein Problem.«

Na schön, dachte ich. Dann warte ich eben, bis Papa aus Italien zurückkommt. Vielleicht hat er dort ja gute Geschäfte mit Müll gemacht und hat gute Laune. Dann schenkt er mir eines.

Papa hat eine Firma, die giftigen Müll entsorgt. Das heißt, irgendwelche Firmen geben ihm ihren Müll und haben dann keine Sorgen mehr damit. Er bringt ihn aber nicht mit nach Hause. Natürlich nicht. Er sorgt nur dafür, dass der Müll an Orte kommt, die für Menschen nicht gefährlich sind, oder das Zeug wird mit irgendwas anderem gemischt, und dann kann man es wiederverwenden. Finde ich cool. Leider ist Papa dauernd unterwegs.

Abends im Bett nahm ich mir vor, Hilal und Josi zu verzeihen, dass sie jetzt Paulines Freundinnen sind. Schließlich kann sich jede befreunden, mit wem sie will. Unter einer Bedingung: Unser Treffpunkt bei den Steinen muss pauline-frei bleiben.

Aber am nächsten Tag saß Pauline schon wieder neben Hilal im Bus, und in der Pause auf dem höchsten Stein, als ich dorthin kam.

»Du sitzt auf Ellas Stein«, habe ich gesagt.

»Ella ist in China«, erwiderte Pauline.

»Was du nicht sagst. Es ist trotzdem ihr Stein.«

»Ich bin ganz sicher, dass diese Steine niemandem gehören«, sagte Pauline und lächelte mich mit ihrem strahlenden Lächeln an. Tausend kleine Sternchen tanzen um sie rum, wenn sie lächelt. Warum wollte ich sie dann trotzdem packen, schütteln und in den Sand werfen?

Auf dem Heimweg durfte ich dann wieder neben Hilal im Bus sitzen. »Ich habe nichts gegen Pauline«, log ich. »Aber ich finde, sie hat nichts auf unseren Steinen zu suchen.«

»Warum nicht?«, fragte Hilal.

»Weil sie Ella den Platz wegnimmt.«

»Du hast sehr wohl etwas gegen Pauline, oder?«

»Vielleicht. Ein bisschen. Aber sie passt ja auch gar nicht zu uns.«

»Du bist nur neidisch, weil sie schon fast tausend Follower auf Dudop hat, oder?«

»Von mir aus kann sie eine Million Follower haben, Hilal.«

»Und was hast du dann gegen sie?«

»Sie ist eine eingebildete Zicke.«

»Du kennst sie doch gar nicht richtig.«

Ich gab es auf.

»Kommst du heute Mittag zum Kletterpark?«, fragte ich.

»Keine Zeit.«

»Und Josi?«

»Keine Ahnung.« Hilals Augen sagten mir etwas anderes. Ihr verlegener Blick sagte mir, dass auch Josi keine Zeit hatte.

Hoffentlich kommt wenigstens Isa bald wieder in die Schule, dachte ich.

Am Abend durfte ich mit Mamas Handy Papa anrufen. Ich wartete, bis sie aus dem Zimmer war, bevor ich wählte.

»Papa, ich brauche ein neues Handy.«

»Danke, dass du so freundlich fragst, wie es mir geht. Es geht mir gut. Und dir, meine liebe Tochter?«

»Mein Geld reicht nur für ein gebrauchtes.«

»Na, ist doch schön. Ein gebrauchtes Handy wurde schon mal nicht weggeworfen. Macht weniger Müll.«

»Es geht vielleicht schneller kaputt.«

»Nicht, wenn es Garantie hat.«

»Ich will aber kein gebrauchtes Handy.«

»Dein Problem.«

Diese Antwort kannte ich schon. Ich konnte sie noch immer nicht leiden.

»Hängst du bitte noch die Wäsche auf?«, rief Mama.

»Ja, gleich!«

Natürlich habe ich dann vergessen, die Wäsche aufzuhängen. Es fiel mir erst am Morgen wieder ein. Mama war sauer, und ich musste meine hellgraue Sommerhose anziehen. Alle anderen Hosen waren nass, zerknittert und stanken. Ich hasse die blöde hellgraue Hose. Immer zwickt mir der Reißverschluss in den Bauch.

