Liquiem - Anna Rother - E-Book

Liquiem E-Book

Anna Rother

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Beschreibung

Das Vorher: Eine Welt, wie wir sie kennen. Mit zunehmendem technischen Fortschritt greift die Wissenschaft jedoch immer stärker in die Natur ein und erschafft Kreaturen, denen kein Mensch mehr gewachsen ist. Und das mit Konsequenzen! Das Nachher: Eine zerstörte Welt. Europa als Insel inmitten eines riesigen Ozeans. Mit den Jahren entstand ein instabiles Gleichgewicht in Liquiem, wie das Land genannt wird. Doch dann findet ein selbsternannter König heraus, dass die Gefängnisse der Forschungseinrichtungen noch immer nicht leer sind, und plant, Liquiem als ein Königreich unter seiner Herrschaft zu vereinen. Währenddessen bedroht eine scheinbare Naturgewalt alles menschliche Leben auf der ganzen Welt!

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Seitenzahl: 343

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Die Autorin Anna Rother, geboren in Hameln im Jahr 2003, ist eine Neueinsteigerin unter den Jugendbuchautoren. Sie geht in Hameln auf ein Gymnasium. Dieses Buch ist als Projektergebnis des Seminarfachs entstanden. Schon lange vorher existierte die Idee der Welt Liquiems, inspiriert durch Fantasy-Riesen wie „Herr der Ringe“ und dem Wunsch, eine eigene Welt zu erschaffen.

Für meine kleine Schwester, die sich zu viel anhören musste, für meinen Hund, der jegliche Art von Rohfassung der Geschichte kennt, für meine Eltern, die mich immer unterstützt haben, und für dich, der du dies liest

Inhaltsverzeichnis

Liqiuem

Prolog

Juran

Kalara

Juran

Jola

Kalara

Juran

Cyrille

Kalara

Juran

Cyrille

Kalara

Juran

Jola

Comis

Juran

Kalara

Calliope

Juran

Dáinn

Cyrille

Juran

Kalara

Juran

Ferris

Juran

Comis

Calliope

Durio

Kalara

Juran

Jola

Calliope

Ferris

Calliope

Juran

Cyrille

Kalara

Calliope

Kalara

Juran

Comis

Calliope

Juran

Ferris

Juran

Ferris

Calliope

Jola

Juran

Durio

Kalara

Ferris

Juran

Ferris

Calliope

Ferris

Durio

Kalara

Ferris

Juran

Epilog

Glossar

Zeitlinie

Liqiuem

Liqiuem ist der letzte bewohnbare Teil der Erde nach einer Katastrophe, die der Welt, wie wir sie kennen, ein Ende bereitete. Die Wissenschaft mischte sich zunehmend stärker in die Natur ein und diese begann, sich dagegen zu wehren. Wissenschaftler erschufen tödliche Kreaturen, die mit Fähigkeiten ausgestattet waren, von denen ein normaler Mensch nur träumen kann. Als sie merkten, wie tödlich ihre Schöpfungen waren, ließen sie diese in einem Hochsicherheitsgefängnis einsperren. Das alles passierte im Vorher, der Zeit vor der Katastrophe. An dieses Vorher glauben sechshundert Jahre später in Liqiuem jedoch nur die wenigsten Menschen. Der Glaube an das Vorher ist ein wichtiger Teil des Glaubens an den toten Gott, der früher in Liqiuem vorherrschte. Nun hat sich jedoch der Glaube an die zehn Götter etabliert und darin hat das Vorher keinen Platz.

Früher einmal war Liqiuem unter einem König vereint und hat glorreiche Zeiten erlebt, doch nun sind dunkle Zeiten herangebrochen, der König gestürzt und das Land in sechs Reiche aufgespalten. Reisende sind nicht mehr sicher und die Menschen respektieren selten mehr als ihren Glauben, wenn sie diesen überhaupt besitzen.

Prolog

Die Nacht hing über Grönland, dunkel und bedrohlich. Das fahle Mondlicht durchdrang das Wasser nicht bis zum Grund und so waren die Ruinen der drei großen Gebäudekomplexe nur schemenhaft zu erkennen. Fische schwammen umher, die die alten Gebäude bewohnten, zumindest das vordere, dessen Verfall so weit fortgeschritten war, dass sich kaum mehr als das Skelett des Gebäudes erkennen ließ. Durch die riesigen Fensteröffnungen schwammen sie hinein und hinaus, erstaunlich viele Fische, wenn man bedachte, was genau eines der anderen beiden Gebäude noch immer beherbergte, von dem sich die vielen kleinen Fische allerdings fernhielten, als spürten sie die Gefahr, die davon ausging. Besagtes Gebäude stand allein auf weiter Flur, weit entfernt von den anderen beiden, und das Wasser um diese Ruine herum stand still, nichts regte sich, bis ein Mann auftauchte.

Er war groß und hager und trug einen langen, schwarzen Umhang. Eine weite Kapuze verhüllte sein Gesicht, sodass man es nicht erkennen konnte. Die Ärmel waren sehr weit und zu lang, sodass die Hände des Mannes vollständig darin verschwanden. Unter der Robe trug der Mann, kaum sichtbar, einen weißen Kampfanzug, als rechnete er damit, jederzeit überfallen zu werden. Auffallend war jedoch der große, silberne Anker, der an einer feinen Silberkette um seinen Hals hing.

Das Wasser um ihn herum schien ihn nicht zu berühren, als wäre er in seiner eigenen kleinen Blase gefangen. Zielstrebig schritt er über den Meeresgrund auf den hinteren Gebäudekomplex zu, der größtenteils noch intakt war. Um ein solches Hochsicherheitsgefängnis zu zerstören, brauchte es eben ein etwas mehr als ein bisschen Wasser. Der Mann blieb stehen und musterte das große, dunkle Gebäude genau, dann hob er den Kopf und richtete sich merklich auf. Ein Zittern durchlief ihn und er hob die Arme, streckte die Handflächen in Richtung des Gebäudes. Der Boden bebte, das Wasser schlug hohe Wellen an der Oberfläche, die Fische schlugen heftig mit den Flossen, um davon zu kommen. Und ganz langsam hob der Boden sich an, wie von Zauberhand!

