Literarische Mehrsprachigkeit und ihre Didaktik -  - E-Book

Literarische Mehrsprachigkeit und ihre Didaktik E-Book

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Beschreibung

Wenn auch marginalisiert, stellt literarische Mehrsprachigkeit keineswegs ein randständiges Phänomen der Literatur dar. Vielmehr lässt sie sich in verschiedensten Epochen aufspüren und sie manifestiert sich in vielfältigen sprachlich-ästhetischen Formen. Dabei eröffnen Sprachmischungen, Hybridisierungen und Neuformierungen ästhetische Zwischenräume sowie erweiterte Möglichkeiten der Deutung und Interpretation. Im Fokus dieses Bandes stehen Ästhetiken, Entwicklungen, Formen und Funktionen literarischer Mehrsprachigkeit in Geschichte und Gegenwart, die auch hinsichtlich ihrer didaktischen Potenziale untersucht werden. Neben literaturwissenschaftlichen Perspektiven erörtern die Beiträge insbesondere literaturdidaktische Ansätze, die literarische Mehrsprachigkeit in poetischen Texten ins Zentrum stellen. Dabei werden verschiedene Formen des Inter-, Trans- oder Heterolingualen didaktisch reflektiert und/oder aus einer dominanzsprachkritischen Perspektive für den Literaturunterricht fruchtbar gemacht.

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Nazli Hodaie / Heidi Rösch

Literarische Mehrsprachigkeit und ihre Didaktik

DOI: https://doi.org/10.24053/9783772057809

© 2024 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KGDischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

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Internet: www.narr.deeMail: [email protected]

 

ISSN 2627-9010

ISBN 978-3-7720-8780-6 (Print)

ISBN 978-3-7720-0252-6 (ePub)

Inhalt

EinleitungLiteraturKritisch-theoretische ZugängeZur Theorie literarischer Mehrsprachigkeit: Für einen strukturalistischen und poststrukturalistischen Lektüreansatz1 Mehrsprachigkeit und die Arbitrarität des Zeichens bei Ferdinand de Saussure2 Mehrsprachigkeit und Poetizität im Formalismus und bei Roman Jakobson3 Poststrukturalistische Zugänge zur literarischen MehrsprachigkeitLiteraturSprache als Moment der Konstitution, Repräsentation und Verletzbarkeit. Verbindungslinien zwischen postkolonialer Literaturdidaktik und einer Didaktik literarischer Mehrsprachigkeit1 Orte kulturtheoretischer Sprachreflexion innerhalb der Deutschdidaktik2 Warum Sprache verletzen kann: ein poststrukturalistischer Blick auf Sprache3 Sprachliche Verletzung infolge innerer Mehrsprachigkeit im Literaturunterricht4 FazitLiteraturTextanalytische Zugänge„[I]n undeutschen Büchern“ lesen: Drama und Mehrsprachigkeit im 18. Jahrhundert1 Literarische Mehrsprachigkeit und Diversitätsforschung: Zum Stand der Forschung2 Das Korpus der Analyse3 Resümee und AusblickLiteraturAffektive und kulturpolitische Dimensionen von ‚Muttersprachlichkeit‘ und Mehrsprachigkeit in Texten von Shida Bazyar, Rasha Khayat und Marica Bodrožić1 ‚Muttersprache‘ als emotionalisiertes Konzept2 Emotionen und (mehrsprachige) literarische Ästhetik3 Postmigrantische Verhandlungen von ‚Muttersprachlichkeit‘, Mehrsprachigkeit und Emotionen4 Didaktische Überlegungen und ZieleLiteraturLatente Mehrsprachigkeit in Osteuroparepräsentationen – ausgewählte Funktionen1 Interkulturelle Aspekte der Mehrsprachigkeit2 Die sprachliche Erfahrung von Rückkehrerzählungen3 Die Mehrsprachigkeit in einer multikulturellen Region4 Konsequenzen der Repräsentationen der latenten MehrsprachigkeitLiteratur„In einer Fremdsprache hat man aber so etwas wie einen Heftklammerentferner“1 Einleitung2 Begrifflichkeiten und Formen von literarischer Mehrsprachigkeit3 Literarische Mehrsprachigkeit und Kulturvermittlung in interkultureller Literatur am Beispiel von Texten von Emine Sevgi Özdamar und Zé do Rock4 Fazit und Ausblick: Das dominanzkritische und sprachsensible Potential literarischer Mehrsprachigkeit im Umgang mit DiversitätLiteraturDas Verhältnis zur Welt – Luis Sepúlveda und die Übersetzung der Stimme des weißen Wals1 Übersetzung und Mehrsprachlichkeit2 Benjamins Echo des Originals und Bachtins Dialogizität3 Sepúlvedas mondfarbener Wal – das Echo der tierischen StimmeLiteraturTrist, aber bunt schillernd. Zur Potenzierung der literarischen Vielschichtigkeit in Ein bisschen wie du. A little like you1 Der vielschichtige Text2 Mehr-Sprache in Ein bisschen wie du. A little like you3 Fazit und AusblickLiteraturPotenziale der Präsenz: Mehrsprachigkeit im Comic1 Feldskizze: Comics und Mehrsprachigkeit2 Semiotik: Simultanität des Linearen3 Beispiele4 Didaktische AusblickeLiteraturProduktive und rezeptive ZugängeStille Post – ein mehrsprachiges Schreibprojekt zu Missverständnissen. Ein Kommentar1 Einleitung2 Das Projekt3 Die Texte4 Der Übersetzungsprozess5 Didaktische Überlegungen6 SchlussLiteraturWerkstatt für potentielle Mehrsprachigkeit: Das Kettengedicht Renga von Octavio Paz, Jacques Roubaud, Edoardo Sanguineti und Charles Tomlinson sowie Hannes Bajohrs digitale Adaption1 Ein Sprachengeflecht im Schulkeller2 Ratte, Regel und Rotation der Sprachen3 „Nicht eine Idee von der Poesie, sondern ihre Praxis.“ (Paz): Didaktische ZugängeLiteraturWeitere Onlinequellen„Ich war etwas orientierungslos aufgrund der Verwendung persischer Wörter.“ Zum Potenzial eines sprachsensiblen Umgangs mit literarischer Mehrsprachigkeit in universitären DaF-Kontexten1 Einleitung2 Prinzipien einer ästhetisch-literarizitätsorientierten Didaktik in DaF3 Die Bedeutung des Übersetzens für sprachsensible Zugangsweisen4 Nava Ebrahimi und ihre Sechzehn Wörter5 Sprach- und kulturreflexive Bewusstwerdungsprozesse am Beispiel von Chiara6 Abschließende ÜberlegungenLiteratur„Mama, es ist langweilig, wenn du dann so wie nachsprichst“ − Rezeption von parallel mehrsprachigen Bilderbüchern in mehrsprachigen Familien1 Einleitung und Fragestellung2 Parallele Mehrsprachigkeit im Bilderbuch als Teil des gesellschaftlichen Diskurses3 Rezeption von parallel zweisprachigen Bilderbüchern in mehrsprachigen Familien4 ResümeeTranskriptionslegendeLiteraturTomi Ungerers Bilderbuchgeschichten als digitale Transmedia-Kreation: translinguales und multimodales Storytelling mit zweisprachigen Lehramtsstudierenden1 Einleitung2 Literarische Narrative im mehrsprachigen Kontext3 Kontext, Korpus, Design und Methode der kreativen Aktionsforschung4 Forschungsergebnisse5 Pädagogische Potenziale translingualer und multimodaler NarrativeLiteraturRhetorik der literarischen Mehrsprachigkeit am Beispiel der Übersetzungen arabischer Poesie ins Deutsche1 Methoden der Übersetzung arabischer Prosa ins Deutsche2 Probleme der Übersetzung von Redensarten in der PoesieFazitLiteraturAutor:innenverzeichnisPersonenverzeichnis

Einleitung

Literarische Mehrsprachigkeit und ihre Didaktik

Nazli Hodaie, Heidi Rösch, Lisa Treiber

In literarischen Texten, so Robert StockhammerStockhammer, Robert, „ist sehr häufig mehr als ein Idiom im Spiel“ (2015: 147), wobei mehrsprachige Texte eher der Regel entsprechen, während Monolingualität die Ausnahme darstellt. Diese Feststellung gilt nicht nur für Texte der postkolonialen oder der (post)migrantischen Literatur, sondern auch und vor allem für „ältere Texte, die einige kanonische Geltung besitzen“ (ebd.).

Somit verkörpert literarische Mehrsprachigkeit keineswegs ein marginales Phänomen der Literatur, wohl jedoch ein marginalisiertes, eine Terra incognita, der innerhalb einer nationalphilologisch kartografierten Literatur wie der deutschen die Aura des Unreinen und des Nicht-Zuordenbaren anhaftete (siehe Kilchmann 2012: 14); und dies – zieht man den nationalphilologischen Diskurs mit seinem Drang zur Herstellung eindeutiger Zugehörigkeitsverhältnisse in Betracht – nicht unbegründet, denn die „heterolingualen Einschübe […] bilden […] einen Ort, an dem sich die ‚deutsche‘ Literatur immer schon fortschreibt von einer identitären Festlegung auf Nation oder Einsprachigkeit“ (Ette 2005: 181, zitiert nach Kilchmann 2012: 13). Mit literarischer Mehrsprachigkeit gehen zudem neue, andere sprachlich-ästhetische Formen einher, die sich u. a. in Hybridisierungen, Grenzüberschreitungen, Neologismen und Neuformierungen manifestieren und dabei ästhetische Zwischenräume sowie erweiterte Möglichkeiten der Deutung und Interpretation eröffnen. Somit ist ihr sowohl ein ästhetisches Potential als auch ein dominanzkritisches Moment immanent. Die Auseinandersetzung mit ihr sollte daher „im Spannungsfeld von literarischem Experiment und Kultur- bzw. Sprachkritik“ (ebd.: 12) erfolgen, sozusagen als genuin literarische Größe mit ästhetischem Anspruch, bei der „der Einsatz anderer Sprachen immer wieder [– sieht man vom Einbezug der Mehrsprachigkeit zur (Re-)Produktion von Dominanzverhältnissen ab –] die Vorstellung einer sprachlichen Einheit und damit die monolinguale Norm durchkreuzt“ (ebd.). Wird jedoch die Untersuchung literarischer Mehrsprachigkeit auf eine „germanistische Fremdwort-Bestimmung“ (ebd.: 12), womit Esther KilchmannKilchmann, Esther die an sich problematische Kategorisierung von Sprachen in fremd und eigen bezeichnet, reduziert, so wird der Effekt unterlaufen, den mehrsprachige literarische Texte in der Regel hervorrufen: diese „Trennungen zu hinterfragen und die Vorläufigkeit und Unzulänglichkeit von Kategorien wie Nationalsprache, natürliche versus künstliche Sprache zu bedenken zu geben“ (ebd.:12).