Hilal nahm den früheren Bus, oder den späteren. Jedenfalls saß sie nicht auf ihrem Platz. Isa war noch immer krank. Josi guckte mich gar nicht mehr an. Das alles war blöd. Aber am blödesten war, dass ich in der großen Pause nicht zu unserem Treffpunkt gehen konnte. Ich hatte keine Lust auf Paulines Edelstein-Augen. Und auch nicht auf ihr sonniges Lächeln.

Zum ersten Mal in meinem Leben wusste ich nicht, wohin ich in der großen Pause gehen sollte. Also wanderte ich herum.

Es fühlte sich schrecklich an, alleine auf dem Schulhof herumzutrotten. Es fühlte sich an wie auf einem fremden Planeten. Ein paar sehr laute Wesen rannten umher. Sie schrien einander fremde Worte in einer fremden Sprache zu. Andere lachten höllisch laut. Die meisten saßen oder standen nur da und quatschten. Alle hatten jemanden, mit dem sie schreien, lachen oder quatschen konnten. Nur ich nicht. Außerdem zwickte mich der Reißverschluss in den Bauch.

Zwei Gestalten tobten immer wieder dicht an mir vorbei. Die kannte ich. Es waren Linus und Finn-Ole aus meinem Kunstkurs. Finn-Ole rempelte mich von hinten an. Er entschuldigte sich nicht einmal. Er rannte einfach weiter. Ich lief ihm hinterher. Ich bin größer als er, und ich war schon immer schneller als die Jungs. Wütend packte ich ihn am Shirt. »Sag mal, du Idiot: Kannst du dich nicht entschuldigen?«

»Wofür?«, fragte Linus.

»Ja, genau. Wofür?«, echote Finn-Ole.

»Du hast mich angerempelt!«

»Na und?«, sagte Linus.

»Na und?«, wiederholte Finn-Ole. Er wiederholt immer das, was Linus sagt. Wenn Linus nicht wäre, könnte er wahrscheinlich gar nicht sprechen.

»Idioten«, sagte ich und ging weiter.

Es klingelte. Ich setzte mich auf die Lehne einer Bank, schloss die Augen und wartete, bis alle im Schulgebäude verschwunden waren. Auf keinen Fall wollte ich Hilal, Josi und Pauline zusammen sehen. Auf keinen Fall wollte ich sehen, wie sie von unseren Steinen kamen. Erst als ich ganz sicher war, dass alle hineingegangen waren, stand ich auf.

Unsere Schule legt großen Wert auf Kunsterziehung und Musik. Andauernd bereiten wir irgendwelche Projekte vor, für die dann irgendwelche Kunstwerke angefertigt oder Musikaufführungen geprobt werden müssen. Ich bin total unmusikalisch, deshalb gehe ich in Kunst. Es gibt drei riesige Klassenräume nur für Kunst. Die Tische sind größer als normal und haben Löcher und Klappen. In die Löcher hängt man Becher mit frischem Wasser. Unter den Klappen sind die Wasserfarben, die aufgefüllt werden, wenn sie leer sind. Leider sind sie meistens verschmiert. Die Stühle bestehen aus weißem Plastik mit einer bequemen Sitzkuhle. Mein Platz ist am Fenster, was praktisch ist, weil es da schön hell ist, selbst wenn es regnet.

An diesem Tag kam ich als Letzte in den Kunstraum. Mit gesenktem Kopf trabte ich zu meinem Stuhl und setzte mich. Sofort spürte ich, wie meine Hose nass wurde. Jemand hatte Wasser in die Kuhle des Stuhls geschüttet. Ich konnte mir denken, welche beiden Idioten das gewesen waren.

Es fühlte sich an, als hätte ich in die Hose gepinkelt. Ich wusste, dass es auch genauso aussehen würde, wenn ich aufstand. Deshalb bin ich lieber sitzen geblieben. Da kam auch schon Frau Weber und sagte irgendwas, aber ich hörte nicht zu. Ich fragte mich die ganze Zeit, wie ich bloß mit der nassen Hose aus dem Kunstzimmer kommen sollte. Alle würden mich anstarren und denken, ich hätte in die Hose gepieselt.

Plötzlich saß Leo neben mir auf Ellas Platz.

»Was machst du hier?«, zischte ich.