Es schien den Mann eine ungeheure Anstrengung zu kosten. Er sank auf die Knie, doch die Arme ließ er ausgestreckt. Man konnte hören, wie er eine Zauberformel immer und immer wieder rezitierte und…er hob den Kopf, blickte hinauf in den Sternenhimmel, der nun nicht mehr von dem Wasser verzerrt war, sondern ganz klar zu erkennen!

Der Mann erhob sich, setzte sich in Bewegung, huschte schon fast hinüber zu dem Gebäude und verschaffte sich mit einem Tritt gegen die Eingangstür Eintritt.

Das erste Zimmer war eine riesige Empfangshalle mit einer hohen Decke, jedoch nur zwei Türen, die daraus hinausführten. Durch eine der beiden war der Mann gerade erst gekommen. Mit langen, raschen Schritten durchquerte er die Halle und trat die nächste Tür auf, hinter der sich ein kleines Büro befand. Er nickte grimmig und begann, den verfallenen Holzschreibtisch zu durchsuchen. Der Computer war kaputt, die meisten Dokumente unleserlich, doch es gab einen Ordner, der vom Wasser unberührt geblieben war. Der Mann stieß ein grimmiges Lachen aus und schlug ihn auf, legte ihn auf den nassen, verfallenen Schreibtisch und begann, in dem Ordner herumzublättern.

Bilder. Lauter Bilder waren es, durch die der Mann sich arbeitete. Sie waren mithilfe großer Büroklammern an mehreren Dokumenten befestigt. Es gab Bilder von menschenähnlichen Wesen, von Zentauren, von pferdeähnlichen Wesen mit Schuppen wie ein Fisch und es gab Bilder von Drachen in allen Farben und in allen nur erdenklichen Variationen. Doch die Bilder, die der Mann suchte, waren weiter hinten. Das lag daran, dass diese Kreaturen das wohl am besten gehütete Geheimnis dieser Einrichtung waren und der Mann konnte sich glücklich schätzen, dass er davon erfahren hatte! Endlich gelangte er zu den Bildern und hielt erschrocken den Atem an.

Ein schneeweißes Pferd stand im Bild und schien ihn mit seinen großen dunklen, weisen Augen direkt anzusehen! Er wich einen Schritt zurück und betrachtete das Pferd von etwas weiter weg.

Die Mähne des Tieres funkelte und glitzerte wie tausende Diamanten und auf seiner Stirn ragte zwischen den weißen Haaren des Schopfes ein langes, diamantweißes, gewundenes Horn hervor, das ungefähr einen halben Meter lang sein musste!

Der Mann fackelte nicht lange, rasch verließ er das Büro durch eine weitere Tür und huschte durch die Gänge, still und leise, heimlich. Dass dieses Gebäude einmal ein

Hochsicherheitsgefängnis gewesen war, hielt niemanden auf, der einen Schlüssel besaß! Unter der Kapuze konnte man erkennen, dass der Mann grinste, breit und gemein, fast schon rachsüchtig. Es dauerte eine ganze Weile, bis er endlich in dem Trakt der gesuchten Kreaturen angelangt war.

Dieses Mal musste er den gesamten Schlüsselbund durchprobieren, bevor er den passenden Schlüssel fand, dann öffnete er die Tür, welche quietschend protestierte, als wüsste sie ganz genau, dass er eigentlich keinen Zutritt zu diesem Trakt des Gebäudekomplexes hatte.

Doch natürlich öffnete sie sich und der Mann trat ein. Augenblicklich hielt er die Luft an.

Ein langer Gang. Er war dunkel, trotzdem ließen sich die riesigen Käfige an den Wänden gut erkennen. Es war möglich, zwischen ihnen hindurch zu gehen, ohne sich einem der Käfige auch nur auf 1 Dur zu nähern. Das war gut und richtig so!

Der Mann hob eine Hand und ein Licht erhellte den langen Gang. Es flog in Form eines Balles von der Hand des Mannes bis hinauf zur hohen Decke, wo es an Intensität gewann, bis der ganze Raum erkennbar war. Die Wesen in den Käfigen begannen, Lärm zu machen. Sie schlugen mit ihren Hufen auf den Boden, mit ihren Hörnern gegen die dicken Gitterstäbe und wieherten laut.

„Ich werde euch befreien“, rief der Mann und der Lärm verstummte augenblicklich.

Sie konnten ihn verstehen, das wusste er, es war schließlich Teil seines Plans.

„Ich werde euch eine Welt schenken“, fuhr der Mann fort. „Doch zuerst müsst ihr mir helfen, sie zu befreien von dem Übel, das in ihr wächst“

Nun machten die Wesen wieder Lärm, rüttelten an den Gitterstäben ihrer Käfige.

„Werdet ihr mir helfen?“

Fragend wandte er sich an das Wesen, das in der Zelle direkt bei der Tür stand und erstaunlich ruhig war.

„Ihr könnt auf uns zählen“, antwortete es und der Mann nickte.

Er schloss die Zelle dieses Wesens auf und es trat heraus. Die Präsenz des mächtigen Wesens erschlug den Mann fast! Schluckend senkte er den Blick wieder und schloss den nächsten Käfig auf. Und ganz langsam versammelte der Mann die Wesen um sich, die ihn mit großen, dankbaren Augen ansahen.

„Liqiuem, wir kommen“, lachte der Mann und legte den Kopf in den Nacken.

Dabei rutschte die Kapuze von seinem Kopf und entblößte eine weiße Haut und pechschwarze Haare.

„Comis Dux“, murmelte Juran, bevor er langsam die Augen aufschlug und versuchte, das Gesehene zu verarbeiten.

Juran

„Wie bitte?“, fragte die etwas in die Jahre gekommene Frau mir gegenüber verwirrt. „Habt Ihr etwas gesagt?“

Sie schien auf eine Antwort des toten Gottes zu spekulieren. Eine Antwort auf die Frage, die sie mir gestellt hatte. Das war aus mir geworden: Ein billiger Wahrsager!

Rasch schüttelte ich den Kopf, war jedoch zu verwirrt, um weitermachen zu können, wo ich aufgehört hatte.

„Es tut mir leid“, murmelte ich leise. „Ich brauche eine Pause“

„Natürlich“, seufzte die Frau etwas genervt, doch auch darüber konnte ich mir jetzt keine Gedanken machen.