Blickt man nun auf den Umgang mit mehrsprachiger Literatur im Kontext des schulischen Literaturunterrichts bzw. des literaturdidaktischen Studiums, dominiert jedoch ebendiese reduktive Perspektive. Die Relevanz literarischer Mehrsprachigkeit für den didaktischen Kontext – sollte sie überhaupt thematisiert werden – resultiert weniger aus ihrem ästhetischen Potential als vielmehr aus einem differenzbasierten Paradigma, das als Antwort auf die schulische migrationsbedingte Heterogenität fremde Sprachen wertzuschätzen angibt und diese aus diesem Grunde auch in Lehr-Lern-Kontexten berücksichtigt wissen will (siehe Kunz 2018; Oomen-Welke 2010 u. a.). Dabei wird auf Kategorien zurückgegriffen, die eher einer binären Perspektive auf Sprache(n) Vorschub leisten, statt den Blick auf (sprachliche) Zwischenräume und die neu entstehenden Deutungsmöglichkeiten zu richten. Der große Anklang von parallel zwei- oder mehrsprachigen (Bilder-)Büchern, um nur ein Beispiel zu nennen, im didaktischen Kontext ist möglicherweise auf diesen Umstand zurückzuführen, erhalten diese doch die Vorstellung nationalsprachlicher Entitäten aufrecht und verleiten dementsprechend dazu, didaktisch zu kontrastiv angelegten Maßnahmen zu greifen. So dominant diese Perspektive auf Mehrsprachigkeit im deutschunterrichtlichen Kontext auch ist, darf sie nicht über weitere Zugänge hierzu hinwegtäuschen, denen ästhetische oder dominanz- und hegemoniekritische Perspektiven zugrunde liegen. Analog zur literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Mehrsprachigkeit lassen sich mit Blick auf Literaturdidaktik ebenfalls folgende drei Zugänge feststellen: 1. System- und/oder soziolinguistisch-sprachdidaktische Perspektiven, 2. kulturwissenschaftliche Perspektiven im Einklang mit den Cultural Studies und – in Ansätzen und eher am Rande – 3. ästhetische, poetologische und narratologische Perspektiven.

Bei Konzepten, denen die erstgenannte Perspektive zugrunde liegt, überwiegt die Übertragung linguistisch-sprachdidaktisch orientierter, meist (wenn auch nicht ausschließlich) kontrastiv angelegter, mehrsprachigkeitsdidaktischer Überlegungen auf die Mehrsprachigkeit in der Literatur (siehe Grimm 2017 u. a.).

Im Mittelpunkt kulturwissenschaftlich orientierter Zugänge steht meist die sog. Sprach(en)bewusstheit sowie Dekonstruktion und Dominanzkritik im literaturunterrichtlichen Kontext. Dies erfolgt z.B. im Zuge und mit dem Ziel der Reflexion und der sinnlichen Erfahrung sprachlicher Machtverhältnisse, migrationsgesellschaftlicher Mehrsprachigkeit und migrationsbedingter Sprachlernprozesse im imaginären Raum und in der Gesellschaft (siehe Filsinger/Bauer 2021; Nagy 2018). Als relevant erweist sich hierbei auch das Erkennen der literarischen Funktion innerer und äußerer Mehrsprachigkeit und die Dekonstruktion sprachlicher Zuschreibungen und Wahrnehmungen (siehe Kofer 2023; Wizany 2021) einerseits und/oder der sprachenpolitischen Funktion von Mehrsprachigkeit unter Rückgriff auf Postkoloniale Theorien (Othering, Hybridität, Zentrum und Peripherie; siehe Titelbach 2021) andererseits.

Beide Zugänge indes beziehen die Legitimation zur Didaktisierung literarischer Mehrsprachigkeit aus migrationsgesellschaftlichen Sprach(en)verhältnissen. Je nach paradigmatischer Verortung dominieren dabei Perspektiven, die die Sprach(en)vielfalt eher differenzorientiert oder eher dominanzkritisch didaktisieren.

Das hegemoniekritische, migrationsgesellschaftliche Mehrsprachigkeit in den Blick nehmende Konzept LitLA (Literature und Language Awareness) verbindet dies allerdings mit einer ästhetischen Perspektive auf literarische Mehrsprachigkeit als Gegenstand einer literatur- und sprach(en)bewussten Bildung (siehe Rösch 2021). Dennoch sind Konzepte, die die ästhetische Dimension literarischer Mehrsprachigkeit in den Mittelpunkt stellen und diese aus dieser Perspektive heraus auch didaktisieren, eher marginalisiert. In ihrem Umgang mit Mehrsprachigkeit in Literatur legen sie den Fokus teilweise auf Verfremdungen und Deautomatisierungen, (Sprach-)Komik und Sprachklang und/oder Sprachspiel (siehe Titelbach 2021) oder sie akzentuieren narratologische Zugänge (mehrsprachige Redeformen in Figurenrede bzw. Erzähler:innenbericht u. a.; siehe Rösch 2021). Literaturdidaktisch bisher nur am Rand berücksichtigt, eröffnen diese Perspektiven die Möglichkeit, literarische Mehrsprachigkeit im Kontext ästhetischer Bildung und damit im zentralen Aufgabenfeld der Literaturdidaktik zu verorten (für die oben genannte Systematisierung siehe Hodaie 2022, unveröffentlichtes Manuskript1).

 

Vor dem Hintergrund vorangehender Überlegungen setzt sich der Sammelband mit literarischer Mehrsprachigkeit und ihrer Didaktik auseinander. Im Fokus stehen Ästhetiken, Entwicklungen, Formen und Funktionen literarischer Mehrsprachigkeit und deren Didaktisierung aus einer Perspektive heraus, die die Relevanz literarischer Mehrsprachigkeit als genuin literarische Größe und somit für die Entwicklung literarischer Kompetenz bedeutsam in den Blick nimmt. Wir orientieren uns daher an literaturdidaktischen Ansätzen, die literarische Mehrsprachigkeit in poetischen Werken ins Zentrum stellen, ihre verschiedenen Formen des Inter-, Trans- oder Heterolingualen didaktisch reflektieren und die im Werk vorhandene oder im Umgang damit zu realisierende dominanzsprachkritische Perspektive literaturdidaktisch gestalten.

Die Beiträge des Sammelbands liefern neben kritisch-theoretischen und textanalytischen auch produktive und rezeptive Zugänge. Diese sind postmigrantisch, macht- und linguizismuskritisch akzentuiert. Berücksichtigt werden unterschiedliche Gattungen und Genres, literaturhistorische Aspekte sowie Rezeptionssettings im Umgang mit literarischer Mehrsprachigkeit.

Kritisch-theoretische Zugänge liefert zum einen der Beitrag von Esther Kilchmann, die zur Theorie literarischer Mehrsprachigkeit einen strukturalistischen und poststrukturalistischen Lektüreansatz vorstellt: Auf der Grundlage von SaussureSaussure, Ferdinand des Zeichentheorie beschäftigt sie sich mit sprachkritischen Fragen der Generierung von Bedeutung und der Beziehung von Wort und Ding sowie einer poetischen, mehrsprachigen und mehrdeutigen Umgestaltung der lautbildlichen Seite des Zeichens. Literarische Mehrsprachigkeit versteht sie als poetisch selbstreflexives Verfahren, in dem die Besitzbarkeit von Sprache sowie die Festschreibung von Bedeutung aufgebrochen und „Knotenpunkte der Mehrdeutigkeit wie der kulturellen Mehrfachzugehörigkeit geschaffen“ werden.

Zum zweiten entfaltet Magdalena Kißling Verbindungslinien zwischen postkolonialer Literaturdidaktik und einer Didaktik literarischer Mehrsprachigkeit: Ausgehend vom Umgang mit einem rassistischen Sprachgebrauch, der zu einer sprachlichen Desorientierung im Literaturunterricht führen kann, plädiert sie dafür, rassistische Sprache als Varietät des Standarddeutschen und damit als Teil der inneren Mehrsprachigkeit zu lesen, um den mehrsprachigkeitsdidaktischen Ansatz zu stärken. Dazu stellt sie das Modell der Dechiffrierung rassistischer Sprache im Literaturunterricht vor, um einen distanzierten Zugang zu Sprache zu gewinnen, machtkritische Literaturzugänge zu öffnen und „Literaturbarrieren zu überwinden, die aufgrund sprachlicher Verletzung entstehen können“.

 

Die textanalytischen Zugänge greifen unterschiedliche Gattungen – vom Drama des 18. Jahrhunderts bis zum Comic – auf, fokussieren zum Teil einzelne Texte, um Formen, Wirkungen und didaktische Überlegungen bezogen auf literarische Mehrsprachigkeit aufzuzeigen.

Anna Maria Olivari liest „[I]n undeutschen Büchern“, konkret Dramen im 18. Jahrhundert. Sie orientiert ihre Untersuchung an der historischen Diversitätsforschung und zeigt damit, dass Mehrsprachigkeit und Diversität keineswegs auf gegenwärtige Literatur reduziert ist, sondern ein literaturgeschichtlich interessantes, wenn auch noch nicht ausreichend erforschtes Thema ist.

Martina Kofer analysiert affektive und kulturpolitische Dimensionen von ‚Muttersprachlichkeit‘ und Mehrsprachigkeit in drei Gegenwartstexten mit Bezug zum Thema Migration. Nach der Skizzierung des historischen Normierungsprozesses von Einsprachigkeit, der eng mit der Biologisierung, Ideologisierung und Emotionalisierung des Konstrukts ‚Muttersprache‘ verbunden ist, wirft sie einen hegemoniekritischen Blick auf sprachliche Normsetzungen. Die Konstruiertheit von ‚Muttersprachlichkeit‘ und die – daraus und aus den Bewertungen ihrer Sprachlichkeit – emotionalen Konsequenzen für die Figuren resultieren in den ausgewählten Romanen. Diese Herangehensweise bietet auch die Grundlage für ihre didaktischen Überlegungen.

Ferenc Vincze untersucht latente Mehrsprachigkeit in osteuropäischen, regionsbezogenen Romanen. Seine parallele und vergleichende Analyse offenbart den multikulturellen und mehrsprachigen Charakter dieser osteuropäischen Region, während die zahlreichen Übersetzungsszenen und die durch sie repräsentierte latente Mehrsprachigkeit auf die sprachliche Abgeschlossenheit der Region hinweisen. Er sieht in dieser Funktion latenter Mehrsprachigkeit eine transnationale Gemeinsamkeit, die er als transkulturelles Transferphänomen der dargestellten Region identifiziert.