»Frau Weber hat doch gesagt, ich soll …«

»Ach, halt die Klappe!«, flüsterte ich. Leo sah schon wieder aus, als würde er gleich losheulen.

Wir malten irgendetwas. Zum Glück war es Leo, der immer wieder frisches Wasser holte. Ich dachte die ganze Zeit: Hoffentlich trocknet die Hose, bis die Stunde um ist. Doch diese Hoffnung war vergebens. Als ich nach unten guckte, war da immer noch der große nasse Fleck auf meiner hellgrauen Hose. Also blieb ich nach dem Klingeln sitzen, bis alle gegangen waren. Leider blieben Linus und Finn-Ole auch sitzen.

»Willst du nicht aufstehen?«, hat Linus scheinheilig gefragt.

»Wollt ihr nicht mal endlich von hier verschwinden und in eure Klasse gehen?«

»Uns gefällt es hier aber«, sagte Linus.

»Hier ist es richtig schön«, sagte Finn-Ole. Dann flüsterten sie miteinander.

»Tschau, Lina«, hat Linus gesagt.

»Also dann tschau«, sagte auch Finn-Ole. Endlich trollten sie sich. Endlich konnte ich aufstehen.

Die nasse Hose fühlte sich richtig schlimm an, und nirgendwo gab es ein Tuch oder eine Jacke, um den Fleck zu verdecken. Ich ärgerte mich unfassbar über mich selbst, dass ich die schwarze Hose nicht zum Trocknen aufgehängt hatte. Auf der schwarzen Hose hätte man den nassen Fleck nicht gesehen.

Ich schlich über den Flur. Immer wenn ich hörte, dass jemand hinter mir ging, drehte ich mich mit dem Rücken zur Wand. Aber der Fleck war ja auch vorn zu sehen. Ich schämte mich zu Tode. Ein paar kleinere Kinder lachten laut. Am liebsten wäre ich sofort nach Hause gegangen. Aber dann hätten mich alle Leute im Bus angeglotzt.

»Hey, Lina, man muss die Hose runterziehen, wenn man aufs Klo geht«, rief Tom, als ich ins Klassenzimmer kam. Ich hatte nicht bedacht, dass ja alle schon da waren. Und alle lachten. Wirklich alle. Auch Hilal und Josi. Isa war noch immer krank.

Keine Ahnung, wie ich auf meinen Platz gekommen bin. Keine Ahnung, wie ich den Rest des Tages überlebt habe. Ich blieb einfach die ganze Zeit sitzen. Auf einmal musste ich ganz dringend pinkeln. Trotzdem blieb ich sitzen. Ich ließ es dann einfach laufen.

Ich glaube, das war der Moment, in dem es einmal laut »Ratsch!« machte und aus dem kleinen Loch in meinem Leben ein langer, tiefer Riss wurde. Ab diesem Moment lief mir mein altes Leben einfach davon.

Welche Freundinnen?

»Wer mit einer nassen Hose durch die Schule geht, gibt Gesprächsstoff für die nächsten Tage«, sagte Mama, als ich ihr am Abend mein peinliches Erlebnis erzählte. »Am besten, du reagierst gar nicht. Je mehr du dich aufregst, desto länger bleibt der peinliche Moment allen im Gedächtnis. Steh drüber, bleib cool, dann werden sie es allmählich vergessen. Und überlege dir gut, was du zu deinen Freundinnen wegen deren Lachen sagst. Du solltest es ansprechen, sonst steht es immer zwischen euch.«

Am Morgen danach stieg ich in den Bus und guckte niemanden an. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie ein paar Kinder die Köpfe zusammensteckten und kichernd auf ihre Handys schauten. Auch Hilal tippte auf ihrem Handy rum, aber als sie mich sah, steckte sie es hastig weg.

»Hi«, habe ich gesagt und mich einfach neben sie gesetzt, obwohl ich wusste, dass gleich Pauline einsteigen würde. Über das, was ich dann zu Hilal sagte, hatte ich die halbe Nacht nachgedacht.

»Ich finde es nicht fair, dass du gestern auch gelacht hast, Hilal.«

»Wieso? Man darf doch wohl noch lachen, oder?«

Ich hatte genau gewusst, dass sie das sagen würde, und hatte mir auch dafür eine Antwort überlegt.