Die Vision, die ich gehabt hatte, hatte rein gar nichts mit dem zu tun, worum ich den toten Gott gebeten hatte, es hatte rein gar nichts mit dem zu tun, was ich sehen wollte, doch jetzt konnte ich es nicht mehr ungesehen machen.

„Comis Dux“, murmelte ich nachdenklich. Eigentlich sollte ich diesen Namen nicht kennen, niemand sollte ihn kennen, er sollte nicht existieren, weder der Name noch der dazugehörige Mensch, doch es gab ihn. Ich war ihm selbst schon einmal begegnet, als er Flupus einen Besuch abgestattet hatte, warum auch immer er das getan hatte. Es hieß, er sei die Wiedergeburt des ersten Königs, der ganz Liqiuem unter sich vereint hatte: Costa Dux. Unter seiner Herrschaft und der seiner Nachkommen hatte man 228 Jahre in Frieden gelebt. Nein, es waren 217 Jahre gewesen, dann war ein König auf den Thron gekommen, Ickar Dux, der so grausam gewesen war, wie seine Haare schwarz, wie die aller Dux pechschwarz waren. Es hatte Aufstände gegeben, eine Rebellion und beinahe einen Bürgerkrieg.

Nur die hinterlistige Ermordung des Königs Ickar Dux hatte dies verhindern können. Die Familie war verschwunden, sie war wie vom Erdboden verschluckt gewesen, abgesehen von Diane und Mars Dux, die vor zweihundert Jahren versucht hatten, Liqiuem wieder zu einen, bis vor ein paar Jahren Comis Dux in Flupus auftauchte.

Ich sah zu Boden und versuchte, zu verarbeiten, was genau ich da gesehen und gehört hatte.

Comis Dux stellte eine Armee auf aus…ja, aus was eigentlich? Was genau waren das für Geschöpfe gewesen? Einhörner? Das waren alte, mystische Fabelwesen aus dem Vorher, aber meines Wissens nach hatten sie nie wirklich existiert! Verzweifelt schüttelte ich den Kopf. Ich musste mich dringend beruhigen, meine Gedanken klären, einen kühlen Kopf bewahren, schließlich hatte ich eine Aufgabe, nicht umsonst war ich der mächtigste Engel der Welt. Nicht der bekannten Welt, nein, der gesamten Welt. Und hier ging es um den Erhalt der Menschheit, ich musste dringend mit der obersten Lehrmeisterin reden. Zwar hatten wir uns seit mindestens zweihundert Jahren nicht mehr gesehen, und das auch nicht ohne Grund, das Biest hatte es auf mich abgesehen, aber ich musste es versuchen, es hingen nicht länger nur mein Leben und mein Wohlbefinden davon ab, ich musste…

„Es tut mir Leid, ich muss dringend los, es geht…um die Rettung der Welt“, erklärte ich der alten Frau und drehte mich um, doch sie war gar nicht mehr da, nicht draußen auf der Lichtung vor meiner Holzhütte und auch nicht drinnen in dem winzigen Raum, den ich Heim nannte.

Ziemlich fertig versuchte ich, meine Gedanken zu entwirren und meine Sicht zu klären. Ich griff nach dem Anker, der an einer silbernen Kette um meinen Hals hing, das mittlerweile in vergessen geratene Zeichen des toten Gottes, ließ mich mit geschlossenen Augen auf das Kissen sinken und begann zu meditieren. Wenn ich eine Vision heraufbeschwören wollte, war das der einzige Weg, auf dem dies möglich war. Doch es funktionierte nicht! Das war mal wieder typisch.

Diese bescheuerten Visionen kamen nur dann, wenn ich sie absolut nicht gebrauchen konnte! Trotzdem blieb ich sitzen. Es tat gut, meinen Geist mal wieder von all dem Schmutz zu befreien, der an ihm hängen blieb.

Ich begab mich nicht oft unter Menschen, sie starrten viel zu sehr! Das lag möglicherweise daran, dass man eben nicht jeden Tag einem Engel begegnete und schon gar nicht einem so wichtigen wie mir. Außerdem war es für die Aufmerksamkeit auch besonders zuträglich, dass ich einen halben Meter in der Luft schwebte (Ich persönlich benutzte gerne noch das metrische System aus dem Vorher, aktuell wurde allerdings in Dur gerechnet. Zehn Meter entsprachen ungefähr einem Dur). Engel durften nur geweihten Boden betreten. Eigentlich war ich nicht besonders groß, aber damit überragte ich alle. Die oberste Lehrmeisterin hatte gesagt, dann würde mein Haar in der Sonne glänzen wie gesponnenes Gold und meine weiße Haut reflektierte das Licht. Was für ein Quatsch! Ich rollte mit den Augen, weil die Gedanken an sie mich einfach nicht loslassen wollten.

Gesponnenes Gold, also wirklich! Aber unrecht hatte sie möglicherweise nicht. Zwar hasste ich mich dafür, dies zugeben zu müssen aber es stimmte. Meine Mutter hatte Haare gehabt, die so ausgesehen hatten. Gesponnenes Gold…ja, das umschrieb es tatsächlich wirklich gut. Aber eigentlich kam ich eher nach meinem Vater, vor allem vom Charakter her, zumindest behaupteten das alle, die mich und meine Eltern einigermaßen gut gekannt hatten.

Aber ich hatte Wichtigeres zu tun, als mir um die Menschen in den Straßen Gedanken zu machen, ich musste jemanden treffen, der hoffentlich eine Vision für mich heraufbeschwören konnte oder mir zumindest eine Prophezeiung oder einfach nur ein paar Tipps geben konnte: Sirita.

Sie war eine gute Freundin von mir gewesen, doch wir hatten uns ein paar Jahre lang nicht gesehen, was meine Schuld war! Ich hatte mich in den Tiefen der Wälder in einer kleinen Holzhütte verkrochen ohne den Kontakt zu anderen Menschen zu suchen. Ich hatte meine Ruhe vor der Welt haben wollen. Ich lebte schon viel zu lange! 638 Jahre um genau zu sein und das war eine verdammt lange Zeit. Es gab keinen einzigen Engel, der älter war als ich, nicht einmal die oberste Lehrmeisterin, die aus irgendwelchen Gründen immer noch in meinem Kopf herumspukte. Außerdem waren alle anderen Engel junge Mädchen. Meine Mutter war der erste Engel gewesen. Jola oder auch EN115, wie man sie auf Grönland genannt hatte. Zwar kannte ich das Vorher nicht, aber sie und mein Vater hatten mir davon berichtet. Zum größten Teil Farian, denn meine Mutter hatte sich kaum noch daran erinnert, und dann war sie gestorben in dem großen Krieg, nach dem Liqiuem zum ersten Mal vereint unter einem Herrscher stand: Costa Dux.