Cornelia Zierau fächert das dominanzkritische, sprach- und diversitätssensible Potential literarischer Mehrsprachigkeit anhand aktueller, (wie sie es nennt) interkultureller Literatur auf. Dabei spielen Kulturvermittlung und Sprachreflexion eine große Rolle, so dass die aufgezeigten Formen von literarischer Mehrsprachigkeit zur „Sensibilisierung für Mehrsprachigkeit und damit zur Infragestellung eines monolingualen Habitus als dominantem Diskurs beitragen“ können.

Astrid Henning-Mohr zeigt, wie die Übersetzung als ästhetische Vielstimmigkeit fungiert und damit einer literarischen Mehrsprachlichkeit zuzuordnen ist, die sich u. a. in Grenzüberschreitungen und Hybridisierungen manifestiert und dabei ästhetische Zwischenräume und erweiterte Deutungs- und Interpretationsmöglichkeiten eröffnet. Dies exemplifiziert sie am Beispiel Luis SepúlvedaSepúlveda, Luiss Der weiße Wal erzählt seine Geschichte mit einer übersetzten Tiersprache in einem übersetzten Kinderbuch aus dem Spanischen ins Deutsche.

Lisa Rettinger analysiert die literarische Vielschichtigkeit in Lilly AxsterAxster, Lillys und Christine AebiAebi, Christines Ein bisschen wie du. A little like you. Sie beschreibt die mehrsprachige Oberfläche durch die Gestaltung der bilingualen Struktur des Bilderbuchs, die literarische Darstellung der Mehrsprachigkeit als Mischung zwischen parallelen, integrativen und translatorischen Formen, die Sprache als dynamisches System inszeniert und schließlich Sprache(n) bzw. Mehrsprachigkeit als identitäres Moment konstruiert.

Björn Laser befasst sich mit Mehrsprachigkeit in Comics, Mangas und Graphic Novels. Er zeigt Beispiele für die Präsenz einer parallelen Mehrsprachigkeit, für die Indikation, Evokation oder Subsumption der anderen Sprachen im Verhältnis zur Basissprache und der Substitution, wenn Figuren mit ihrem sprachlichen Repertoire als mehr- oder anderssprachig sichtbar bleiben.

 

Die produktiven und rezeptiven Zugänge dokumentieren Schreib- und Literaturprojekte sowie empirische Studien zum Umgang mit mehrsprachiger Literatur in unterschiedlichen Settings.

Annette Bühler-Dietrichs Projekt über die Kraft der Missverständnisse „Stille Post“ wurde 2022 im Literaturhaus Stuttgart vorgestellt. Es verfolgte das Ziel, drei deutschsprachige und drei französischsprachige Autor:innen ausgehend vom Kinderspiel Stille Post miteinander in Kontakt zu bringen. Dazu wurde ein Text immer nur bis zum/zur nächsten Autor:in weitergeleitet. Er oder sie sollte aus dem erhaltenen Text einen Impuls aufnehmen und ihn im eigenen Text weiterverarbeiten. Im Beitrag werden die entstandenen Texte und deren Umgang mit Mehrsprachigkeit vorgestellt und daran Reflexionen zu ihrem Einsatz im Unterricht angeschlossen.

Martin Kasch stellt eine Werkstatt für potentielle Mehrsprachigkeit vor und nutzt dazu das Kettengedicht „Renga“, an dem diverse Lyriker:innen mitgewirkt haben. Die dabei entstandene Vielfalt des Sprechens und der Sprachen korrespondiert mit einer Vielfalt an didaktischen Möglichkeiten, die neben analytischen auch kreative Schreibaufgaben nahelegen, um „die in Renga angelegte Zirkulation der Sprachen weiterzuführen“.

Beate Baumann befasst sich mit dem Potenzial eines sprachsensiblen Umgangs mit literarischer Mehrsprachigkeit mit DaF-Studierenden der Universität Catania im Rahmen eines germanistischen Masterkurses. Die Grundlage bildet eine Auseinandersetzung mit Auszügen aus Nava EbrahimiEbrahimi, Navas Roman Sechzehn Wörter (2019) in Hinblick auf den Umgang mit Mehrsprachigkeit und sprachlicher Uneindeutigkeit, auch in Verbindung mit Übersetzungsaktivitäten, sprach- und kulturreflexiven sowie (kritischen) Bewusstwerdungsprozessen. Dies zeigte sich als große Herausforderung zum Beispiel auch hinsichtlich eurozentrisch geprägter Perspektiven und ihrer (selbst)kritischen Reflexion.

Svetlana Vishek untersucht die Rezeption von parallel deutsch-russischen Bilderbüchern in drei deutsch-russischsprachigen Familien. Es zeigt sich, dass ein parallel mehrsprachiges Bilderbuch neue Möglichkeiten für die sprachliche Gestaltung von Vorlesesituationen in mehrsprachigen Familien eröffnet und Gespräche über die Vorlesesprache provoziert. Allerdings scheint die sprachliche Parallelität auch Langeweile auszulösen und eine weitere Studie mit integrativ mehrsprachigen Bilderbüchern nahezulegen.

Esa Hartmann nutzt Tomi Ungerers Bilderbuchgeschichten als digitale Transmedia-Kreation für ein translinguales und multimodales Storytelling mit zweisprachigen Lehramtsstudierenden im Elsass. Ihre kreative Aktionsforschung kombiniert den literarischen Ansatz der Bilderbuchforschung und den performativen Ansatz der Sprachdidaktik. Das Ergebnis des deutsch-französischen Storytelling-Workshops zeigt die Entfaltung ihrer kreativen Kompetenzen für die spätere Lehrtätigkeit der Studierenden in multilingualen Lerngruppen.

Abderrahim Trebak befasst sich mit der Stilistik und der Rhetorik der literarischen Mehrsprachigkeit am Beispiel der Übersetzung arabischer Gedichte ins Deutsche und ihrer Rolle in der universitären Didaktik des Arabischen. Anhand verschiedener Übersetzungsmethoden werden die Probleme der ästhetischen Übersetzung von Redensarten, Wortspielen und Stilmitteln beleuchtet.

 

An dieser Stelle danken wir allen Beteiligten für ihre Unterstützung im Entstehungsprozess des Sammelbandes, allen voran den Autor:innen, die ihn durch ihre Beiträge ermöglicht haben. Unser besonderer Dank gilt Frau Dr. Carmen Preißinger für ihre präzise redaktionelle Begleitung. Für die Erstellung des Personenregisters im Band möchten wir Frau Laura Lehmann unseren Dank aussprechen. Ebenfalls möchten wir dem Narr Francke Attempto Verlag und im Besonderen Herrn Tillmann Bub für die angenehme Zusammenarbeit danken.

Wir sind zuversichtlich, dass dieser Sammelband mit seinen vielfältigen Perspektiven zur Weiterentwicklung der Diskussion um literarische Mehrsprachigkeit und ihre Didaktik beiträgt.

Literatur

Filsinger, Ute/Bauer, Susanne (2021). „Gebrochenesdeutschsprachigesraum“ als sprachlichliterarischer Lernraum. Zur Gestaltung von Migrationsmehrsprachigkeit in (Jugend-)Literatur zu Flucht und Migration. In: Titelbach, Ulrike (Hrsg.). Mehr Sprachigkeit. Unterrichtsvorschläge für die Arbeit mit mehrsprachiger Literatur in der Sekundarstufe (Kinder- und Jugendliteratur im Sprachenunterricht, Band 7). Wien: Praesens Verlag, 69–97.

Grimm, Lea (2017). Didaktische Potenziale mehrsprachiger Literatur. In: Scherf, Daniel (Hrsg.). Inszenierung literalen Lernens: kulturelle Anforderungen und individueller Kompetenzerwerb. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren, 170–179 .

Kilchmann, Esther (2012). Mehrsprachigkeit und deutsche Literatur. Zur Einführung. Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 3 (2), 11–19.

Kofer, Martina (2023). Literarische Mehrsprachigkeitsdidaktik. Potenziale für einen integrativen Deutschunterricht. In: Thielking, Sigrid/Hofmann, Michael/Esau, Miriam (Hrsg.). Neue Perspektiven einer kulturwissenschaftlich orientierten Literaturdidaktik. Würzburg: Königshausen & Neumann, 215–230.

Kunz, Lydia (2018). Kirsten Boie: Bestimmt wird alles gut. Ein Unterrichtsmodell für die Klasse 3 und 4. https://www.dtv.de/_files_media/downloads/unterrichtsmodell-bestimmt- wird-alles-gut-71802-1052.pdf (Letzter Zugriff: 09.05.2021)

Nagy, Hajnalka (2018). Literarität und Literarizität in der Migrationsgesellschaft. Mehrsprachige (Kinder- und Jugend-)Literatur für einen sprachaufmerksamen und dominanzkritischen Unterricht. leseforum.ch (2), 1–16. https://www.leseforum.ch/sysModules/obxLeseforum/Artikel/625/2018_2_de_nagy.pdf (Letzter Zugriff: 31.10.2023).

Oomen-Welke, Ingelore (2010). Der Sprachenfächer. Materialien für den interkulturellen Deutschunterricht in der Sek I. Berlin: Cornelsen.

Rösch, Heidi (2021). Literature und Language Awareness (LitLA). In: Titelbach, Ulrike (Hrsg.). Mehr Sprachigkeit. Unterrichtsvorschläge für die Arbeit mit mehrsprachiger Literatur in der Sekundarstufe (Kinder- und Jugendliteratur im Sprachenunterricht, Band 7). Wien: Praesens Verlag, 17–40.

Stockhammer, Robert (2015). Wie Deutsch ist es? Glottamimetische, -diegetische, -pithanone, und -aporetische Verfahren in der Literatur. Arcadia 50 (1), 146–172.

Titelbach, Ulrike (Hrsg.) (2021). Mehr Sprachigkeit. Unterrichtsvorschläge für die Arbeit mit mehrsprachiger Literatur in der Sekundarstufe (Kinder- und Jugendliteratur im Sprachenunterricht, Band 7). Wien: Praesens Verlag.

Wizany, Thomas (2021). Leyla vor Sonnenaufgang. Ethnolekt und Dialekt im mehrsprachigen Literaturunterricht. In: Titelbach, Ulrike (Hrsg.). Mehr Sprachigkeit. Unterrichtsvorschläge für die Arbeit mit mehrsprachiger Literatur in der Sekundarstufe (Kinder- und Jugendliteratur im Sprachenunterricht, Band 7). Wien: Praesens Verlag, 117–138.