»Es gibt einen Unterschied zwischen Lachen und Auslachen. Und mich hat die ganze Klasse ausgelacht. Sogar meine Freundinnen haben mich ausgelacht. Das hat wehgetan.«

Auf das, was Hilal dann antwortete, war ich nicht vorbereitet. Ihre Antwort war wie ein spitzer Dolch, der sich mitten in mein Herz bohrte.

»Welche Freundinnen?«, fragte sie. Aber danach konnte sie mich nicht mehr ansehen. Und ich sie auch nicht.

Der Bus hielt an, Pauline ist eingestiegen. Und ich bin aufgestanden und im Bus ganz nach hinten gewankt.

»Das ist doch die …!«, hörte ich einen Jungen sagen, als ich an ihm vorüberging. Er stieß seinen Kumpel in die Seite und zeigte ihm etwas auf seinem Smartphone.

Komisch, dachte ich, während ich zum Haupteingang der Schule ging und alle auf ihre Handys glotzten, was haben die denn nur alle heute mit den Dingern?

Im Schulgebäude sind Handys verboten, und auf dem Flur gafften mich alle nur an; manche kicherten blöde, aber davor hatte mich ja schon Mama gewarnt, ich war gewappnet. So cool wie möglich betrat ich das Klassenzimmer. Isa war noch immer nicht da, Hilal tuschelte mit irgendjemandem und auch Josi guckte mal wieder weg. Ich hatte immer noch Hilals Stimme in meinen Ohren: Welche Freundinnen?

»Yeah, da kommt unser Dudop-Star!«, rief Tom. Ich sah hinter mich. Da war niemand. Er meinte mich.

»Ach, halt die Klappe, Tom«, sagte ich und ging betont langsam zu meinem Platz. Ich wischte verstohlen mit der Hand über den Stuhl, bevor ich mich setzte. Der Stuhl war trocken, aber irgendwie war mir trotzdem zum Heulen. Schon wieder saß dann Leo plötzlich neben mir.

»Hi«, sagte er.

»Lass mich bloß in Ruhe«, zischte ich.

Eigentlich sind auch auf dem Pausenhof Handys verboten, aber an diesem Tag sah ich überall Leute, die heimlich irgendwelche Videos guckten und ihr Smartphone schnell wegsteckten, wenn sie mich sahen. Meine Füße gingen automatisch in Richtung der großen Steine, aber je näher ich ihnen kam, desto klarer wurde mir, dass ich dort nichts mehr zu suchen hatte. Ich kehrte um und traf an der Ecke natürlich wieder auf Leo.

»Man kann so etwas gerichtlich verbieten lassen«, sagte er, bevor ich schon wieder etwas Gemeines zu ihm sagen konnte.

»Was?«, fragte ich stattdessen blöde.

»Das Video. Mit der Hose. Man kann die Verbreitung verbieten. Es dauert zwar, aber es geht.«

Er muss mir angesehen haben, dass ich keine Ahnung hatte, wovon er sprach.

»Vielleicht solltest du es dir lieber nicht anschauen«, sagte er daraufhin rasch und zappelte mit seinen Händen. Aber allmählich begriff ich.

»Ein Video von mir. Mit der nassen Hose. Und alle schicken es rum, oder was?«

»Leider ja.«

»Ich will es sehen.«

»Bist du sicher?«, fragte Leo besorgt.

»Aber so was von. Zeig es mir.«

»Es ist nicht nett.«

»Das kann ich mir denken.«

Leos Hände zitterten ein bisschen, als er sein altes, zerkratztes Smartphone aus der Hosentasche fummelte und das Passwort eintippte. Er startete das Video und hielt es mir hin, aber ich riss ihm das Handy förmlich aus der Hand.

Beim ersten Anschauen war es, als würde ich auf eine fremde Person gucken. Da war dieses Mädchen, das mit vollgepisster Hose wie ein verschrecktes Huhn im Zickzack durch die Schulflure lief. Darunter war ein kleines Einhorn mit teuflischem Grinsen, das mit dem Popo wackelte und dauernd Hahahahahaha machte. Ich sah es mir noch mal an. Jemand musste mir heimlich gefolgt sein. Immer wieder wurde der Fleck herangezoomt und mit