Er war ein weiser und guter König gewesen, ich hatte ihn selbst erlebt. Wir waren Zeit seines Lebens gute Freunde gewesen und er hatte auf meinen Rat vertraut. Bis er gestorben war, spät und an Altersschwäche.

Doch ich war nicht in die Stadt gekommen, die ich normalerweise um jeden Preis mied, nur um an meinen alten Freund Costa Dux zu denken, nein ich musste Sirita finden. Hoffentlich wohnte sie noch in demselben Haus wie damals.

Tatsächlich tat sie das.

Erst nach längerem Suchen fand ich das alte, baufällige Haus wieder, das zwischen einem Stoffgeschäft und einer Schmiede kaum genug Platz hatte. Zuerst beobachtete ich interessiert, wie einer der Lehrlinge des Schmiedes ein Langschwert ins Feuer hielt und dann auf einen Amboss legte. Ein anderer schlug mit einem Hammer darauf, sodass meine Ohren zu klingeln begannen. Kopfschüttelnd öffnete ich die Tür von Siritas Haus und schwebte hinein. Mit einem lauten Knall fiel die Tür hinter mir ins Schloss und Dunkelheit umfing mich. Verdammt! Ich hatte vergessen, wie düster es bei Sirita immer war. Meine Hände begannen zu zittern, meine Arme folgten. Rasch hob ich eine Hand und ein Licht, das von meiner Handfläche ausging, erhellte den engen, schmalen Flur. Das machte es zwar nicht wirklich besser aber zumindest konnte ich mich bewegen.

Raschen Schrittes durchquerte ich den Flur und trat durch eine weitere Tür in Siritas Wohnzimmer, wo sie im Dunkel auf dem Boden saß und meditierte. Nur der Kamin in der Ecke spendete ein wenig Licht. Es war heiß in dem Zimmer, so heiß, dass der Schweiß mir über die Stirn lief. Das lag aber auch an der Dunkelheit.

Es als Angst zu bezeichnen, so weit würde ich nicht gehen, ich hatte keine Angst im Dunkeln, ich fühlte mich nicht ganz wohl, wenn ich nicht sehen konnte, wo ich meine Füße hinsetzte. Die meisten Engel und auch Menschen würden mich auslachen, wenn sie das wüssten. Der mächtigste Engel fürchtete sich vor ein bisschen Dunkelheit! Daher wusste es auch niemand…doch, es gab da jemanden, wenn er überhaupt noch lebte. Mein Unwohlsein ließ sich nicht wirklich begründen aber es gab durchaus einen Auslöser. Früher in meinen jungen Jahren, hatte ich in der Dunkelheit gelebt, hatte mich darin zurechtgefunden. Doch dann hatte ich einen schweren Unfall gehabt und nicht nur ich, sondern auch mein Weggefährte zu dieser Zeit und ich fühlte mich schuldig, denn es war meine Aufgabe gewesen, ihm den Weg zu weisen, ihn durch die Dunkelheit zu führen. Wir waren angegriffen worden und hatten es fast nicht geschafft. Seit diesem Tag nahm ich Schwärze immer als etwas Bedrohliches wahr.

„Was führt dich zu mir?“, riss Sirita mich aus meinen Gedanken.

Möglicherweise war sie die einzige Person auf der Welt, die es wagen konnte, mich zu duzen. Außer natürlich meinem Weggefährten von damals, der mein dunkelstes Geheimnis kannte, war er noch am Leben, was ich nicht hoffte. Er war eine lange Zeit glücklich gewesen in dieser Welt und dann hatte er alles verloren!

„Ich brauche eine weitere Vision und…deinen Rat“

Ehrlich gesagt fiel es mir schwer, das zu zugeben.

Dass ich Hilfe brauchte. Es war auch nicht oft vorgekommen bisher, in meinen 638 Lebensjahren nur dreimal und zweimal davon hatte ich Sirita um Hilfe gebeten. Das dritte Mal war es also, dass ich ihre Hilfe einforderte.

„Du brauchst meine Hilfe?“, hakte sie nach und hob skeptisch eine Augenbraue. „Was ist passiert?“, fragte sie dann.

Ich ließ mich auf dem Boden ihr gegenüber nieder und sie legte vorsichtig die Fingerspitzen ihrer rechten Hand an meine Stirn, ganz vorsichtig. Sie berührten meine Haut kaum, trotzdem musste ich rasch die Augen zusammenkneifen, damit der Schmerz mich nicht überwältigte. So war es jedes Mal. Sirita war eine mächtige Magierin, trotzdem war es jedes Mal wieder eine Qual für mich, wenn ihr Geist in meinen Kopf eindrang.

„Ich sehe“, flüsterte sie mit geschlossenen Augen. „Ja, du brauchst meine Hilfe“

Sie zog die Hand zurück und ich entspannte mich ein wenig.

„Was genau weißt du über diese Kreaturen?“, fragte sie mich.

Wir befanden uns also vorerst nur in der Rekapitulation der Vision.

„Sie sind Einhörner“, begann ich und legte den Kopf schief. „Sie verstehen unsere Sprache“, überlegte ich weiter und durchforstete mein Gedächtnis nach weiteren Informationen.

„Augenscheinlich sind sie gefährlich, da sie in dem alten Hochsicherheitsgefängnis untergebracht waren“, schloss ich.

Mehr wollte mir beim besten Willen nicht einfallen, aber ich wusste, dass Sirita weitere Entdeckungen gemacht hatte. Vier Augen sahen eben besser als zwei.

„Sie sind Magier, mächtige Magier. Und sie sind tödlich, wie du bereits gesagt hast. Sie werden Comis Dux aufs Wort gehorchen, weil er sie freigelassen hat. Und ich habe da so einen Verdacht, dass diese Armee nicht das Einzige ist, was er auf uns loslassen will. Wir sollen uns auf etwas anderes konzentrieren, während die Armee vorrückt“ Langsam nickte ich. Das ergab Sinn, sogar die letzte Überlegung.