Kritisch-theoretische Zugänge

Zur Theorie literarischer Mehrsprachigkeit: Für einen strukturalistischen und poststrukturalistischen Lektüreansatz

Esther Kilchmann

Abstract:

This article presents a coherent approach to literary theory-based research on literary multilingualism that is distinct from linguistically based models of interpretation. In critical engagement with existing research, a new definition of literary multilingualism is proposed. Through the discussion of relevant theories by Ferdinand de SaussureSaussure, Ferdinand de, Roman JakobsonJakobson, Roman, and finally Jacques DerridaDerrida, Jacques, it is argued that literary multilingualism always means a literary shaping of the signifier and thus a programmatically aesthetic shaping of extra-literary multilingualism.

Keywords:

Literarische Mehrsprachigkeit, Literaturtheorie, Strukturalismus, Formalismus, Poststrukturalismus

Literarische Mehrsprachigkeit lässt sich definieren als Umgang der Literatur mit der Vielfalt der Sprache und insbesondere mit ihren kulturhistorisch bedingten Manifestationen in den linguistischen Subsystemen von Nationalsprachen, Soziolekten und Dialekten. Darunter fällt in der auf Georg KremnitzKremnitz, Georg (2015) zurückgehenden Einteilung sowohl die aktive literarische Verarbeitung und kreative Gestaltung existierender Sprachvielfalt in Gestalt von textinternen Sprachwechseln und -mischungen als auch der Einfluss außerliterarischer linguistischer Gegebenheiten wie Sprachbiografie, regionale Sprachsituation, Sprachpolitiken und -normierungen auf das Literaturschaffen. Aus dieser hier bewusst weit formulierten Definition wird zugleich ersichtlich, dass der Bezug von Literatur zu Mehrsprachigkeit erstens im Grunde ebenso umfassend ist wie jener zu Sprache überhaupt, und dass zweitens literarische Mehrsprachigkeit als Forschungsgegenstand am Schnittpunkt unterschiedlicher Disziplinen zu lokalisieren ist. Dazu gehören Soziolinguistik und Sprachgeschichte, insofern literarische Mehrsprachigkeit immer auch in vielfältigem Austausch mit historisch-kulturellen linguistischen Prozessen und Situationen steht; Literaturwissenschaft, weil die literarische Verarbeitung von Mehrsprachigkeit immer mehr als eine bloß mimetische Abbildung soziolinguistischer Gegebenheiten ist und eigenen Regeln narrativer, stilistischer, rhetorischer und intertextueller Verfahren folgt, wobei sie regellos sein kann, weil literarische Mehrsprachigkeit immer Teil genuin literarischer Spracharbeit und deren Streben nach neuen Ausdrucksweisen ist; Kulturwissenschaft, weil die literarische Spracharbeit wiederum nicht losgelöst von ihren jeweiligen sozialen und politischen Kontexten stattfindet, ohne freilich ganz darin aufzugehen. Hinzu kommen didaktisch, psychologisch und soziologisch ausgerichtete Interessen an literarischer Mehrsprachigkeit. Entsprechend ist ihre bisherige Erforschung insgesamt durch ein interdisziplinäres Prisma und die damit verbundene Methodenpluralität gekennzeichnet. Ohne an dieser Stelle eine detailliertere Forschungsdiskussion leisten zu können, lässt sich die gegenwärtige literarische Mehrsprachigkeitsforschung mit Fokus auf ihre Methoden wie folgt umreißen: In den Studien aus dem angloamerikanischen Kontext, namentlich von Yasemin YıldızYıldız, Yasemin (2012) und David GramlingGramling, David (2016; 2021), dominiert ein den Cultural Studies verpflichteter Ansatz, der literarische Mehrsprachigkeit aus aktueller gesellschaftskritischer Perspektive im Kontext von Identitätszuweisungen und kulturellen Machtstrukturen interpretiert und ihre historische Verwobenheit in Konstruktionen nationaler Zugehörigkeit, in kulturelle In- und Exklusionsprozesse untersucht. Im deutschsprachigen Kontext ist eine Schwerpunktsetzung auf kulturellen, sozialen und linguistischen Rahmenbedingungen literarischer Mehrsprachigkeit zu beobachten, wie im von Till DembeckDembeck, Till und Rolf ParrParr, Rolf (2017) herausgegebenen Handbuch, was auf methodischer Ebene eine Orientierung an linguistischen und sprachhistorischen Konzepten begünstigt.1 Hinzu kommt die Erarbeitung von Typologien von unterschiedlichen Formen, Funktionen und Techniken mehrsprachigen Schreibens, wie sie jüngst von Natalia Blum-BarthBlum-Barth, Natalia (2021) vorgelegt wurde. Zu erwähnen ist ferner DembeckDembeck, Tills (2014) Konzept der „Mehrsprachigkeitsphilologie“, das davon ausgeht, dass ein Text nie einsprachig ist, sondern immer schon in einem vielsprachigen Geflecht von intertextuellen und interkulturellen Einflüssen entsteht, die es sichtbar zu machen gilt. Neben diesen für die literarische Mehrsprachigkeitsforschung allesamt wegweisenden Arbeiten wird das Feld von Einzelstudien zu Texten aus regional-historisch mehrsprachigen Räumen und im Kontext von Migration beherrscht (siehe u. a. Schmeling/Schmitz-Emans 2002; Helmich 2016; Leben 2019; Siller/Vlasta 2020, die sich teils an den genannten Ansätzen orientieren, teils eigene Terminologien vorschlagen, sodass das Feld sich nicht nur hinsichtlich der bearbeiteten Gegenstände, sondern auch der methodisch-theoretischen Ansätze als dynamisch oder, je nach Blickweise, unübersichtlich präsentiert. Dass im sich gegenwärtig konsolidierenden und ausdifferenzierenden Feld der literarischen Mehrsprachigkeitsforschung bislang kein einheitlicher Untersuchungsansatz durchgesetzt werden konnte, muss allerdings nicht unbedingt als zu beseitigendes Manko wahrgenommen werden. Vielmehr lässt es sich als Hinweis darauf lesen, dass der Untersuchungsgegenstand der literarischen Mehrsprachigkeit selbst spezifische Schwierigkeiten auf methodisch-theoretischer Ebene aufwirft. Sie entstehen daraus, dass sich einerseits allein durch die Aufmerksamkeit für den poetischen Umgang mit unterschiedlichen nationalen Sprachen eine große Nähe zu einem letztlich linguistisch fundierten Konzept von Mehrsprachigkeit ergibt, andererseits aber der literarische Text ja gerade dadurch gekennzeichnet ist, dass er von der Alltagssprache abweicht und sich der linguistischen Bestimmung so immer wieder entzieht (siehe Betten et al. 2017). Mit anderen Worten entwickelt jeder wahrhaft poetische Text sein eigenes Idiom, das Ähnlichkeiten zur Alltagssprache simulieren kann, deren Regelhaftigkeit (die soziolinguistische Forschung ja auch in kontaktsprachlichen Phänomenen nachweist) er aber auch beliebig brechen und neu erfinden kann (siehe Stockhammer et al. 2007). Damit haben wir gewissermaßen die Skylla und Charibdis literarischer Mehrsprachigkeitsforschung vor uns. Mehrsprachigkeit in der Literatur hauptsächlich unter Kriterien historisch-regionalen Sprachgebrauchs, kulturellen Sprachnormierungen und kontaktsprachlicher Modelle von Codeswitching bis translanguaging zu begreifen, macht sie letztlich zu einem Untergebiet der Soziolinguistik. Ein solcher Ansatz läuft Gefahr, die damit verbundenen narrativen Kunstgriffe und stilistisch-rhetorischen Überformungen aus dem Blick zu verlieren oder bestenfalls als Nebeneffekt zu bemerken. Literarische Mehrsprachigkeit auf der anderen Seite ausschließlich als Teil narrativer und poetischer Verfahren – etwa als Sprachspiel oder realitätserzeugenden Effekt in der Figurenrede – textimmanent zu betrachten, würde ihrer zu Recht von der Forschung betonten kultursemiotischen und politischen Dimension (siehe u. a. Sturm-Trigonakis 2007; Yildiz 2012; Dembeck 2017) nicht gerecht und wiese Mehrsprachigkeit als Unterkategorie rhetorisch-stilistischer Figuren ein Nischendasein zu. Dies gilt auch für ihre Subsumierung unter dem weiten Konzept der Intertextualität.

Das Gros der gegenwärtigen Forschung ist sich dieser Pole bewusst und versucht mit eigenen Segelsetzungen einigermaßen unbeschadet hindurch zu navigieren. Wenn es allerdings darum geht, nicht allein einzelne Erscheinungen literarischer Mehrsprachigkeit zu untersuchen, sondern übergreifend nach ihrer spezifischen Ästhetik zu fragen, ist dieses bestehende methodisch-theoretische ‚Sowohl-als-auch‘ letztlich unbefriedigend. Im Folgenden möchte ich deshalb den Vorschlag unterbreiten, von der Austarierung linguistischer und literaturwissenschaftlicher methodischer Ansätze Abstand zu gewinnen und stattdessen theoretische Grundlagenarbeit für die literarische Mehrsprachigkeitsforschung zu leisten. Dies erfordert eine Rekursion auf die Basis moderner Sprach- wie Literaturtheorie im Strukturalismus und ihre Fortentwicklung in Formalismus und Poststrukturalismus. Aufgegriffen wird deshalb zunächst das auf Ferdinand de SaussureSaussure, Ferdinand de zurückgehende Konzept der Sprache, das dem Begriff der Mehrsprachigkeit, definiert als Koexistenz mehrerer zählbarer Sprachsysteme (langues) unter dem Dach menschlichen Sprachvermögens (language) (Coulmas 2018: 26), zu Grunde liegt. Anschließend an meine bisherigen Arbeiten (Kilchmann 2012; 2016) soll so ein Lektüreansatz für literarische Mehrsprachigkeit vorgestellt werden, der sie grundsätzlich nicht als Sonderfall (relevant in spezifischen sozio-kulturellen Kontexten wie Migration, Minoritäten oder der DaF/DaZ-Didaktik) begreift, sondern als integralen Teil von Sprache und somit auch ihrer literarischen Gestaltung und der Generierung von Bedeutung über Differenzverhältnisse. Nicht zuletzt zeigt sich dabei jene genuin sprachkritische bzw. -philosophische Dimension von Mehrsprachigkeit, auf die bereits Dieter HeimböckelHeimböckel, Dieter (2013) und Arvi SerppSerpp, Arvi (2017) hinweisen.