„Aber was könnte das sein?“, murmelte Sirita in Gedanken versunken. „Er ist einer der mächtigsten Magier, ich habe ihn erlebt, was könnte er heraufbeschwören?“

„Einen Sommer“, mutmaßte ich und Sirita sah mir direkt in die Augen.

Ihre eigenen hatte sie weit aufgerissen und starrte mich an.

„Einen Sommer“, wiederholte sie leise. „Einen Sommer, ja das würde Sinn ergeben. Er würde Liqiuem schwächen, zerstören. Aber wie hält man eine solche Naturgewalt auf, Juran? Denk nach“ Sie wusste es! Sie hatte eine Lösung gefunden, doch wie jedes Mal wollte sie, dass ich selbst darauf kam. Vorsagen konnte schließlich jeder, nachdenken war schwieriger. Verzweifelt durchforstete ich mein Gedächtnis. Sie würde es mir nicht sagen. Vermutlich würde sie zulassen, dass ganz Liqiuem in Schutt und Asche gelegt wurde, wenn ich selbst nicht darauf kam. Das war einer der Gründe, warum ich sie solange nicht mehr aufgesucht hatte. Liqiuem war ihr egal, sie machte nur ihren Job.

Ich schloss die Augen und dachte nach. Es musste eine Lösung geben, irgendjemanden, der mächtig genug war, einen Sommer aufzuhalten.

Einen Magier! Erstaunt richtete ich mich auf und sah zu Sirita hinüber, die mich genau beobachtete.

„Du meinst, ich soll die Wiedergeburt des mächtigsten Magiers aufsuchen? Was, wenn er gar keine Kräfte hat, keine Zauber wirken kann?“ Sirita schüttelte langsam den Kopf.

„Er kann es tun und er wird es tun“

„Aber wer ist es?“, hakte ich nach.

„Er lebt im unbekannten Land“, informierte Sirita mich.

„Im unbekannten Land?“, hakte ich nach und sie nickte.

Natürlich musste es das unbekannte Land sein!

Großartig!

Ein Großteil des südlichen Teils von Liqiuem nannte sich das unbekannte Land. Ein riesiger Wald war es, so dicht und finster, dass man sich darin verirren konnte, wenn man erst wenige Schritte hineingemacht hatte. Es gab keinen Weg hindurch und der Wald war tückisch. Kein Fremder, der dieses Land betreten hatte, hatte es jemals wieder verlassen!

Die Menschen die dort lebten, waren eigenartig.

Sie hatten sich abgeschottet von der Gesellschaft, der Zivilisation und lebten einsam und allein in kleinen Blockhütten. Angeblich trafen sie sich viermal im Jahr zu einer Versammlung. Es gab viele Einsiedler dort, viel zu viele für meinen Geschmack. Sie überfielen Reisende und wenn sie es nicht taten, lauerten die Wölfe ihnen auf oder andere Schrecken. Die Menschen dort hatten ihre eigene Kultur, ihren eigenen Glauben und ihre ganz eigenen Eigenarten. Niemals würde ich einen Einsiedler dazu bewegen können, das unbekannte Land zu verlassen, wenn ich überhaupt zu ihm gelangte, was ich stark anzweifelte.

„Das ist nicht dein Ernst, oder?“, hakte ich nach. „Sag mir, dass das ein Scherz ist“

Doch Sirita schüttelte nur langsam den Kopf, sie wirkte fast traurig.

„Du musst es versuchen, mein Freund. Er ist der einzige, der Liqiuem jetzt noch retten kann.

Ich hoffe sehr, dass du es versuchst“

Das Versuchen stand hier nicht infrage, es war das Schaffen.

„Hast du wenigstens einen Namen für mich?“, fragte ich niedergeschlagen.

„Durio“

„Vielen Dank“, murmelte ich meiner alten Freundin Sirita zu. „Mögen die Götter dich beschützen“

Ich legte eine Hand auf ihren Kopf und segnete sie leise flüsternd. Normalerweise verlangte sie Gold oder Silber für ihre Dienste, doch von mir wollte sie nur einen Segen, was möglicherweise daran lag, dass ich kein Geld besaß oder einfach daran, dass sie die Götter nicht verärgern wollte, keine Ahnung, aber es war mir ganz recht.

Sirita glaubte nämlich nicht mehr an den toten Gott, dem ich mein Leben gewidmet hatte, dessen Diener ich war. Die alte Seherin hatte sich dem etwas neueren Glauben angeschlossen, den die Ekums nach Liquiem gebracht hatten. Ich akzeptierte das mürrisch grunzend. Dass wir Engel in dem Glauben an die zehn Götter ebenfalls eine große Rolle spielten, war mir jedoch fast ein wenig unangenehm. Gemeinhin galten wir als ihre Boten und wurden von den unzähligen Anhängern dieser Religion verehrt. Ich persönlich sah mich jedoch als nichts weiter, als den ergebensten und mächtigsten Diener des toten Gottes. Denn er existierte, im Gegensatz zu den anderen Göttern!

Sobald ich das Haus verlassen hatte, stieg ich höher in die Luft, über die Wolken. Der Weg bis zum unbekannten Land war lang.

Kalara

Drei Jahre zuvor

Es gab keine Worte dafür, wie sehr ich das Einsiedlerleben hasste!

Im Rest von Liqiuem beschrieb man die Einsiedler, also die Bewohner des unbekannten Landes, als extrem eigenartig, aber das traf es nicht einmal annähernd.

Genau weiß ich nicht, wie diese besondere…Kultur zustande kam, aber ich wusste, dass ich es keinen Tag länger aushalten würde.

Mein älterer Bruder Kishan und ich wohnten gemeinsam mit unseren Eltern in einer Holzhütte.

Vier Einsiedler auf einem Fleck, das war etwas Einmaliges im unbekannten Land! Normalerweise würden unsere Eltern nicht zusammenleben und Kishan wäre schon längst ausgezogen. Er besaß sogar eine eigene Hütte nur einen Tagesmarsch entfernt, doch oft war er dort nicht. Die anderen Einsiedler lebten alle allein oder zu zweit, wenn ein Kind noch zu jung war, um ohne die Mutter zu überleben.