1 Mehrsprachigkeit und die Arbitrarität des Zeichens bei Ferdinand de Saussure

Ferdinand de SaussureSaussure, Ferdinand des Cours de linguistique générale ist für den Komplex der Mehrsprachigkeit deshalb von grundlegender Bedeutung, weil er eine Sprachtheorie vorlegt, die eine Unterscheidung von Ein- und Mehrsprachigkeit aufgrund der Annahme der Existenz einheitlicher und voneinander klar abgrenzbarer und deshalb zählbarer Sprachen befestigt (siehe Stockhammer et al. 2007). In der kategorialen Unterscheidung von langage, langue und parole wird das Sprachsystem, la langue, zur „Bezugsgröße für alle anderen Erscheinungsformen von Sprache“ (Saussure 2014: 61).1 In der langue wird die allgemeine menschliche Sprachfähigkeit (langage) realisiert in Gestalt eines konkreten, durch soziale Konvention gebildeten Systems von Zeichen, der dann auch die parole als Sprechen des/der Einzelnen untergeordnet ist. Nun setzt SaussureSaussure, Ferdinand delangue selbstverständlich nirgends mit Standard- oder Nationalsprache gleich. Gleichwohl aber lässt sich folgern, dass die einzelne Nationalsprache eine historisch entstandene Formation der langue darstellt, da in ihr eine soziale Übereinkunft zur Verwendung bestimmter Zeichen für bestimmte Gegenstände besteht, die die Sprecher:innen zum Zweck der Kommunikation nutzen (siehe Kremnitz 1997). Die linguistische Mehrsprachigkeitsforschung hat diese Annahme einer Zählbarkeit und eindeutigen Abgrenzbarkeit von Sprachen durch die Erforschung kontaktsprachlicher Phänomene wie translanguaging längst in Frage gestellt (García/Wei 2014; Coulmas 2018). Auf das Modell SaussureSaussure, Ferdinand des zurückbezogen lässt sich argumentieren, dass (sowohl alltagssprachliche als auch literarische) Formen von Sprachwechseln und -mischungen zeigen, dass sich weder die allgemeine Sprachfähigkeit des Menschen (langage) noch die individuelle parole ausschließlich in vorgeformten Sprachsystemen (langue) realisieren muss, sondern sich gerade auch in vielfältigen Verschiebungen und Veränderungen derselben niederschlägt. Gerade mehrsprachige Literatur – im Grunde aber Literatur überhaupt – mit ihrem Streben nach immer neuen Ausdrucksformen widerlegt so SaussureSaussure, Ferdinand des (2014: 109) Annahme, dass niemand ein Interesse an einer Durchbrechung der von der Sprachgemeinschaft gesetzten Grenzen habe, da „jedes Volk […] im allgemeinen mit der Sprache zufrieden [ist], die es hat.“ Während der Fokus auf mehrsprachige Phänomene hier dazu geeignet ist, ein sprachtheoretisches Modell zu kritisieren, ist bislang weitgehend unbeachtet geblieben, dass Saussure selbst Mehrsprachigkeit – und, das sei hier nur beiläufig erwähnt, seine deutsch-französische Bilingualität – nutzt, um zentrale theoretische Einsichten seines Sprach- und Zeichenbegriffs zu formulieren. Im Cours de linguistique générale taucht Mehrsprachigkeit zwar nur am Rande auf, interessanterweise allerdings dort, wo die Beschaffenheit des Signifikanten ausgeführt und erörtert wird, wie dieser in seiner opaken Lautbildlichkeit in das System der Sprache als bedeutungsstiftend eingebunden ist. Saussure geht dabei zunächst auf die physikalischen Grundlagen von Sprache ein. Sie werden als Übermittlung von „Schallwellen vom Mund von A zum Ohr von B“ (Saussure 2014: 63) beschrieben, begleitet vom psychischen Prozess der Assoziation eines Lautbildes mit einem entsprechenden Konzept. Letzteres gelingt allerdings nur unter Sprecher:innen, die der gleichen Sprache mächtig sind. Anderenfalls bleibt Sprechen und Hören ein rein physikalischer Akt, in dem lediglich unverständliche Laute ausgetauscht werden: „Wenn wir eine Sprache hören, die wir nicht kennen, nehmen wir sehr wohl die Laute wahr, aber aufgrund unseres Unverständnisses bleiben wir vom sozialen Ereignis ausgeschlossen“ (ebd.: 65). Damit wird bereits im CLG die Wahrnehmung einer fremden Sprache mit der ihrer erhöhten lautbildlichen Seite bei gleichzeitigem Schwinden des kommunikativen Nutzens enggeführt. Untersuchungen von Seiten der Fremdsprachendidaktik haben inzwischen einen entsprechenden Zusammenhang mit Blick auf Spracherwerb und language awareness bestätigt: In der fremden Sprache fallen Steffi MorkötterMorkötter, Steffi (2005) zufolge Laut- und Schriftbilder, aber auch wörtliche Bedeutungen idiomatischer Wendungen stärker ins Auge. Der Blick auf Sprachvielfalt dient SaussureSaussure, Ferdinand de aber nicht nur dazu, seine grundlegende Unterscheidung von Lautbildlichkeit und Bedeutung darzulegen, auch für seine zentrale These von der Arbitrarität des Zeichens wird die Existenz verschiedener Sprachen als Beweis angeführt:

Die Idee von ‚soeur‘ (‚Schwester‘) ist durch keine innere Beziehung an die Lautfolge s-ö-r gebunden, die ihr als Signifikant dient; sie könnte auch durch irgendeine andere wiedergegeben werden; das beweisen schon die Unterschiede zwischen den Sprachen und selbst die Existenz von verschiedenen Sprachen: Das Signifikat ‚boeuf‘ (‚Ochse‘) hat auf der einen Seite der Sprachgrenze b-ö-f zum Signifikanten, auf der anderen o-k-s. (Saussure 2014: 106, Hv. i. O.)

Mehrsprachigkeit führt so nicht nur die Binarität des Zeichens, sondern auch seine Arbitrarität vor Augen. Ihr gegenüber erhält die Sprachgemeinschaft die Funktion, die Herstellung von Bedeutung zu konventionalisieren und zu regulieren und so die symbolische Ordnung zu erstellen und aufrechtzuerhalten. In der Funktion als Wächterin über sprachliche Konventionen erscheint sie als eine Art Zwangsgemeinschaft. SaussureSaussure, Ferdinand de (ebd.: 108) zufolge beschneidet die Gemeinschaft der Sprecher:innen einer nationalen Sprache die in der Arbitrarität des Lautbildes eigentlich angelegte Freiheit rigoros und ordnet sich Signifikanten wie Individuen unter. Die Wahrnehmung des Signifikanten in seiner Dinglichkeit muss dabei hinter seine feste Bindung an ein bestimmtes Signifikat zurücktreten. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass nach SaussureSaussure, Ferdinand de eine Sprachgemeinschaft die Sprache (langue) als System zur möglichst eindeutigen Bedeutungsgenerierung verstärkt, während die Konfrontation mit anderen Sprachen gerade die Arbitrarität und lautbildliche Beschaffenheit des Signifikanten hervorhebt. In mehrsprachigen Konstellationen wird so sichtbar, dass der Signifikant nicht restlos im Signifizierten aufgeht und so die langue auf die langage als allen Menschen gemeinsame Fähigkeit zur Lautproduktion hin wie auf die parole als Rede des Einzelnen öffnet. Diese Erkenntnis stellt im CLG eine Art Nebenprodukt von SaussureSaussure, Ferdinand des Theorie der Binarität und Arbitrarität des Zeichens dar, das sich aber für die literarische Mehrsprachigkeitsforschung nutzen lässt. Zunächst lässt sich damit der bereits erwähnte Zusammenhang von Mehrsprachigkeit und Sprachbewusstheit aus der strukturalistischen Theorie heraus belegen. Überdies kann damit aber auch die These einer spezifischen Ästhetik literarischer Mehrsprachigkeit weiter untermauert werden, weil nach SaussureSaussure, Ferdinand de gerade in Sprachwechsel und -mischung jene dingliche und mehrdeutige lautbildliche Seite des Zeichens betont wird, über die wiederum Poetizität erzeugt wird.

2 Mehrsprachigkeit und Poetizität im Formalismus und bei Roman Jakobson

Die Frage nach der Poetizität, nach der theoretischen Erfassbarkeit literatursprachlicher Ästhetik, steht im Zentrum des zeitgleich mit SaussureSaussure, Ferdinand des Zeichentheorie entstandenen Formalismus. Seine methodisch-theoretischen Ansätze sind für die literarische Mehrsprachigkeitsforschung nicht nur deshalb von großer Wichtigkeit, weil sie linguistische mit literaturwissenschaftlichen Fragestellungen verbinden, sondern auch, weil darin die literarische Sprache in ihren Abweichungen von alltagssprachlichen Normen, in ihrer Materialität und Ästhetizität fokussiert wird (siehe Hansen-Löve 1978). Wie im Folgenden zu zeigen sein wird, stellen insbesondere die Konzepte der Verfremdung, Abweichung und Poetizität ein griffiges Instrumentarium zur Untersuchung der ästhetischen Gestaltung von Mehrsprachigkeit dar, insofern sie literarische Sprachmischung als spezifischen Kunstgriff fassbar machen.

In seiner grundlegenden Untersuchung „Kunst als Kunstgriff“ formuliert Viktor ŠklovskijŠklovskij, Viktor 1917 die These, dass Kunst und Literatur den schleichenden Prozess der Automatisation in der Wahrnehmung von Wirklichkeit unterbrechen sollen. Ihre Aufgabe sei es, „die Wahrnehmung des Lebens wiederherzustellen, die Dinge fühlbar, den Stein steinig zu machen“ (Šklovskij 1984: 13). Dies könne durch das Verfahren der Verfremdung und der Komplizierung der Form bewirkt werden. Bei der Verfremdung gehe es darum, „die Dinge nicht beim Namen“ (ebd.: 22) zu nennen, was durch den Einsatz rhetorischer Figuren erreicht werde. Aber auch textinterne Mehrsprachigkeit erzeuge, wie Harald FrickeFricke, Harald (1981: 32) und Elke Sturm-TrigonakisSturm-Trigonakis, Elke (2007: 154) betonen, einen Effekt der Verfremdung, insofern darin von der im einzelsprachlichen Zusammenhang erwarteten und automatisierten Bezeichnung abgewichen wird. Bereits ŠklovskijŠklovskij, Viktor (1984: 13) stellt eine Strukturähnlichkeit zwischen der poetischen Sprache, die die Wahrnehmung vom Automatismus befreit, und einer fremden Sprache fest: „Nach AristotelesAristoteles soll sie [= die dichterische Sprache, EK] fremdartig und überraschend wirken; in der Praxis ist sie oft eine fremde Sprache“. Das Zitat bezieht sich auf Aristotelesʼ Poetik (1982: 71), in der „fremdartige Ausdrücke“ als dichterische Mittel begriffen werden:

Die sprachliche Form ist erhaben und vermeidet das Gewöhnliche, wenn sie fremdartige Ausdrücke verwendet. Als fremdartig bezeichne ich die Glosse, die Metapher, die Erweiterung und überhaupt alles, was nicht üblicher Ausdruck ist.

Während AristotelesAristoteles unter „fremdartigen Ausdrücken“ rhetorische Figuren versteht, erweitert Šklovskij die poetischen Mittel der Verfremdung explizit um die Mehrsprachigkeit und überblendet die ‚Fremdartigkeit‘ der poetischen Sprache mit der Verwendung fremder Sprachen. So führt er als Beispiele poetischer Praxis das Sumerische bei den Assyrern, das Lateinische des Mittelalters und die Arabismen in der persischen Literatur ebenso an wie den in der russischen Literatur gebräuchlichen Wechsel zwischen Schriftsprache, Dialekten und Französisch. ŠklovskijŠklovskij, Viktor (1984: 23) zufolge ist die Sprachmischung somit ein „besondere[r] Kunstgriff, um die Aufmerksamkeit zu fesseln“. Die Verwendung schwer oder nicht verständlicher Sprachen trage dazu bei, eine „schwierige, bewußt gehemmte, gebremste Sprache“ (ebd.) zu erzeugen, die wiederum konstitutiv für die Dichtung überhaupt sei.

Insgesamt lässt sich festhalten, dass das Interesse des Formalismus an der Mehrsprachigkeit ein doppeltes ist: Einmal wird textinterne Mehrsprachigkeit als Mittel zur Erzeugung von Verfremdung und Abweichung begriffen und somit als ein künstlerisches Verfahren angesehen, durch das der Effekt einer Entautomatisation von Wahrnehmung erzielt wird und so scheinbar bekannte Dinge und Sachverhalte neu gesehen werden können. Zum anderen wird die dichterische Sprache selbst mit einer fremden Sprache verglichen, insofern sie von der Alltagssprache abweicht und ungewohnte Ausdrücke findet. Ins Zentrum rücken dabei die Gestaltung des Signifikanten und seine Dinglichkeit.

Eben hier setzt Roman JakobsonJakobson, Romans Konzept der „poetischen Funktion“ an, das er im Anschluss an SaussureSaussure, Ferdinand de und den Formalismus entwickelt. In seinem Aufsatz Was ist Poesie? von 1934 betont er die „Eigengesetzlichkeit des Wortes“ und die „Autonomie der ästhetischen Funktion“ (Jakobson 1979a: 78), die in der Dichtung zu Tage trete. Poetizität manifestiere sich dadurch, „daß das Wort als Wort und nicht als bloßer Repräsentant des benannten Objektes oder als Gefühlsausbruch empfunden wird“ (ebd.: 79). Mithin geht es hier um ein selbstreferentielles Moment, in dem das Wort jenseits seiner Benennungsfunktion in seiner (schriftlichen und lautlichen) Materialität wahrnehmbar wird und eben dadurch die automatisierte Wahrnehmung von Wirklichkeit durchbrechen und das „Realitätsbewusstsein“ (ebd.) befördern kann. In Linguistik und Poetik (1960) wird die Frage nach der Poetizität wieder aufgegriffen und in die Bestimmung der sechs sprachlichen Funktionen integriert. Hier ist es die „poetische Funktion“, die die „Spürbarkeit der Zeichen“ (Jakobson 1979b: 93) vermittelt und damit auch die „fundamentale Dichotomie der Zeichen und Objekte“ (ebd.). Diese poetische Funktion spielt in allen sprachlichen Tätigkeiten eine Rolle, ist aber in der Dichtung vorherrschend und strukturbestimmend, insofern sie hier – so JakobsonJakobson, Romans (ebd.: 94) zentrale These – „das Prinzip der Äquivalenz von der Achse der Selektion auf die Achse der Kombination [projiziert]“. Bezüglich des Verfahrens der textinternen Mehrsprachigkeit nun lässt sich festhalten, dass gerade darüber, dass ein Wort als anderssprachig aus dem umgebenden Text hervorgehoben wird, die Aufmerksamkeit auf seine lautbildliche Erscheinungsform gelenkt wird. Erst dann wird es, je nachdem, wie vertraut die Leser:innen mit dem Idiom sind, auf seine Bedeutung hin transparent oder bleibt opak. Dieser Effekt darf insofern als ein poetischer nach JakobsonJakobson, Roman (1979a: 79) gelten, als dabei das Augenmerk auf den Signifikanten gerichtet wird und „das Wort als Wort“ hervortritt. Jurij LotmanLotman, Jurij (1975: 160) vergleicht in diesem Sinne das fremde Wort mit einem „Fremdkörper, der in eine gesättigte Lösung fällt, den Ausfall von Kristallen hervorruft, das heißt die Struktur des Lösungsmittels zum Vorschein bringt.“ Durch den selbstreferentiellen Verweis auf seine Sprachlichkeit macht das fremde Wort mithin auch den medialen Charakter des gesamten Textes kenntlich. Mehrsprachigkeit kann somit als eine Möglichkeit gelten, die poetische Wirkung eines Textes zu intensivieren. Jakobson (1979a: 68) selbst deutet eine solche Lesart der Funktion von Mehrsprachigkeit bezüglich der Erzeugung von Poetizität an, wenn er fragt: „Wie weit wäre die Befreiung der russischen Schriftsprache wohl gediehen, wenn nicht der Ukrainer GogolGogol, Nikolai Wassiljewitsch gekommen wäre?“ Im Anschluss an die Verbindung von Mehrsprachigkeit mit der Wahrnehmung der Binarität und Arbitrartiät und des Zeichens bei SaussureSaussure, Ferdinand de wird in der Theorie der Formalisten und Roman JakobsonJakobson, Romans literarische Mehrsprachigkeit als ästhetisches Verfahren der Abweichung, Verfremdung und Erzeugung von Mehrdeutigkeit sowie der Hervorhebung sprachlicher Dinglichkeit und somit von Poetizität überhaupt lesbar.

3 Poststrukturalistische Zugänge zur literarischen Mehrsprachigkeit

In den untersuchten Theorien strukturalistischer Provenienz zeigte sich, dass mit der Diskussion insbesondere von textinterner Mehrsprachigkeit Fragen der poetischen Materialität und Mehrdeutigkeit verbunden sind. Damit verbunden ist die Frage, inwiefern ästhetische Verfahren die eindeutigen Zuweisungen von Signifikant und Signifikat lockern können. Abschließend soll nun diskutiert werden, inwiefern ein poststrukturalistischer Ansatz zur Lektüre literarischer Mehrsprachigkeit hinzugezogen werden kann, der gerade am Signifikanten als Ausgang mehrdeutiger Bedeutungsgenerierung ansetzt. Dies bedeutet einmal mehr, theoretische Ansätze zur Erfassung literarischer Mehrsprachigkeit aus übergreifender Sprachtheorie bzw. -philosophie herzuleiten. Denn auch in den Schriften des linguistic turns mit ihrer zentralen Frage nach der Verfasstheit und Struktur von Sprache überhaupt spielt die Frage nach der Bedeutung der einzelnen Sprachen bzw. ihres Verhältnisses untereinander kaum eine Rolle. Trotzdem enthalten insbesondere die sprachphilosophischen Schriften Jacques DerridaDerrida, Jacquess vielfältige Ansatzpunkte für die Reflexion der Konstellation der Mehrsprachigkeit und der einzelnen Sprachen unter dem Gesichtspunkt umfassender Sprachkritik, die bislang vor allem mit Blick auf die Abhandlung Le monolinguisme de l’autre, dt. Die Einsprachigkeit des Anderen gewürdigt wurden. Bereits vor dem Hintergrund seines Grundlagenwerkes Grammatologie werden mehrsprachige Verfahren als Dekonstruktion der für die westliche Moderne prägenden monolingualen Sprach- und Textordnung lesbar. DerridaDerrida, Jacques sieht gerade das Konzept der Muttersprache in der philosophischen Tradition der Schriftabwertung und der Hypostasierung des ‚lebendigen Wortes‘ verankert und somit als wesentlichen Teil des von ihm kritisierten Phonologozentrismus:

Warum sollte die Muttersprache keine Geschichte haben oder, was auf dasselbe hinausläuft, ihre eigene Geschichte auf vollkommen natürliche, autistische Weise im eigenen Haus hervorbringen, ohne je von einem Draußen affiziert zu werden? (Derrida 1974: 73)

Entgegen dieser Vorstellung der Natürlichkeit, Ahistorizität und Mündlichkeit von Sprache wird von DerridaDerrida, Jacques bekanntlich deren Verfasstheit als écriture, als Schrift, postuliert. Ersetzt werden soll damit ein vorherrschendes Verständnis von Sprache, in dem diese als natürlich und von äußeren Einflüssen und Vermittlungsprozessen untangiert verstanden wird. Ordnet DerridaDerrida, Jacques im obigen Zitat das kulturelle Konzept der Muttersprache dem zu dekonstruierenden Phonologozentrismus zu, so sind es umgekehrt künstliche Sprachen und experimentelle poetische Verfahren, mit denen er sein Argument veranschaulichen kann, dass das sprachliche Medium kein vollkommen auf die Dinge hin transparentes ist und dass es als Schrift begriffen werden sollte (ebd.: 167). Daran anschließend lassen sich auch die die monolingualen abendländischen Textordnungen durchkreuzenden Verfahren literarischer Mehrsprachigkeit als Kritik am Phonologozentrismus verstehen. Mit DerridaDerrida, Jacques wird darin eine Form der Bewegung in der Sprache erkennbar, durch die diese von ihrem vermeintlich festen und eindeutigen Signifikatsbezug gelöst wird. Das „Spiel aufeinander verweisender Signifikanten […], welches die Sprache konstituiert“ (ebd.: 16) wird gerade in der ästhetischen Eigendynamik mehrsprachiger Texte offensichtlich, in denen Signifikanten über nationalsprachlich normierte Grenzen hinweg auf poetischer Ebene miteinander korrespondieren. Literarische Mehrsprachigkeit generiert so eine erhöhte Einsicht in die Funktionsweise von Sprache überhaupt und kann deshalb selbst als Instrument eines dekonstruktiven Lektüreverfahrens gelten, das der monolingualen Norm Alterität und Heterogenität einschreibt.