Einmal im Jahr gab es die legendären Versammlungen. Sie fanden auf einer riesigen Lichtung genau in der Mitte des Waldes statt, der das unbekannte Land ausfüllte. Es war die größte Veranstaltung, etwas, worauf man das gesamte Jahr lang hin fiebern konnte, nur tat ich das nicht. Ich hasste große Menschenmengen, was wohl die einzige Eigenschaft war, die mich mit den Einsiedlern verband!

Sie waren gerne alleine, wie die Bezeichnung ja schon sagt. Eigentlich hatte jeder einen großen Garten, in dem er alles anbaute, was er so brauchte. Falls jemand mal Lust auf ein Stück Fleisch hatte, gab es im Wald genug Tiere zu jagen und Waffen brauchte man dort draußen sowieso, denn nicht selten passierte es, dass ein hungriger Wolf sich in die Nähe eines der Häuser wagte. Durch das Alleinsein hatten die meisten die komischsten Eigenarten entwickelt, die niemand wirklich nachvollziehen konnte, nicht einmal sie selbst.

Bei uns in der Familie sah das anders aus. Zwar mochte auch ich keine Menschenmengen, aber die Familie war gerade klein genug, dass ich mich darin wohlfühlte. Wenn ich meine Ruhe haben wollte, was nicht oft geschah, brauchte ich nur das Haus zu verlassen, und ansonsten war gerade so viel los, dass ich nicht begann, Stimmen zu hören, wie die meisten Einsiedler es taten.

Trotzdem hasste ich das Leben unbeschreiblich!

Jeder Tag war gleich. Die nächsten Nachbarn wohnten mehrere Tagesmärsche entfernt und mein einziger Spielkamerad war immer mein Bruder gewesen. Wie gerne hätte ich Dinge getan, die alle anderen Kinder in meinem Alter außerhalb des unbekannten Landes getan hatten.

Ich hätte gerne Lesen und Schreiben gelernt, sogar Rechnen und ich hätte gerne mit anderen Kindern gespielt. Stattdessen zeigten mir meine Eltern, wie ich eine Holzhütte errichten konnte und wie ich die verschiedenen Pflanzen anzubauen hatte. Mein Bruder war mir da nie eine große Hilfe, denn er hatte immer Gefallen daran gefunden, was auch daran lag, dass er ein Händchen für solche Dinge hatte – ganz im Gegensatz zu mir.

Doch worauf will ich jetzt hinaus?

Ich hasste das Leben im unbekannten Land, daher war ich so überglücklich, als ich eine Engel auf der Lichtung vor unserem Haus begegnete – aber beginnen wir von vorn.

Es war ein Tag wie jeder andere. Sobald die Sonne ihre ersten Strahlen bis hinunter auf den Waldboden und durch die Fenster unseres Hauses geschickt hatte, schlug ich die Augen auf und gähnte ausgiebig. Müde schälte ich mich aus der Wolldecke und wollte aufstehen, blieb jedoch mit einem Fuß in der Decke hängen und knallte der Länge nach auf den Boden. Ein toller Start in den Tag!

Am liebsten wäre ich liegen geblieben, doch ich wusste, dass Vater das nicht dulden würde.

Immer noch im Halbschlaf rappelte ich mich also auf und schlüpfte in eine Leinenhose und ein Oberteil. Eigentlich keine angemessene Kleidung für ein Mädchen aber was kümmerte es mich?

Mich sah sowieso niemand hier draußen. Meine Mutter sah das leider nicht so.

„Kalara? Gehst du dich bitte umziehen“, vernahm ich ihre Stimme, kaum dass ich am Fuß der Treppe angelangt war.

„Mutter, bitte“, stöhnte ich. „Hier sieht mich sowieso Niemand“

„Ich sehe dich“, erklärte meine Mutter streng und entnervt machte ich mich wieder auf den Weg die Treppe hinauf und in mein Zimmer, um in ein Kleid aus weißem Leinen zu schlüpfen. Wo war der Sinn? Die Kleidervorschriften galten doch nicht für uns Einsiedler, sondern nur für die anderen Bewohner Liquiems. Und selbst wenn…wen interessierte es, ob ein junges Mädchen im unbekannten Land nun eine Hose oder ein Kleid trug? Richtig, niemanden. Oh, ich vergaß: Meine Mutter. Sie war nicht von hier, sie kam ursprünglich aus den Nordlanden, aus genau der Region, in der sie die Nordländer züchteten. Ich wünschte mir schon seit ich denken konnte so ein Pferd. Sie waren einfach nur traumhaft. Die Prachtexemplare waren schneeweiß und auf den verschneiten Ebenen kaum auszumachen. Belastbar waren sie und schnell, ausdauernd aber vor allem unglaublich klug und treu. Manchmal erzählte Mutter von ihrer Kindheit auf einem Hof, wo sie die Pferde gezüchtet hatten, und wie sie auf einem der Hengste reiten gelernt hatte. Obwohl die Nordländer mit einem langen Leben gesegnet waren, war ihr Pferd mit nur fünfzig Jahren gestorben. Mutter hatte mich nur ein einziges Mal auf seinen Rücken gesetzt, er war ihr Heiligtum gewesen.

Dort, wo Mutter aufgewachsen war, hatte man sehr viel Wert auf solche Sachen wie ordnungsgemäße Kleidung gelegt. Wohlhabende Bürger oder sogar ehemalige Adlige hatten den Hof besucht oder die Familie zu Festen eingeladen. Mutters Eltern hatten Geld gehabt.

Wie war sie nur jemals auf die Idee gekommen, diese Familie zu verlassen, um…ja, um was eigentlich zu tun? Um als Einsiedler im unbekannten Land am Ende der Welt zu leben?

Die Entscheidungen von Erwachsenen konnte ich ja oft nicht zu einhundert Prozent nachvollziehen, doch diese Entscheidung war ein wahres Rätsel für mich. Natürlich hätte ich Mutter einfach fragen können, doch so leicht wollte ich es mir dann auch wieder nicht machen.

Mit meinem Kleid aus weißem Leinen lief ich also wieder die Treppe hinunter und Mutter sah nicht einmal mehr auf, um einen Kommentar darüber abzulassen. Wofür hatte ich mich noch mal umgezogen?

Dad und mein älterer Bruder Kishan standen bereits draußen auf der Lichtung. Sie schienen auf mich zu warten. Warum? Normalerweise lief es so ab, dass die beiden bereits losgelaufen waren und ich immer hinter ihnen herrennen musste, um sie überhaupt noch zu erreichen.