Der Frage nach der Einsprachigkeit und der eigenen Sprache bzw. der Sprache des Anderen im Kontext seiner Sprachtheorie wie seiner biografischen Erfahrung geht DerridaDerrida, Jacques bekanntlich in seinem 1996 erschienen Essay Le monolinguisme de l’autre ou la prothèse d‘origine nach. Ausgegangen wird darin von dem widersprüchlichen Befund: „Ich habe nur eine Sprache, und die ist nicht die meinige / die gehört nicht mir“ (Derrida 2003: 11). In der spezifischen biografisch-historischen Konstellation tritt erneut DerridaDerrida, Jacquess sprachphilosophische Grundannahme zu Tage, die Expatriierung und Fortbewegung als wesentlich für Sprache (bzw. écriture) begreift. Aufgrund dieses Wesens der Sprache selbst kann niemand eine Sprache vollkommen beherrschen. Niemand kann sie als Eigentum besitzen oder auf ihr eine natürliche Identität begründen. Die universelle Ausgangssituation des Subjekts vis à vis der Sprache ist demzufolge die Erfahrung ursprünglicher Fremdheit. Die eigene Sprache ist immer schon die des Anderen, weil sich das Ich überhaupt erst im Eintritt in bereits bestehende, fremde Sprachen formieren kann. Sie ist aber auch die des Anderen, weil die Sprache immer im Austausch bleibt:

Man spricht von jeher nur eine Sprache – und sie ist auf asymmetrische Weise, so daß sie immer dem anderen zukommt, einem vom anderen her wiederkehrt, vom anderen bewahrt wird. Sie ist vom anderen gekommen, beim anderen geblieben und zum anderen zurückgekehrt. (Ebd.: 69)

Abschließend hält DerridaDerrida, Jacques fest, dass es aus dieser Erkenntnis heraus monokulturelle und nationalistische Aneignungen zu enttarnen und zu unterlaufen gelte. Die Nicht-Besitzbarkeit der Sprache solle in den Sprachen selbst lesbar gemacht werden, „die Schrift ins Innere der gegebenen Sprache“ (ebd.: 125) gerufen werden, was insbesondere in poetischen Gestaltungen erfolgen kann. Im Anschluss an die vorliegenden Ausführungen lässt sich ergänzen, dass sich die poetische Sprache dafür besonders eignet, weil in ihr die Möglichkeit (wo nicht im formalistischen Sinne Notwendigkeit) der Normabweichung gegeben ist, weil sie, da sichtbar künstlich geformt, nicht den Anspruch der ‚natürlichen‘ Sprache vertreten kann, und gerade deshalb ein eigenes und vom Anderen her kommendes Idiom darstellt. Die literarische Mehrsprachigkeit verstärkt in gewisser Weise ebendiese Eigenschaft poetischer Sprache noch. Sie ist in besonderer Weise dafür prädestiniert, die Frage nach Eigentum bzw. Nichtbesitzbarkeit von Sprache, nach Identität von Sprache und nach der Spannung der Sprache zwischen Eigenem und Anderen anschaulich zu verhandeln und als eine grundlegende Erkenntnis an die vermeintlich ‚eine‘ und ‚reine‘ Sprache zurückzuspielen.

Insgesamt wurde in vorliegendem Aufsatz ausgehend von strukturalistischer, formalistischer und poststrukturalistischer Theorie die These entwickelt, dass in mehrsprachigen Schreibweisen die signifikante Seite des Zeichens hervortritt und sich daran einerseits grundsätzliche sprachkritische Fragen der Generierung von Bedeutung und der Beziehung von Wort und Ding knüpfen lassen, andererseits an der signifikanten Materialität auch eine poetische, mehrsprachige wie mehrdeutige Umgestaltung der lautbildlichen Seite des Zeichens ansetzten kann. Literarische Mehrsprachigkeit lässt sich so als poetisch selbstreflexives Verfahren lesen, in dem nolens volens immer auch die Vorstellungen einer festen Besitzbarkeit von Sprache wie Festschreibung von Bedeutung qua eindeutiger Signifikats-Signifikanten-Bezüge unterlaufen wird. In der poetischen Gestaltung von Mehrsprachigkeit werden stattdessen Knotenpunkte der Mehrdeutigkeit wie der kulturellen Mehrfachzugehörigkeit geschaffen.

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Sprache als Moment der Konstitution, Repräsentation und Verletzbarkeit. Verbindungslinien zwischen postkolonialer Literaturdidaktik und einer Didaktik literarischer Mehrsprachigkeit

Magdalena Kißling

Abstract:

The article is based on the observation that literature lessons are often a place where racially inflected language occurs. It asks for possibilities to react to this linguistic form in a diversity-sensitive way in literature lessons. The hypothesis is that racially inflected language is not a historically developed norm of standard German, but rather a deviation from standard German and thus a specific form of inner multilingualism. This thesis will be developed in three steps. Therefore the article connects postcolonial didactics of literature and a didactics of literary multilingualism: After an overview of language-related approaches in German didactics, the article explores the linguistic-philosophical relationship between language, subjectivation and vulnerability in the literary context. Finally, it presents a teaching model for dealing with inner multilingualism in the context of literary follow-up communication. This model provides a possible answer to the question of how to deal with racially inflected language in the teaching of literature.

Keywords:

Mehrsprachigkeitsdidaktik, postkoloniale Literaturdidaktik, diversitätssensible Deutschdidaktik, sprachliches Trauma, rassistische Sprache, innere Mehrsprachigkeit, Poststrukturalismus. Didactics of literary multilingualism, postcolonial didactics of literature, diversity-sensitive German didactics, linguistic trauma, racist language, inner multilingualism, post-structuralism

Rassistisch flektierte Wörter wie das N-Wort, die in der deutschsprachigen Literatur in unterschiedlichen grammatischen Abwandlungen vielfach realisiert sind, begegnen Schüler:innen im Literaturunterricht häufig ungebrochen, während ihr Gebrauch im öffentlichen Raum hitzig diskutiert wird. Angebracht werden im Wesentlichen zwei Positionen: zum einen die Verteidigung des Sprachgebrauchs mit dem Argument der Kunst- und Meinungsfreiheit (Art. 5 GG), zum anderen die Zurückweisung der Artikulation im öffentlichen Raum als diskriminierend (Art. 3 GG; AGG). Politisch ist die Streitfrage um den Gebrauch rassistisch flektierter Wörter ungeklärt und juristisch nicht eindeutig zu lösen, denn nicht nur stehen sich Artikel in Grundgesetz und Allgemeinem Gleichbehandlungsgesetz in der Frage eines adäquaten Sprachgebrauchs entgegen, auch sind Fälle politisch verletzenden Sprechens im Kontext von Rassismus nicht justiziabel (vgl. Kümmerling-Meibauer/Meibauer 2015: 18). Wie, so fragt der vorliegende Beitrag, kann der Literaturunterricht als ein Ort, an dem rassistisch flektierte Sprache wiederkehrend auftritt, sich also zu dieser politisch und juristisch vagen Kontroverse verhalten?

Argumentativ ansetzen möchte ich an der Definition rassistisch flektierter Sprache, die gemeinhin als eine historisch gewachsene Norm des Standarddeutschen gelesen wird. Dieser Lesart stelle ich eine Alternative entgegen und schlage vor, sprachlichen Rassismus als eine Abweichung vom Standarddeutschen und damit als eine spezifische Form innerer Mehrsprachigkeit zu greifen. Ausgehend von dieser Begriffsdeutung stellt sich die Frage, inwiefern sich die gängigen Formen der Mehrsprachigkeit (innere/äußere Mehrsprachigkeit, siehe Ossner 2006; additive/integrative Mehrsprachigkeit, siehe Eder 2009; Mikota 2018), die im Rahmen der literarischen Mehrsprachigkeitsdidaktik produktiv gemacht werden, um das sprachliche Phänomen rassistisch flektierter Sprache erweitern lassen und eine mögliche Antwort auf die Frage geben, wie sich der Literaturunterricht zur sprachpolitischen Kontroverse unterrichtsmodellierend verhalten kann.

Methodisch wähle ich hierfür einen sprachphilosophischen Zugang und lenke den Fokus auf die Trias Sprache, Subjektkonstitution und Verletzbarkeit. Nach einem kurzen Überblick über sprachbezogene Ansätze in der Deutschdidaktik rekonfiguriere ich poststrukturalistische Überlegungen zur Subjektkonstitution, die das Verhältnis von Sprache und Verletzbarkeit beleuchten, auf unterrichtsmodellierende Überlegungen und stelle ein Modell zum Umgang mit innerer Mehrsprachigkeit im Kontext literarischer Anschlusskommunikation vor, das bestehende Ansätze literarischer Mehrsprachigkeitsdidaktik erweitern kann.

1 Orte kulturtheoretischer Sprachreflexion innerhalb der Deutschdidaktik

Einführungen in die Literaturdidaktik greifen die Inhaltsfelder Sprache und Mehrsprachigkeit als Thema nicht systematisch auf (siehe Bogdal/Korte 2012; Kepser/Abraham 2016; Leubner et al. 2016; Lütge 2019; Paefgen 2006). Kompetenzentwicklungen zu diesem Lernbereich, der Fragen der Language Awareness, des Sprachbewusstseins, der Sprachnormreflexion sowie der Mehrsprachigkeit umfasst, werden weitgehend innerhalb der Sprachdidaktik verhandelt (vgl. u. a. Neuland/Peschel 2013: 124–127, 202; Ossner 2006: 53–59). Es verwundert daher auch nicht, dass die Perspektivierung von Mehrsprachigkeit als einem literarästhetischen Mittel, das historisch gewachsen ist und kein reines Migrationsphänomen repräsentiert, in der Literaturdidaktik keine nennenswerte Tradition aufweist (vgl. Wintersteiner 2006: 164f.). Mit der fortlaufenden Ausdifferenzierung literaturdidaktischer Ansätze verschiebt sich die implizite Aufgabenverteilung zwischen Sprach- und Literaturdidaktik jedoch allmählich. Sprachreflexive Ansätze werden zunehmend auch für den Umgang mit literarischen Texten und Medien aufgearbeitet. Grob lassen sich drei sprachbezogene Ansätze unterscheiden:

Die subjektivierungskritischen Ansätze, die in der Tradition migrationspädagogischer Theorien stehen (u. a. Mecheril et al. 2010; Mecheril 2016), zielen auf Subjektivierungskritik. Migrationsbedingte Benachteiligungen, die über Literatursprache produziert und tradiert werden können, gilt es über Relektüren sowie interkulturelle und mehrsprachige Texte zu durchbrechen und sprachlich ausgelöste Subjektprozesse, die im (schulischen) Alltagsdiskurs häufig auf Eindeutigkeit und identitäre Fixierung ausgerichtet sind, zu multiperspektivieren (vgl. Dirim et al. 2013: 125). Literatur wird dabei maßgeblich als Instrument zur Reflexion gesellschaftsdominanter Diskurse begriffen. Ein anderer Literaturbegriff liegt den Ansätzen einer literarischen Mehrsprachigkeitsdidaktik zugrunde. Literatur lesen sie als Sprachkunst, die immer auch in kulturpolitische und gesellschaftskritische Diskurse eingebunden ist (vgl. Kofer 2023: 221f.; Nagy 2018: 3). In der Folge wird das oft auf Migration reduzierte Phänomen der Mehrsprachigkeit als eine Form ästhetischer Ausdrucksweise untersucht. Mit dieser Schwerpunktsetzung grenzen sich die Ansätze von der Didaktik des Deutschen als Zweitsprache ab (vgl. Kofer 2023: 221; Nagy 2018: 4) und stellen sich in die Tradition der interkulturellen Literatur- und der Fremdsprachendidaktik (vgl. Nagy 2018: 5). Im Zentrum einer postkolonialen Literaturdidaktik steht, Literatur als Kunstform lesen zu lernen, die sich im Spannungsfeld von Machtaffirmation und -subversion bewegt. Wissenschaftstheoretisch verorten sich die Ansätze innerhalb der Postkolonialen Germanistik (u. a. Dürbeck/Dunker 2014; Göttsche et al. 2017), weisen aber auch Prägungen aus der rassismuskritischen Forschung (u. a. Melter/Mecheril 2009; Scharathow/Leiprecht 2011) und der Kritischen Weißseinsforschung (Eggers et al. 2009; Wollrad 2005) auf. Im Fokus stehen Verfahren der diskursanalytischen Texterschließung und Modellierungen zum sprachreflexiven Unterrichtsgespräch, um Literaturbarrieren infolge rassistischer Figurendarstellung und Sprache abzubauen (vgl. Kißling 2020: 298–369; Kißling 2022; Rösch 2000, 2017).

Zwischen diesen auf Sprache fokussierenden literaturdidaktischen Ansätzen deuten sich in der skizzenhaften Gegenüberstellung Verbindungslinien an: Gemeinsam sind ihnen die Anliegen, einen sprachsensiblen Lernraum im literaturvermittelnden Unterrichtsgespräch zu instituieren und literarische Darstellungsweisen als (spezifische) Darstellungsweisen historischer (Sprach-)Diskurse vermittelbar zu machen. Beobachten lässt sich zudem, und dieser Auffälligkeit möchte ich weiter nachgehen, dass alle Ansätze eine diskursive Unterscheidung zwischen Mehrsprachigkeit und (kolonial-)rassistischem Sprechen vorzunehmen scheinen.

Zwei Gründe sprechen meines Erachtens für eine Verbindung dieser sprachlichen Diskurse auf didaktischer Ebene. Zum einen sind Fragen der Ein- und Mehrsprachigkeit historisch eng mit kolonialer Sprachpolitik verflochten. Mehrsprachigkeit, so zeigt Jacques DerridaDerrida, Jacques, ist den Menschen durch die kolonialen Verhältnisse verloren gegangen. Der/den eigene(n) Sprache(n) beraubt, sei der monolinguale Mensch in die absolute Übersetzung ohne Original geworfen (vgl. Derrida 1996: 117). Bezogen auf diese koloniale Geschichte erweist sich mehrsprachige Literatur als zentrale Kritik und Gegendiskurs zur imperialen Logik. Emily ApterApter, Emily (2013) schlussfolgert daraus, Vielsprachigkeit zur Regel zu erklären und mehrsprachige Texte nicht zu übersetzen, denn gerade in der Nichtübersetzung verweigern sie sich der Eingliederung in den einsprachigen Diskurs der Mehrheits- bzw. Dominanzsprache. Literaturdidaktisch interessant ist diese postkoloniale Perspektive auf Mehrsprachigkeit, insofern sie den monolingualen Habitus an Schulen verkehrt und Mehrsprachigkeit als Ressource bei zeitgleicher Ausweisung der Einsprachigkeit als Defizit ausweist. Rekonfiguriert für literaturdidaktische Fragestellungen erweist sich die postkoloniale Perspektive auf Mehrsprachigkeit daher als theoriebildend für Fragen der Textauswahl. So scheint sich im Verständnis ApterApter, Emilys und DerridaDerrida, Jacquess insbesondere die integrative Mehrsprachigkeit, also die Kombination zweier oder mehrerer Sprachen, die in der Diegese oftmals unübersetzt bleiben (vgl. Mikota 2018: 67), gegenüber der additiven Mehrsprachigkeit, in der Geschichten parallel zweisprachig erzählt werden (ebd.), für ein dominanzkritisches und sprachreflexives literarisches Lernen produktiv machen zu lassen.

Zum anderen fügt sich in einer verbindenden Perspektive sprachbezogener Literaturdidaktiken rassistisch flektiertes Sprechen, mit dem sich primär die postkoloniale Literaturdidaktik befasst, als Baustein in eine literarische Mehrsprachigkeitsdidaktik ein, insofern sich rassistisches Sprechen auch als eine spezifische Form der Mehrsprachigkeit lesen lässt: als Form der inneren Mehrsprachigkeit und Varietät des Standarddeutschen, die der deutsche Kolonialismus für seine Zwecke genutzt hat. Innere Mehrsprachigkeit, verstanden als das Hervorbringen nationaler Sprachen von Dialekten, Soziolekten und Ethnolekten (vgl. Rösch 2017: 207), zeichnet sich u. a. durch strukturelle Entlehnungen, grammatische Abweichungen und lexikalische Neuschöpfungen zur Standardsprache aus (vgl. z.B. Kellermeier-Rehbein 2022: 74). Blickt man auf sprachliche Rassismen, die sich im Kontext des Kolonialismus ins Standarddeutsche integriert haben, fallen sprachliche Veränderungen auf zwei der genannten Ebenen auf: auf Ebene der Lexik und der Grammatik. Die Lexik des Standarddeutschen hat sich zum einen um Wörter zur Differenzziehung und Abwertung des kolonisierten Anderen erweitert und Neologismen wie das N-Wort aufgenommen (vgl. Arndt/Hornscheidt 2004: 31). Zum anderen haben Wörter unter dem deutschen Kolonialismus semantische Neuaufladungen erfahren. So wurden Begriffe, die in europäischen Sprachkontexten bislang für das Tier- und Pflanzenreich gebräuchlich waren, auf den konstruierten kolonialen Anderen übertragen; ein Beispiel ist das Begriffspaar wild/zivilisiert (vgl. Arndt 2015c: 121). Zudem wurden Synergien westlicher Sprachtradition zur Legitimation europäischer Vormachtstellung genutzt, wie im Fall der Symbolfarben weiß (rein) und schwarz (dunkel, böse) der christlichen Farbenlehre (vgl. Arndt 2015b: 653; Wollrad 2005: 19). Neben diesen lexikalischen Varietäten zeigen sich – insbesondere auch im literarischen Kontext – grammatische Auffälligkeiten. So manifestiert die einseitige Rassifizierung des kolonialen Anderen mit den adjektivischen Attributen braun, schwarz oder dunkel bei Nichtmarkierung der Situierung als weiß (vgl. Morrison 1992: 72) eine Differenz auf grammatischer Ebene, die der Objektivierung von Andersheit und der Normalisierung des Eigenen dient. Im Unterschied zu klassischen Varietäten sind rassistische Sprachpraxen in den Bereichen Lexik und Grammatik zwar als normalisierte Ausdrucksweisen in den standardisierten Sprachgebrauch übergegangen, werden aber in der Forschung als Ausdrucksvarianten des Deutschen problematisiert, weil sie mit einer diskriminierenden Konnotation einhergehen und potenziell verletzen können (siehe u. a. Arndt/Ofuatey-Alazard 2015; Arndt/Hornscheidt 2004). Entsprechend dieser Differenzziehung zwischen Standarddeutsch und rassifizierter Varietät plädiere ich dafür, rassistisch flektierte Sprache im literaturunterrichtlichen Kontext als weitere Form der inneren Mehrsprachigkeit und nicht als normalisierten Bestandteil des Standarddeutschen zu lesen.

Diesem letztgenannten Gedanken, rassistisch flektierte Sprache als eine spezifische Form der inneren Mehrsprachigkeit in die literarische Mehrsprachigkeitsdidaktik zu integrieren, möchte ich vertiefend nachgehen und ein unterrichtliches Modell vorstellen, rassistische Wortkritik literaturunterrichtlich zu verhandeln. Das Modell basiert, wie nachfolgend deutlich wird, auf poststrukturalistischen Annahmen.

2 Warum Sprache verletzen kann: ein poststrukturalistischer Blick auf Sprache

Um Sprache in ihrer Potenzialität zur Verletzbarkeit nachvollziehen zu können, zeichne ich – veranschaulicht an der Kurzgeschichte Der Spiegel von Jovan NikolićNikolić, Jovan – zentrale (post-)strukturalistische Argumentationslinien nach. In der Kurzgeschichte heißt es:

Ein kleiner Junge spaziert mit seinem Vater durch die Stadt. Er hört, wie jemand in ihrem Rücken ihnen ein Wort nachwirft: Zigeuner. Er versteht das Wort nicht, spürt aber, wie in ihm, vom Feuer der väterlichen Hand, die ihn hält, etwas zu brennen beginnt. […] Seither bleibt er immer ein wenig länger vor dem Spiegel stehen, er wartet, dass dort, im Abbild seiner Gestalt, die Bedeutung dieses Wortes aufscheint und sich ihm entdeckt. Zugleich spürt er große Angst, er werde dort etwas Verhängnisvolles und Schmerzliches sehen, das die Seele für alle Zeit davontragen könnte, so dass er nicht mehr sicher sein kann, auf welcher Seite des Spiegels er selbst und auf welcher jener dort steht, der ihm mit den eigenen Augen ansieht und den Fehler sucht. (Nikolić 2006: 13)

Beschrieben wird ein Kind, für das infolge der Adressierung mit einem rassistischen Wort ein Konstituierungsprozess als defizitäres Subjekt beginnt. Nachvollziehbar wird dies mit AlthusserAlthusser, Louis