Trotzdem beeilte ich mich, zu ihnen zu gelangen.

Vielleicht war heute ja etwas anders als sonst.

Vielleicht war etwas passiert, das nicht in das immergleiche Schema passte.

Doch natürlich war dem nicht so!

Mit ein paar Eimern bewaffnet machten wir uns auf den Weg zum Fluss, der zu Fuß ein paar Stunden entfernt lag.

Es war wie immer schrecklich ermüdend und öde, hinter meinem Vater und meinem Bruder her zu stapfen. Der Wald war bereits wach und man konnte die Vögel zwitschern hören. Ein Specht klopfte und ein Kuckuck rief. Nicht dass ich diese Geräusche nicht mochte, ich liebte sie sogar, doch sie jeden Tag immer zu hören, konnte einen verrückt machen!

Und doch hatte ich das Gefühl, dass dieser Tag anders werden würde als alle bisherigen, dass schon bald nichts mehr so sein würde, wie es war. Wahrscheinlich war das aber nur Wunschdenken!

Es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis wir wieder zuhause angekommen waren, auf der kleinen Lichtung bei der alten, halb verfallenen Hütte.

Und meine Vorahnungen wurden bestätigt!

Mutter stand vor der Tür und wartete bereits auf uns. Das tat sie sonst nie! Normalerweise saß sie drinnen und tat immer sehr beschäftigt, keine Ahnung ob das stimmte. Doch heute schien etwas anders zu sein. Sie wirkte fast schon gestresst.

Wovon?

„Da seid ihr ja endlich“, rief sie uns entgegen, als wir auf die kleine Lichtung traten.

„Was ist denn los?“, fragte Vater und stellte die Eimer, die er getragen hatte, neben die Wand unter das Dach der Hütte. „Haben wir Besuch?“

Das wäre eine mögliche Erklärung für Mutters gestresste Miene, doch wer sollte uns besuchen kommen? Auf jeden Fall niemand von außerhalb, sie hätten es nicht durch den Wald geschafft, außerdem waren meine Eltern mit niemandem von außerhalb gut genug befreundet, als dass diese Freunde den Weg durch den Wald auf sich nehmen würden. Einsiedler untereinander kamen sich eigentlich nicht besuchen.

„Sowas in der Art“, bestätigte Mutter und sah mich an.

Verwirrt runzelte ich die Stirn. Das alles kam mir sehr eigenartig vor und doch war es eine willkommene Abwechselung.

Auch Kishan und ich stellten unsere Eimer ab und folgten unseren Eltern dann ins Haus.

Am Küchentisch saß ein Mädchen, das nur ein paar Jahre älter sein konnte als ich. Sie hatte wunderschönes blondes Haar, das ihr bis auf die Schultern reichte und sanft gewellt war. Ihr Lächeln war offen und freundlich. Ähnlich wie ich trug sie ein weißes Kleid, doch es war nicht das schmutzige Weiß von Leinenstoffen, es war ein wunderschönes, reines Weiß und das Kleid sah edel aus. Sie war ein Engel, da gab es keinen Zweifel. Aber warum war sie hier? Solch hoher Besuch in diesen Gegenden war nicht nur selten, er war einmalig!

„Hallo Kalara“, sagte das Mädchen und ihre Stimme war klar und glockenhell.

Warum sprach sie mich an und nicht uns alle.

Was könnte sie von mir wollen? Ich begann zu zittern, vergaß meine Manieren jedoch nicht.

„Hallo“, begrüßte ich sie.

„Mein Name ist Lenja“, erklärte sie mir lächelnd. „Setz dich doch“

Mir im Haus meiner Eltern einen Platz anzubieten, das konnte wirklich nur ein Engel tun, jeder andere hätte es nicht gewagt, diese Worte in den Mund zu nehmen. Doch die Engel waren eben etwas ganz Besonderes, in jeder Hinsicht.

Also folgte ich ihrer Bitte und setzte mich ihr gegenüber an den Tisch.

„Würden Sie uns bitte allein lassen“, bat Lenja meine Eltern und meinen Bruder, die augenblicklich das Haus verließen.

Das Wort eines Engels war so ziemlich allen Wesen in ganz Liqiuem Gesetz und ich sage hier bewusst Wesen, denn alle hörten auf das Wort eines Engels. Menschen, Tiere, sogar die als unzähmbar geltenden Ekums und die Drachen, die leider ausgestorben waren.

Warum das so war, dass das Wort eines Engels für alle Geltung hatte, lag daran, dass sie die Boten der Götter waren eine andere läufigen Begründung lautete, dass sie die Wächter der Himmelspforte waren und dass sie den Eintritt auch verweigern konnten.

„Kalara“, setzte Lenja an.

Woher kannte sie eigentlich meinen Namen? Ich hatte ihn ihr definitiv nicht genannt. Aber Engel hatten ja bekanntermaßen ihre Quellen.

Angeblich empfingen sie ihre Visionen direkt vom toten Gott, an den früher ganz Liqiuem geglaubt hatte. Wenn man jedoch an die zehn Götter glaubte, dann musste man die Aussage korrigieren: Sie erhielten ihre Visionen direkt von Tíma, die dem Rat der zehn vorsaß. Dies war auch der Glaube, der nun in Liquiem vorherrschte. Und dann gab es noch die Einsiedler, die weitestgehend gottlos waren.

„Ich nehme an, du hast keine Ahnung, warum ich hier bin“

Zustimmend nickte ich und wartete darauf, dass sie weitersprach, doch sie ließ sich Zeit, lehnte sich vor und stützte sich mit den Ellenbogen auf dem Tisch ab. Dann zog sie den Anhänger einer dünnen Silberkette aus dem Ausschnitt ihres Kleides. Es war ein fein gearbeiteter Anker.

„Wie vertraut sind dir die Bräuche der Engel?“, fragte sie dann und lachte, als sie meinen verständnislosen Blick bemerkte. „Ich bin eine Lehrmeisterin, wie die meisten Engel es sind.

Einmal im Jahr, am 115.ten Tag des Jahres, gibt es die Möglichkeit, den toten Gott um eine neue Schülerin zu bitten. Er führte mich zu dir“

Juran

Sieben Tage. So lange würde ich ungefähr brauchen, um das unbekannte Land zu erreichen, wenn ich irgendwo einen Nordländer herbekam. Lange Strecken zu fliegen war nicht nur anstrengend, es war auch sehr kalt oben im Himmel und tief fliegen war einfach nicht drin, das erregte viel zu viel Aufmerksamkeit!

Also suchte ich einen großen Nordländer-Hof.

Relativ hoch flog ich nicht, doch hoch genug, dass man mich mit einem großen Vogel verwechseln konnte. Über einem weißen Kampfanzug trug ich einen langen, schwarzen Umhang mit einer weiten Kapuze, fast so wie Comis Dux in meiner Vision. Diesen Umhang hatte ich noch kurz aus meiner Hütte geholt, bevor ich aufgebrochen war.

Mein Vorhaben würde nicht unentdeckt bleiben und ich hatte das Gefühl, dass es einigen nicht gefallen würde, warum auch immer. Mit dem weißen Anzug und meinen viel zu blonden Haaren war ich ziemlich auffällig. So war ich nur ein normaler Reisender, der nicht erkannt werden wollte.

Als ich eine große Koppel mit vielen weißen Pferden unter mir auftauchen sah, senkte ich meine Flughöhe rasch und folgte dem Weg einen halben Meter über dem Boden zum Hof.

Es war ein riesiger Hof, schon allein das Wohnhaus war dreimal so groß wie die Lichtung auf der meine Hütte stand! Der Stall war noch um einiges größer!

Sobald ich durch das Hoftor flog, begann ein Hund laut zu bellen und ich sah mich nach ihm um. Eine Frau trat aus dem Stall und wischte sich die Hände an der Hose ab.

„Ciaran, hier“, rief sie, doch der große, braunweiß gefleckte Hund schien sie überhaupt nicht zu hören.

In einem Höllentempo raste er auf mich zu, bellend und wütend knurrend.

„Hallo Du“, sagte ich leise, als er die Pfoten in den Boden stemmte und schlitternd vor mir stehen blieb. „Na“

Der Hund knurrte immer noch, als ich eine Hand ausstreckte und ihm sanft über den Hals strich.

Das Knurren verstummte, der Hund hechelte nun fröhlich und begann, meine Hand abzulecken.

„Also, sowas habe ich ja noch nie gesehen“, staunte die Frau nicht schlecht.

Sie kam über den Hof hinüber auf mich zu und beäugte mich argwöhnisch.

„Wer seid Ihr?“

Diese Anrede war mir schon wesentlich vertrauter.

Langsam hob ich meine Hände, setzte die weite Kapuze ab und wartete darauf, dass sie mich erkannte. Bei den meisten dauerte es immer eine Weile, da sie vergaßen, dass es von der Regel, dass nur Mädchen Engel werden konnten, eine Ausnahme gab, nämlich mich.

Als die Erkenntnis bei ihr einsetzte, konnte man das deutlich in ihren Augen erkennen, die sich weiteten, dann senkte sie rasch den Blick und machte eine kleine Verbeugung.

„Was kann ich für Euch tun?“, fragte sie ergeben und ich lächelte sie freundlich an.

„Ich brauche zwei Nordländer, am liebsten zwei junge, energiegeladene Hengste“, erklärte ich ihr und sofort nickte sie, drehte sich um und deutete mir, ihr zu folgen.

Eigentlich hatte ich gedacht, sie würde mich auf die Koppel bringen, doch sie verschwand im Stall und ich folgte ihr rasch.

Die Stallgasse war ellenlang. Am Anfang konnte man das Ende kaum erkennen, obwohl der Stall hell erleuchtet war. Unglaublich viele Boxen und in jeder von ihnen stand ein Pferd obwohl die ganze, große Koppel draußen ebenfalls überfüllt war.

Relativ am Ende blieb die Frau stehen und deutete auf eine Box, in der ein riesiger, schlanker aber dennoch muskulöser Hengst mit schneeweißem Fell und einer üppigen Mähne stand, eine echte nordländische Schönheit.

„Das hier ist Allegro“, sagte die Frau. „Er ist unser bester Hengst…Ihr solltet ihn nehmen“

Eigentlich wollte ich das nicht, schließlich würde ich für die Pferde nichts bezahlen müssen und das auch nicht können, aber das Wichtigste war es, besonders schnell das unbekannte Land zu erreichen, da konnte ich keine Rücksicht auf mein Gewissen nehmen.

„Welches von den anderen Pferden kann mit ihm mithalten?“, fragte ich sie.

„Das wäre Femke, hier“, sagte die Frau und zeigte auf eine zierliche, verhältnismäßig kleine, schwarze Stute, die so ziemlich alles war, was man in einer Nordländerlinie als unpassend empfand. „Aber ich weiß nicht…“, stammelte sie, als sie meinen Blick bemerkte. „Vielleicht würde es die Götter erzürnen“

„Ich brauche die beiden schnellsten Pferde, und wenn sie das sind, werden die Götter dich und deinen Hof behüten, Tùran wird dafür sorgen, dass eure Pferde sich gut entwickeln und Tíma wird euch freundlich gesinnt sein, sie, die mächtigste Göttin von allen“, erwiderte ich rasch.

Die Frau holte die beiden Pferde aus den Boxen und legte ihnen Reithalfter an, dann führte sie sie auf den Hof, wo ich mich auf den Rücken des weißen Hengstes schwang.

„Vielen Dank. Möge Tíma ihre schützende Hand über diesen Hof halten und den Zorn der anderen Götter zügeln“, sagte ich zum Abschied und forderte Allegro auf, loszugehen.

In einem gemütlichen Schritt verließen wir den Hof und sobald wir das Hoftor passiert hatten, stieß ich ihm die Fersen in die Flanken und der Hengst stob davon. Die kleine Stute, die am Strick neben mir herlief, hielt erstaunlich gut mit.

Ich war sehr gespannt, wie sie sich machen würde.

Als wir die große Straße erreicht hatten, die von der östlichen Hälfte der Nordlande schnurgerade nach Süden führte, ließ ich die Pferde noch schneller laufen und war erstaunt, als sie ihr Tempo noch einmal verdoppelten.

Dann ließ ich meine Gedanken schweifen und schloss die Augen. Allegro hatte einen sehr angenehmen Galopp. Die beiden würden es schon schaffen, der Straße zu folgen. Sie war eben, die Erde war von den vielen Hufen und Füßen festgetreten.